Schlagwort-Archive: Shiyeon Sung

Asiatische Opulenz und christliche Zerbrechlichkeit

Wu Wei, Unsuk Chin & Shiyeon Sung, © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Als letztes Konzert in der Saison 2021/22 der musica viva erklangen am 1. Juli 2022 im Münchner Herkulessaal Isang Yuns Réak, das Sheng-Konzert Šu der koreanischen Komponistin Unsuk Chin (Solist: Wu Wei) sowie Mark Andres Klarinettenkonzert „… über …“ mit Jörg Widmann, in dem auch das Experimentalstudio des SWR mit komplexer Live-Elektronik zum Einsatz kam. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter Leitung der ebenfalls aus Korea stammenden Dirigentin Shiyeon Sung.

Mal ohne eine Uraufführung beendet dieses Konzert die laufende Saison der musica viva. Der Koreaner Isang Yun (1917–1995) lebte, nachdem er bereits Ende der 1950er Jahre an den Darmstädter Ferienkursen teilgenommen hatte, ab 1964 in Berlin. Réak – 1966 bei den Donaueschinger Musiktagen unter Ernest Bour aus der Taufe gehoben – brachte dem Komponisten den internationalen Durchbruch. Das 13-minütige, großbesetzte Orchesterwerk scheint sich bei oberflächlicher Betrachtung recht nahtlos in die damalige westliche Avantgardemusik einzufügen. Unter der Oberfläche werkeln jedoch vor allem asiatische Form- und Klangprinzipien, die eng an altkoreanische Zeremonialmusik (so eine Übersetzung des Titels) anknüpfen. Harmonisch basieren die Klangschichtungen auf Akkorden, wie sie von der koreanischen Mundorgel Saenghwang – eine Variante der chinesischen Sheng – hervorgebracht werden können. Verschiedene musikalische Materialien, die man bestimmten Instrumentengruppen, auch explizit deren spezifischer Materialität zuordnen könnte, verdichten sich zu einem ziemlich affirmativen Schluss. Das-BR-Symphonieorchester durchdringt die anspruchsvolle Partitur unter der ebenso souveränen Dirigentin Shiyeon Sung mit Hingabe. Die klangliche Sensibilität kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Yuns streckenweise durchaus gewalttätige Musik für an Werken der 1960er geschulte Ohren dann doch wenig spektakulär wirkt.

Ganz anders Unsuk Chins (*1961) Konzert Šu (2009/10): Schon die Exotik der chinesischen Mundorgel Sheng macht natürlich sofort neugierig. Der hinreißend mitgehende Virtuose Wu Wei spielt allerdings eine so erst ab den 1980ern gebaute, gegenüber dem seit Jahrtausenden tradierten Instrument in seinen technischen und musikalischen Möglichkeiten stark erweiterte Sheng mit 37 Bambuspfeifen. Von archaisierenden Klängen – einstimmige Melodik gibt es zwar kaum – bis zu frenetisch-bissigen Grooves oder eigenwilligen Clustern, die sich teils wie Elektronik anhören, sowie Quasi-Glissandi kommt hier eine Bandbreite zum Vorschein, die sogleich ungläubiges Erstaunen hervorruft. Formal zwingend und mit exzellenter Orchestrierung gelingt Chin ein modernes Solokonzert der Superlative – das bislang einzig Wu Wei bewältigen kann. Der verfügt über einen unglaublichen Atem, um das relativ kleine Instrument lauter als ein modernes Akkordeon erklingen lassen zu können. Das Publikum ist entsprechend begeistert: tosender Applaus.

Mark Andre (*1964) fühlt sich in seiner Musik, die stets Türen zu metaphysischen Sphären öffnet, christlicher Mystik verbunden. Sein Klarinettenkonzert mit Live-Elektronik „…über…“ von 2015 bezieht seinen Titel aus dem Schlusssegen der evangelischen Liturgie, in dem das Wort über bekanntlich zweimal vorkommt. Wie immer interessieren den Komponisten fragilste, instabile Klänge und deren Verschwinden, symbolisch für den Verschwundenen – den auferstandenen Jesus Christus – und seine transzendente Präsenz als Heiliger Geist stehend. Es gibt hier aber noch andere, ganz weltlich „Verschwundene“: die Musiker des 2016 aufgelösten Freiburger Orchesters des SWR, deren geflüsterte Vornamen elektronisch auf reale Resonanzkörper einiger Orchesterinstrumente übertragen werden. Was Andre an kaum für realisierbar gehaltenen Klängen – Jörg Widmann hat hierfür ausgiebig mit dem Komponisten experimentiert – vom Solisten fordert, ist erschreckend neu (etwa diverse Multiphonics) und eine stetige Gratwanderung an der Hörbarkeitsgrenze. Die Präzision, mit der das BR-Symphonieorchester dabei Frau Sungs klarer Schlagtechnik folgt und sich in die vom Experimentalstudio des SWR genauestens austarierte Live-Elektronik – bravo an alle Beteiligten! – einbetten lässt, bleibt über fast 40 Minuten jederzeit faszinierend. Und selbst während des absehbaren Endes, wo Widmann minutenlang alleine und beinahe unhörbar bleibt, könnte man eine Stecknadel fallen hören. So wird Neue Musik quasi zur Andacht, der das Publikum bereitwillig und hochkonzentriert folgt. Die demonstrative Entäußerung von Mark Andres Klangkunst bleibt über jeden Zweifel erhaben. Der Beifall entbrandet zögerlich, zeugt dann jedoch von absoluter Zustimmung für ein bewegendes Konzert.

[Martin Blaumeiser, 4. Juli 2022]