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„Und hab so große Sehnsucht doch…“

Solo Musica/ Sony 2019, SM 309; EAN: 4 260123 643096

Man kann eintauchen in diese emotionalen Zustände und sich hinein versenken in das bislang unbekannte Werk der luxemburgischen Komponistin Helen Buchholtz (1877-1953). In den Liedern, die Helen Buchholtz meist auf deutsch, vereinzelt auf französisch und sogar auf letzeburgisch, dem traditionellen Sprachideom Luxemburgs schrieb, geht es um Liebe und um das Leben – und vor allem darum, wie vergänglich dies sein kann und wie sich diese Vergänglichkeit anfühlt! Im Jahr 1988 hat die Musikwissenschaftlerin Danielle Roster ihre Lieder und Texte per Zufall wieder entdeckt – und war fasziniert! Jetzt krönt eine bemerkenswerte Doppel-CD-Veröffentlichung die verdienstvolle Forschungsarbeit.

Helen Buchholtz steht mit ihrem Schaffen weitgehend allein in der Musikgeschichte des kleinen Landes Luxemburg. Sie heiratete einen deutschen Arzt, den sie aber schon bald darauf verlor und früh verwitwet war. Künstlerisch dürfte sie nur in einem kleinen Kreis von Dichern und Musikern wahrgenommen worden sein. Ob die Dominanz der Themen Abschied und Verlust in ihren Liedern mit der eigenen Biographie der Komponistin zu tun hat?

Die ergreifenden Metaphern und Zustandsbeschreibungen dieser Lieder leben durch die Vermittlung von Sopranistin Gerlinde Sämann und ihrem Klavierpartner Claude Weber beklemmend eindringlich und pathosfrei auf. Gerlinde Sämanns höhensicherer Sopran punktet mit einer effektvollen Dramatik. Claude Weber lässt sich auf den von Helen Buchholtz erstaunlich differenziert gestalteten Klaviersatz mit hellsichtig-wandelbarer Spiellust ein. Da bringen eingewebte Arpeggien einen „Wanderer“-artigen Fluss in die Melodie, blitzen Betonungen wie fotografische Spitzlichter auf – auch beweist Claude Weber ein hellwaches Gespür für die vielen subtilen harmonischen „Unregelmäßigkeiten“, mit denen Helen Buchholtz spätromantische Tonsprache immer wieder die heile Welt des Vordergründigen durchkreuzt!

Aus heiteren, manchmal naiv-realistischen Schilderungen wird urplötzlich Elementares, im tiefsten Inneren Erschütterndes. „O bleib bei mir…“, „Wenn ich tot bin…“ – Ergreifendes Flehen bündelt sich in Gerlinde Sämanns glockenheller Sopranstimme zu den rauschhaften Klavierklängen von Claude Weber beim Bild einer traurigen Liebenden, die zu verlassen werden droht. Ähnlich beklemmende sprachlich-musikalische Bildgewalt setzt die „Zigeunerballade“ frei. Ein einsamer Junge sitzt an einem Feuer, welches schließlich verlöscht – und damit der Tod eintritt.

Helen Buchholtz‘ Lieder, die weitgehend einem spätromantischen Stil verpflichtet sind, stehen auf dieser CD nicht für sich allein, inspirierten sie doch heutige Komponistinnen wie Catherine Konz, Albena Petrovic-Vratchansksa und Stevie Wishart zu eigenen, sehr unmittelbaren, teilweise direkt auf Helen Buchholtz‘ Lieder und Balladen bezogene Schöpfungen. Gerlinde Sämann und Claude Weber sind versiert genug, um hier auf Anhieb Register aus der musikalischen Gegenwart abzurufen: Faszinierende Chromatik erzeugt eine aufregende Wirkung in Tatsianas Zeliankos Coloristic Miniatures – hier wird Gerlinde Sämanns Singstimme gerne auch mal zum „Instrument“ – etwa, wenn sie vibrationsarm lange Melismen intoniert. Ein Beitrag von Catherine Konz nimmt direkten Bezug auf ein Buchholtz-Lied, wenn das spätromantische Original durch eine rauschhafte Klangmeditation beantwortet wird. Albena Petrovic-Vratchanska hat ohnehin ihren ganz eigenen Kompositionsstil mit starkem Wiedererkennungswert: Auch sie „interpretiert“ in einem freitonal-deklamatorischen Gestus ein Buchholtz-Lied aus einer ganz neuen, subjektiven Perspektive. 

[Stefan Pieper, Juli 2019]