„Brittissimo!“ – Eine längst überfällige Kollektion im Gedenken eines großen Komponisten

Opus Arte, OA BD7189 BD; EAN: 80947807189

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Die Opern von Benjamin Britten (1913-76) werden auf den heutigen Opernbühnen mit Ausnahme des Peter Grimes leider nach wie vor viel zu selten gespielt. In Anbetracht dieses Umstandes ist es nun umso erfreulicher, dass die meisten in vorliegender Box enthaltenen Produktionen als Hommage zum hundertsten Geburtstag an den englischen Komponisten im Jahr 2013 erstveröffentlicht wurden und nun in dieser Sammelkollektion erhältlich sind. Die Box besticht gleich auf den ersten Blick durch ihre geschmackvolle Aufmachung. Der Schuber, welcher markant durch ein gestrandetes Schiff illustriert ist, nimmt sogleich Bezug auf die häufig in Brittens Opern eingestreute Motivik um See und Seefahrer, was v. a. in Peter Grimes und Billy Budd deutlich wird. Zeit seines Lebens fühlte sich Britten den malerischen Landschaftsbildern der englischen Nordseeküste verbunden und gründete dort auch schließlich das Aldeburgh Festival, welches u. a. als Uraufführungsort diverser Bühnenwerke des Komponisten fungierte.

Drei der in der vorliegenden Box enthaltenen Mitschnitte möchte ich im Folgenden genauer herausheben:

Bereits die erste Produktion innerhalb des Schubers präsentiert das bedeutendste Opernwerk Brittens überhaupt: Peter Grimes. Uraufgeführt im Jahr des Kriegsendes war es zu dieser Zeit das Werk, welches Britten zu nachhaltigem Ruhm verhalf. Die äußerst anspruchsvolle Titelpartie des Grimes hatte Britten für seinen Lebensgefährten, den großen Tenor Peter Pears, geschrieben, mit welchem der Komponist dann auch im Jahr 1958 eine Studioproduktion für das Label Decca einspielte, die bis heute als unangefochtene Referenzaufnahme des Werkes gilt (Decca, 4757713; EAN: 0028947577133). Aufgrund der großen sängerischen Strapazen, mit welchen die Rolle verbunden ist, wird die Partie oftmals von Wagner-Sängern gesungen, darunter v. a. auch von bedeutenden Sängern wie dem kanadischen Heldentenor Jon Vickers, welcher die Rolle in der Gesamtaufnahme von 1978 unter Sir Colin Davis übernahm (Decca, 4782669; EAN: 0028947826699). Wenngleich auch nicht mit derart unerschöpflichen stimmlichen Mitteln ausgestattet wie besagte Vorgänger, so kann der britische Tenor John Graham-Hall doch in der vorliegenden Produktion der Mailänder Scala überzeugen. Auf bühnendarstellerischer Ebene mangelt es ihm in dieser Partie allerdings des Öfteren an Intensität. Das eigentliche Glanzlicht der Produktion ist die Besetzung der Ellen Orford durch Susan Gritton. Ihre lyrischen Qualitäten wie auch ihr intensives Spiel zeichnen eine Frau, die gegen das existentielle Dilemma und die Ungerechtigkeit des konservativen dörflichen Milieus aufbegehrt und letztlich daran scheitert. Susan Grittons Sopran ist bestens disponiert und versprüht eine Wärme, welche der darstellerischen Gestaltung ihrer Rolle aufs Eindringlichste gerecht wird. Unterstützt werden die Sänger vom routinierten Orchester und Chor der Mailänder Scala. Obwohl es dem jungen Dirigenten Robin Ticciati anfangs auch mangels Schwung nicht gelingt, aus Chor und Orchester einen einheitlichen Klangkörper zu formen, spornt er diese doch nach und nach zu voller Leistung an. Spätestens in den bedrohlich-düsteren „Sea Interludes“, v. a. aber im Sturm-Interludium des zweiten Aktes, in welchem das Orchester mit martialischer Kraft aufgepeitscht wird, gelingt es ihm, große Spannungsbögen und orchestrale Facetten von großer Transparenz zu zeichnen. Die teils moderne, teils konservative Inszenierung vermag dabei mittels gezielter Lichteffekte und kontrastreicher Kostüme interessante Eindrücke zu vermitteln und die innerdramaturgische Beklommenheit auf nachvollziehbare Art und Weise herauszustreichen.

Die Produktion des auf einer Erzählung von Herman Melville basierenden Bühnenwerkes Billy Budd kann als eine weitere Sternstunde realistisch-historisierenden Musiktheaters gesehen werden. Die tragische Seemannsoper entstand ursprünglich als Auftragswerk für das Royal Opera House, wo sie 1951 zur Uraufführung gelangte. Ebenso wie den Peter Grimes nahm Britten auch diese Oper zusammen mit Pears im Jahr 1967 für das Decca-Label auf (Decca, 4174282; EAN: 0028941742827). In der Rolle des befehlshabenden Captain Vere der vorliegenden Aufführung vom Glyndebourne Festival ist John Mark Ainsley zu sehen. Sein hellschlanker Tenor vermag, einen von Selbstzweifel geplagten Idealisten darzustellen, welcher letztlich zwischen Gesetz und eigenem Gewissen entscheiden muss. Spiel und Gesang sind von großer darstellerischer Überzeugungskraft. Die Titelpartie ist durch den südafrikanischen Bariton Jacques Imbrailo besetzt, welcher es als jugendlich-lyrischer Bariton aufs Beste versteht, der Figur die nötige Naivität angedeihen zu lassen. Sein tragisches Ende im Fadenkreuz des Spannungsfeldes zwischen Humanität und Ordnungsmacht ist von großer Wirkung und Eindringlichkeit. Hervorragend besetzt ist auch die Rolle des sadistischen Intriganten Claggart, gespielt mit dämonischer Intensität vom kanadischen Bassbariton Philip Ens. Eine besondere Bemerkung wert ist die herausragende Inszenierung von Michael Grandage, welcher die Handlung in das klaustrophobische Innere eines Schiffrumpfes versetzt. Die ungeschönte Brutalität zur Zeit der Revolutionskriege wie auch die Qual des Matrosenalltags werden realistisch nachgezeichnet und durch historische Kostüme ergänzt. Das ausgezeichnete London Philharmonic Orchestra unter der expressiven Stabführung von Mark Elder rundet das Bild dieser erstklassigen Produktion ab.

Brittens Death in Venice nach einer Adaption der Novelle von Thomas Mann wurde als letzte Oper des Komponisten im Jahr 1973 im Rahmen des Aldeburgh Festivals uraufgeführt.     Wie bereits in der vorgenannten Aufnahme des Peter Grimes hat man auch in dieser Produktion der English National Opera den Tenor John Graham-Hall mit der Titelpartie betraut. Und Graham-Hall liefert hier eine weitaus vielschichtigere Darstellung ab als in der Grimes-Produktion! Sein selbstquälerischer Zwiespalt zwischen Eros, also der Neigung zu dem Knaben Tadzio, und Ratio, also der Akzeptanz des gesellschaftlich Tabuisierten im Kontext seiner Reputation als berühmter Schriftsteller, nimmt man ihm ohne weiteres ab. Auch in stimmlicher Hinsicht ist er diesmal bestens disponiert, von fast gehauchten Piani bis hin zu aufschäumendem und stets sicher intoniertem Forte komplexer Melodielinien. Brittens stilistische Wandlung gegenüber den beiden vorgenannten Werken ist deutlich spürbar. In Anbetracht der komplexen Motivik, des archaisch anmutenden Schlagwerks und der farbig-dissonanten Harmonik als Spiegel der psychologischen Innenwelt Aschenbachs meint man immer wieder Komponisten wie den Strauss der Salome und Elektra und v. a. auch Strawinsky aus der Partitur herausblitzen zu sehen. Dieser Umstand wird mit großer Intensität durch die ungeheure Impression atmosphärischer Bühnenbilder unterstrichen, welche sich mit der Musik auf einer stimmungsvollen Verdichtungsebene vereinigen. Wenn auch sängerisch nicht vollauf überzeugend, so ist Bassbariton Andrew Shore doch in darstellerischer Hinsicht als Verkörperung der „Sieben-Personen-Rolle“ mit besonderem Lob zu würdigen. Chor und Orchester gelingen zudem unter der Leitung von Edward Gardner wahre Höchstleistungen.

Alles in allem handelt es sich hierbei um eine herausragende Sammlung der wichtigsten Bühnenwerke Brittens (noch dazu in augenbetörender HD-Qualität), die sich jeder gewissenhafte Musikliebhaber durchaus zu Gemüte führen darf. Ein anerkennendes „Brittissimo!“ wird in diesem Falle dem ein oder anderen im Anbetracht der herausragenden sängerischen und darstellerischen Leistungen mit Sicherheit von den Lippen schallen.

[Georg Glas, April 2016 ]

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