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Maßlose Freiheit

Atma Classique ACD2 2696, ISBN: 7 22056 26962 9

Grieg-001

Die polnisch-kanadische Pianistin Janina Fialkowska mit einer Auswahl der Lyrischen Stücke von Edvard Grieg.

Nach zahlreichen CD-Erscheinungen mit Werken von Chopin, Liszt, Mozart und Schubert wendet sich die polnisch-kanadische Pianistin Janina Fialkowska nun dem hohen Norden zu. Einige wohlvertraute Klänge sind zu hören auf ihrem neuen Album, das komplett den Lyrischen Stücken von Edvard Grieg gewidmet ist und eine bunte Auswahl aus allen zehn Heften dieser berühmten Miniaturensammlung bietet. Von den bekannten Stücken sind etliche wiederzufinden, doch auch ein paar der eher vernachlässigten Klavierminiaturen wie Salong (Salon) oder Bådnlåt (An der Wiege) sind in der Einspielung enthalten.

Der äußere Schein des sehr düster und geheimnisvoll anmutenden Covers trügt, die gewählten Stücke sind im Großen und Ganzen eher die freundlichen und helleren, doch wirkt das Erscheinungsbild dennoch äußerst ansprechend. Dieses allerdings nun doch eher zum Leidwesen der Hörer, die bei schlechtem Licht die Titelauswahl auf der Rückseite in schwarzer Schrift auf dunklem Untergrund tendenziell nur schwerlich zu lesen vermögen. Der Booklettext ist oberflächlich und gibt lediglich stichpunktartig Auskunft über das gewaltige Schaffensspektrum, welches in dem mehr als dreistündigen Zyklus ausgebreitet ist. Wer sich ein wenig intensiver mit den 66 Miniaturen beschäftigen will, dem sei als Einführung der Beitrag „Nordisch gehört: das Lyrische. Zum Charakteristikum schlechthin in Edvard Griegs Klavierschaffen“ von Joachim Dorfmüller empfohlen, der 2005 im von Ulrich Tadday herausgegebenen Band „Musik-Konzepte 127. Edvard Grieg“ erschienen ist.

Janina Fialkowskas Spiel erweist sich als klangfarbenreich und im positiven Sinne naiv, was wohl die wichtigste Voraussetzung für eine gelungene Aufführung von Edvard Griegs Musik darstellt. Die Musik muss ganz natürlich und möglichst wenig künstlich wirken, fast eingebungshaft improvisatorisch und aus vollem Herzen echtes Gefühl verströmend. Diese Art des unmittelbaren Ausdrucks kann Fialkowska vielerorts verströmen, nur manches wirkt zu übertrieben und lässt die Unverfälschtheit kurzzeitig bröckeln.

An die Angaben im Notentext hält sich die Pianistin kaum, gerade im Bereich der Dynamik interpretiert Janina Fialkowska nach ihrem eigenen Gutdünken, so ist oft genug ein Piano in gleicher Dynamikstufe wie ein Forte – oder gar lauter – zu hören und Akzente werden passagenweise vollständig vergessen. Dies ist sehr bedauerlich, wenn man bedenkt, wie groß das Lautstärkenspektrum Janina Fialkowskas ist, das von aufbrausendem Donnern frei von jedem gefühllosen Schlagen bis hin zum dezentesten Hauchen reicht, doch bei zahlreichen Gelegenheiten bei Weitem nicht voll ausgeschöpft wird. Ebenfalls fragwürdig frei agiert Fialkowska mit dem Tempo: Nicht nur, dass manche Tempoangaben alles andere als ernst genommen werden und interne Tempowechsel viel zu extrem kontrastierend verstanden sind, sondern auch in den Melodielinien selber spielt die Pianistin ungehalten mit der Geschwindigkeit. Phrasenenden werden gerne um ein bis zwei Schläge länger und spontane kurze Notenwerte brechen sofort haltlos abrupt nach vorne aus. Betrachtet man die historischen Aufnahmen von Edvard Grieg, der einige Stücke selbst einspielte (unter anderem den hier auch vorliegenden Fommerfugl/Schmetterling), so sticht natürlich umgehend ins Auge, dass auch er das freie Rubato präferierte, doch sollte bei modernen Aufnahmen wenigstens eine gewisse Zügelung weg von den willkürlichen Erscheinungen erkennbar sein – in dem Sinne, dass das Rubato nicht von der Takteinteilung bestimmt ist, sondern sich sinnfällig wie von selbst aus der energetischen Aufladung der Linie ergibt. Die Kombination der Dynamik- und Tempofreiheiten geht hier zudem nicht selten auf Kosten der Gesanglichkeit der Melodie, die durchaus mehr als einmal ins Stocken gerät oder von unvermittelten Akzenten aus anderen Stimmen unterminiert wird. Besonders deutlich sind beide Aspekte direkt im zweiten Stück der CD, der Folkevise (Volksweise), einem an den Springdans (Springtanz) angelehnten Volkstanz im 3/4-Takt. Dieser gerät hier vollkommen untanzbar, denn schon im ersten Takt zieht das Tempo direkt an, nur um gegen Phrasenende wieder abzubremsen. Der zweite Abschnitt im Mezzoforte ist von dem Pianoteil eigentlich überhaupt nicht zu unterscheiden, bei der Wiederholung ist gar das Mezzoforte leiser als das Piano. Auch ist etwa das einleitende Allegretto in Aften på höyfjellet (Abend im Hochgebirge) keineswegs schneller als das folgende Andante espressivo.

Jedoch sind nicht alle Stücke gleichermaßen von solchen kontraproduktiven Elementen durchzogen, an vielen Passagen eröffnen sich auch sehr reine und magisch anmutende Momente. Gerade die schnelleren Miniaturen erhalten ein wahres Rauschen in absoluter Lockerheit und Präzision, wie beispielsweise im Bekken (Bächlein) oder im Småtroll (Kobold) feinsinnig und nachdrücklich unter Beweis gestellt.

Manchen Aspekt meistert Fialkowska auch mit komplett unterschiedlichen Ergebnissen wie den imitierenden Umgang mit Unterstimmen, denn während sie im Kanon noch rein auf die Oberstimme fixiert ist und die gleichwertige Partnerstimme ziemlich untergeordnet darstellt, ist bei Gade ein lebendiges Wechselspiel der beiden oft kanonisch laufenden Stimmen zu hören. Im berühmten Trolltog (Zug der Trolle) kann sie sich gar überhaupt nicht zwischen den beiden Alternativen entscheiden, spielt die akzentuierten Oktaven in der linken Hand als eigenständige Linie und die folgenden ebenso zu akzentuierenden Einzeltöne der Motivwiederholung lässt sie eher untergehen.

Der Rahmen des gesamten Zyklus’, bestehend aus Arietta und Efterklang (Nachklänge), denen ein und dieselbe Melodie zugrunde liegt, zerfällt bedauerlicherweise ein wenig, weil die Verwandtschaft zu sehr im Verborgenen bleibt und die Gemeinsamkeit der Stücke zugunsten der Unterschiedlichkeit vom 2/4- zum 3/4-Takt verloren geht.

Darstellerische Höhepunkte der CD sind neben dem oft als Herzstück der Lyrischen Stücke angesehenen Bryllupsdag på Troldhaugen (Hochzeitstag auf Troldhaugen) auch For dine fötter (Zu deinen Füßen) mit seiner vielgesichtigen Darstellung der simplen Melodie, Sylfide (Sylphe) mit luftig hellem und durchsichtigem Ton, Det var engang (Es war einmal) durch die starken Kontraste sowie das folgende Stück Sommeraften (Sommerabend).

Das vielseitige Können von Janina Fialkowska ist keineswegs in Frage zu stellen, ganz leicht aus der Hand geschüttelt wirken die schwierigsten der Lyrischen Stücke mit dennoch erstaunlicher Ausgestaltung. Lediglich zu wünschen wäre, sie würde es mit der interpretatorischen Freiheit gelegentlich nicht allzu sehr übertreiben und mehr den Notentext beachten – die vorgeschriebenen Feinheiten hat der selbstkritische Edvard Grieg sicherlich nicht aus Versehen so in den Notentext hineingeschrieben.

[Oliver Fraenzke, Juli 2015]