Alle Beiträge von Oliver Fraenzke

Genie und Wahnsinn

Triton TRI331195, ISBN: 3 760229 161957

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Olivier Greif spielt live auf zwei CDs zwei seiner letzten Werke für Klavier Solo, „Les Plaisirs de Chérence“ und „Portraits et apparitions“. Zudem gibt er zu letzterem eine französischsprachige Einführung.

Zu kaum einem Komponisten und Pianisten zugleich passt die an sich viel zu häufig verwendete Phrase von „Genie und Wahnsinn“ so trefflich wie zu Olivier Greif. Der Stil des zu früh verstorbenen Musikers ist vollkommen frei von jeglichem Denken in Schubladen oder Schulen und absolut unverkennbar eigentümlich. Seine Inspirationen holt er sich aus der gesamten Musikgeschichte, auch jenseits geographischer Begrenzungen, neben Chorälen und Namen wie Beethoven oder Schumann finden sich auch Anleihen aus dem HipHop oder von Lou Reeds „Take a walk on the wild side“. Jedes seiner Werke ist dabei höchst komplex und vielschichtig, Greif beherrscht die kontrapunktische Überlagerung verschiedenster Motive und Rhythmen in überwältigender Weise und nutzt dabei die Möglichkeiten des Klaviers bis ins Letzte und auch ins Abgelegenste aus. Nicht selten sind seine Kompositionen auf mehr als zwei Systemen notiert und nutzen parallel sämtliche Register der Klaviatur vollständig aus. Harmonisch ist das Schaffen Greifs schier unergründbar, in voller Akkordik durchbricht er die Grenzen des tonalen Denkens und schafft sich somit vollkommen unergründete Klangsphären. Trotz dessen bleibt seine Basis das Denken in Grunddreiklängen, die jedoch durch Aufspaltung in große Lagen und Hinzunahme greller Dissonanzen verfremdet und in der Kombination neuartig erscheinen. Die Wiedererkennbarkeit der einzelnen Sätze liegt vor allem an der prägnanten Rhythmik, die diese als roter Faden durchzieht und zusammen mit wiederkehrenden Motiven trotz aller Fremdartigkeit der Musik im Gedächtnis bleiben. Als zentrales Erkennungsmerkmal der Musik Greifs ist jedoch noch zu nennen die geballte, explosive Gewalt, die jedem seiner großen Werke innewohnt und durch extreme Dynamik und wie erwähnt dissonant verschärfte Harmonik in weitgespreizten Lagen deutlich zum Ausdruck kommt. Die resultierende Wirkung ist phänomenal, die Musik hämmert sich sprichwörtlich in den Kopf der Zuhörer ein – wie hier auch sehr schön mit dem Albumcover eines jungen, erstarrten Kopfes mit vielfarbiger Schädeldecke – ein Bezug auf „Mein junges Leben hat ein End‘ – Portrait de l’artiste en jeune crâne“ –, dargestellt.

Beim Hören wird augenblicklich der Eindruck erweckt, Greifs Musik sei nur auf ihn selbst zugeschnitten und kein anderer könne es nur ansatzweise so spielen. Mit größter Passion und innerer Ergriffenheit passt er sich jedem Stückcharakter exakt an und bleibt doch immer er selbst – stetig in mitreißender Obsession, bei der sich kein Zuhörer unangesprochen fühlen kann. Sehr gewaltig und bewusst gewalttätig knallen die Akkorde in die Tastatur und er tobt über die Klaviatur, als wäre es ein Schlachtfeld; und plötzlich, ganz unvermittelt, bricht es ab und er scheint nur mehr zu flüstern, wenngleich mit unverminderter Intensität und Empfindung. Auch scheint es, als habe er die Stücke besser im Kopf, als sie je auf dem Notenblatt niedergeschrieben sein können. Vielmals fügt Greif neue Dynamikabstufungen und unvermittelte Akzente ein, wie sie so überhaupt nicht im Notentext zu finden sind. Auch mit dem Tempo agiert Greif vielerorts frei, doch immer in einem den Zusammenhang gewährleistenden Maße. Es ist wahrlich erstaunlich, wie exakt er all diese höchstkomplexen und unglaublich wilden Werke live darbietet. Jede einzelne Stimme ist einzeln ausgestaltet und gar die einzelnen Akkordtöne perfekt ausgewogen und aufeinander abgestimmt. Die Fehlerquote ist in Anbetracht dessen weniger als marginal, und auch wenn vielleicht einmal ein kaum vernehmliches Stocken auftreten sollte, so lässt einen die schwindelerregende Intensität, strahlende Kraft und alles überwindende Musikalität gar nicht dazu kommen, dessen gewahr zu werden. So gerät der Hörer immer wieder ins Staunen, wie mitreißend und effektgeladen doch ein derart scharfkantiger und heftiger Anschlag sein kann.

„Les Plaisirs de Chérence“ nannte Olivier Greif seine 1997 komponierte 22. Klaviersonate, die an sich eher eine fünfsätzige Suite denn eine Sonate ist, jedoch wie fast jeder Klavierzyklus seiner letzten Schaffensphase als Sonate betitelt ist. Die Sonate erhielt die Opuszahl 319, was den gewaltigen Werkumfang Greifs schauernd erahnen lässt. Wie fast immer betitelte Greif jeden seiner Sätze in individueller Weise, hier lauten sie: „Hallali de Gommecourt“, „Tombeau de Monsieur de Clachaloze“, „Égarements de La Roche-Guyon“, „Fantômes d’Haunte-Isle“ und „Le Carillon de Chérence“. Sehr eingängig ist vor allem der erste Satz durch seine pointierte Melodik, die durch stetig wechselnde Situationen den Satz durchzieht. Ziemlich amüsant ist die Grundidee des dritten Satzes, der den Rhythmus inklusive entsprechender Melodik von Lou Reeds „Take a Walk on the Wild Side“ als Grundmuster verwendet und freitonal ausarbeitet sowie kontrapunktisch mit fremden Motiven kombiniert. Die Aufnahme Greifs von 1998 zeigt ihn in gewohnt unergründlicher Stärke, Brillanz und packender Emotionalität.

Nach der Sonate befindet sich auf der ersten CD noch eine Präsentation über die ersten neun der „Portraits et apparitions“ vom Datum der Uraufführung am 31. Mai 1999. Bedauerlicherweise ist es für jemanden mit nicht überragenden Französischkenntnissen nur sehr schwer zu verstehen, und es liegt keine Übersetzung oder auch nur Zusammenfassung bei. Die Einführung ist sehr humorvoll gestaltet und Greif erzählt unter anderem über die Entstehungsgeschichte, darüber, dass er zuerst ein Stück für die Mutter und den Dackel einer Familie schrieb und dann beschloss, eine ganze Reihe von elf Stücken zu komponieren, welche ganz leicht sein sollen – was ihm allerdings nicht gelingt, und wo er sogar den Eindruck hat, dass, wenn er es spielt, der Komponist den Pianisten verflucht.

Diesen Eindruck erhält man sogar dann, wenn man es bloß anhört. Der über 60-minütige Zyklus aus elf Stücken ist durchzogen von technischen Höchstleistungen und maximalen strukturellen Schwierigkeiten, wobei die Musik immer unmittelbar ergreift und von unausweichlicher Ausrichtung bestimmt ist. Greif selber hat es vor seinem Tod drei Mal aufgenommen, wobei hier die letzte dieser Aufnahmen zu hören ist, wie der Booklettext von Brigitte François-Sappey erläutert. Die erste war die der Uraufführung, mit der zweiten war er nicht zufrieden, und die dritte und hier dokumentierte ist diejenige, die auch ihn selbst am meisten verzauberte – obgleich es nur zufällig von einem Freund mit nichtprofessioneller Ausrüstung spontan aufgenommen wurde, Flügel und Akustik suboptimal und gelegentliche Hintergrundgeräusche bemerkbar sind. Greif nannte den Zyklus den Höhepunkt seines Schaffens, auf welchen alle seine Werke zusteuerten. Was vorliegt, ist eine bunte Mischung aus verschieden langen Stücken, von denen bis auf das kürzeste Mittelstück „I mon waxe mod (Jouir: les larmes du corps)“ jedes einem seiner Freunde gewidmet ist. Immer wieder werden Werke der klassischen Literatur aufgegriffen, Choräle wie „Allein Gott in der Höh'“ und „Wir glauben all‘ an einen Gott“ werden Namen wie Beethoven, Schumann, Britten und Kurtág gegenübergestellt. Gerade die beiden Choräle verbindet Olivier Greif mit modernster Musik, und zwar HipHop und Rap. Den 63-minütigen Klaviermarathon meistert der Komponist in atemberaubender Genauigkeit und sowohl technischer als auch musikalischer Perfektion in höchstem Maße. Am Ende bleibt wohl keiner unberührt von der einmaligen, sowohl genialen als auch wahnsinnigen Musik von Olivier Greif.

[Oliver Fraenzke, August 2015]

Ein musikalisches Panorama von den Hängen des Ararat

Farao Classics B 108086, ISBN: 4 025438 080864

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An der Violine begibt sich Rebekka Hartmann zusammen mit der Pianistin Margarita Oganesjan auf eine Entdeckungstour rund um den Ararat mit Werken von Ahmed Adnan Saygun, Arno Babadschanjan und Edward Baghdassarian.

Eine Gegenüberstellung von türkischer und armenischer Musik erscheint gewagt, wenn man die Vorgeschichte dieser beiden Länder in Augenschein nimmt. Doch über alle politischen Abgründe hinweg betrachten Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan Komponisten beider Länder von einem geographisch zentralen und scheinbar unberührten Standpunkt, dem Ararat. Von hier aus können die beiden jungen Musikerinnen den türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun auf zwei CDs Seite an Seite stellen mit den Armeniern Arno Babadschanjan und Edward Baghdassarian.

Beide Solistinnen profilieren sich in dieser Einspielung als herausragende Interpreten. Rebekka Hartmann kann ihrer frühen Stradivari aus dem Jahre 1675 eine phänomenale Bandbreite an verschiedensten Farbnuancen entlocken, die sich geschmeidig den jeweiligen musikalischen Situationen anpassen. Ihr Klang ist klar, feingliedrig und brillant, er kann sich mühelos an alle volksmusikalischen Momente anschmiegen, nur um plötzlich davon abzureißen und ganz ungehörte und faszinierende Wege zu beschreiten. Erwähnenswert ist vor allem auch Rebekka Hartmanns geschickter Umgang mit Vibrato, welches bis ins kleinste Details überdacht und zudem äußerst sparsam eingesetzt wird, so dass es immer einen Zweck erfüllt anstatt wie heute gewohnt jeden lang gehaltenen Ton in etwas Ungewisses aufzuweichen. An den Tasten steht ihr mit Margarita Oganesjan ein würdiger Widerpart zur Seite. Die Pianistin hat einen recht robusten und voluminösen Ton inne, der mit großem Nachdruck gesetzt ist. Selten wirkt es ein wenig hart und gleichförmig an manchen Stellen, bei denen eine etwas einfühlsamere und gebundenere Gestaltung wünschenswert wäre anstelle eines ein wenig uniformen Staccatos und Portatos, doch kommen die Stücke Margarita Oganesjan merklich entgegen, so dass diese gelegentliche Unausgewogenheit nicht wirklich ins Gewicht fällt – sogar sehr reizvoll macht die Werkauswahl den kräftigen Tonfall der gebürtigen Armenierin. Wahrlich zaubern kann Oganesjan bei der intelligent erfassten Ausgestaltung von Strukturen und Zusammenhängen, wodurch sie jeden noch so komplexen Satz gut verständlich darbietet. Bei allem Verständnis für das verbindende Element vernachlässigt sie auch zu keiner Zeit die pointierten Feinheiten, welche sie einfühlsam und treffend herausarbeitet. Bewundernswert ist das Zusammenwirken der beiden Musikerinnen, das deutlich spüren lässt, wie lange und intensiv Rebekka Hartmann und Margarita Oganesjan bereits zusammen spielen, dass ihre gemeinsame Arbeit eben nicht alleine auf diese Einspielung beschränkt ist. Durchgehend lässt sich eine perfekte Synchronizität der Darstellung feststellen, die Stimmen sind so exakt aufeinander abgehört, dass sie dynamisch und artikulatorisch genau abgestimmt erklingen. Es gibt einen unbeschreiblichen Effekt bei einem langen Decrescendo, wenn tatsächlich alle Stimmen im selben Maße abnehmen und scheinbar das gleiche Empfinden haben, so als wären sie unzertrennbar verbunden. Margarita Oganesjan versteht es neben der Rolle der gleichberechtigten Stimme auch, an entsprechenden Passagen in den Untergrund abzutauchen und eine gut ausgestaltete Begleitung für die improvisatorisch anmutenden Violinkantilenen abzugeben – diese Kunst sollte definitiv weiter verbreitet sein.

Eine wirklich große Entdeckung auf der vorliegenden Doppel-CD ist der Türke Ahmed Adnan Saygun, der gleich mit zwei Werken vertreten ist. Der d’Indy-Student war einer der wichtigsten Sammler türkischer Volksmusik und Gestalter einer modernen türkischen Kunstmusik, die einen Weg findet zwischen westlichen Vorbildern und regionaler Couleur. Sehr interessant ist beispielsweise seine erste Symphonie Op. 29 für kleines Orchester, die eine Synthese zwischen westlichen Formidealen und eindeutig türkischer Klanglichkeit bietet. Diese Eigenschaften weisen auch die beiden einzigen Werke Sayguns für Violine und Klavier auf, die Suite Op. 33 und die Sonate Op. 20. Streng pentatonische Themen und additive Rhythmen verschmelzen in klassischen Formmodellen und freitonal avancierter Harmonik, und resultieren in einer einmaligen Stilfusion. Davon abgesehen lässt sich auch Sayguns aktive Tätigkeit als Musikethnologe in seiner Musik entdecken, so erklingt – vor allem in der Suite Op. 33 deutlich – mal ein fast irisch anmutendes Thema, mal eine deutlich asiatisch angehauchte Melodie, doch immer derart, dass es rückbezüglich auf die türkische Volksmusik ist. In all diesen differenzierten nationalen und internationalen grazilen Komponenten findet sich Rebekka Hartmann, in deren Part sich die meisten dieser Elemente befinden, bestens zurecht und kann sie stets wachsam ins rechte Licht rücken. Margarita Oganesjan beeindruckt hier durch die abgestufte Ausarbeitung eines trockenen Klangs, der so nachvollziehbar ein östliches Lebensgefühl verbreitet und einen spannenden, divergierenden Gegenpart zu der melancholisch schwebenden Violine bildet. Sie beweist ein unbestechliches Einfühlungsvermögen für diese Musik und beherrscht sowohl das Herausmeißeln der mehr als ungewohnten Tongebilde als auch selbst die beziehungsreich komplexe Strukturanlage der Sonate mühelos und mit großer Natürlichkeit. Anders als die kommenden anderen Texte ist die schlicht gehaltene Einführung des türkischen Komponisten Hasan Uçarsu zu Ahmed Adnan Saygun durchaus informativ und steckt tief in der Materie der türkischen Folklore, die sich so vielgestaltig in den Werken des Komponisten spiegelt (die vier Sätze der Suite sind gar verschiedenen Regionen der Türkei gewidmet, deren Volksmusik sie entweder direkt zitieren oder ununterscheidbar vom Original imitieren).

Ebenfalls eine Musik, die unbedingt mehr Aufmerksamkeit verdient und eine intensive Auseinandersetzung damit wert ist, ist die von Arno Babadschanjan, dessen Violinsonate aus dem Jahre 1959 mit 28 Minuten das großformatigste Werk dieser Einspielung ist. Das effektgeladene Werk verbindet hohe Komplexität mit eingängigen Melodien, wobei insbesondere der dritte Satz, in welchem die apotheotisch für den Widmungsträger Dmitri Schostakowitsch stehende Symbolphrase heraushörbar ist, mit spürbarer Prägnanz im Ohr bleibt. Trotz dessen wird der Hörer immer wieder überrascht von plötzlichen neuen Einfällen, die einen unerwartet überrollen und die gesamte Struktur aufbrechen. Die schlagartigen Wechsel werden von beiden Musikerinnen mit überwältigender Genauigkeit ausgeführt, sofort fühlen sie sich wohl in jedem neuen Terrain, ohne dass ein noch so geringer Nachhall von Vorherigem vernehmbar wäre. In dieser Sonate demonstriert Magarita Oganesjan mancherorts auch einmal ihre weiche und lyrische Seite – umso intensiver wirkt es, wenn sie dann wieder mehr Härte dominiert.

Beschlossen wird die Einspielung von einem Werk, das ein Jahr vor der Sonate Babadschanjans entstand, der Rhapsodie für Violine und Klavier von Edward Baghdassarian, der auch Margarita Oganesjan als kleines Mädchen in Komposition unterrichtete. Nach den vorangehenden Geniestreichen fällt die Rhapsodie kompositorisch etwas ab. So schöne Momente sie auch haben mag, so weist sie auch etliche musikalisch flache und voraussehbare Passagen auf, wenngleich letztlich auch hier das Zauberhafte überwiegt. Nichts desto Trotz ist es ein besonderer Tribut an den ehemaligen Lehrer von Margarita Oganesjan und verdient somit durchaus einen Platz auf dieser mehr als empfehlenswerten musikalischen, exemplarischen Rundreise durch die Gebiete rund um den Ararat.

[Oliver Fraenzke, August 2015]

Ein Anschlag, der aufhorchen lässt

Alpha CD 203, Outhere Music, ISBN: 3 760014 192036

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Anna Vinnitskaya ist Solistin in den Klavierkonzerten von Dmitri Schostakowitsch, zusammen mit der Kremerata Baltica. Im ersten Konzert wird sie flankiert vom Solotrompeter Tobias Willner und im zweiten sekundiert von den Bläsern der Staatskapelle Dresden sowie dem Dirigenten Omer Meir Wellber. Gemeinsam mit Ivan Rudin folgen das Concertino Op. 94 sowie die Tarantella für zwei Klaviere.

Das vierte Album der jungen Pianistin Anna Vinnitskaya ist vollständig der Musik von Dmitri Schostakowitsch gewidmet, die den pianistischen Werdegang der Russin von Anfang an prägte. Die beiden mit großem Abstand voneinander komponierten Klavierkonzerte sowie zwei Werke für zwei Klaviere bilden das mit unter 50 Minuten recht knappe, dabei durchaus prägnante Programm. Gerade bei den Klavierkonzerten liegen die Ansprüche an eine Aufnahme extrem hoch, spielte doch schließlich der Komponist beide vortrefflich selber ein. So findet sich vom Konzert Op. 35 eine Aufnahme unter Samuil Samosud mit dem Moscow Philharmonic Orchestra und dem Trompeter Josif Volovnik, sowie vom F-Dur-Konzert Op. 102 mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter Leitung des belgisch-deutschen Dirigenten André Cluytens. Diese genannten Platten sind absolut maßstabsetzend, kein Wunsch bleibt offen bei dem harten, präzisen und vor allem kernigen Anschlag Schostakowitschs, der es genau versteht, einen fülligen und vielschichtigen Klang zu erzeugen frei von jeder unnötigen Gewalt und Versteifung, und der jenes unablässige Precipitando-Grundgefühl erzeugt, ohne tatsächlich davonzueilen. Natürlich gilt es nicht, dieses absolut einmalige und unverwechselbare Spiel des Komponisten blind nachzuahmen, doch sollte es einen gewissen Anhaltspunkt geben im Bezug auf den Charakter, die Klanglichkeit der Klavierstimme sowie auf die stimmige Zusammenarbeit mit dem Orchester.

Eben diese Faktoren berücksichtigt Anna Vinnitskaya bei ihrem Spiel, das als höchste Grundprinzipien Klarheit, Präzision und Durchhörbarkeit zu haben scheint. Dennoch findet sie ihren eigenen Stil, nimmt den Konzerten somit an Härte und lässt stattdessen mancherorts einen leichten romantisch angehauchten Schleier über die Melodielinien sinken. Die Kremerata Baltica und die Bläser der Staatskapelle Dresden passen sich der Solistin an und lassen sogar in engen tiefen Lagen jede einzelne Stimme heraushören, was in zahlreichen anderen Interpretationen in ein undurchsichtiges Gebräu abgleitet. Besonders erstaunlich ist das gute Zusammenspiel beim ersten Konzert für Klavier, Trompete und Streicher, welches die Solistin vom Klavier aus dirigiert, was üblicherweise zu weit größeren Auffassungsdifferenzen und Asynchronitäten führt, hier jedoch eine detailgetreu abgestimmte Ausgestaltung des Orchestersatzes nicht verhindert.

So gut das Konzept ihres ausgefeilten Anschlags auch aufgehen mag, so fällt im Vergleich zu den Aufnahmen des Komponisten selbst doch teilweise auf, dass der oft eher weiche und vornehmlich zurückhaltende Tastendruck manche Kulminationen verharmlost und bei Weitem friedlicher, gezähmter dastehen lässt. Auch geht ihr die Fülligkeit des Schostakowitsch’schen Anschlags ab, weshalb passagenweise ein recht dünner Klang entsteht, was allerdings auch zum anpassungsfähigen und somit ebenso Zurückhaltung übenden Orchester passt. Diese Feingliedrigkeit und sanfte Präzision birgt jedoch auch zweifelsfrei einen ganz eigenen Charme und eröffnet neue Räume zur Entfaltung. Und dass sie auch harte Klänge mit nur geringem Maß an Gewaltanwendung beherrscht, beweist Anna Vinnitskaya mehr als einmal, vor allem im vierten Satz des ersten Konzerts. Ein wenig scheint ihr in diesem Satz dennoch der Witz zu fehlen, der der Musik eigentlich so spürbar innewohnt, da hier die Lockerheit im Rausch der Perfektion auf der Strecke bleibt. Der Stil bleibt dabei jedoch durchgehend konstant und so verliert das Konzert nicht den großen Bogen, der alle vier Sätze des Op. 35 zusammenschweißt und ein einheitliches, aus einem einzigen Guss entstehendes Ganzes sich entfalten lässt.

Tobias Willner an der Solotrompete erweist sich als sehr vielseitig und klangfarbenreich, etliche Nuancen kann er seinem Instrument entlocken. Auch er dämpft meist lieber etwas ab, als allzu extrovertiert herauszuspielen, weiß dafür auch die dunklen Klangspektren auszukosten. Auch Omer Meir Wellber als Dirigent im zweiten Klavierkonzert stellt sich als eine vortreffliche Wahl heraus, sehr auf die energetische Spannung fixiert arbeitet er kleinste Orchestermelodien vielgesichtig heraus und schafft eine deckende Fülle, die den Bezug zum Klavier zu keiner Zeit verliert. Bei solch einem Zusammenspiel ist besonders der Eröffnungssatz des Konzerts Op. 102 von farbenprächtiger Differenziertheit und auch der berühmt gewordene Mittelsatz hebt sich deutlich durch das Wahrnehmbarmachen aller Einzelstimmen in dieser Aufnahme ab. Lediglich der Finalsatz erscheint ein wenig eintönig im Vergleich zu dem Rest, was bei den gleichförmig durchgehenden Sechzehntelläufen und den stetig wiederkehrenden Motiven auch schwerlich zu vermeiden ist und fast nur von Schostakowitsch selbst wirklich überzeugend gelöst wurde. Durch ausgeklügelte ausgefeiltes Spiel lenkt Vinnitskaya allerdings die Aufmerksamkeit recht erfolgreich von diesem nicht allzu erheblichen Mangel ab.

Es folgen noch zwei Werke für zwei Klaviere, die Anna Vinnitskaya zusammen mit Ivan Rudin darbietet. Es handelt sich um das häufig in Kombination mit den Klavierkonzerten eingespielte Concertino Op. 94 sowie die fast nie zu hörende Tarantella, die Schostakowitschs letztes Klavierwerk sein sollte. Über beide Werke lassen sich verschiedene Sekundärquellen nur wenig aus, und auch der kurze, aber informative und konzentrierte Bookletttext von Tobias Niederschlag kann außer den Interpreten der ersten Aufführung des Conertinos (Maxim Schostakowitsch, Sohn des Komponisten, und seine Mitschülerin Alla Maloletkowa) keine nennenswerten Informationen bieten. Ebenso wenig allerdings auch die lesenswerte Monographie von Krzysztof Meyer. Beide Werke gehören nicht zu den herausragenden Schöpfungen Schostakowitschs, doch rundet gerade die kurze und virtuose Tarantella die CD gelungen ab, als wäre sie die Zugabe nach einem Konzert. Die beiden Pianisten können sich auch gut aufeinander einstellen und ihr Spiel wirkt zu keiner Zeit stilistisch divergierend. In perfekter Synchronizität sind sie bestens aufeinander eingespielt. Wie auch in den Konzerten findet der Hörer bei weitem weniger Härte als in anderen historischen Aufnahmen wie jenen des Komponisten und auch ein geringeres Maß an Trockenheit, doch gewöhnt man sich schnell an diesen etwas weicher gezeichneten Anschlag, mit dem beide Pianisten trefflich zusammenwirken.

[Oliver Fraenzke, August 2015]

Maßlose Freiheit

Atma Classique ACD2 2696, ISBN: 7 22056 26962 9

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Die polnisch-kanadische Pianistin Janina Fialkowska mit einer Auswahl der Lyrischen Stücke von Edvard Grieg.

Nach zahlreichen CD-Erscheinungen mit Werken von Chopin, Liszt, Mozart und Schubert wendet sich die polnisch-kanadische Pianistin Janina Fialkowska nun dem hohen Norden zu. Einige wohlvertraute Klänge sind zu hören auf ihrem neuen Album, das komplett den Lyrischen Stücken von Edvard Grieg gewidmet ist und eine bunte Auswahl aus allen zehn Heften dieser berühmten Miniaturensammlung bietet. Von den bekannten Stücken sind etliche wiederzufinden, doch auch ein paar der eher vernachlässigten Klavierminiaturen wie Salong (Salon) oder Bådnlåt (An der Wiege) sind in der Einspielung enthalten.

Der äußere Schein des sehr düster und geheimnisvoll anmutenden Covers trügt, die gewählten Stücke sind im Großen und Ganzen eher die freundlichen und helleren, doch wirkt das Erscheinungsbild dennoch äußerst ansprechend. Dieses allerdings nun doch eher zum Leidwesen der Hörer, die bei schlechtem Licht die Titelauswahl auf der Rückseite in schwarzer Schrift auf dunklem Untergrund tendenziell nur schwerlich zu lesen vermögen. Der Booklettext ist oberflächlich und gibt lediglich stichpunktartig Auskunft über das gewaltige Schaffensspektrum, welches in dem mehr als dreistündigen Zyklus ausgebreitet ist. Wer sich ein wenig intensiver mit den 66 Miniaturen beschäftigen will, dem sei als Einführung der Beitrag „Nordisch gehört: das Lyrische. Zum Charakteristikum schlechthin in Edvard Griegs Klavierschaffen“ von Joachim Dorfmüller empfohlen, der 2005 im von Ulrich Tadday herausgegebenen Band „Musik-Konzepte 127. Edvard Grieg“ erschienen ist.

Janina Fialkowskas Spiel erweist sich als klangfarbenreich und im positiven Sinne naiv, was wohl die wichtigste Voraussetzung für eine gelungene Aufführung von Edvard Griegs Musik darstellt. Die Musik muss ganz natürlich und möglichst wenig künstlich wirken, fast eingebungshaft improvisatorisch und aus vollem Herzen echtes Gefühl verströmend. Diese Art des unmittelbaren Ausdrucks kann Fialkowska vielerorts verströmen, nur manches wirkt zu übertrieben und lässt die Unverfälschtheit kurzzeitig bröckeln.

An die Angaben im Notentext hält sich die Pianistin kaum, gerade im Bereich der Dynamik interpretiert Janina Fialkowska nach ihrem eigenen Gutdünken, so ist oft genug ein Piano in gleicher Dynamikstufe wie ein Forte – oder gar lauter – zu hören und Akzente werden passagenweise vollständig vergessen. Dies ist sehr bedauerlich, wenn man bedenkt, wie groß das Lautstärkenspektrum Janina Fialkowskas ist, das von aufbrausendem Donnern frei von jedem gefühllosen Schlagen bis hin zum dezentesten Hauchen reicht, doch bei zahlreichen Gelegenheiten bei Weitem nicht voll ausgeschöpft wird. Ebenfalls fragwürdig frei agiert Fialkowska mit dem Tempo: Nicht nur, dass manche Tempoangaben alles andere als ernst genommen werden und interne Tempowechsel viel zu extrem kontrastierend verstanden sind, sondern auch in den Melodielinien selber spielt die Pianistin ungehalten mit der Geschwindigkeit. Phrasenenden werden gerne um ein bis zwei Schläge länger und spontane kurze Notenwerte brechen sofort haltlos abrupt nach vorne aus. Betrachtet man die historischen Aufnahmen von Edvard Grieg, der einige Stücke selbst einspielte (unter anderem den hier auch vorliegenden Fommerfugl/Schmetterling), so sticht natürlich umgehend ins Auge, dass auch er das freie Rubato präferierte, doch sollte bei modernen Aufnahmen wenigstens eine gewisse Zügelung weg von den willkürlichen Erscheinungen erkennbar sein – in dem Sinne, dass das Rubato nicht von der Takteinteilung bestimmt ist, sondern sich sinnfällig wie von selbst aus der energetischen Aufladung der Linie ergibt. Die Kombination der Dynamik- und Tempofreiheiten geht hier zudem nicht selten auf Kosten der Gesanglichkeit der Melodie, die durchaus mehr als einmal ins Stocken gerät oder von unvermittelten Akzenten aus anderen Stimmen unterminiert wird. Besonders deutlich sind beide Aspekte direkt im zweiten Stück der CD, der Folkevise (Volksweise), einem an den Springdans (Springtanz) angelehnten Volkstanz im 3/4-Takt. Dieser gerät hier vollkommen untanzbar, denn schon im ersten Takt zieht das Tempo direkt an, nur um gegen Phrasenende wieder abzubremsen. Der zweite Abschnitt im Mezzoforte ist von dem Pianoteil eigentlich überhaupt nicht zu unterscheiden, bei der Wiederholung ist gar das Mezzoforte leiser als das Piano. Auch ist etwa das einleitende Allegretto in Aften på höyfjellet (Abend im Hochgebirge) keineswegs schneller als das folgende Andante espressivo.

Jedoch sind nicht alle Stücke gleichermaßen von solchen kontraproduktiven Elementen durchzogen, an vielen Passagen eröffnen sich auch sehr reine und magisch anmutende Momente. Gerade die schnelleren Miniaturen erhalten ein wahres Rauschen in absoluter Lockerheit und Präzision, wie beispielsweise im Bekken (Bächlein) oder im Småtroll (Kobold) feinsinnig und nachdrücklich unter Beweis gestellt.

Manchen Aspekt meistert Fialkowska auch mit komplett unterschiedlichen Ergebnissen wie den imitierenden Umgang mit Unterstimmen, denn während sie im Kanon noch rein auf die Oberstimme fixiert ist und die gleichwertige Partnerstimme ziemlich untergeordnet darstellt, ist bei Gade ein lebendiges Wechselspiel der beiden oft kanonisch laufenden Stimmen zu hören. Im berühmten Trolltog (Zug der Trolle) kann sie sich gar überhaupt nicht zwischen den beiden Alternativen entscheiden, spielt die akzentuierten Oktaven in der linken Hand als eigenständige Linie und die folgenden ebenso zu akzentuierenden Einzeltöne der Motivwiederholung lässt sie eher untergehen.

Der Rahmen des gesamten Zyklus’, bestehend aus Arietta und Efterklang (Nachklänge), denen ein und dieselbe Melodie zugrunde liegt, zerfällt bedauerlicherweise ein wenig, weil die Verwandtschaft zu sehr im Verborgenen bleibt und die Gemeinsamkeit der Stücke zugunsten der Unterschiedlichkeit vom 2/4- zum 3/4-Takt verloren geht.

Darstellerische Höhepunkte der CD sind neben dem oft als Herzstück der Lyrischen Stücke angesehenen Bryllupsdag på Troldhaugen (Hochzeitstag auf Troldhaugen) auch For dine fötter (Zu deinen Füßen) mit seiner vielgesichtigen Darstellung der simplen Melodie, Sylfide (Sylphe) mit luftig hellem und durchsichtigem Ton, Det var engang (Es war einmal) durch die starken Kontraste sowie das folgende Stück Sommeraften (Sommerabend).

Das vielseitige Können von Janina Fialkowska ist keineswegs in Frage zu stellen, ganz leicht aus der Hand geschüttelt wirken die schwierigsten der Lyrischen Stücke mit dennoch erstaunlicher Ausgestaltung. Lediglich zu wünschen wäre, sie würde es mit der interpretatorischen Freiheit gelegentlich nicht allzu sehr übertreiben und mehr den Notentext beachten – die vorgeschriebenen Feinheiten hat der selbstkritische Edvard Grieg sicherlich nicht aus Versehen so in den Notentext hineingeschrieben.

[Oliver Fraenzke, Juli 2015]

Sternstunde für Foulds und Maceratini

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Ottavia Maria Maceratini

In mehrfacher Hinsicht ein Ereignis besonderen Ranges war das Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin in der Reihe ‚DeutschlandRadio Debüt’ am 24. Februar. Unter Leitung des einstigen Concertgebouw-Schlagzeugers und Abbado-Assistenten Gustavo Gimeno, der im Herbst die Leitung des Philharmonischen Orchesters Luxemburg übernehmen wird, spielten nicht nur zwei junge Solisten erstmals in der Philharmonie, es erklangen auch gleich drei unbekannte Werke, darunter – 86 Jahre nach der Vollendung – das Klavierkonzert ‚Dynamic Triptych’ von John Foulds in deutscher Erstaufführung.
Den Auftakt bildete die so kurze wie turbulent richtungslos tobende Ouvertüre zur Oper ‚The Tempest’ von Thomas Adès, der in diesem fünfminütigen Stück nun doch ziemlich enttäuschte, wenn man bedenkt, welches Potenzial er in einigen anderen Werken längst bewiesen hat. ‚Viel Lärm um nichts’, vielleicht noch am ehesten als „gut gemacht“ zu rechtfertigen, aber auch dazu angetan, für das Folgende zu desensibilieren. Zum Schluss erklang Prokofieffs geniale ‚Symphonie classique’, die auch nach einem knappen Jahrhundert kein Körnchen Staub angesetzt hat, bei der allerdings auch zu beobachten war, dass mehr Proben auch für ein delikates Standardwerk kein Fehler wären, und dass einige überflüssige Showgesten eines jungen Dirigenten nichts zum besseren Verständnis beitragen.
Nach der Pause erklang jedoch zunächst Mieczyslaw Weinbergs aus schwermütig jiddischer Volkstümlichkeit erwachsendes und zum Ende zyklisch dieses Beginnen wieder aufgreifendes Cellokonzert op. 43 von 1948. Weinbergs Musik scheint sich seit der durch die Bregenzer Aufführung seiner Oper ‚Die Passagierin’ schnell angelaufenen Entdeckung tatsächlich nachhaltig in unseren Konzertsälen zu etablieren, was sicher sowohl mit der Aufarbeitung der Geschichte der Judenverfolgung als auch mit der ungeheuren Popularität seines Freundes Dmitrij Schostakowitsch zu tun hat, der Weinberg nach seiner Flucht von Polen in die Sowjetunion nach allen Möglichkeiten vor staatlichem Zugriff, ja letzten Endes sogar vor der Deportation nach Sibirien schützte. Weinbergs Musik ist in weiten Strecken eng mit jener Schostakowitschs verwandt, aber doch stets stark, vital und interessant genug, um nicht als epigonal abgetan zu werden. Allerdings verdienten auch andere Komponisten der ehemaligen Sowjetunion wie die Ukrainer Liatoschinsky und Stankovich, die Russen Tishchenko oder Slonimsky ähnliche Ehren, wäre Weinbergs Entdeckung tatsächlich mit dem Gedanken historischer Gerechtigkeit verbunden. Weinbergs Stil spricht im Hörer unmittelbar das Vertraute an, in der Faktur, in der einfachen Ausdrucksgeladenheit der Linie, die je nach Darstellung eher sentimental, karg und nüchtern oder auch wirklich weitausschwingend daherkommen kann. In seinem Cellokonzert hat Weinberg eine kleine Orchesterbesetzung mit 3 Flöten, 3 Klarinetten, 4 Hörnern, 2 Trompeten, Bassposaune, Pauken und Streichern gewählt, was Betonung der tiefen, weichen Farben und weitestgehende Durchhörbarkeit zugunsten des Solisten zur Folge hat, aber auch in den rhythmisch markanteren, wilderen Passagen des Scherzos und auch Finales eine echt charakteristische Zuspitzung nur dann erlaubt, wenn die Trompeten im Einsatz sind. Solist Valentin Radutiu spielte mit Hingabe und Intensität. Wer seine grandiose Aufnahme der Cellosonaten von Enescu kennt und ihn von daher für den führenden Cellisten der jungen Generation hält, durfte aber auch etwas ernüchtert sein, denn so einfühlsam und innig er einerseits gestaltete, so nivellierend wirkte auf seinen Ausdruck das fortwährende Vibrato mit fast durchgehend zu weiter Amplitude und insbesondere in den hohen Lagen intonationstrübenden Auswirkungen. Hier spielt ohne jeden Zweifel ein hochbegabter Künstler, der die Musik im Blut hat und auch intellektuell und intuitiv vieles treffsicher erfasst, doch sei ihm geraten, diesen Makel umgehend zu korrigieren und kontinuierliche Bewusstheit über das Vibrato zu entwickeln, auf dass sich keine unnötigen mechanischen Elemente dauerhaft  in sein Spiel einschleichen. Als Zugabe spielte er Casals’ ‚Gesang der Vögel’ und setzte damit die elegische Kantilene des Cellokonzerts sinnfällig fort.
Höhepunkt des Konzert war vor der Pause die deutsche Première des 1929 in Paris vollendeten Klavierkonzerts ‚Dynamic Triptych’ von John Foulds (1880-1939) durch Ottavia Maria Maceratini. Natürlich ist es bei der mächtigen Klangentfaltung der Tutti des großen Orchesters eine extreme Herausforderung für den Solisten, sich stellenweise überhaupt noch Gehör zu verschaffen. Doch wäre es zuvorderst Aufgabe des Dirigenten, die Blechbläser insoweit im Zaum zu halten, dass das Klavier sich behaupten kann. Vielleicht waren es dafür auch zu wenige Proben, doch steht außer Zweifel, dass Gimeno, selbst sehr angeregt, im Fortissimo eher noch zu mehr animierte. Seine Gestik ist zwar exakt, doch atmet er nicht, und auch sein Gespür für die harmonischen Wirkungen und Richtungen ist noch sehr entwicklungsbedürftig, wodurch sich in allen Stücken des Abends eine gewisse Gleichförmigkeit des Ausdrucks ergab. Ottavia Maria Maceratini erwies sich in den brillant bewegten Ecksätzen des unerhört genialen Konzerts von Foulds, das tatsächlich auf einer Höhe mit den später entstandenen Konzerten von Ravel steht, und auch mit Bartók und Prokofieff, als meisterhaft gelassen groovende Naturbegabung von imponierender Kraft, lebendiger Präzision und explosiver Freude. Gleichwohl war auch ihr Spiel gerade im ersten Satz nicht völlig frei von automatischen Betonungen. Der langsame Satz, ein zeitloses Juwel der neueren Klavierliteratur, geriet insgesamt zu flüchtig und unruhig, um seine ganze Magie zu entfalten, hinterließ jedoch ungeachtet dessen einen überwältigenden Eindruck. Am großartigsten freilich war Maceratinis Spiel in der Zugabe, einem ‚Persian Love Song’ von John Foulds, den sie mit sorgfältigster Vollendung zusammenhängender Gestaltung und so innig erfühlter und raffiniert zelebrierter wie unsentimental empfundener Tongebung zu einem Moment der Ewigkeit im Hier und Jetzt werden ließ. Möge sie noch mehr vertrauen auf die Magie dessen, was ihr zur Verfügung steht, und ohne einen Anflug von Eile oder Unsicherheit den Hörer mitnehmen, mit dem Mut zum vollendeten Nonkonformismus. Nach diesem Auftritt hoffen wir, künftig mehr von John Foulds zu hören, und erwarten höchste Qualität von der jungen italienischen Pianistin, die sich ohne jegliche Mätzchen dem Dienst an der zeitlosen Sache hingeben kann.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, 2015]

Divergierende Werke des 21. Jahrhunderts

Das Streichquartett der Akademie St. Blasius debütiert am 9. Juni 2015 mit Werken von Anders Eliasson, Christian Gamper und Thomas Larcher in der Reihe „Musik im Studio“ des ORF in Innsbruck.

„Die Akademie hat es sich zur Aufgabe gesetzt, aufgeschlossene Zuhörer einzuladen, sich auf die Suche nach Neuem zu begeben.“ Dieser Satz aus dem Programmhefttext gilt exemplarisch für den Konzertabend am 09. Juni im Studio 3 des ORF in Innsbruck. Auf dem Programm stehen drei zeitgenössische Komponisten mit Werken für Streichtrio und -quartett, wie man sie viel zu selten zu hören bekommt. Den Beginn macht das Trio d’Archi mit dem Untertitel Ahnungen des 2013 verstorbenen Anders Eliasson aus dem Jahre 2012, nach der Pause erklingt erstmals das erste Streichquartett in fis-Moll des 1971 geborenen Tirolers Christian Gamper und schließlich wird der Abend von Thomas Larchers IXXU für letztere Besetzung abgerundet. Die Interpreten sind das erstmals sich öffentlich präsentierende Streichquartett der Akademie St. Blasius, bestehend aus Monika Grabowska, Anja Schaller, Andreas Ticozzi und Barbara Riccabona.

Das wahrlich hürdenreiche Programm meistern die Musiker mit Bravour, sie behalten auch in den zerklüftetsten Passagen Durchsichtigkeit und Glanz. Besonders hervorgehoben sei Anja Schaller an der zweiten Violine, die durch ihre Fähigkeit des Zuhörens und Anpassens an ihre Kollegen als ideale Kammermusikerin erscheint. Sie ist es, die als energetisches Zentrum des Quartetts fungiert und die Kräfte der Musiker unaufdringlich, quasi aus dem Hintergrund, zu lenken und bündeln vermag, was dem geschlossenen Ausdruck sehr zu Gute kommt. Das gilt gerade auch hinsichtlich der Balance in den beiden Streichquartetten, die wesentlich stimmiger ist als im Trio, wo Anja Schaller nicht mitwirkt. Insgesamt gesehen haben wir es hier auch mit drei weiteren exzellenten Künstlern zu tun: Monika Grabowska ist eine äußerst präzise und dominante Konzertmeisterin mit strahlendem Klang, Andreas Ticozzi ein eher zurückhaltender und lauschender Bratschist mit feinsinnigem Spiel, und Barbara Riccabona gibt am Violoncello eine exzellente Klangbasis, auf die das ganze Geflecht der Stimmen sich gut stützen und aufbauen kann.

Gleich zwei große Kenner und Freunde von Anders Eliasson sind im Auditorium vertreten, und einer von ihnen, Dr. Peter Kislinger, gibt sogar in einer kompakten Einführung bisher unveröffentlichte Informationen rund um das zu hörende Trio preis. Besser als in jeglicher Lektüre darstellbar spricht er über die Namensfindung und die Reaktionen des schwerkranken Komponisten auf sein letztes Werk, welches er einen Monat vor seinem Ableben noch in digitaler Form zu hören bekam. Durchzogen von höchster Komplexität im Bereich der Rhythmik, Harmonik und auch der Melodik ist das dem Trio ZilliacusPerssonRaitinen gewidmete Werk eine extreme Herausforderung für alle Beteiligten, da sie zu keiner Zeit den polyphonen Kontext in diesem einheitlichen und nur sporadisch in drei satzähnliche Tempozonen geteilten Trio aus dem Bewusstsein verlieren dürfen. Nebst all dem sind auch die ständig im Wandel befindlichen Motive zu beachten, die das gesamte Werk über 520 Takte durchziehen. Alles befindet sich im Fluss – oder, wie Eliasson sagte, alle wahre Musik sei wie H2O –, ständig fortgehend und sich entwickelnd ohne einen Moment der Stagnation oder der leeren Mechanik. Auch im Hinblick auf seine eigene musikalische Entwicklung trifft diese Aussage zu, denn obgleich sich in diesem letzten Werk des Schweden einige für seine Musik typische Elemente sowie der ihm ganz eigene und unverwechselbare Streicherklang finden, hat es doch eine ganz eigene Prägung, und er selbst meinte dazu: „Da ist mir doch noch ‚was ganz Neues eingefallen!“ Bei den Musikern ist eine erstaunlich gute Auseinandersetzung mit diesem beziehungsreichen Streichtrio bemerkbar, die Stimmen sind gut aufeinander eingespielt und finden sich stets zurecht in der rhythmischen Vielgliedrigkeit, die nuancenreich ausgespielt wird. Lediglich einmal, kurz vor Ende des zweiten Satzes bröckelt das Zusammenspielt aufgrund eines Zögerns der Violine, wodurch das Pulsieren für einen Moment unklar wird, doch schnell findet man wieder zusammen. Ein wenig zu leise und zurückhaltend erklingt die Bratsche und droht immer wieder hinter den beiden Außenstimmen zu verschwinden, was sich allerdings in den beiden folgenden Quartetten nicht wiederholt. Bedauerlich ist, dass das Trio nach dem ersten Satz eine zu lange Pause einlegt und die Instrumente absetzt, anstatt die Spannung über die Fermatepause zu halten und das Werk in energetischer Gesamtheit erstehen zu lassen.

Nach der Pause erklingt die Uraufführung des 1. Streichquartetts von Christian Gamper, das auf das „Tumpfer Klasele“, frei übersetzt stumpfsinniges Kläuschen, Bezug nimmt – einen zur Bauernlegende gewordenen Einwohner des Heimatortes des Komponisten. In diesem Werk besteht zwischen den Sätzen absolut kein musikalischer Zusammenhang. Wie auch das Quartett an sich ist der erste Satz betitelt, der den Klasele auf avancierte Weise unter Vermeidung von übermäßig vielen Tönen darzustellen versucht. „Schworz aufgwondlt“ heißt der zweite Satz, in welchem der Klasele als Pastor bei einer Hostienverwandlung schwarz sah. Doch anstelle eines dramatischen Bogens hin zu einem Finale erfährt der Zuhörer lediglich durchgehendes Gequietsche und andere dissonante Geräusche ohne jede Art der Spannungsentwicklung, wodurch dieser Satz eindeutig zum Tiefpunkt des Abends wird. Ein unerwarteter Wechsel ereignet sich im dritten Satz, erstmals sind wirklich Harmonie und Melodie erkennbar sowie die vorgezeichnete Grundtonart annähernderweise vorhanden – es geht hier um einen seltsam vorgeführten „Landler“ des tumpfen Klasele. Sogar von Gamper selbst als stärksten Satz eingestuft zeigt sich das Finale „Pfiat enk“ als größte Inspiration dieses Quartetts und schafft durch Aufgreifen des bisher eher verfremdet wirkenden Volksliedthemas in authentischerer Form auch einen gewissen Zusammenhang über die stilistischen Differenzen hinweg. Dieser Satz illustriert am spürbarsten den Ideenreichtum des Tiroler Komponisten, der sich ab dem Landler deutlich entfalten kann. Trotz des ungleichen musikalischen Gehalts bleibt das Streichquartett der Akademie St. Blasius durchgehend konzentriert und mitreißend bei der Sache und es gelingt ihm, auch den gesichtsloseren Sätzen klanglichen Reiz abzugewinnen, was ihm gerade aus Sicht des Komponisten sehr hoch angerechnet werden dürfte. Allerdings setzen auch hier die Musiker zwischen den einzelnen Abschnitten der Sätze wieder teilweise irritierend lange ab, so dass der erste Satz gar wie zweigeteilt erscheint, was für die Zuhörer erst bei Beginn des Landlers bemerkbar wird.

Zum Schluss erklingt von einem der bekannteren zeitgenössischen Komponisten, Thomas Larcher, IXXU für Streichquartett. In prägnanter Formung zeigt der Komponist eine dichte und konzentrierte Technik, im Gegensatz zu Gamper fast vollständig unter Verzicht auf äußerliche Effekte. Das 2005 uraufgeführte Werk verfolgt durch seine dreisätzige Form (flüchtig, nervös – sehr schnell, präzise – ruhig) eine klare Linie von rasenden Polyphoniegebilden hin zu träumerischen Sphären. Gerade letztere strömen eine unglaubliche Magie aus und verzaubern mit einem fantastischen Farbenspektrum. Die schnelleren Passagen demonstrieren hohes technisches Können und Ausdrucksgehalt, auch wenn sie im Vergleich zu den losgelösten ruhigen Phasen noch ein wenig „gemacht“ wirken und nicht diese Freiheit und Weite verströmen. Wie zuvor brillieren die Streicher in diesem sehr anspruchsvollen Stück und werden sowohl den unruhigen als auch den sanften und magischen Momenten mehr als gerecht.

Es ist wahrlich erstaunlich, was die Stimmführer der Akademie St. Blasius, obwohl nicht einmal erstes Orchester der Stadt, hier zustande bringen, vor allem in Anbetracht dessen, dass dies ihr erster öffentlicher Auftritt als Kammermusikformation ist. Das Konzert ist von einem hervorragenden Niveau, wie man es von wesentlich bekannteren Institutionen für zeitgenössische Musik aus bedeutend größeren Metropolen auch nicht überzeugender erwarten kann.

[Oliver Fraenzke, Juni 2015]