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Bach and Baltic: Kremerata Baltica und die Organistin Iveta Akpalna in der Essener Philharmonie

Was für ein begnadetes Streicherorchester, was für erfrischend „unverbrauchte“ Kompositionen und was für eine spürbare Leidenschaft bei der Umsetzung! Die Kremerata Baltica, jenes von Gidon Kremer gegründete Streichorchester traf in der Essener Philharmobue auf Iveta Akpalna, die zurzeit als Titularorganistin an der Elbphilharmonie ist.

Wenn die fabelbaften Streicherinnen und Streicher der Kremerata Baltica zu aufregenden musikalischen Abenteuern aufbrechen, sind eigenständige Künstlerpersönlichkeiten am Werk, denen bei aller Individualität vor allem „das große Ganze“ eine Herzensangelegenheit ist. Ein weiteres Kapital dieses im Jahr  1997 gegründeten Orchesters ist die aufgeweckte Zusammenarbeit mit den Gegenwartskomponisten ihrer Heimatländer – etwa Estland, Litauen und Lettland. Das machte bei einem überwältigenden Auftritt in der Essener Philharmonie vor allem eines klar: In den Kompositionen von Petris Vasks, Lepo Sumera oder Eriks Esenvalds sind engagierte Modernität und unmittelbar mitreißende Emotion kein Widerspruch.

Auf ihrer aktuellen Tournee „Bach and Baltic“ fungiert die „ewige“ Tonsprache Johann Sebastian Bachs als Bindeglied –  und auch hier ist der unkonventionelle Blickwinkel Programm. Der sich auch dann auszahlt, wenn das Orchester die Orgelvirtuosin Iveta Akpalna, zurzeit Titularorganistin an der Elbphilharmonie in den Mittelpunkt rückt.

Auf konzentriertem Höchstlevel geht es in der Essener Philharmonie ohne Anlaufzeit sofort in die Vollen: Peteris Vasks Sinfonie „Balsis“ für Streichinstrumente kommt aus der Stille, verweigert sich dann immer radikaler jedem esoterisch anmutenden Weltflucht-Idyll. Mit subtiler Emphase tragen die Streicher schillernde, von Glissandi durchkreuzte Farbteppiche auf. Ein anderer, bedrohlich schroffer Gestus steigert sich schließlich in bestürzende Wucht hinein. Hier ist nicht länger der in sich ruhende Naturmystiker Peteris Vasks spürbar, dem es um nordische Schönheitsideale geht. Die unmittelbar fordernde Klangsprache dieser Komposition aus dem Jahr 1990 mutet vielmehr an wie ein Aufschrei in eine unstete Gegenwart hinein.

Nach so viel explosiver Wucht zu Anfang, führt Bachs d-Moll-Konzert zieht eine andere, fast märchenhafte, zeitlose Welt hinein. Was nicht nur an der extravaganten Bühnenpräsenz von Iveta Akpalna liegt, die in silbrig-glänzendem Kleide hinter dem Spieltisch der mächtigen Kuhn-Orgel zur einfühlsamen Kammermusikenpartnerin mutiert. Impulsiv, beflügelnd, leichtfüßig verweben sich Bachs Figurationen mit dem reichen Streicher-Farbenspktrum der Kremerata Baltica.

Später nimmt ein weiteres „Bach-Projekt“ wie kein anders eine erstaunliche Perspektive ein: Bach, Busoni, Gidon Kremer und letztlich das ganze Orchester vernetzten sich in der respektgebietenden d-Moll Chaconne zum Gesamtgefüge.

Eine Einspielung aus dem Off bringt zugleich den Meister und Gründer, also Gidon Kremer selbst ins Spiel. Dieser muss sich der ungeheuren, polyphonen Materialfülle der Chaconne bewusst gewesen sein, die Bach in diesem Solowerk einem einzelnen Spieler aufbürdet. Gidon Kremers Orchesterbearbeitung „befreite“ den komplexen polyphonen Reichtum dieser Komposition aus seiner „einsamen“ Rolle. Hier nun orchestral aufgefächert, gab dies in Essen der beglückenden Spiellust der Kremarata Baltica Nahrung.

Lepo Sumera stammt aus Estland, seine „Sinfonie der Zusammenklänge“ ist das neutönerischste Werk des Abends. Lustvoll bündelt das Spiel der Streicher und eines Perkussionisten viel dunkle Emotion, lässt eintauchen in einen klangsinnlichen Ozean aus Clustern, Dissonanzreibungen und stoischen Schlagwerk-Impulsen. Einmal mehr zeigte sich das Weltklasse-Niveau der Kremerata Baltica, wie plastisch hier alle Raumdimensionen von Nähe und Ferne ausgelotet werden.

Das Finale dieses atemberaubenden Abends führte schließlich scheinbare Gegenpole wie in einer Art Synthese zusammen. Eriks Esenvals bringt in seinem dreisätzigen Orgelkonzert die Ideomatik von Bachs berühmter d-Moll Toccata auf verschlungene Abwege. Und diese bekräftigten mit einem pathetisch-emotionalen Farbenspektrum, aufbrausenden Orgeltutti-Klängen eine durchaus typische melodiös-melancholische Tonsprache, wie sie für viele baltische Komponisten zum Markenzeichen geworden ist.

[Stefan Pieper, November 2018]