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Erregerung öffentlichen Unverständnisses

Max Reger. Werk statt Leben. Eine Biographie von Susanne Popp

Breitkopf & Härtel, Wiesbaden; ISBN: 9783765104503

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Eine Biographie über Max Reger muss, soll sie dem Gegenstand der Betrachtung gerecht werden, dick und mit Informationen vollgestopft sein – wie eben auch Regers Musik und sein gigantisches, bis zu seinem frühen Tod 1916 mit 43 Jahren unaufhaltsam wucherndes Œuvre. Die Musikwissenschaftlerin Susanne Popp ist seit 1981 Direktorin des heute in Karlsruhe ansässigen Max-Reger-Instituts, sie hat 2010 das umfassende ‚Verzeichnis der Werke Max Regers’ veröffentlicht, und nun tritt sie mit einer sachlichen, nie den Überblick im Dschungel von Musik und Wechselfällen des Lebens verlierenden Biographie auf den Plan, die mit Anhängen 540 Seiten umfasst und als ultimative Einführung in die Chronologie der Werkstatt dieses besessen Schaffenden gelten muss. Frau Popp hat diese Mammutaufgabe – natürlich auch dank ihrer umfassenden Quellenkenntnisse, ihrer deutschen Gründlichkeit, ihrem intensiven Streben, keinen wichtigen Aspekt aus dem Auge zu verlieren – makellos und vorbildlich gelöst. Dass das Werkverzeichnis zwar vollständig, doch sehr lakonisch geraten ist, nimmt man schlicht deswegen bereitwillig in Kauf, weil die Autorin ja hier das zusätzliche Standardwerk verfasst hat. Beides zusammen bildet die gültige Grundlage für jede weitere Auseinandersetzung mit dem so widersprüchlichen wie faszinierenden Phänomen Reger, sowohl für die, die forschend tiefer eindringen wollen, als auch für die, die einfach mal ihrer Neugier hinsichtlich einer rätselhaften Persönlichkeit, die zwar seit jeher als die neben Strauss, Mahler und Pfitzner bedeutendste ihrer Generation in Deutschland gilt (dem muss man allerdings nun wirklich nicht zustimmen, und was fast alle schon immer glauben, ist noch lange nicht wahr!), die es jedoch – aus anderen Gründen als der lyrisch vergrübelte Erzromantiker Pfitzner – bis heute nicht geschafft hat, außerhalb der Gattung der Orgelmusik im Konzertleben kontinuierlich präsent zu sein. Und dafür gibt es auch Gründe in der Sache (also der Musik) selbst: das populärste Orchesterwerk Regers, seine späten Variationen über das Thema des Variationssatzes aus Mozarts berühmter A-Dur-Klaviersonate, schließt mit einer hypertroph chromatisch sich dahinschlängelnden Fuge, um zum Ende – bei „strahlender“ Wiederkehr – das so wunderbar einfache, klare Thema Mozarts in grausam geschmackloser Weise zu vergewaltigen. Und es ist unbestreitbar, dass Reger einerseits einer der aufregendsten und erfindungsreichsten Harmoniker (und nicht Kontrapunktiker!) war, andererseits aber eben auch ständig, zumal in den schnellen Sätzen, im – wie Celibidache es so schön sagte – „Irrgarten der Modulation“ verloren ging. Und so hat er es in seiner harmonischen Erregtheit, dem ständigen Fluktuieren der harmonischen Zusammenhänge durch rastlos überladenes Kreuz- und Quer-Modulieren, bis heute öffentliches Unverständnis zu produzieren. Um seinen eigenen, Spitzweg-haft kauzigen Humor zu paraphrasieren: er komponierte in ständiger ‚Erregerung’, und ein durchgehender Zusammenhang, eine bruchlos mitvollziehbare Entwicklung ist oftmals nicht gegeben. Es gibt aber ganz wunderbare Werke, nicht nur in der späten Kammermusik, die von vielen Kennern zu recht sehr geschätzt wird, sondern eben immer wieder ganz besonders in langsamen Sätzen, wo sich die tonale Wirkung und ungeheure Farbigkeit seiner Harmonik angemessen entfalten kann – man denke nur an so fantastische Stücke wie die ‚Toteninsel’ oder den ‚Geigenden Eremiten’ aus den ‚Böcklin-Tondichtungen, an die wunderbare Adagio-Variation aus den Mozart-Variationen, oder an so tief ergreifende Spätestwerke wie das Hebbel-Requiem oder den ‚Einsiedler’. Wirklich ganz großer, universeller Reger ist in all der Geschäftigkeit seines aufgeregten Treibens eher der Ausnahmefall, aber dann tun sich Welten auf, die über die technische Artistik hinaus eine einmalige Begabung und Imaginationskraft offenbaren. Er ist es also wert, sich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen! Und die auch stilistisch tadellose neue Biographie, die anlässlich des 100. Todestages von Max Reger im vergangenen Jahr erschienen ist, hilft, sich im Labyrinth seines skurrilen Lebens und seiner kaleidoskopisch durchbrochenen Kunst zurecht zu finden. Ein neues Standardwerk.

[Annabelle Leskov, Mai 2017]