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Russische Klaviermusik

Evidence classics, EVCD048; EAN: 5 051083 124379

Der 1995 in Paris geborene Pianist Jean-Paul Gasparian präsentiert auf seiner zweiten CD Werke russischer Komponisten. Er spielt die Études-Tableaux op. 39 von Sergei Rachmaninoff, die zweite Klaviersonate op. 19 sowie Trois Études op. 65 von Alexander Scriabin und Sergei Prokofieffs zweite Klaviersonate d-Moll op. 14.

Zwar unterscheidet sich die Musik von Rachmaninoff, Scriabin und Prokofiev grundsätzlich in ihrer Intention und ihrer Wirkung, doch sie warten mit ähnlichen Gefahren für den ausführenden Musiker auf. Alle drei Komponisten sind recht dankbar für den Pianisten, was bedeutet, dass sie bei der Darbietung kaum so sehr verstümmelt werden können, dass ihre überbordende Wirkung komplett verloren ginge. Doch eben dadurch geben sie sich dem Pianisten gegenüber auch undankbar, denn genau auf dem schmalen Grad zwischen Effekt und tatsächlichem musikalischen Inhalt trennen sich die rein technikaffinen Musiker von denen, die weiter- und der Musik auf den Grund gehen.

Gasparians Spiel zeichnet sich durch eine Frische und Lebendigkeit aus, die vielen älteren Kollegen fehlen oder die ihnen verlorenging. Obgleich er sich gerne auf gewisse Grundstimmungen verlässt, geht er auch mit der Musik mit und erkundet sich auftuende Änderungen der Atmosphäre; mit diesen platzt er nicht sogleich heraus, sondern bringt sie dem Hörer allmählich und mitvollziehbar näher.

Rachmaninoff verleiht er eine angenehme Süßlichkeit, die dem persönlichen Weltschmerz des Komponisten schmeichelt, ohne ihn überzustrapazieren. Gasparian gelingt es, flächige Passagen oder Stücke in der schwebenden Spannung zu halten, so wie die zweite Rachmaninoff-Etüde, bei welcher der Pianist den Reiz aus der verschobenen Rhythmik zieht. Manche der heute so oft anzutreffenden „Pianistin-Krankheiten“ in Form von Manierismen zeigen sich bei Jean-Paul Gasparian nur in den kargeren Strukturen wie der 7. Und 9. Etüde aus dem Opus 39: Hier bemerkt der Hörer schnell, dass die Rubati stets mechanisiert gleich an den selben Stellen und Motiven auftauchen, und, dass das Tempo ohne erkennbaren Grund deutlich schwankt – selbiges im ersten Satz der Scriabin-Sonate, in welcher sich das Tempo zwischenzeitlich sogar in etwa verdoppelt! Abgesehen davon hält Gasparian die Sonate allerdings gut zusammen und trägt den Hörer auch über die schwierig zu realisierenden Generalpausen des Anfangs und die über lange Konturlosigkeit des zweiten Satzes hinweg. Scriabins drei Etüden op. 65 erforschen je ein bestimmtes Intervall: Die große Non, die große Sept und die reine Quint. Die dadurch entstehenden eigenwilligen Harmonien hebt Jean-Paul Gasparian hervor, wodurch es ihm sogar gelingt, in einer Art „Gewöhnungseffekt“ die Dissonanzen beinahe zu Konsonanzen werden zu lassen. (Gleiches versuchte Scriabin mit der kleinen Sept bereits in seinem frühen Präludium op. 11/2.) Besonders gelungen hören wir auf dieser Aufnahme die zweite Prokofiev-Sonate: Gasparian entsagt jeder Art von brachialen Akkordentladungen, gedroschenen Läufen oder Effekthascherei, er bleibt weich, durchlässig und verleiht auch diesem Komponisten eine angenehme dolce-Note – eine erfrischende Gegendarstellung zu den meisten Darbietungen des Werks, in der wir auch einmal eine ganz andere Seite von Prokofiev wahrnehmen, welche so oft verborgen bleibt.

[Oliver Fraenzke, April 2019]

Vier Quartette

Szymanowski Quartett Moskau
Andrej Below, Violine
Grzegorz Kotów, Violine
Vladimir Mykytka, Viola
Marcin Sieniawski, Violoncello

Karol Szymanowski (1882-1937)
Sergei Prokofiev (1891- 1953)
Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893)
Myroslaw Skoryk (*1938)

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Warum fällt mir diesmal die Besprechung so schwer und ich drücke mich davor, so gut ich kann? Liegt es am Anspruch der Streichquartettliteratur, liegt es an der „Modernität“ der Kompositionen, liegt es an meiner Befangenheit den Streichinstrumenten gegenüber?

Egal, mit der großen Partitur des zweiten Streichquartetts von Karol Szymanowski vor mir wage ich es. Das 1927 entstandene Quartett ist äußerst elaboriert und verwendet die vier Instrumente in allen erdenklichen Lagen und Zusammenhängen. Kein Wunder, dass sich das agierende Szymanowski-Quartett namentlich auf diesen „Vater der polnischen Musik“ bezieht, der in seinem Leben – geboren in der Ukraine – in ganz Europa umherreiste und die verschiedensten Einflüsse aufnahm und in seiner Musik verarbeitete bis hin zu orientalischen Idiomen. Vor allem unter dem Einfluss Scriabins und auch Strawinskys erweiterte er seine Tonsprache, auch um volksmusikalische Einflüsse, wie es außer ihm ja auch schon Tschaikowsky oder seine Zeitgenossen Bartók, Enescu und Kodály taten.

Streichquartette gelten neben Symphonie, Oper, Solokonzert und Sonate als Gipfelgattung der Komposition, und bis zum heutigen Tag sind zahlreiche geniale Meisterwerke aller Schattierungen und Ausdrucksformen entstanden oder noch im Entstehen. Das Quartett gilt als Prüfstein der reinen Substanz im musikalischen Schaffen eines Komponisten. Und die große Partitur der beiden Szymanowski-Quartette, die vor mir liegt, lässt erkennen, dass es mit einem einmaligen „Drüberweghören“ bei dieser Musik nicht getan ist.  Obwohl durchaus tonal und auch rhythmisch sehr ansprechend, bedarf es mehrmaligen Hörens, um die spezifische Qualität dieser Musik und der vier Spieler zu erkennen. Mit Tönen im höchsten Bereich beginnt die erste Geige, nach unten oktavverdoppelt vom Cello, die beiden mittleren Instrumente übernehmen  die harmonische Abrundung.  Das dreisätzige Werk – es dauert knapp 17 Minuten – erschließt sich beim mehrmaligen Hören, wie auch das zweite Streichquartett von Sergei Prokofiev, das besonders im zweiten, dem Adagio-Satz, durchaus schön klingt und unmittelbar anspricht. Natürlich ist die Ausführung des in Hannover beheimateten Quartetts makellos und intensiv, was unbedingte Voraussetzung für die Realisierung dieser Kompositionen  ist. Wobei ich besonders beim ersten Streichquartett von Tschaikowsky überrascht war, wie modern und fast zeitgenössisch es klingt. Auch da besorgte ich mir die Noten, denen ich diese Modernität auf den ersten Blick gar nicht ansah.

Das Schlussstück vom ukrainischen Komponisten Myroslaw Skoryk ist eines seiner bekannter gewordenen Werke, eine Filmmusik, die Skoryk „gegen“ die damals herrschende Sowjet-Ideologie komponierte. Das ausführliche Booklet informiert über die vier Komponisten ebenso wie über die vier Ausführenden. Und  nach anfänglichem Zögern kommt mir beim weiteren Anhören diese Musik denn auch immer vertrauter, ansprechender und wesentlicher vor.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]