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Musik eines fast Verschollenen

Musikverlag Müller & Schade, M&S 5103/2; EAN: [-]

Diese im Musikverlag Müller & Schade erschienene CD präsentiert mit einer Klaviersonate, zwei Liedern und einer Violinsonate den Großteil des heute noch bekannten Schaffens von Adolphe Veuve (1872–1947), einem Schweizer Komponisten, dessen Nachlass nach seinem Tode spurlos verschwand. Es musizieren und singen: die Pianisten Simon Bucher und Alexander Ruef, die Sopranistin Maya Boog und der Geiger Stefan Meier.

„Die toten Meister heben ihre Hände, / Sie rufen aus dem Grabe: ‚Rette, rette, / Ach, wer errettet unsere Musik? / […] / Mit unsern Werken schwindet unsre Seligkeit!‘ / Lässt Euch das auch in Ruh’?“ So fragt in Pfitzners Palestrina der Kardinal Borromeo den Titelhelden, ihm die drohende Entsorgung des Notenbestands der päpstlichen Kapelle vor Augen führend. Jedes Mal, wenn ein Kunstwerk unwiederbringlich verloren geht, stirbt mit ihm ein Teil seines Schöpfers den zweiten Tod. Namentlich aus älterer Zeit wissen wir von vielen Werken selbst hochbedeutender Meister nur noch, dass es sie einst gegeben hat. Es sind freilich genug Fälle bekannt, in denen ein Werk nach jahrzehntelanger, ja jahrhundertelanger Verschollenheit wieder ans Licht kam. Man denke etwa daran, wie Joseph Haydns C-Dur-Cellokonzert vor 60 Jahren aus dem Reiche der Totgeglaubten ins Leben zurückkehrte.

Es darf also auch im Falle des Schweizers Adolphe Veuve (* Cernier, 7. Dezember 1872; † Lausanne, 5. August 1947) gehofft werden. Bis vor kurzem war Veuve ein völlig vergessener Komponist, einer von jenen, die nur noch eine papierene Existenz in alten Quellen zu führen scheinen. Aus diesen kann man erfahren, dass er zu den Gründern des Conservatoire de Neuchâtel gehörte, zu Lebzeiten einer der angesehensten Pianisten der Suisse Romande war und seit 1926 auch Rundfunkkonzerte gab (von denen sich kein Mitschnitt erhalten hat). Bekannt ist, dass er wenigstens ein Klavierkonzert (sein letztes Werk), ein Streichquartett, eine Klaviersonate, mehrere Violinsonaten, Orchestersuiten, Klavierstücke, Lieder und Chorwerke komponierte. Vier dieser Opera sind durch Drucke auf die Nachwelt gekommen: die Klaviersonate d-Moll op. 2, Trois Morceaux pour piano op. 3 (Ignacy Jan Paderewski gewidmet), Deux Mélodies op. 4 und eine Gavotte für Klavier ohne Opuszahl. Von den Manuskript gebliebenen Werken tauchte jedoch bislang nur die Erste Violinsonate C-Dur op. 5 wieder auf. Was aus den restlichen Stücken wurde, ist unbekannt. „All seine Kompositionen sind von Originalität und manchmal einer sehr modernen Inspiration geprägt, obwohl mit sehr großem Respekt vor den Formen entworfen“, heißt es in einem Nachruf, der kurz nach dem Tode des Komponisten in einer französischsprachigen Neuenburger Zeitung erschien.

Der Berner Musikverlag Müller & Schade, der auch den Erstdruck der Violinsonate op. 5 herausbrachte, hat mit der vorliegenden CD nahezu eine Gesamtaufnahme des verfügbaren Schaffens von Adolphe Veuve veröffentlicht. Lediglich die vier kürzeren Klavierstücke fehlen (aus Platzgründen? Die CD dauert 60 Minuten). Die Violinsonate, das einzige datierte Werk, entstand laut Manuskript 1915/16, womit angesichts der Opuszahlen im Falle der anderen Stücke eine frühere Entstehungszeit anzunehmen ist. Wenn der Autor des Nachrufs Veuve als „sehr modernen“ Komponisten charakterisiert, so muss man sich in Erinnerung rufen, dass damals durchaus noch Musik, die man heute „spätromantisch“ nennen würde, als „modern“ gelten konnte. Veuve ist, den bekannten Werken nach zu urteilen, jedenfalls kein „Impressionist“, „Expressionist“ oder „Neoklassizist“. Dass er sich bemühen würde, im Stile bestimmter Vorbilder zu schreiben, kann man nicht sagen. Wenn der Einführungstext zur CD seiner Tonsprache eine „eigene Prägung“ attestiert, so ist das keine Floskel. Er schließt sich weder deutschen, noch französischen Traditionen ganz an, hat aber offensichtlich von beiden gelernt. So mag etwa der kompakte Klaviersatz zu Beginn der Sonate op. 2 mit seinen Dreiklangsbrechungen und Oktavierungen an Brahms gemahnen, die Deux Mélodies op. 4 erinnern dagegen eher an französische Meister der Franck-Schule. Veuves Stärke liegt vor allem im Harmonischen. Er liebt es, Harmonien schrittweise durch chromatische Stimmführung zu verwandeln, was in Verbindung mit den gern verwendeten synkopischen Rhythmen den Eindruck einer starken Verdichtung der musikalischen Ereignisfolge hervorruft. Der oben erwähnte Respekt vor den Formen sorgt dafür, dass das Geschehen stets überschaubar bleibt. Die viersätzige Klaviersonate dauert etwa so lang wie Beethovens op. 7 oder op. 22, die dreisätzige Violinsonate überschreitet die Dimensionen einer Brahms-Sonate nicht. Simon Buchers Aufführung der Klaviersonate zeichnet sich durch feine Abstufung der Dynamik, sicheres Gespür für den Rhythmus und ausgeprägten Sinn für die große Form aus. Bucher ist genau der richtige Musiker, diesem Werk neues Leben einzuhauchen. Er ist auch in den beiden Liedern zu hören, die Maya Boog sehr expressiv vorträgt. Das dunkle Timbre der Sopranistin passt zudem gut zur melancholischen Stimmung dieser Gesänge. Weniger gut gelingt die Aufführung der Violinsonate. Zwar steht die Leistung des Pianisten Alexander Ruef derjenigen Buchers nicht nach, doch scheint sich Violinist Stefan Meier weniger gut in seiner Stimme zurechtzufinden als sein Partner am Klavier. Die Phrasen der Violine wirken zu oft bloß aneinandergereiht, große Entwicklungszüge bleiben aus, Steigerungen geraten zu mühsam. Am besten gelingt insgesamt der letzte Satz, dessen Hauptthema liedhaft schlicht anhebt.

Trotz diesen Einschränkungen handelt es sich um eine empfehlenswerte CD. Es ist schön zu sehen, dass hiermit einem sympathischen Komponisten, der fast gänzlich verschollen schien, wieder eine Stimme gegeben, und damit auch ein weiteres Schlaglicht auf die Musikgeschichte der französischsprachigen Schweiz geworfen wurde. Gleichermaßen sollte sie dazu ermahnen, sich auf die Suche nach den verschwundenen Kompositionen Adolphe Veuves zu machen. Der Fund der Violinsonate nährt immerhin die Hoffnung, dass auch die weiteren ungedruckten Werke nicht endgültig verloren sind.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2021]

Den Spieß umdrehen

Ars Produktin Schumacher, ARS 38 293; EAN: 4 260052 382936

„Was mag passieren, wenn zwei so hochdressierte Pferde durchbrennen und aus ihrem Gehege ausbrechen?“ fragt der Pianist Simon Bucher und antwortet gemeinsam mit der Mezzosopranistin Stephanie Szanto durch ihre CD „The High Horse. Best of Worst Vol.1“. Die hochdressierten Pferde, das sind sie, die beiden Musiker, die eine strenge Klassikausbildung durchgemacht und gemeistert haben. Doch hegen sie parallel heimliche Liebschaften mit dem Eurodance, der Popkultur ihrer Jugend. Was also mag passieren, wenn die Pferde sich ins ‚falsche‘ Gehege einschleichen?

Die erwartete Antwort wäre gewesen, dass die Pferde klassische Melodien nehmen und sie durch den Fleischwolf drehen, ihnen ein poppiges Antlitz verleihen und zu Easy Listening degradieren. Dies kennen wir bereits hundertfach und waren von einigen Beiträgen durchaus begeistert, beispielsweise von den Clazz Brothers oder Joachim Horsley (noch ein Pferd!) mit ihren fein ausgearbeiteten Cuba Sounds, oder auch von manch einer Darbietung Beethovens Mondscheinsonate auf elektrischer Gitarre. Doch dieses Feld ist langsam gesättigt und viele Neueinsteiger bleiben in einer stumpfen Masse stecken.

Aber nein: Szanto und Bucher drehen den Spieß um! Anstatt die Klassik zu verwaschen, wird der Eurodance auf das hohe Pferd gehoben und galoppiert herbei mit opernhaften Höhenflügen und pianistischem Virtuosentum. Ohne Rücksicht auf Verluste vermengen die beiden Musiker alles, was ihnen vor die Ohren kommt: selbst vor dem Flohwalzer und der Cantina Band machen sie keinen Halt. So kommt der Hörer aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus und fragt sich immer wieder: Woher kenne ich dieses Zitat? Was war das noch gleich? Hingebungsvoll widmen sich Szanto und Bucher den Pop-Hymnen und gestalten ihre Arrangements bis ins letzte Detail aus, sind immer wieder für Überraschungen gut und verlieren nicht eine Sekunde ihre aufrichtige Liebe zu beiden Welten, aus denen sie ihre eigene formen. Stephanie Szantos geschmeidiger, aber dennoch markanter Mezzosopran wiegt den Hörer ein, nur um ihn keck wieder der heilen Welt zu entreißen und durch alle Stilsphären zu zerren. Am Klavier ist Simon Bucher eine Band, ein Orchester, ein Konzertsolist, ein Liedbegleiter und noch vieles mehr. Mit unfassbarem Reichtum an Klangfarben rast er über die Tasten und passt sich stilsicher seiner Sängerin an, unterstützt sie teils sogar stimmlich.

Diese CD ist für alle. Sowohl gediegene Klassikhörer als auch Anhänger der Popkultur spricht sie gleichermaßen an, ein jeder fühlt sich sowohl eingeschlossen als auch hinters Licht geführt, nur um letztendlich über die eigenen Hörgewohnheiten lachen zu müssen. So passt „The High Horse“ gleichermaßen für aufmerksamen Hörgenuss wie auch als Hintergrundbeschallung für eine Autofahrt oder eine Party – wo Sie sicherlich die Gäste damit zum Stutzen und vielleicht sogar auf die Tanzfläche bringen werden.

Und selbst die Werbeunterbrechung nimmt man gerne in Kauf: zumindest dann, wenn Szanto einem in direkter Abfolge Schneekoppe und Milka, Gutfried, Zott und Merci in die Ohren säuselt und Bucher dazu freudig die Tasten schwingt. Und wer denkt, die CD wäre nach 18 Titeln vorbei, der hat nicht mit dem „Hidden Track“ gerechnet – der natürlich nicht in Spur 19 erklingt! Bis zum letzten Ton führen Szanto und Bucher uns an der Nase herum, und sie dürfen es gerne noch in Vol. 2 und vielen weiteren. Mich würde ja nicht wundern, wenn sie direkt mit Vol. 3 weitermachen und uns erstmal lange nach dem verlorenen zweiten Teil suchen lassen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]