Subtile und komplexe neue Kammermusik

Wergo 7395 2; EAN: 4 010228739527

Neben zwei Solowerken – „Fell“ für Drumset und „Haare“ für Violine – erklingen auf der neuen Wergo-CD mit Kammermusik von Enno Poppe noch drei Stücke für Ensembles von 5, 7 bzw. 9 Spielern: „Brot“, „Zug“ und „Stoff“. Der Komponist dirigiert hier das Ensemble Musikfabrik; die Solisten sind Hannah Weirich (Violine) und Dirk Rothbrust (Drumset); eine gelungene Zusammenstellung.

Enno Poppes (Jahrgang 1969) Entwicklung zu einem der bedeutendsten, lebenden deutschen Komponisten lässt sich am besten mit Kammermusik dokumentieren: Auch wenn die hier eingespielten Werke nur ein knappes Jahrzehnt (2007–2016) abdecken, sind sie hervorragend geeignet, die Spezifika seiner Musik gut erkennbar werden zu lassen. Ohnehin hat der Komponist wie kaum jemand seiner Generation mittlerweile einen wirklich unverkennbaren Personalstil etabliert.

Zu Poppes Eigenheiten gehört vor allem, sich beim Ausgangsmaterial für seine Kompositionen auf wenige, kleinste musikalische Bausteine zu beschränken. Dies findet schon in den Titeln seiner Stücke ersten Ausdruck – fast immer ein- oder zweisilbige deutsche Substantive. Wenn die beiden Solostücke hier Fell bzw. Haare heißen, wird dadurch natürlich sofort der Bezug zum jeweiligen Instrument (Drumset und Violine) deutlich. Außerdem ist Poppe einer der wenigen Komponisten, die sich über einen längeren Zeitraum eine sehr eigenständige „Harmonik“ im mikrotonalen Raum erarbeitet haben, die halbwegs konsistent erscheint und daher hörend erstaunlich gut erlebbar ist – so absurd schwierig deren genaue Realisation für die ausführenden Musiker auch sein mag.

Fell ist ein artistisches Solo (souverän: Dirk Rothbrust), das sich aus einer einzigen rhythmischen Zelle speist, aber sofort zu einer „inszenierten Herzrhythmusstörung“ (Martina Seeber in ihrem wirklich vorbildlichen Booklettext) gerät; die Großform mit ihren klaren Abschnitten – deutlich gemacht u.a. durch Instrumentierungswechsel – erschließt sich hingegen sofort. Haare baut auf zwei entgegengesetzten Glissandobewegungen auf – ebenfalls ganz typisch für Poppe –, zunächst fast wie ein Vogelruf, aber später immer expressiver und enorm beeindruckend in seiner Farbvielfalt. Hannah Weirich spielt das einfach großartig!

Das zentrale und auch mit knapp 20 Minuten längste Stück dieser Veröffentlichung ist Stoff für 9 Spieler. Und die „Neun“ hat zentrale Bedeutung für das ganze Werk – eigentlich bauen alle Strukturen, nicht etwa nur die äußerlich formbildenden, auf Potenzen von 9 auf: So hat Stoff eine Länge von (9×9) x 9 Takten (=729). Man kann deshalb mehrfach proportionale Vergrößerungen und ein Netzwerk von (Selbst-)Ähnlichkeiten, mithin fraktale Prinzipien, erkennen. Auch für andere Parameter spielen 81er-Matrizen (=9²) durchgängig eine Rolle. Und die Harmonik des Werkes baut mehr als sonst auf spektralen Akkorden auf – stilbildend ist weiterhin eine typische Art von mikrotonalen Akkordfortschreitungen ähnlich einer Shepard-Skala. Trotz dieser starken Strukturzusammenhänge stehen am Schluss dieses in Poppes Schaffen hochbedeutenden Stückes letztlich doch eher Auflösungserscheinungen.

Am vielleicht überzeugendsten findet der Rezensent allerdings die 5er- bzw. 7er-Ensembles von Brot und Zug. Brot (für drei Blechbläser, Schlagzeug und Klavier) entstand quasi als instrumentale Auskopplung aus Poppes Oper „Arbeit Nahrung Wohnung“ (2008)und erinnert an eine Freejazzsession, trotz der im Innern herrschenden Strenge. Zug für sieben Blechbläser ist, oberflächlich betrachtet, klanglich am homogensten – zwischendurch scheint ein paar Male beinahe so etwas wie echter Brass Groove durch –, geht jedoch auch wieder an die Grenzen des technisch überhaupt Machbaren (eine der zwei Trompeten benötigt etwa ein Vierteltonventil), was Mikrotonalität und eine verblüffende Farbigkeit betreffen. Der Höreindruck ist hier aber geradezu angenehm und von einer eher unerwarteten Natürlichkeit.

Was die hochspezialisierten Musiker des in Köln beheimateten Ensembles Musikfabrik hier leisten, verdient größten Beifall. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier die hochdifferenzierte Harmonik Poppes dargeboten wird, und auch Poppes Leitung, unter der diese enorm komplexe Musik fasslich, über Strecken gar wohlklingend geschmeidig erscheint, sind zwar nicht wirklich überraschend (Poppe leitet in Berlin das ähnlich ambitionierte ensemble mosaik), aber allemal äußerst erfreulich. Die Aufnahmen – teilweise von WDR bzw. Deutschlandfunk Kultur produziert – klingen brillant, räumlich perfekt und dynamisch gut ausbalanciert. Fazit: Eine aufschlussreiche CD, die man Freunden Neuer Musik nur weiterempfehlen kann.

[Martin Blaumeiser, Juni 2021]

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