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Ein Tongemälde zum Fest

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 284; EAN: 4 260052 382844

Zur Feier des 300-jährigen Bestehens des Fürstentums Liechtenstein hat das Sinfonieorchester Liechtenstein unter seinem Chefdirigenten Florian Krumpöck 2019 für Ars Produktion Schumacher Josef Gabriel Rheinbergers Erste Symphonie, das „Symphonische Tongemälde“ Wallenstein op. 10, eingespielt.

Josef Gabriel Rheinbergers Wallenstein op. 10, eine viersätzige Symphonie in d-Moll, wurde 1866 komponiert und im folgenden Jahr unter der Gattungsbezeichnung „Symphonisches Tongemälde“ (statt: „Symphonie“) veröffentlicht. Ungewöhnlicherweise tragen die verschiedenen Ausgaben des Werkes unterschiedliche Widmungen: Während die zuerst erschienene Bearbeitung für Klavier zu vier Händen der Ehefrau des Komponisten, der Schriftstellerin Franziska von Hoffnaaß, zugeeignet ist, dedizierte er den Partiturdruck dem Landesherrn seiner Heimat, Fürst Johann II. von Liechtenstein.

Mit dem fast gleichaltrigen Fürsten verband Rheinberger, der nach Können und Ansehen gewissermaßen der Fürst unter den Liechtensteinischen Musikern war, der Umstand, dass sie beide den Großteil ihres Lebens außerhalb des Fürstentums Liechtenstein zubrachten. Die Liechtensteinischen Fürsten residierten seinerzeit noch in österreichischen und böhmischen Schlössern, von wo aus sie über riesige Ländereien geboten, deren Fläche diejenige ihres souveränen Staates um ein Vielfaches übertraf. Das Fürstentum, zur Zeit von Rheinbergers Geburt 1839 ein gänzlich bäuerlich geprägtes Land, betraten die Herrscher nur selten: Johann II. besuchte es in den 70 Jahren seiner Herrschaft insgesamt siebenmal (sorgte aber auch aus der Ferne so umsichtig für seine Untertanen, dass sie ihm den Beinamen „der Gute“ verliehen). Das Musikleben im damaligen Liechtenstein bestand im Wesentlichen aus der Begleitung der Gottesdienste und aus Tanzmusik. Wenige Familien, darunter die Rheinbergers, pflegten anspruchsvollere Hausmusik. Eine seiner Begabung angemessene musikalische Ausbildung konnte Josef Rheinberger, der in seinem Geburtsort Vaduz bereits mit sieben Jahren Organistendienste versah, zu dieser Zeit aber nur im Ausland erhalten. So ging er zwölfjährig nach München, wo ihn u. a. Franz Lachner unterrichtete. Hier lebte er bis zu seinem Tode im Jahr 1901, und von dieser Stadt aus verbreitete sich schließlich sein Ruhm als Komponist und Kompositionslehrer.

Seit den Zeiten Rheinbergers und Johanns II. haben sich in Liechtenstein nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend gewandelt, sondern auch die musikalischen. 1988 formierte sich unter dem Dirigenten Albert Frommelt ein Liechtensteinisches Kammerorchester, das bald zum Sinfonieorchester Liechtenstein anwuchs. 2012 in einen professionellen Klangkörper umgewandelt, wurde es wesentlich von Florian Krumpöck geprägt, der im gleichen Jahr zum Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter ernannt wurde. Als das Fürstentum 2019 den 300. Jahrestag seiner Gründung beging, hatte das Sinfonieorchester Liechtenstein soeben das 30. Jahr seines Bestehens vollendet. Die nationalen Feierlichkeiten mit dem eigenen Jubiläum verbindend, wurde eine besondere Aufnahme produziert. Um die Fähigkeiten liechtensteinischer Musiker in Vergangenheit und Gegenwart zu dokumentieren, konnte kaum etwas geeigneter erscheinen als eine Einspielung von Rheinbergers Wallenstein.

Als Orgel- und Chorkomponist ist Rheinberger im Musikleben stets präsent gewesen. Auch die beiden Orgelkonzerte erfreuen sich einer kontinuierlichen Aufführungsgeschichte und zahlreicher Einspielungen auf Tonträger. Zu erwähnen ist weiterhin, dass Rheinbergers Klavierkonzert im Laufe der Jahre mindestens viermal den Weg auf die Platte gefunden hat; die ersten beiden Aufnahmen datieren noch aus der Zeit vor Einführung der CD. Die beiden Symphonien des Komponisten wurden dagegen erst in den 1990er Jahren kommerziell aufgenommen: Nikos Athinäos spielte mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt (Oder) den Wallenstein ein, Alun Francis mit der Nordwestdeutschen Philharmonie die Florentiner Symphonie F-Dur op. 87. Soweit mir bekannt, blieb es im Falle der F-Dur-Symphonie bislang bei dieser einen Einspielung, während Wallenstein durch das Sinfonieorchester Liechtenstein unter Krumpöck seine zweite Aufnahme erfahren hat.

Die relativ geringe Resonanz, die Rheinbergers Symphonien nach seinem Tode fanden, steht in Kontrast zur Wertschätzung dieser Werke zu Lebzeiten des Komponisten und erscheint gerade angesichts der Tatsache verwunderlich, dass Rheinberger der internationale Durchbruch als Symphoniker gelang – eben mit dem Wallenstein. Der Rheinberger-Forscher Hartmut Schick konnte 2001 in seinem Aufsatz über Rheinbergers Wallenstein-Sinfonie op. 10. Ambivalenzen in der Konzeption und Rezeption eines Erfolgsstücks feststellen, dass das Werk in den zehn Jahren nach seiner Uraufführung 1866 mindestens 23mal in 19 verschiedenen Städten in- und außerhalb Deutschlands gespielt worden ist; „hinzu kommen 15 Aufführungen von einzelnen Sätzen, vor allem des beim Publikum besonders beliebt gewordenen 3. Satzes Wallensteins Lager.“ Unter den zeitnah entstandenen Symphonien erreichten nur Anton Rubinsteins Nr. 2 Ozean und Joachim Raffs Nr. 3 Im Walde höhere Aufführungszahlen. Man kann also sagen, dass Wallenstein seinen Komponisten mit einem Schlag berühmt gemacht und – zumindest aus Sicht des damaligen Publikums – in die erste Reihe der Symphoniker seiner Zeit gestellt hat.

Wallenstein gehört, wie die erwähnten Werke Raffs und Rubinsteins, zu einer Sondergattung, deren Blütezeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts die in schlechten Musikgeschichtsbüchern zu findende Behauptung, es habe damals einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen „absoluter Musik“ und „Programmmusik“ gegeben, Lügen straft. Tatsächlich wurden zahlreiche „charakteristische Symphonien“ komponiert, die auf außermusikalischen Anregungen fußen, ohne im engeren Sinne Programmmusik zu sein. Nicht wenige dieser Stücke sind erzählerisch gedacht und reflektieren eine bestimmte Handlung. Neben Rheinbergers Wallenstein wären etwa zu nennen: Johann Joseph Aberts Columbus, Joachim Raffs und August Klughardts Werke nach Bürgers Lenore, Carl Reineckes Hakon Jarl, Heinrich Hofmanns Frithjof und Hans Hubers Tell-Symphonie. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die traditionelle viersätzige Form beibehalten. Das Programm ordnet sich ihr unter, dient als Ideengeber zu bestimmten Stimmungen, schlägt sich auch gelegentlich in Besonderheiten innerhalb des musikalischen Verlaufs nieder, wird jedoch nie zum Anlass genommen, die überkommenen Formen grundsätzlich in Frage zu stellen. Angesichts dessen verwundert auch die traditionalistische Stilistik der betreffenden Symphonien nicht. Die Verbindung poetischer Gedanken mit einer eingängigen, an bewährten Vorbildern orientierten Tonsprache wurde von Publikum und Kritik goutiert. Dass gleichzeitig der Programmsymphoniker Franz Liszt so umstritten war, lag nicht daran, dass er sich von Außermusikalischem inspirieren ließ, sondern am ungewohnten, „unklassischen“ Stil seiner Werke. Der Hakon-Jarl-Komponist Reinecke sperrte sich als Gewandhauskapellmeister gegen Liszts Symphonische Dichtungen, für eine Aufführung des Wallenstein überließ er Rheinberger bereitwillig sein Orchester.

Als programmatische Vorlage diente Rheinberger in erster Linie Schillers Wallenstein-Trilogie, großen Eindruck hinterließ aber auch Carl Theodor von Pilotys Gemälde Seni vor der Leiche Wallensteins. In wie fern die musikalischen Ereignisse der Symphonie programmatisch auszulegen sind, stellte allerdings bereits die Zeitgenossen vor Rätsel. Bei den drei letzten Sätzen scheint vordergründig Klarheit zu herrschen: Der langsame Satz heißt Thekla (Wallensteins Tochter bei Schiller), der dritte zeigt Wallensteins Lager (Scherzo) einschließlich Kapuzinerpredigt (Trio), und am Ende steht wie bei Schiller Wallensteins Tod. Rezeptionsprobleme bereitete vor allem der Kopfsatz. Wiederholt wurde versucht, ihn als Charakterportrait des Titelhelden zu deuten, wobei dann häufig eingewendet wurde, die Musik würde diesem Anspruch nicht gerecht. Nun beginnt der Satz zwar mit einer herrischen Geste, enthält jedoch auch ausgedehnte Abschnitte, die sich nur schwer als Darstellung eines kriegerischen Machtmenschen deuten lassen. Eine solche lag anscheinend auch nicht in Rheinbergers Absicht, denn überschrieben hat er das Stück mit Vorspiel. Der Satz ist somit wohl am ehesten als Ouvertüre zu verstehen, die, wie in einer Oper, das spätere Geschehen andeutet, ohne zu viel vorwegzunehmen. So erscheint mitten in der Durchführung ein neues Thema, das später den Mittelteil des langsamen Satzes bestimmt; am Schluss steht die Trauer- und Erlösungsmusik, mit der auch der vierte Satz schließt. Auch in Hinblick auf diese beiden Sätze wurden Überlegungen angestellt, wie sie mit Schiller in Übereinstimmung zu bringen seien – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Lediglich der dritte Satz erschien unter diesem Gesichtspunkt nie problematisch. Wie Hartmut Schick herausgearbeitet hat, dürften die Eigenheiten des Werkes mindestens ebenso sehr auf die privaten Umstände des Komponisten zur Zeit der Entstehung zurückzuführen sein wie auf Schillers Drama: Rheinberger komponierte Wallenstein 1866 auch zur Freude der damals lebensgefährlich erkrankten Franziska von Hoffnaaß, die im folgenden Jahr (nach ihrer Genesung und der Uraufführung der Symphonie) seine Ehefrau werden sollte. Manche Stelle im Werk verdankt wohl gar nicht in erster Linie Schiller ihr Dasein, sondern besitzt eine versteckte Bedeutung, um die nur der Komponist und seine Frau wussten, und die aus verständlichen Gründen nicht an die Öffentlichkeit gelangte.

Von rein musikalischen Standpunkt aus betrachtet, kann man Rheinbergers Wallenstein als ein Meisterstück jener Symphonietradition des oberdeutschen Sprachraums bezeichnen, die mit Franz Schubert anhebt und in der Generation vor Rheinberger in Franz Lachner und Johann Rufinatscha würdige Repräsentanten gefunden hat. Auch die Symphonien Anton Bruckners sind vor diesem Hintergrund entstanden. Es ist eine Symphonik der Expansion. Die Komponisten streben nicht nach möglichster Knappheit der Aussage, sondern denken in ausgedehnten Perioden, lassen ihre Gedanken sich in Ruhe entfalten, gern unter Zuhilfenahme aparter Harmoniefortschreitungen, was dann in den besten Werken dieser Richtung die „himmlische Länge“ hervorbringt, die Robert Schumann an Schuberts Großer C-Dur-Symphonie rühmte.

Wallenstein ist gleichfalls kein kurzes Werk: Unter Florian Krumpöcks Dirigat dauert er 50 Minuten, Nikos Athinäos lässt ihn in 55 Minuten spielen. Eine lange Symphonie, aber keine langweilige – im Gegenteil: Rheinberger erweist sich als stupender musikalischer Architekt, der mit großen Blöcken fest zusammenhaltende Bauwerke errichtet, wobei ihm seine Fertigkeit im Kontrapunkt – die sich nirgendwo im Werk in akademische Demonstrationen verliert – zu Hilfe kommt. Die Spannung zwischen klassischer Form und programmatischer Aussage löst er glücklich: Die formal außergewöhnlichen Momente, denen man anmerkt, dass sie eine außermusikalische Ursache haben (sie heiße „Wallenstein“ oder „Franziska“), verteilt er auf jene Stellen des musikalischen Verlaufs, an denen solche Überraschungen gut am Platze sind: Auf Durchführung und Coda des Kopfsatzes und auf Einleitung, Durchführung und Coda des Finales. (Man bedenke, wie gern auch Beethoven und Schumann an entsprechenden Stellen „absolut musikalischer“ Sonatensätze neue Themen einführen!) Die exponierenden und rekapitulierenden Abschnitte bleiben von diesen „exterritorialen“ Einfällen unberührt und bilden auf klassische Weise Symmetrien aus. Wer das Programm Programm sein lassen will, kann das „Symphonische Tongemälde“ also ohne Weiteres auch als „absolute“ Symphonie auf sich wirken lassen. Gerade das Adagio lädt dazu ein. Thekla gibt dem Satz ihren Charakter, Geschehnisse, zu deren Erläuterung Schiller herangezogen werden müsste, enthält er jedoch nicht. Die Gesanglichkeit des Stückes kommt nicht von ungefähr: Das Thema, das Rheinberger im Mittelteil verwendet (und das im Kopfsatz schon vorweggenommen worden war), entstammt einem Klavierlied des Komponisten.

Der ganze Wallenstein ist für das Orchester dankbar geschrieben, die Instrumentationskunst des Komponisten kommt aber im dritten Satz besonders gut zur Geltung, wo es galt, das ausgelassene Treiben der Söldner in Wallensteins Lager zu schildern. Ein Glanzstück musikalischer Charakterisierung (oder Karikatur) gelingt Rheinberger im Trio: Der Kapuziner beginnt seine Predigt effektvoll mit larmoyanten Klagerufen in Oboen und Violinen, Posaunenakkorde wirken wie ein Ausrufezeichen, dann folgt in tieferer Stimmlage (Klarinetten, Fagotte, Bratschen) die eigentliche Rede, der die unablässig begleitenden Achtel in den Streicherbässen einen eifernden Tonfall verleihen. Eingestreute Melodiefetzen aus dem Scherzoteil verraten indes, dass die Soldaten den Mönch nicht ganz ernst nehmen. Die plastische Darstellung, die den ganzen Satz auszeichnet, wirkt unmittelbar und lässt verstehen, warum gerade Wallensteins Lager ein solcher Publikumserfolg gewesen ist.

Rheinbergers Symphonisches Tongemälde war das erste Werk eines liechtensteinischen Komponisten, das internationale Anerkennung erfuhr. Deshalb erscheint es nicht verwunderlich, dass das Sinfonieorchester Liechtenstein gerade dieses Stück aufs Programm gesetzt hat, um zur 300-Jahr-Feier des Fürstentums seinen Beitrag beizusteuern. Krumpöck und seinen Musikern gelang dabei eine Aufführung, die ihrem Anlass würdig ist und die Qualität der Komposition trefflich zur Geltung bringt. Gegenüber der älteren Einspielung durch Athinäos hat die neue Aufnahme rein tontechnisch ein klareres, schärfer konturiertes Klangbild voraus. Im Hinblick auf die Darbietung unterscheiden sich beide zum Teil beträchtlich voneinander. Unter Krumpöck dauert die Symphonie rund fünf Minuten weniger. Die Abweichungen betreffen dabei vor allem die Mittelsätze und das Allegro des Finales. Im Thekla-Satz ist Krumpöck rund zwei Minuten schneller als Athinäos, Wallensteins Lager wird in nur zehn Minuten besichtigt (bei Athinäos sind es 11 ½) und im Finale reitet der Titelheld seinem Ende merklich lebhafter entgegen. Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) scheint stärker besetzt zu sein als das Sinfonieorchester Liechtenstein, jedenfalls klingen bei Athinäos die Tutti-Stellen kräftiger. Krumpöck dagegen lässt differenzierter artikulieren und erreicht gerade im langsamen Satz, der bei Athinäos recht zäh anmutet, mehr Stringenz und Spannung. Das höhere Tempo der Liechtensteiner im Finale ist nicht einfach ein schnelleres Abspielen der Noten, sondern ergibt sich tatsächlich aus einem besseren Sinn ihres Dirigenten für die Dramaturgie dieses Satzes. Am deutlichsten unterscheiden sich Athinäos und Krumpöck im dritten Satz. Man meint beinahe zwei verschiedene Stücke zu hören: Athinäos interpretiert „Allegretto“ offensichtlich eher als Moderato, während es für Krumpöck fast ein Allegro ist. Durch das mäßige Tempo kommen in der Frankfurter Aufnahme die pittoresken Einzelheiten des Scherzos stärker zur Geltung; manche Effekte unterstreicht Athinäos demonstrativ. Der Hörer erlebt gewissermaßen hier eine Führung durch das Lager. Hingegen bietet ihm Krumpöck eine Ansicht desselben aus der Totale, aus der man zwar alles überblicken kann, die einzelnen Ereignisse jedoch nicht so deutlich zur Geltung kommen. Rein musikalisch wirkt der Satz unter Krumpöck freilich zusammenhängender.

Alles in allem haben wir hier in der Liechtensteinischen Jubiläumsfestgabe eine Aufnahme des Wallenstein vor uns, die der älteren Einspielung wenigstens ebenbürtig und ihr in mancher Hinsicht vorzuziehen ist. Für den gegenwärtigen Stand des Musiklebens im Fürstentum legt sie vorteilhaft Zeugnis ab. Zugleich handelt es sich um ein überzeugendes Plädoyer für einen lange Zeit vernachlässigten Symphoniker von Rang. Ob man nun auch auf eine Einspielung der Florentiner Symphonie durch Krumpöck und das Sinfonieorchester Liechtenstein hoffen darf? Willkommen wäre eine solche durchaus.

Norbert Florian Schuck [Juni 2021]

Einer der besten Komponisten der alten Schule

Capriccio C5318; EAN: 8 45221 05318 9

Bei den auf dieser CD aufgenommenen Kammermusikwerken Karl Weigls handelt es sich hauptsächlich um Ersteinspielungen: Zu hören sind die zweite Violinsonate G-Dur, Zwei Stücke für Cello und Klavier op. 33 und Zwei Stücke für Violine und Klavier; lediglich das Klaviertrio d-Moll wurde bereits zwei Mal auf Platte festgehalten. David Frühwirth spielt die Geige, Benedict Kloeckner das Cello und Florian Krumpöck übernimmt den Klavierpart.

Karl Weigl gehört zu den großen Unzeitgemäßen, die bis zum Lebensende der Moderne den Rücken kehrten und die Tonalität fortleben ließen. Ausgebildet bei Zemlinsky, Fuchs und Adler befanden sich schon frühe Werke auf der Höhe der spätromantischen Ausdruckswelt, eine Stelle als Korrepetitor bei Mahler komplettierte dies. Auch mit Arnold Schönberg stand Weigl in gutem Kontakt, zumindest bis sich dieser der Atonalität verschrieb, was den Kontakt verstummen ließ – wenngleich Schönberg 1938 noch schrieb, er betrachte „Dr. Weigl immer für einen der besten Komponisten der alten Schule […]; einer von denen, die die glanzvolle Wiener Tradition fortsetzten. Er bewahrt zweifellos die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile der Wiener Kultur darstellt.“ Nach dem Anschluss Österreichs an das nazifizierte Deutschland wurde Weigls Musik verboten und er entkam nach Amerika, wo seine Karriere trotz großer Bemühungen von vielen Seiten einen Abbruch fand. Seitdem schlummert seine Musik, darunter sechs Symphonien, mehrere Solokonzerte, Lieder und Kammermusik, gänzlich unbeachtet und wurde erst in diesem Jahrzehnt vereinzelt wieder entdeckt.

Die Musik gibt deutlich die Einflüsse der Wiener Klassik und der spätromantischen Tradition Mahlers und Zemlinskys zu erkennen und bringt doch eine ganz eigene Note hinein. Weigl degradiert Virtuosität und klangliche Effekte nicht zum Selbstzweck, sondern benutzt sie ausschließlich im Sinne der Musik. Im Gegensatz zu Mahler hält sich Weigl an eine stringente Form ohne übermäßiges Eilen von Höhepunkt zu Höhepunkt; er geht ökonomischer mit Ausbrüchen um. Die zwei eingespielten Großformen bewahren die klassische Dreiteiligkeit und auch die Stücke für Violine und diejenigen für Cello und Klavier lassen klassische Modelle durchscheinen. Nie stürmt Weigls Musik ungehalten davon, selbst im „Wilden Tanz“ bewahrt sie Eleganz.

Der Pianist Florian Krumpöck hob 2002 bereits das Konzert für die Linke Hand und Orchester (das vom Auftraggeber Paul Wittgenstein – ebenso wie das bestellte Konzert von Hindemith – abgelehnt wurde) aus der Taufe und nahm es 2013 für Capriccio auf. In diesen teils bereits auf 2012 zurückgehenden Aufnahmen (die Stücke mit Cello sind auf 2016 datiert) hören wir ihn mit Kammermusik für Violine und Cello. Er durchdringt die Musik Weigls und entlockt ihr romantischen Flair und klassische Präzision, spielt sie nüchtern wie einfühlsam zugleich. Auch David Frühwirth hörten wir bereits mit Weigl, er spielte das Violinkonzert auf der gleichen CD, welche das Klavierkonzert beinhaltet. Hier glänzt er in der Violinsonate, den Zwei Stücken und dem Trio als akkurater und sensibler Geiger. Er verleiht seiner Stimme metallischen Glanz und subtile Schönheit, leitet merklich das Geschehen in allen Stücken. Neu hinzu kommt der rasant aufsteigende Newcomer Benedict Kloeckner, der bereits eine beachtliche Diskographie vorzuweisen hat. Sein Spiel ist bestimmt und kräftig, nicht weniger kann er jedoch auch die lyrische Seite zum Vorschein bringen; im Trio passt er sich bestens seinen Mitstreitern an und geht vor allem mit der Violine eine innig-klangliche Verbindung ein.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

Verschiedenste Einflüsse, wie aus einem Guss

Karl Weigl
Klavierkonzert für die linke Hand Es-Dur, Violinkonzert D-Dur

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Capriccio CD C 5232
ISBN: 845221052328

„Ich habe Karl Weigl immer als einen der besten Komponisten der alten Generation betrachtet; einer derer, die die glanzvolle Wiener Tradition weiterführen. Er bewahrt zweifellos die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile der Wiener Kultur darstellt.“ So urteilte kein Geringerer als Arnold Schönberg über diesen Komponisten, der sich nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 gezwungen sah, in Amerika neu zu beginnen. Doch sollten die Worte seines berühmten Kollegen Weigl nicht davor bewahren, ähnlich wie sein einstiger Lehrmeister Alexander von Zemlinsky, sein Leben und Werk 1949 im New Yorker Umfeld stillschweigender Ignoranz zu beschließen.

In Wien ein geschätzter Komponist und Lehrer, dessen Werke im Repertoire so berühmter Namen wie Furtwängler und Szell zu finden waren, blieb Musik des 1881 in Wien geborenen Weigl trotz prägender Freundschaft zum mehr als sechs Jahre älteren Schönberg der Spätromantik verhaftet. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, warum der im 1. Weltkrieg am rechten Arm amputierte Pianist Paul Wittgenstein ihn 1924 damit beauftragte, ein Klavierkonzert für ihn zu schreiben. Zu einer Uraufführung kam es jedoch nicht. Während die von Wittgenstein ebenfalls abgelehnten Auftragskompositionen für die linke Hand von Ravel und Prokofjew früher oder später ihren Weg ins Standardrepertoire der Pianisten nahmen, verschwand Weigls Konzert (wie auch dasjenige Hindemiths, das erst Leon Fleisher 2004 in Berlin erstmals zu Gehör brachte) ungehört und wurde 2002 von dem Pianisten Florian Krumpöck uraufgeführt. Seiner Interpretation ist es zu verdanken, dass dieses Werk in seiner Konzeption des sinfonischen Klavierkonzertes auf dieser Ersteinspielung von 2013 plastischen Ausdruck findet. Im Gegensatz zu Ravel und Prokofjew begreift Weigl das Klavier nicht als Widerpart des Orchesters, sondern als Teil des sinfonischen Organismus. Er versucht gar nicht erst, die Einsamkeit der linken Hand hinter einer scheinbaren Vielstimmigkeit zu maskieren, sondern legt sie vor allem im zweiten Satz in einer entrückten Arie über den orchestralen Klangkörper. Krumböck, dessen Virtuosität und Gestaltungskraft niemals zum Selbstzweck verkommt, weiß die cantablen Linien empfindsam nachzuzeichnen und die Vielschichtigkeit des Konzertes, das in seinem Aufbau und dem heroischen Gestus Beethovens fünftem Klavierkonzert durchaus nachempfunden ist, gekonnt herauszuarbeiten.

Auch das 1928 entstandene Violinkonzert D-Dur ist nicht nur in der Tonart von Beethoven inspiriert. Das Orchestervorspiel zu Beginn scheint in seiner Länge eher einem klassischen Vorbild zu entspringen. Umso mehr überrascht der ganz im spätromantischen Tenor eines Max Bruch gehaltene Einsatz der Violine. David Frühwirth stürzt sich hier beherzt ins philharmonische Getümmel und beherrscht die Szenerie von der ersten Note an. Ist der solistische Part im Klavierkonzert noch mehr in den sinfonischen Satz integriert, so steht die Violine hier dem Orchester im Dialog gegenüber. Frühwirths wunderbar durchphrasiertes Spiel vermag, sich deklamatorisch gegen die vielen Register der großen Besetzung zu behaupten. Im zweiten Satz besticht sein biegsamer, gesanglicher Ton, der den großen Bogen nie verliert. So wirkt das Miteinander verschiedenster Einflüsse, die die epischen Klangflächen eines Mahler ebenso wie die instrumentale Vielfarbigkeit eines Strauss beheimaten, stets aus einem Guss.

Die Norddeutsche Philharmonie Rostock hätte im Violinkonzert Frühwirth unter Krumpöck, ebenso wie im Klavierkonzert Krumpöck unter Manfred Hermann Lehner, als sinfonisches Gegenüber in der Gestaltung mehr zur Seite stehen können. Bleibt zu hoffen, dass diese beiden im Ganzen gelungenen Darbietungen der Solisten zukünftig dem Hörer Augen und Ohren für die Musik Karl Weigls öffnen.

[Raphael Buber, Mai 2016]