Französische Raritäten – mit einem fantastischen Frühwerk von Boulez

Naxos 8.573894; EAN: 7 47338947 6

Der niederländische Pianist Ralph van Raat präsentiert »Französische Klavier-Raritäten«, darunter einige erst spät aufgetauchte Stücke von Debussy und Ravel, Messiaens «La Fauvette passerinette» sowie zwei Solonummern aus «Des canyons aux étoiles». Höhepunkt sind aber drei Stücke von Boulez: Une page d’éphéméride, die frühen 12 Notations und – als Ersteinspielung – Prélude, Toccata et Scherzo.

Ralph van Raat (Jahrgang 1978) hat sich mittlerweile als Spezialist für Neue Musik ein ziemlich beeindruckendes Repertoire erarbeitet und für Naxos schon etliche Alben eingespielt, darunter Pärt, Adams, Tavener und Rzewski. Auf der neuen CD widmet er sich noch recht unbekannten Werken von vier französischen „Großmeistern“ der Klaviermusik: Debussy, Ravel, Messiaen und Boulez. Dennoch sind die hier vorgelegten Stücke allesamt bereits auf CD erhältlich – bis auf eines: Pierre Boulez‘ Prélude, Toccata et Scherzo, ein Frühwerk (1944), das der Komponist nie veröffentlicht hat, das aber bereits an der Schwelle zu seinen „offiziellen“ Stücken steht und den Rezensenten hier restlos begeistern konnte.

Bleiben wir zunächst bei Boulez: Die nur Monate später entstandenen, knappen – insgesamt ~ 10-minütigen – Douze Notations zeigen einen radikalen Stilwandel, verkürzt: eine Hinwendung von Schönberg und Messiaen zu Webern. Jedes Stück hat genau 12 Takte und alle benutzen dieselbe Zwölftonreihe. Van Raats Darbietung deutet die Musik als Abfolge von kontrastierenden Charakterstücken, klanglich kultiviert, mit intelligentem Pedalgebrauch und Sinn für „schöne“ Wendungen. Von der Radikalität und auch Rauigkeit, die etwa Pi-Hsien Chen oder Pierre-Laurent Aimard hier immer zelebrieren, distanziert er sich aber anscheinend ganz bewusst. Dafür gelingt ihm bei Prélude, Toccata et Scherzo – mit 27 Minuten immerhin so umfangreich wie die 2. bzw. 3. Sonate – ein echter Premieren-Kracher. Die Musik ist derart mitreißend virtuos und lässt, besonders in der Toccata, schon den echten Boulez aufblitzen, dass man staunt, warum der Komponist dieses erstklassige Werk dem Publikum so lange vorenthalten hat – bis er es von Ralph van Raat hörte. Boulez‘ letztes Klavierstück Une page d’éphéméride ist mehr als ein „Albumblatt“ – schade jedoch, dass Naxos die etwas älteren Incises auf einen gesonderten Digital-Download (10 Minuten für 8 Euro ?!?) ausgelagert hat.

Man hätte stattdessen besser einen der Solo-Sätze aus Messiaens vielleicht großartigstem Orchesterwerk Des canyons aux étoiles weglassen können. Nicht, dass van Raat Le Cossyphe d’Heuglin und Le Moqueur polyglotte weniger gut spielte – auch hier hat er seinen eigenen, typisch klangschönen Zugang für die eigenartigen Vogelklänge. Trotzdem entfalten diese beiden Sätze erst im großen Kontext ihre wahre Bedeutung. Lohnenswert auf alle Fälle die erst 2012 entdeckte La Fauvette passerinette, gewissermaßen eine Zugabe zum großangelegten Catalogue d’oiseaux. Die „Spätentdeckungen“ von Debussy und Ravel sind natürlich interessant, aber dennoch nur etwas für den enzyklopädischen Sammler: Ravels Menuet ist lediglich eine Petitesse, Debussys Les Soirs illuminés par l’ardeur du charbon war ein Geschenk an seinen Kohlenhändler im strengen Winter 1917, das an ähnlich betitelte Stücke aus den Préludes anknüpft, die Étude retrouvée ist die – dann verworfene – Erstfassung der Etüde Pour les arpèges composés. Ralph van Raat gestaltet dies so, dass die historischen Zusammenhänge sofort evident werden.

Fazit: Erstklassig dargebotene Seltenheiten, die mancher vielleicht trotzdem schon kennt. Aber allein wegen Boulez‘ Prélude, Toccata et Scherzo wird diese Scheibe dann doch ein absolutes Muss für jeden Freund moderner Klaviermusik. Da war Naxos mal wieder schneller als die Konkurrenz…

[Martin Blaumeiser, Juli 2020]

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