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Moritz Eggerts Fußballoratorium endlich auf CD

NEOS 12009-10; EAN: 4 260063 120091

Komponiert für die Ruhrtriennale 2005 im Hinblick auf die WM in Deutschland ein Jahr später, nahm sich die Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes Moritz Eggerts Fußballoratorium „Die Tiefe des Raumes“ 2019 als ihr jährliches Großprojekt vor. Die engagierte Aufführung der jungen Musiker zusammen mit namhaften Gesangssolisten in der Münchner Philharmonie unter der Leitung des Komponisten, dessen umfangreiches Vokal- und Opernschaffen auf Tonträgern bislang völlig unterrepräsentiert erscheint, ist nun endlich auch als Live-Mitschnitt auf CD erhältlich.

Moritz Eggert (*1965) hat es mittlerweile auf – mindestens – 17 Opern gebracht, und auch außerhalb des Musiktheaters spielt die Vokalmusik eine gewichtige Rolle. Meist traut sich der schon lange in München ansässige Komponist, durch gezielte Brechung und Konterkarieren gewisser Erwartungshaltungen des Publikums, wohlbekannte Genres klassischer Musik kritisch zu hinterfragen. Das hält sich bei seinem Fußballoratorium Die Tiefe des Raumes – Teil des Kulturprogrammes der Weltmeisterschaft 2006 – wohltuend in Grenzen. Wie bei vielen abendfüllenden Oratorien gibt es zwei Teile, hier: Erste Halbzeit – Zweite Halbzeit und Nachspielzeit, großbesetzten Chor und Orchester, sowie ein Solistenquartett (Sopran, Mezzosopran, Tenor und Bariton), das noch um drei Sprecher ergänzt wird.

So umfasst der erzählerisch-dramatische Handlungsrahmen (Libretto: Michael Klaus) einerseits die Abläufe eines „realen“ Fußballspiels im Stil einer Rundfunkreportage: Zentrale Figur ist hierbei der Bariton als Journalist – ganz ausgezeichnet: Hans Christoph Begemann –, stellvertretend für den Evangelisten in den bekannten Passions-Oratorien. Das Spiel wird außerdem von drei Sprechrollen (Reporter als alter ego des Journalisten, Trainer und Alt-Internationaler) und vor allem dem Chor, der in erster Linie die Zuschauer im Stadion verkörpert, kommentiert. Eingeflochten in dieses konkrete Sportevent ist dann zusätzlich die Erfolgs- bzw. Leidensgeschichte eines jungen, aufstrebenden Spielers bis zum entscheidenden WM-Treffer. Dies geschieht teils rückblendenartig, sekundiert von den beiden allegorischen Figuren der Tugend und des Lasters (Sopran und Mezzo), aber auch durch Gedanken des Spielers (Tenor, anscheinend leicht indisponiert: Simon Bode) selbst.

Wenig überraschend nutzt Moritz Eggert – dessen Oratorium sich ausdrücklich nicht nur an ein klassik-affines Publikum wenden soll – als Klangcollage einiges an vertrauten Fan- bzw. Stadiongesängen, inklusive Stückfetzen, die man regelmäßig auf mitgebrachten Instrumenten hört, und die ja bereits dort oft ironischen Charakter haben können („Weine nicht, wenn ein Törchen fällt, damm damm…“). Großartig sind auf jeden Fall die Farbigkeit und stilistische Vielfalt, die Chor und Orchester generell zu bewältigen haben. Die Musikakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes – überwiegend aus talentierten Laien zusammengesetzt – hat dies im Vorfeld mit Profi-Dozenten in Südtirol perfekt einstudiert und musiziert unter der klaren Leitung von Eggert mit hör- und sichtbarem Engagement: Der Rezensent hat die Aufführung am 25.8.2019 live miterlebt. Das Niveau der Musikakademie bei solch dicken Schinken kann immer wieder nur erstaunen.

Die für die weiblichen Gesangssolisten (Ania Vegry und Ruth-Maria Nicolay geben ihr Bestes) bestimmte Musik karikiert zum Teil Opernhaftes bis ins Lächerliche, manches ist aber dann wieder hervorragend gelungen, beispielsweise die „Verklärung“ – zum Glück keine Eins-zu-eins-Vertonung – von Giovanni Trapattonis berühmtem Presseauftritt („Was erlauben Strunz?“) als große Sopranarie. Andere Anspielungen sind allerdings nur albern („Ich kenne des Menschen nicht. – Wahrlich, du bist auch einer von denen…“) und reichen heute nicht mehr für eine echte Provokation des Publikums, wie noch 1985 Vergleichbares in Mauricio Kagels Sankt-Bach-Passion. Im Finale beweist Eggert, dass er durchaus ein eindrucksvolles Vokalensemble mit Chor komponieren kann. Insgesamt ist die Musik des mit knapp zwei Stunden etwas lang geratenen Werkes – besonders in der Ersten Halbzeit wünschte man sich, dass es straffer voranginge – verständlich, über weite Strecken tonal und witzig, ohne sich billig anzubiedern. Als Reflexion über das gesellschaftliche Phänomen Fußball werden etliche Aspekte angesprochen. Allzu beißender Sarkasmus, wie etwa in Peter Eötvös‘ Halleluja – Oratorium balbulum (2016), bleibt dem Hörer erspart.

Für die Studienstiftung war das aufwändige Konzert leider nicht ganz der erwartete Erfolg: Hätte man ein Jahr zuvor mit Mahlers Achter wohl das sprichwörtliche Fußballstadion füllen können, war die Münchner Philharmonie bei Eggert nur zu 30% ausgelastet – unter Tiefe des Raumes hatten sich die Veranstalter sicherlich etwas anderes vorgestellt. Dass vielen da eine wirklich mutige und gelungene Darbietung entgangen ist, zeigt die in üblich hoher NEOS-Qualität aufgemachte CD-Veröffentlichung, die nun Gelegenheit bietet, das Verpasste nachzuholen – äußerst unterhaltsam ist das allemal. Aufnahmetechnisch wurde die riesige Besetzung recht überzeugend eingefangen – lediglich der Chor klingt gegenüber den deutlich im Vordergrund agierenden Solisten ein wenig topfig. Glücklicherweise enthält das Booklet auch das komplette Libretto.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2021]

Überstrapazierte Ideen

NEOS 11730; EAN: 4 260063 117305

Moritz Eggert: Muzak, Number Nine VII: Masse; Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, David Robertson, Peter Rundel (Leitung)

Liveaufnahmen aus den Konzerten der Musica Viva hören wir auf dieser CD aus dem Hause NEOS. Auf dem Programm stehen zwei Werke des deutschen Komponisten Moritz Eggert: Muzak für Stimme und Orchester sowie Number Nine VII: Masse für großes Orchester. Es spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundrunks, in Muzak unter David Robertson, in Number Nine VII unter Peter Rundl; die Gesangspartie übernimmt der Komponist selbst.

Moritz Eggert ist ein wahres Multitalent: ein ausgezeichneter Schreiber, bemerkenswerter Pianist, beachtlicher Dirigent und – wie in dieser Aufnahme zu hören ist – auch geübter Sänger. Nur die Rolle des Komponisten mag dem Tausendsassa nicht so recht stehen – doch genau in dieser hat Eggert den durchschlagendsten Erfolg.

Muzak setzt sich mit Hintergrundmusik auseinander, mit Pop und allerlei möglichst inhaltsfreier Klangkultur. Zugrunde liegt ein Text aus klischeehaften Phrasen und heruntergebrochenen Song-Zitaten. Ursprünglich plante Eggert, mit Muzak seiner Abneigung gegen diese Art „hohle“ Musik Ausdruck zu verleihen und sie der „ernsten“ Musik näher zu bringen. Schließlich befasste er sich allerdings eher damit, die melancholische Gefühlswelt der leichten Muse und deren unmittelbare Wirksamkeit auf den Menschen zu untersuchen. Das klangliche Resultat wirkt wir ein Potpourri verschiedener Genres der leicht vermarktbaren Musik, zusammengekleistert ohne nachvollziehbare Bezüge oder logische Abfolge. Einige der Abschnitte besitzen Reiz und präsentieren sichtlich Eggerts Auseinandersetzung mit dieser Art von Musik, gegen die er laut eigener Aussage Abneigung verspüre. Sich den Klischees geschickt zu bedienen, gehört zu den Talenten Moritz Eggerts. Doch warum belässt man es nicht bei einer lustigen fünf- oder zehnminütigen Humoreske, sondern muss das Konstrukt auf vierzig Minuten ausdehnen? Der Gag erschöpft sich, der Hörer ermüdet. Schließlich zappt auch keiner vierzig Minuten durch sämtliche Radiosender und erfreut sich dabei an Störgeräuschen oder unklarem Empfang.

Wenn ein Komponist ein 40-minütiges Orchesterwerk über ein gewisses Objekt schreibt, so müsste der Hörer erwarten können, dass der Verfasser sich auch ausreichend mit dem Objekt beschäftigt hat. Umso mehr überrascht, dass Eggerts Definition von „Muzak“ im Booklettext falsch ist. Wer tatsächlich etwas über Muzak erfahren will, dem lege ich folgende Links nahe: Muzak history; Where did all the elevator music go.

Während Muzak noch als überlanger Scherz betitelt werden kann, musste ich mich bei „Number Nine VII: Masse“ zwingen, es durchzuhören und mich nicht nach fünf Minuten dadurch zu erlösen, die Musik abzuschalten und der Platte als Frisbee letzten Wert abzuringen. Eggerts Idee war, das komplette Orchester non-stop zu beschäftigen, ohne nur einem Musiker eine Pause zu gewähren. Dass dies zum Scheitern verurteilt sein muss, beweist jede Instrumentationslehre und jedes funktionierende Instrumentalstück seit Anbeginn der notierten Musik. Strukturen entstehen durch Kontraste und Kontraste durch Abwechslung, verschiedene Instrumente oder Spielweisen; wenn nun aber das Orchester den Hörer zwanzig Minuten durch immer noch heftigere Impulse attackiert, verliert sich das Publikum schnell inmitten des Gewirres, und der Eindruck flaut ab. Selbst Moritz Eggerts handwerkliches Geschick kann das musikalische Geschehen nicht mehr retten. Was er selbst als „Freiheit“ bezeichnet, die ihm an erster Stelle stehe, ist in Faktum eine selbstgewählte Beschränkung auf gewisse Vorstellungen und Themen, die er sich für seine Stücke aussucht. Statt offen zu bleiben und die Musik in sich wirken zu lassen, reduziert Eggert seinen kompositorischen Horizont auf Effekthascherei, überstrapazierte Gags, Skurrilitäten und möglichst schräge Geräuschkonstellationen. Heraus kommen unförmige Klanggestalten, die nach kürzester Zeit ermatten und den Hörer quälend langweilen.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

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