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Musica viva mit coronakonformer Ensemblemusik im Herkulessaal

© Astrid Ackermann

Am Freitag, 2.10.2020 gab es um 18 bzw. 21 Uhr – wegen der Coronabestimmungen (Lüften, Zeitbegrenzung für einzelne Programme etc.) – gleich zwei Konzerte der musica viva im Münchner Herkulessaal; der erste Auftritt des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am „Stammplatz“ seit der erzwungenen Pause. Es erklangen Werke von Yann Robin, Liza Lim, Morton Feldman sowie Giacinto Scelsi, Luciano Berio und Iannis Xenakis. Aufgrund der aktuellen Abstandsregeln wählte man sehr klug statt der großen Besetzung – u.a. mit einer geplanten Uraufführung – Werke mit gerade für Neue Musik ja durchaus typischen, größeren Ensembles bis zu knapp 20 Spielern. Peter Rundel dirigierte (bis auf Berios „Naturale“) beide Programme. Als Solisten hatte man Antoine Tamestit (Viola) und Theo Nabicht (Kontrabassklarinette) eingeladen.  

Selten scheint ein Konzert – zumal mit Neuer Musik – so passend zur aktuellen Situation in München. Die Freude, erstmals seit Ende Februar wieder das BRSO im Herkulessaal erleben zu dürfen, weicht schon beim Einlass gehöriger Beklemmung. Auf Bewirtung oder gedruckte Programmhefte lässt sich noch gut verzichten. Aber die Abstände im Publikum sind bei nur 200 erlaubten Zuschauern derart groß, dass sich wohl jeder wie auf einer einsamen Insel fühlen darf. So verdirbt man auch den notorischsten Konzertgängern einen Teil des Erlebnisses – fraglich, ob überhaupt 200 Leute da waren. Trotz der wieder steigenden Infektionszahlen sollte man sich auch hier vielleicht trauen, klassische Musik wenigstens mit einer Publikumsdichte wie etwa in Salzburg zu genehmigen.

Dass auf der beengten Bühne mit ihren klaustrophobischen Zugängen nur deutlich kleinere Besetzungen als gewohnt möglich sind, sollte allerdings überhaupt nicht stören. Im Gegenteil: So können die Mitglieder des BRSO beweisen, dass sie auch mit kleinen oder mittleren Besetzungen, für die typischerweise im Auftrag von auf Neue Musik spezialisierten Ensembles komponiert wird, souverän zurechtkommen und trotz Abstandsregeln mit sichtlicher Freude sowohl geballte Klangintensität wie kammermusikalische Intimität realisieren können.   

Wie aus vulkanisch frisch aus dem Erdinneren ausgestoßenem Metall schmiedet Yann Robin (*1974) sein eruptives Stück Art of Metal (I), für (Metall)-Kontrabassklarinette und 17 Spieler. Eine unerhört energetische Musik, so fremdartig rau wie faszinierend, für die der Solist (toll: Theo Nabicht vom Klangforum Wien) enorm flexibel alle nur erdenklichen Spieltechniken – auch mit der Stimme hineinsingend bzw. -schreiend – erforscht, dabei ständig wie ein Getriebener von den ihn umgebenden Urgewalten bedrängt wird. Atemberaubende Steigerungswellen – und kein Wunder, dass Robin mit der mit diesem Stück begonnenen Trilogie international Erfolge feiert. Leider zeigen sich bei Peter Rundel mal wieder seine begrenzten Fähigkeiten, mit Solisten eine adäquate Klangbalance herzustellen. Der ungleiche „Kampf“ ist zwar durchaus Programm, aber das Ensemble deckt die – auch nicht gerade leisen – Effekte der Kontrabassklarinette über weite Strecken gnadenlos zu: Bereits in der 6. Reihe ist der Solist kaum zu erahnen. Rundel wird sich an diesem Abend zum Glück noch grandios steigern.

Die aus Australien stammende Liza Lim (*1966) ist mit ihrer Musik immer auch politisch – oft, wie im zwei Jahre alten, fünfsätzigen Stück Extinction Events and Dawn Chorus werden performanceartig szenische Elemente eingeflochten. So kommt Konzertmeister Anton Barakhovsky – er spielt hier entschlossen und virtuos die Hauptrolle – nach Gekratze aus dem Off im 1. Satz Anthropogenic debris demonstrativ raschelnd mit einer großen Plastikplane aufs Podium: die Erklärung für die Verzerrung anfänglich plakativer Naturlaute (Vogelstimmen, vielleicht auch Walgesänge). Wichtig im gesamten Stück: kleine Waldteufel (Reibetrommeln) für alle Spieler, wohl die Personifizierung geschundener Natur. Der 4. Satz Transmission schildert gar den vergeblichen Versuch des Sologeigers, einem rudimentären Streichinstrument – kleine Trommel zum Waldteufel umfunktioniert – musikalisches Material beizubringen. Am Schluss dann – der Herkulessaal ist jetzt in fahles, grünes Licht getaucht – eine Welt aus Geräuschen am Rande des wahrnehmbaren Klangspektrums; die Menschheit scheint nun bereits überwunden. Die Mahnung dieser Komposition ist selbsterklärend.

Um 21 Uhr bringt das BRSO dann zwei quasi Klassiker: Giacinto Scelsis I presagi von 1958 (UA erst 1987) und Iannis Xenakis‘ Jalons (1986). Beide tragen apokalyptische Züge und gebärden sich wie Schwesterstücke zu riesig besetzten Orchesterwerken mit beachtlicher Zerstörungswut. So wirken die Presagi – für 8 Blechbläser, Saxofon und Schlagzeug – tatsächlich wie eine Vorahnung von Uaxuctum, das den Untergang einer archaischen Kultur thematisiert: entsprechend irritierende, immer mikrotonal belebte Klänge, beängstigend und schön zugleich. Jalons überträgt die Katastrophen von Jonchaies gekonnt auf eine 15er-Besetzung, emotional und in der komplexen Architektur des Materials erstaunlich verwandt. Dazu kommt hier ein für Xenakis völlig ungewohntes Element: Wenn die chaotischen Klangmassierungen übermächtig zu werden drohen, greift die Harfe mit wenigen, glasklaren und beinahe schlichten Wendungen wie ein deus ex machina ein, steht für eine Ordnung höherer Dimension. Beide Stücke – Xenakis mit dem BRSO war immer schon ein Highlight – gelingen den Musikern unter dem nun extrem konzentriert agierenden und organisch mitgehenden Dirigenten in der Tat umwerfend; das Glücksgefühl über diese Glanzleistung strahlt am Schluss aus den Augen aller Mitwirkenden – und der minutenlange Applaus des irgendwie leer erscheinenden Saales klingt überraschend groß.

Da schon zwei der obigen Werke hintereinander ohne eine – coronabedingt untersagte – Pause kaum auszuhalten wären, gibt Antoine Tamestit mit seiner Bratsche jeweils dazwischen Balsam auf die Seele. Feldmans The Viola in My Life 2, mit 6 weiteren Spielern, erreicht unmittelbare Transzendenz mit gewohnt reduzierten Mitteln: heute eine echte Wohltat.

Berios Naturale ist eine vorbildlich respektvolle Auseinandersetzung mit sizilianischer Folklore – neben der Viola hört man einfühlsam eingesetztes Schlagzeug und vom Band die Stimme eines der letzten traditionellen, regionalen Bänkelsänger. Die Viola darf dennoch vielschichtig agieren, oft tänzerisch – fantastisch der Abschnitt, wo mit Pizzicati eine Gitarre imitiert wird. Tamestit macht sein Instrument hier, fast etwas ungewohnt, überwiegend zum Träger von Glücksgefühl: Schönheit und Fülle seines Klanges sind Weltklasse – seine überragende Präsenz ist einfach zauberhaft. Den möchte man bitte noch öfter hören!

[Martin Blaumeiser, 4. Oktober 2020]