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Das Entdecken hört nie auf!


(Foto von: Anette Kriete)

Die junge Geigerin Gina Keiko Friesicke legte ein überwältigendes Debut bei den Hertener Schlosskonzerten hin

Gina Keiko Friesicke will das werden, was sie jetzt schon ist: Eine Geigerin, die zu den Allerbesten gehört. Soeben hat die 15-jährige den Bundeswettbewerb mit bester Punktzahl gewonnen – schon zum zweiten Mal. Und jetzt forderte sie ihr Publikum bei den Hertener Schlosskonzerten zu frenetischen Beifallsstürmen heraus!

Haben Sie ein Erfolgsrezept? Ist es Fleiß allein oder haben Sie bislang besonders viel Glück gehabt?

Da kommt sicherlich vieles zusammen. Ich empfinde es als ein großes Geschenk, dass ich so viele Menschen hatte, die mich gut gefördert haben. Das sind vor allem meine Eltern, aber auch meine verschiedenen Lehrer.

Wie erleben Sie Musikwettbewerbe erlebt?

Wettbewerbe fördern die Gabe, sich selber ein Ziel zu setzen. Wenn ich dann wirklich gut vorbereitet bin, macht das Wettbewerbsspiel sehr viel Spaß.

Ihre Mutter ist Japanerin. Sehen Sie bei sich selbst einen „typisch japanischen“ Wesensanteil?

Auf jeden Fall! Da ist die Sache mit der Disziplin. Wenn ein Ziel gesetzt ist, dann führt in der japanischen Mentalität der Weg auch dahin. Es wird nie vorher schon aufgehört oder unterbrochen.

Was hat sich durch Ihre frühe Musiker-Karriere im Leben verändert?

Es hat sich alles ganz normal verändert, wie bei jedem jungen Menschen auch. Ich übe mehr. Aber ich gehe ganz normal zur Schule, treffe mich regelmäßig mit vielen Freunden.

Wie lange brauchen Sie, um einMusikstück zu erarbeiten?

Fertig wird man eigentlich nie mit einer Komposition. Ich kann ein ganzes Leben lang immer neue Fragen an ein Stück stellen.

Was möchten Sie beim Publikum erreichen?

Ich empfinde es als ein großes Glück, dass ich auf der Konzertbühne anderen Menschen etwas weiter geben kann. Ich möchte erreichen, dass das Publikum meine Interpretation eines Werkes versteht.

Wie lässt sich Ihr Dasein als konzertreife Musikerin und Jungstudentin mit der Schulausbildung vereinen?

Ich möchte auf jeden Fall mein Abi machen. Die Lehrveranstaltungen am Konservatorium sind ja nachmittags. Das lässt sich gut miteinander vereinbaren.

Gibt es in der allgemeinbildenden Schule einen funktionierenden Musikunterricht?

Nein! (lacht …)

Würden Sie sagen, dass das intensive Musizieren bei Ihnen auch andere Fähigkeiten fördert?

Ich glaube, dass Musik machen auch die Motorik und geistige Beweglichkeit im allgemeinen sehr unterstützt. Das bedeutet aber leider nicht, dass sich die Mathe-Aufgaben von alleine lösen (lacht) …

Vielen Dank für das bereichernde Gespräch!

 

 

Gina Keiko Friesickes Debut begeisterte im Hertener Schloss

Hertener Schlosskonzerte: Ludwig van Beethoven, Eugène Isaye, Witold Lutoslawsky, Edvard Grieg, Pablo de Sarasata; Gina Keiko Friesicke (Violine), Christian Köhn (Klavier)


(Gina Keiko Friesicke, Foto von: Anette Kriete)

Die Violinsonate c-Moll op. 45 des diesen Monat 175. Jahre alt gewordenen Komponisten Edvard Grieg, kann, wenn sie wirklich tiefempfunden musiziert wird, zu einem kolossalen Panorama voll lichtdurchfluteter Höhen und drohender tiefer Abgründe werden. Und wenn eine gerade mal 15-jährige Geigerin eben solch dramatische Landschaftsbilder im Kopf des Hörers entstehen lässt, dann ist sie auf jeden Fall auf dem richtigen Weg. Das Publikum, bei den Hertener Schlosskonzerten ohnehin mit kammermusikalischen Beglücklungen auf höchsten Niveau bestens verwöhnt, tobte schließlich in rasendem Beifall. Wohlgemerkt: Dies war das erste zusammenhängende Solo-Konzert, welches die in Detmold lebende Jungsstudentin bestritt.

Sei weiß, was sie will und tut auf der Bühne: Das heißt auch, aus spontanen Herausforderungen des Moments das beste zu machen. Herausfordernd ist es zu Beginn, sich gegenüber dem phasenweise überdominanten Klavierspiel ihres Partners Christian Köhn überhaupt Gehör zu verschaffen. Bei aller Einsicht, dass Beethovens „Frühlingssonate“ F-Dur eigentlich eine Sonate für „Klavier und Violine“ und nicht umgekehrt ist – dies war doch eine Spur zu viel!

Falsch liegt, wer nun denkt, dass sich diese zarte, junge Frau mit ihrer kostbaren „Gianbattista Ceruti“-Violine, gebaut circa 1800  von so etwas unterkriegen ließe: In Eugene Isayes Solosonate, ohnehin ihr erklärtes Lieblingsstück, spielt sie sich frei in bestem Sinne! Was für eine Autorität entfaltet ihr frappierend artikulationsstarkes Spiel, hier wird Musik tief verstanden und als leidenschaftliche Botschaft ans Publikum weitergegeben. Von der durch und durch traumwandlerisch perfekten Spieltechnik braucht gar nicht weiter geredet werden. Gina Friesicke schickt das mächtige „Dies Irea“- Choralmotiv durch ein Labyrinth aus Abwandlungen, Behandlungen, Zerlegungen, wilden Arpeggien, fast orchestralen mehrstimmigen Doppelgriff-Parts.

Einmal so in Fahrt, kann sie nun auch dem fulminanten Klavierpart höchst eloquent Paroli bieten. Dazu ist Witold Lutoslawkis „Subito“ in bestem Sinne angetan, wo rhytmischen Gesten und  ekstatische Impulse wie rasante Bälle hin und her fliegen – spannend wie ein Krimi mutet diese selten gehörte Repoertoire-Entdeckung an!

Geht noch mehr? Ja, noch viel mehr! In Edvard Griegs c-Moll-Sonate lebt – wie gesagt – eine immense Wandlungsfähigkeit, die allein durch Gina Frieickes Klanggestaltung mittels Bogentechniken entsteht. Für diese Spektrum müsste allein ein Landschaftsmaler erstmals viele Farben und Pinsel aufbieten.

Hatte man beim Lesen des Programmheftes noch die Assoziation, dass hier ein junges Talent mit möglichst vielen Bravourstücken technisches Akrobatik zelebrieren will, so kann ihre Spiel von Pablo de Sarasates Carmen Fantasie eigentlich nur noch sprachlos machen: ein Werk, dem noch den meisten eingefleischten Virtuosen ehrfurchtsvoll entgegentreten. Wieder verdichtet Gina Friesicke ihre Tongebung derart konsequent, dass ihr Violinspiel zur eindringlichen Singstimme wird. Noch temperamentvoller phrasiert sie die Töne, dass es jubelt, schluchzt und seufzst, noch  unwirklicher wirkt diese perfekt-unangestrengte Instrumentenbeherrschung in allen akrobatischen  Flagolettglissandi und Doppelgriffpassagen bis in höchste Lagen.

Gina Friesicke, hat damit alle Karten gelegt, um künftig die Bühnen dieser Welt zu erobern. Denn diese brauchen eine derart selbstbewusste, gestaltungsmächtige Interpretin!

[Stefan Pieper, Juli 2018]

Etwas in die Ewigkeit hinaus senden!

Interview mit der Geigerin So Jin Kim zum aktuellen CD-Debut „The Grand Duo“

Die Geigerin So Jin Kim bildet schon lange mit dem Pianisten David Fung eine symbiotische Einheit. Ganz bewusst haben sie sich mit einem CD-Debut viel Zeit gelassen. Im Falle des neuen Tonträgers war alles eine Gefühlsentscheidung. Ungewöhnlich ist das Programm allemal, wo Werke von Richard Strauss, Franz Schubert und des israelischen Gegenwartskomponisten Avnar Dorman einen Spannungsbogen wie keinen anderen bilden. 

So Jin Kim, die in Korea geborgen wurde, in den Staaten aufwuchs und heute abwechselnd in New York und Hannover lebt, bekundete im Gespräch, was ihr wichtig ist.

Erzählen Sie mir etwas über die Vorgeschichte dieser Produktion. Was war die Grundidee für diese Stücke-Abfolge?

Dieses Programm wird durch die Sonate von Richard Strauss zusammengehalten und das hat seine besondere Vorgeschichte. Als ich nach Deutschland kam, habe ich mit hiesigen Orchestern, unter anderem dem der Bayerischen Staatsoper musiziert. Ich war wirklich sehr beeindruckt von dieser Tradition und diesem Klang – vor allem, was die Blechbläser hier können. Und dann haben mich Strauss und Wagner sehr berührt. Ich bin seitdem regelrecht infiziert von der Orchestermusik von Richard Strauss. Deshalb musste eine Sonate von ihm auf die neue CD kommen. Die Violinsonate E-Dur, Opus 18 ist die letzte von Strauss in klassischer Form durchkomponierte Sonate, und sie hat riesige Parts sowohl für Klavier und Violine. Dieses Stück gibt der CD das Fundament. Schuberts A-Dur-Sonate, die auch den Untertitel „Grand Duo“ trägt, passte hierzu, obwohl dieses Stück einen großen Kontrast zu Strauss markiert. Aber dann sollte auch noch ein zeitgenössisches Stück wie ein Bindeglied funktionieren. Hier bot sich Avner Dormans zweite Sonate aus dem Jahr 2008 an. Ich kenne Avner Dorman und seine Kompositionen seit vielen Jahren und wir haben zusammen an der Juillard School studiert. Ich habe Avner dann nach Empfehlungen gefragt. Und von denen gefiel mir diese zweite Sonate am besten.

Auf das spätromantische Stück folgt Dormans zeitgenössische Komposition, bevor Schubert das Finale bildet. Wie kam es zu diesem etwas ungewöhnlichen, weil un-chronologischen Spannungsbogen?

Es hat sich so ergeben. Ich habe sehr lange mit mir über die Reihenfolge gerungen. Ich wollte die CD nicht mit dem modernen Stück beginnen, aber auch nicht beenden. Strauss und das moderne Stück enden beide mit einem exaltierten, fast wilden Part. Dormans Sonate beginnt mit einem sehr spirituell getragenen Teil, der fast wie ein Gebet wirkt. Da sehe ich eine Gemeinsamkeit, weswegen sie hier aufeinander folgen. Schuberts Sonate bekam dadurch zwangsläufig die Rolle eines Finales. Sie markiert ohnehin eine andere Welt für sich. Wer bei Schubert tief zuhört, der vergisst alles, was vorher zu hören war. Gerade dieser Aspekt hat zur Entscheidung für diese Abfolge geführt.

Haben Sie ein besonderes Klangideal?

Musik kann nicht existieren ohne Klang. Wenn ich mich in ein Stück hinein vertiefe, versuche ich, eine ganz spezifische Atmosphäre zu erzeugen. Die kluge Gestaltung des Klanges lässt im Idealfall  jene Welt erstehen, die der Komponist im Sinn hatte. Deswegen ist nur eine Spieltechnik wirklich großartig, wenn man sie nicht mehr als solche wahrnimmt. Erst sobald man nicht mehr bewusst drauf achtet, wie schnell die Finger sich bewegen, wirkt die Musik auf einer tieferen Ebene. Das ist meine Intention, wenn ich den perfekten Klang für eine Komposition suche. Und daraus schließlich Bilder, Gedanken, Emotionen hervor gehen…

Ich frage nicht zuletzt deshalb, weil Sie Ihr Instrument in Avner Dormans Sonate so ganz anders, als bei Schubert und Strauss klingen lassen. Was wollten Sie zum Ausdruck bringen?

Dormans zwei Stücke kombinieren einen Ruhezustand mit einem exaltierten, intensiven Part, bei dem Leidenschaft auch etwas mit Leiden zu tun hat. Der erste Satz ist wie ein Gebet. Der zweite umso mehr ein Ausbruch, der spieltechnisch und auch rhythmisch ins Extreme geht. Da entsteht ein rauher Klang, den man bloß nicht wieder glätten sollte. Es geht darum, mutig und extrovertiert zu sein. Hier lebt ein ganz starkes Bewusstsein für Energien.

Dormans Stück überwindet mit ausgeprägten modalen Parts ja auch die Vorherrschaft von Dur und Moll, die für Schubert und Strauss ja noch relativ verbindlich ist. Außerdem gibt es viele Fugato-Parts. Welche Funktion haben solche Kontraste in diesem Programm?

Ich mag sehr an Avners Dormans Kompositionsstil, dass er sehr zeitgenössisch ist, sich trotzdem auch sehr traditioneller Verfahren bedient. Die sogar älter als bei Schubert und Strauss sind.

Öffnet Avner Dormans Sonate hier ein Fenster? 

Auf jeden Fall. Das macht er sehr mutig und direkt, während es bei Strauss und Schubert viel vorsichtiger passiert.

Strauss hat seine Sonate im Zuge einer großen Verliebtheit in seine spätere Frau komponiert. Dorman legt seiner Sonate zwei Liebesgedichte zu Grunde. Gibt es bei Schuberts „Grand Duo“ ähnliche Bezüge?

Bei Strauss und Dorman sind solche Hintergründe sicher aufschlussreich. Schuberts Musik ist in meinem Empfinden aber so selbsterklärend, dass sich jede Diskussion über programmatische Hintergründe erübrigt. Seine Tonsprache hat eine so starke lyrische Dichte, dass ohnehin alles in jedem Moment „lovely“ ist.

Sie haben in den letzten Jahren eine beeindruckende Karriere voran getrieben. Hätten Sie ein solches Programm bereits in einem früheren Stadium erarbeiten und vor allem aufnehmen können bzw. wollen?

Es war gut, sich für das CD-Debut Zeit bis heute zu lassen. Ein Aufnahme zu machen ist eine sehr verantwortungsvolle und endgültige Sache. Es wird etwas produziert, das ewig ist. Als Musikerin lebe ich in einem Zustand ständigen Wandelns und Weiterentwicklung. Selbst während eines Aufnahmeprozesses ändert sich die Wahrnehmung ständig. Da ist es ein sehr gewichtiger Schritt, etwas in die Welt auszusenden, was nicht mehr veränderbar ist.

Wie lange arbeiten Sie schon mit Ihrem Pianisten David Fung zusammen?

David und ich sind schon lange freundschaftlich und künstlerisch miteinander verbunden. Daher war es in jedem Moment klar, dass wir uns für ein Programm entscheiden, das einen fantastischen Pianisten braucht, der hier sein ganzes Können entfaltet. Auch David mag dieses Programm sehr.

Sie hatten eingangs schon über Ihre Erfahrungen mit Orchestern geredet. Sie treten ja nicht nur als Solistin vor Orchestern auf, sondern sitzen auch selbst am Pult, zum Teil als Konzertmeisterin. Welche Erfahrungen wirken daraus auf das solistische Spiel?

Eigentlich spielt es keine Rolle, in welchem Medium jemand musiziert – wenn es doch um die Musik an sich geht. Musizieren ist einfach Musizieren. Orchesterpraxis vermittelt aber die Einsicht, dass jeder Musiker immer ein Part innerhalb eines großen Ganzen ist – so wie ein Detail in einem großen Bild. Jeder alleine kann das Stück Musik nicht erschaffen. Diese Erkenntnis bereichert auch das Solistendasein immens, vor allem das Verständnis über die eigene Rolle.

Sie leben in Europa, Amerika und sind auch in Ihrer ursprünglichen Heimat Asien viel gefragt. Welche Unterschiede erleben Sie? 

Es ist in jedem einzelnen Land unterschiedlich. Das trifft schon für Europa zu. Vor allem in Deutschland fühle ich eine tiefe Verwurzelung der klassischen Musik in der eigenen Kultur. Die hohe Kenntnis des deutschen Publikums ist in jedem Moment spürbar. Wenn in deutschen Konzerten das Publikum wirklich überwältigt ist und dies auch zeigt, bedeutet dies sehr viel. Das ist ein Statement mit Gewicht. In Amerika ist immer ein hoher Level an Enthusiasmus da. Amerikaner trauen sich gerne, richtig aus dem Häuschen zu sein, was hier fast schon Normalzustand ist. Auch das ist immer eine schöne Erfahrung. Und in Asien, vor allem in Korea ist vieles in einer Entwicklung begriffen, die Hoffnung weckt: Das Interesse an klassischer Musik wächst seit Jahren unaufhörlich.
[Interview geführt von Stefan Pieper, 2018]

CD:

The Grand Duo: So Jin Kim (Violine), David Fung (Piano)

 

Konzert-Tipp:

So Jin Kim und David Fung gastieren am 12. Juni im Pianosalon Christophori Berlin

 

 

 

 

 

The Grand Duo: So Jin Kim und David Fung legen mit ihrer Debut-CD ein überzeugendes Reifezeugnis ab

The Grand Duo – Violinsonaten
Genuin Classic, GEN 18491; EAN: 4 260036 253914

Recorded at Mendelssohn-Saal, Gewandhaus, Leipzig, Germany January 2–4, 2017 Recording Producer/Tonmeister: Holger Busse

 

Die Geigerin So Jin Kim und der Pianist David Fung haben bei ihrem CD-Debut auf die eigene innere Stimme gehört, was auf ein tief ehrliches künstlerisches Statement hinaus lief. So Jin Kim, eine in den USA aufgewachsene gebürtige Koreanerin und David Fung, ihr ebenfalls aus Korea stammender Partner am Klavier nahmen eine durch und durch lebensbejahende Sonate von Richard Strauss zum Ausgangspunkt eines künstlerischen Projekts. So Jin Kims persönliche Bekanntschaft mit dem israelischen Komponisten Avnar Dorman machte einen zeitgenössischen Gegenpol für die Debut-CD geradezu zwingend. Zum Finale dieses Programms soll Musik dort weiter machen, wo die Worte definitiv am Ende sind – in Franz Schuberts Sonate A-Dur D 575.

Bewusst haben sich die beiden jahrelang Zeit gelassen mit dieser ersten Veröffentlichung und das ist gut so. In Zeiten eines überfluteten Tonträger-Marktes sollte so ein Unterfangen im besten Sinne „für die Ewigkeit“ geplant sein, wie es So Jin Kim im Gespräch betont.

 

Diesem Anspruch werden die beiden hochmotivierten Interpreten auf jeden Fall gerecht: Da trumpft die Sonate opus 18 von Richard Strauss mit ungestümer Lebendigkeit auf, gehen berührend intime Momente mit Ausbrüchen voller Überschwang einher – nicht nur wenn es mit einem tänzerischen Finale schließlich in die Zielgerade geht. Was gibt es nicht in diesen „alten“ Formen noch zu sagen, wenn man sie, als Komponist der ausgehenden Spätromantik, aber auch im Heute als hellwacher Interpret, so meisterhaft beherrscht!

 

So Jin Kim und David Fungs Klangwelt ist frei von Effekthascherei. Das traumwandlerische Können steht in jedem Moment im Dienst der höheren Sache. So Jin Kims Ton blüht intensiv auf und ist grenzenlos wandlungsfähig. Mal ist er mit erregendem Vibrato aufgeladen und lotet glasklar die tiefsten Ausdrucksdimensionen der Musik aus. David Fung liefert bei all dem in jedem Moment das zuverlässige Rückgrat und bietet, wenn angezeigt, zupackend Paroli.

 

Man könnte denken, dass diese beiden Interpreten mit der berühmten „Sandwich-Dramaturgie“ kokettieren, wenn sie Avnar Dormans Sonate Nr. 2 aus dem Jahr 2008 in die Mitte des Programms stellen. Aber darum kann es nicht gehen, denn dieses sehr unmittelbar auf den Punkt kommende Stück Musik aus dem 21. Jahrhundert braucht sich wahrlich nicht zu verstecken! Part eins kommt sphärisch, regelrecht spirituell daher. So Jin Kims Violinton ist jetzt in andere Farben gekleidet und kommt sehr vibratoarm und schwebend daher. Dormans Musik ist neu, wirkt zuweilen latent exotisch, weil sie auch den Blick auf östliche Kulturen pflegt und setzt zugleich auf alte, ewig gültige Prinzipien – als da wären polyphone Fugato-Parts und modale Tonskalen, die – vor allem im explosiven zweiten Satz frei wildern. So Jin Kims Spiel bleibt auch in Momenten ekstatischer Wildheit lupenrein präzise. Selbst die artistischsten Läufe in hohen Regionen klingen so unangestrengt, als wenn es die erste Lage wäre. Liebe ist nicht immer nur ein Spaß, sondern es geht auch heftig konfrontativ zur Sache manchmal. So will es die programmatische Idee, welche Avnar Dorman diesen Stücken zu Grunde legte.

 

Das Bekenntnis zu ehrlicher, tiefer Empfindung, wofür Franz Schubert ewig gültige Töne gefunden hat, soll Anliegen im letzten Teil der CD sein. Und was passt besser dazu, als die emotional so überaus reichhaltige Violinsonate A-Dur! Das Duo verlieht auch dieser so reichhaltigen, in vier kolossalen Sätzen eine riesige Empfindungs-Skala auslotenden Tonsprache eine zeitlose Relevanz, um damit höhere Dinge auszudrücken.

 

Fazit: Mit ihrer Debut-CD dokumentieren So Jin Kim und David Fung im richtigen Moment ein hervorragendes Bewusstsein für künstlerische Nachhaltigkeit.


[Stefan Pieper, Mai 2018]

„Es ist schön, dass man nie aufhört, etwas neues zu erlernen!“

Zala Kravos kann das Wort Wunderkind nicht wirklich verstehen. Eigentlich sei doch jedes Kind ein Wunder, das über riesige Anlagen verfügt. Und sie selbst ist dankbar, dass sie Menschen hat, die ihre eigenen Gaben auf denkbar beste Weise entdeckt und gefördert haben. So sehr, dass die gebürtige Slowenin bereits im zarten Alter von 15 Jahren ein gewichtiges CD-Debut vorliegt. Nicht nur mit Brahms, Liszt und Chopin, sondern auch mit Neuer Musik.

Das Interview führte Stefan Pieper

Ich bin sehr überrascht, mit welcher Reife Sie diese vielschichtigen, anspruchsvollen Werke musizieren! Ich bin neugierig auf die Vorgeschichte dazu!  

Das alles ist natürlich eine große Herausforderung für mich. Aber das einzige Stück, das ich jetzt neu erarbeitet habe, ist die Ballade von Franz Liszt. Die anderen Stücke begleiten mich schon viele Jahre lang. Mit der Brahms-Ballade habe ich im Alter von 11 Jahren begonnen,
Chopin habe ich sogar schon mit 10 gestartet, ich habe sie also schon im ganz jungen Alter gespielt. Die Ballade Nr. 2 von Franz Listz ist noch sehr neu. Ich denken, man kann einen Unterschied hören.

Ich muss zugeben, dass dieser Unterschied nicht sofort ins Ohr springt. Warum haben Sie gerade diese Werke ausgewählt? Balladen wollen ja immer eine Geschichte erzählen.

Diese Werkauswahl kommt meinem künstlerischen Anliegen sehr nah. Als Musiker sollte man eine Geschichte zu erzählen haben, das ist doch das wichtigste. Es geht darum, etwas zu sagen zu haben, dass jemand versteht. Ich bin glücklich,wenn das Publikum hört, dass ich etwas zu sagen habe.

Die Balladen von Brahms und Liszt sind ja von literarischen, also außermusikalischen Quellen  beeinflusst. Haben Sie die Texte, die allem zugrunde liegen, gelesen?

Das habe ich mit großer Begeisterung getan. Vor allem Gottfried Herders Ballade „Edvard“ hat mich sehr fasziniert. Ich versuche in meinem Spiel, die Musik und die Aussage der Texte zu verbinden.  Liszt war sehr stark von Dante inspiriert. Solche Hintergründe sind sehr wichtig für mich. Ich versetze mich gerne in die Psychologie des Komponisten hinein.

Ich gehe mal davon aus, dass Ihnen das Lesen viel bedeutet.  Haben Sie genug Zeit dafür neben dem Üben?

Es ist gut, dass ich mir meine Zeit selber einteilen kann. Ich kann für mich entscheiden, wann der beste Zeitpunkt zum Üben ist und kann tun, was ich will. Ich versuche bewusst, die Zeit-Killer zu vermeiden und achte drauf, nicht zu viel Zeit am Telefon oder vor Bildschirmgeräten zu vergeuden. Dadurch habe ich Zeit zum Lesen, was ich auch regelmäßig in verschiedenen Sprachen tue, auf französisch, slowenisch, englisch.

Sprachen sind also eine weitere Leidenschaft von Ihnen?

Ja, Sprachen sind für mich wie Musik. Wenn man zweisprachig aufgewachsen ist, kommt so was ganz von selbst. Mein Vater ist Slowene, meine Mutter Chinesin . Die Sprachen, die sie sprechen, können nicht unterschiedlicher sein. Ich möchte am liebsten alle Sprachen lernen.

Wie sieht es eigentlich mit der Schule aus?

Ich besuche keine allgemeine Schule mehr. Ich lerne über ein französisches Home-Schooling -Programm, wo ich online lernen und auch die Prüfungen absolvieren kann.

Sind Ihre Eltern auch Musiker? Diese Vermutung liegt ja nahe bei dieser extrem frühen Begeisterung, diesem Engagement und dieser hervorragenden Förderung?

Ich habe völlig ohne Druck und mit großer spielerischer Leichtigkeit in die Musik hinein gefunden. Meine Eltern sind keine Musiker. Meine Mutter kommt aus der Naturwissenschaft, aber mein Vater war früher ein begeisterter Liebhaber-Musiker, der vor allem Gitarre spielte. Er verbreitete dabei eine Begeisterung, die auf mich über gegangen ist. Aber er hat mir nie von sich aus gesagt, ich soll ein Instrument spielen. Ich muss ein oder zwei Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal ein Konzert erlebte. Ich war fünf, als mein Vater mich fragte, ob ich ein Instrument spielen möchte. Ich habe dann das Klavier gewählt. Alles war so einfach. Allerdings konnte ich mich ganz zu Anfang nicht zwischen Klavier und Harfe entscheiden.

Was ist für Sie der wichtigste Aspekt beim Musikmachen?

Klavierspielen sehe ich nicht absolut. Es ist vielmehr ein Teil eines großen Ganzen. Ich möchte immer auch die Geschichte und den Hintergrund von den Dingen, die ich tue, erfahren. Vor allem ist es mir wichtig, möglichst viel mit Menschen zu kommunizieren. Das Leben bietet doch so eine große Vielfalt. Es ist schön, dass man nie aufhört, neues zu erfahren und zu lernen. Das macht das Leben doch erst interessant. Und es ist wichtig, ein Leben für sich zu haben und nicht nur immer zu arbeiten und zu üben. Nur dadurch kann man sich einen offenen Geist erhalten.

Wie gehen Sie mit den ständigen Titulierungen als „Wunderkind“ um?

Ich bin doch nicht wirklich etwas besonderes. Ich treffe mich gerne mit Freunden und führe ein ganz normales soziales Leben. Wer nur übt und nichts anderes tut, engt sich ein und kann sich nicht weiter entwickeln. Gerade als Musikerin ist es ungemein wichtig, kommunikativ aufgeschlossen zu sein. Ich denke, jeder Mensch ist ein Wunder für sich!

Sie stellen dem balladesken romantischen Bogen von Brahms, Liszt und Chopin das Stück „Crystal Dream“ von Albena Petrovich-Vratchanska gegenüber. Was bedeutet Ihnen diese Komponistin? Ich rate mal, dass Sie sich auch schon persönlich begegnet sind in Luxemburg?

Albena ist eine sehr wichtige Person für mich. Sie zeigte mir so viel Neues auf, was zeitgenössische Musik ist und sie half mir, meine Karriere zu entwickeln. Sie ist eine gute Freundin, die mir so viel gab. Ich bin ihr sehr dankbar.

Also ist Crystal Dream exklusiv für Sie geschrieben worden?

Wir kennen uns nun schon seit zehn Jahren, also seit meiner frühen Kindheit. Sie hat mich so oft spielen gehört und sie erkannte meine Leidenschaft für Musik, was sie wiederum sehr für ihr eigenes Komponieren inspirierte. Deswegen hat Albena das Stück Crystal Dream auch exklusiv für mich geschrieben. Sie wollte mir damit etwas aufzeigen. Nämlich, dass Musik eben viel mehr ist als nur der eng definierte Begriff in der klassischen oder romantischen Musik. Sie wollte mir neue Wege auf den eigenen Weg mitgeben. Überhaupt gibt es in der zeitgenössischen Musik so unendlich viel zu entdecken – sowohl für den Hörer, als auch für den Spieler! Aber viele Menschen haben erst mal Angst der Musiker der Gegenwart und denken, dass man hochspezialisiert sein muss, um sie zu verstehen. Als Musikerin bin ich bei einem modernen Stück wie Crystal Dream herausgefordert, Musikmachen wieder ganz neu zu lernen. Dieses Stücke soll die Kreativität herausfordern. Die Partitur forderte mich dazu auf, meine eigene Halskette auf die Klaviersaiten zu legen, was einen ganz besonderen Klangeffekt produziert.  Ich habe so etwas noch nie vorher gemacht. Das war schon eine Art Schlüsselerlebnis für mich, um mich der Neuen Musik zu öffnen. Von da an habe ich mir viele weitere zeitgenössische Stücke erschlossen.

Ich denke, gerade junge Menschen können sie spielen und auch besonders gut hören, weil es hier noch nicht so viele eingefahrene Hörgewohnheiten gibt.

So sehe ich das auch. In diesem Alter ist noch eine große Offenheit da. Der Zugang ist viel leichter als später. Deswegen ist es mir auch sehr wichtig, in möglichst jedem Programm ein Stück aus der Gegenwart zu interpretieren. Ich möchte einfach mithelfen, jene Hemmschwelle abzubauen, die nach wie vor der zeitgenössischen Musik anhaftet.

Wie sind Sie nach Luxemburg gekommen und was gefällt Ihnen hier?

Luxemburg ist ein so kleines Land, da kennt jeder jeden. Die Konzentration von Musikern ist sehr hoch und wir helfen uns untereinander. Hinzu kommt die hervorragende öffentliche Förderung, die junge Musiker hier genießen. Ich glaube, das ist in kaum einem anderen Land so.

Haben Sie auch bei Jean Muller studiert?

Ich studiere bei Jean Muller in Luxemburg, und Jean Muller ist auch als Mensch sehr wichtig für mich mich. Es war seine Idee, jetzt mein erstes CD-Album aufzunehmen. Er hat mich außerdem eingeladen, ein Solokonzert mit dem Luxemburger Philharomischen Orchester zu spielen. Auch das war eine großartige Erfahrung.

Was reizt Sie an Ihrem Musikerberuf, in dem Sie ja schon längst angekommen sind?

Was ich ganz besonders liebe, ist das Reisen. Ich bin schon so viel gereist und kann nicht genug davon bekommen. Ich habe in 14 verschiedenen Ländern Konzerte gegeben. Profimusiker müssen ständig reisen. Es gibt manche Musiker, die das nicht mögen, was ich gar nicht verstehen kann. Zu dieser Sorte gehöre ich um Glück nicht!

Was für einen Bezug haben Sie zu Ihrer slowenischen Heimat?

Ich reise sehr oft dahin, weil viele unserer Familienmitglieder dort leben. Ich gebe dort auch manchmal Konzerte. Ich liebe dieses Land – vor allem die warme Freundlichkeit der Menschen dort.

Es gibt ja diesen etwas mystischen Brauch, dass jede Slowenin und jeder Slowene einmal im Leben den Triglav, Sloweniens höchsten Berg bestiegen haben muss.

Das stimmt. Der Brauch sagt sogar, dass kein echter Slowene ist, wer nicht auf dem Triglav war.

Haben Sie das schon absolviert?

Nein, bislang habe ich es noch nicht getan, aber ich möchte es auf jeden Fall gerne. Man sollte sehr gut durchtrainiert sein. Vielleicht werde ich es mit meiner Familie in den kommenden Sommerferien tun.

Gibt es auch musikalische Berge, die Sie als nächstes besteigen wollen?

Ja, durchaus! Ich möchte mir gerne das weite Feld der Kammermusik erschließen, was noch weitgehend Neuland für mich ist. Ich habe bereits im letzten Jahr einige Kammermusik gespielt und werde bald damit auf Tour gehen – und zwar in Luxemburg, Spanien und Deutschland. Organisiert wird die Tour von der EMCY (European Union of Music Competitions for Youth), ich werde hier mit vielen anderen Musikern aus verschiedenen Ländern zusammen spielen.

[Stefan Pieper, März 2018]

„Ich will die Ohren öffnen!“

„Passio“ heißt die neue CD der Zurich Chamber Singers – die musikalische Botschaft sowie der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Tonträgers sollen genau diesem Titel entsprechen. Christian Erny und seine fabelhaften Sängerinnen und Sänger erwecken hier eine tief spirituelle Musik zum Leben. Da tritt sogar in den Hintergrund, dass Johann Sebastian Bach, Henry Purcell und Thomas Talis einerseits sowie der gerade einmal 27 Jahre junge Kevin Hartnett aus gänzlich verschiedenen Jahrhunderten kommen.

Das Interview führte Stefan Pieper

Diese Musik berührt so tief, dass man sich kostbare Momente für das Hören aussucht. Verstehen Sie, was ich damit meine?

Das freut mich sehr. Dann ist unsere Botschaft ja wirklich angekommen. Unser zentrales Anliegen ist, Intensität geltend zu machen.

Erzählen Sie etwas über die Vorgeschichte zu diesem Projekt.

Ich habe dieses Ensemble im Jahr 2015 ins Leben gerufen und die ersten Debutkonzerte sind jetzt 2 Jahre her. Begonnen haben wir mit neun befreundeten Sängerinnen und Sängern von der Hochschule. Alles hat sich sehr schnell weiter entwickelt. Mittlerweile sind wir 18, manchmal arbeiten wir sogar zu 20. Genauso stelle ich mir meine Vokalarbeit vor! Wir wollen uns allen Epochen widmen und die traditionelle Musik mit zeitgenössischer Musik verbinden. Deswegen sind Auftragskompositionen ein wichtiger Bestandteil. Wir sprechen junge Komponisten an und überlegen uns, in welchem thematischen Rahmen das Projekt stattfindet. Für das aktuelle Projekt bin ich mit meinem Team die Texte durchgegangen, dabei stießen wir auf die Bußpsalmen, die wir an Kevin weiter gegeben haben.

Woher kennen Sie Kevin Hartnett?

Er war ein Studienkollege in den USA, wo ich mein Konzertexamen gemacht habe.

Kevins Stück wirkt ja gar nicht so neutönerisch, sondern fügt sich extrem geschmeidig in die Gesamtdramaturgie dieser CD ein.

Das hat sicher damit zu tun, wie es gemacht ist. Es erinnert von der Satzart stark an die Polyphonie der Renaissance. Überhaupt hat Kevin Hartnett einen sehr guten Riecher, wie ein Vokalwerk zur Passion zu gestalten ist, damit die Botschaft wirklich überkommt. Meine einzige Vorgabe war, dass es vierstimmig sein soll, um Klarheit herein zu bekommen. Ich finde es schon erstaunlich, dass Kevin allein mit vier Stimmen so viel Klanglichkeit und Bewegung herein gebracht hat.Es entsteht ein regelrechtes Flimmern dadurch, dass die Stimmen individuell in Bewegung sind und viele kleine Intervalle vorherrschen.

Wie gestalten sich die Arbeitsphasen mit dem Chor?

Wir haben zwei bis drei Projekte pro Saison und beginnen immer zwölf Tage vor einem Konzert. Zu diesem Zeitpunkt haben die Sänger schon ihre Parts vorbereitet und eine intensive Probenphase kann beginnen.

Aus welchem Kontext kommen die Musiker?

Ich habe eine gesunde Mischung von Leuten darin. Da sind einerseits die Profis, die ich von der Hochschule kenne und sonst als professionelle Sänger unterwegs sind. Außerdem gibt es Menschen aus meiner eigenen Chorzeit, die hervorragende Chorsänger sind, die aber nicht als Solisten tätig sind.

Ist dies das Geheimnis dafür, dass dieser Chor nicht wie eine amorphe Masse wirkt, sondern vielmehr ganz viele individuelle Stimmen heraus klingen? Beschreiben Sie doch mal etwas genauer Ihre Philosophie!

Ganz bewusst wähle ich möglichst schlanke Besetzungen mit so wenig Leuten wie möglich pro Register. Dadurch maximiere ich die Klarheit im Kontrapunkt. Ich mag es nicht, wenn die Sänger zu Chorsängern degradiert werden. Denn da leidet meiner Meinung nach der individuelle Ausdruck drunter. Dafür ist die Musik, zum Beispiel Henry Purcells „Funeral Music“ viel zu expressiv! Ich will nicht, dass man auf Sparflamme singt, sondern gut gestützt und mit tiefem Ausdruck. Ich verlange als Dirigent von jedem, die Musik mitzugestalten. Ich nehme jede Sängerin und jeden Sänger als Musiker ernst, der gewillt ist, eine musikalische Botschaft zu transportieren. Wenn das nicht zustande kommt, wäre die Musik doch nutzlos.

Was hat Sie selber zum Chorgesang getrieben?

Damit bin ich groß geworden. Mit 13 oder 14 hat mich mein Musiklehrer in den Chor geholt. Da habe ich 13 Jahre mitgesungen. Eigentlich bin ich selber im Chor als Sänger aufgewachsen. Ich hatte einen tollen Chorleiter, der mich angestiftet hat. Mit dem arbeite ich heute noch zusammen. Er hat mir die ganze Ästhetik des Chorgesangs vermittelt. Ich habe dann angefangen, Klavier zu studieren. Auch während meines Klavierstudiums blieb die Begeisterung für Chorgesang. Ich habe neben dem Studium Kirchenchöre geleitet, damit erste Erfahrungen gemacht und später dann noch Dirigieren an der Hochschule belegt. Als ich schließlich die Zurich Chamber Singers gegründet habe, ist ein lange gehegter Wunsch von mir in Erfüllung gegangen.

Wie berühren sich die beiden Bereiche Chorarbeit und Pianistenlaufbahn in Ihrem künstlerischen Alltag?

Es wäre schade, wenn ich mich in meinem Leben mehr für das eine oder für das andere entscheiden müsste. Ich bin daher froh, dass ich phasenweise mehr Projekte als Pianist und dann wieder als Chorleiter habe. Zumal sich beide Bereiche hervorragend miteinander ergänzen. Als Pianist wächst Du damit auf, polyphon zu denken. Du lernst von klein auf, mehrstimmig zu lesen, was Dich auch für die Arbeit mit Chor prädestiniert. Gleichzeitig beeinflusst das Dirigieren mein Klavierspiel sehr positiv. Als Chordirigent ist ein extrem geschultes Gehör einfach Pflicht. Hier wie dort, geht es um dieselbe Frage: Wie balanciere ich bestimmte Stimmen aus, dass ganz bestimmte Farben heraus kommen? Vor allem bei zeitgenössischen Stücken mit Chor macht es sich ganz besonders bemerkbar – das tritt auch in Kevin Hartnetts Stück ganz besonders hervor: Wenn man hier nur einen Ton verändert, kommt plötzlich eine ganz andere Farbe heraus und der Klang schwingt komplett anders. Das versuche ich, den Leuten ins Gehör zu bringen. Ich muss ihnen klar machen, wie sich etwas auf den Gesamtklang auswirkt. Ich will die Ohren öffnen, dass es wirklich jeder hört, was mit den Farben passiert!

Nochmal ein paar Details über die anderen Stücke. Nach welchen Kriterien haben Sie die Auswahl für diese CD getroffen?

Die Passion war der ursprüngliche Gedanke. Das Projekt hat im letzten Frühling zur Passionszeit begonnen. Da war der Plan, dass die CD ein Jahr später veröffentlicht wird. Wir haben Brainstorming gemacht und viel Literatur durchkämmt. Ein Fazit kristallisierte sich heraus: Die Passionszeit ist ja nicht nur eine Zeit des Leidens. Man kann sie genauso vorwegnehmend deuten, nämlich im Hinblick auf Ostern symbolisiert. Am Anfang wirkt Thomas Tallis Motette wie ein Hilferuf über die eigene Vergänglichkeit. Die zweite Tallis-Motette am Schluss der CD löst diese Spannung auf. Die „Funeral Sentences“ von Purcell enthalten beides: Eine Traurigkeit über die eigene Vergänglichkeit, aber dann einen Hoffnungsschimmer. In Bachs Kantate „Jesu, meine Freude“ ist es dasselbe. Du darfst auch vorausschauen und Hoffnung in der Sache sehen. Das moderne Stück von Kevin Hartnett birgt eine kleine Überraschung: Am Schluss des Stückes kommt ein Halleluja vor. Die strenge Lithurgie verbietet dies während der Fastenzeit. Durch diese verstecke Anspielung, will ich die streng liturgische Verbindlichkeit aufbrechen. Denn mein Anliegen ist die festlich-meditative philosphische Art, über dieses Thema nachzudenken.

Also geht es Ihnen um die Dialektik aus Verzweiflung und Zuversicht?

Mir ist wichtig bei dieser Art von Musik, dass sie nicht als reine Gottesdienstmusik gesehen wird. Sie ist von Menschen gemacht und für Menschen, die sich tiefe philosophische Gedanken über Materie, Mensch und Gesellschaft machen. Ich möchte das unbedingt von diesem Ansatz her betrachtet wissen.

Wie verhält es sich mit der emotionalen Ebene?

Gerade bei Bach sind Emotionen wahnsinnig wichtig. Früher gab es eine starke Tendenz, in Bach eine trockene, akademische Art herauszuarbeiten. Der Ansatz greift meiner Meinung aber zu kurz. Im Kern von Bachs Musik stehen die stärksten Emotionen, die man empfinden kann und die hier in Musik vereint sind.

Haben Sie ein bestimmtes Rezept, dies aus den Sängern heraus zu kitzeln?

Bei Bach, aber eigentlich bei jeder guten Musik ist nie etwas rein zufällig komponiert. Meine Aufgabe als Musiker, vor allem aber als Dirigent ist es, die Noten so zu lesen, dass ich verstehe, was hier passiert. Ich will dem Chor ins Gehör bringen, wo die besonderen Momente sind. Wenn beispielsweise ein Sopran einen grossen Sprung nach oben singt oder eine Stimmkreuzung geschieht, muss dies an einem Moment passieren,wo emotional etwas vorhanden ist. Ich versuche die Noten so zu lesen, dass ich wirklich eine Vorstellung von der Architektur habe und wozu es gemacht ist. Es gibt verschiedene Methoden, dies zu kommunizieren, die naheliegendste ist der Text. Doch hat jeder seine eigene Art, mit dem Text umzugehen. Meine Aufgabe ist es, die Architektur der Musik den Sängerinnen und Sängern so zu kommunizieren, dass sie mit den Emotionen im Text kongruent wird.

Wenn Sie das ganze aufnehmen, lassen Sie in langen Durchläufen singen oder geht es manchmal auch kleinteilig zu Werke?

Takt für Takt zu arbeiten, ist für die Sänger wahnsinnig anstrengend. Ich versuche, so gut es geht, weite Strecken singen zu lassen. Dass man wirklich sagt, wir machen jetzt nur diesen Takt, ist die letzte Entscheidung. Es ist meist viel gewinnbringender, wenn die Leute in einen längeren musikalischen Bogen kommen. Wenn man allzu viel Flickwerk betreibt, passiert es oft, dass es trotz aller Perfektion zu leblos wird – dann hat man auch nicht gewonnen.

Gibt es für Sie ein Schlüsselerlebnis, welches Sie zur Chormusik gebracht hat?

Ich kann mich noch genau dran erinnern, wie ich zum ersten Mal in einem Chor mitgemacht habe. Vorher hatte ich noch nichts vom Chor gewusst. Dann hat mich mein Musiklehrer dafür begeistert. Es war auf Anhieb eine großartige Erfahrung, in dieser Masse zu stehen und diese Stimme zu singen und zu merken, wie sich alles miteinander integriert. Ein Teil von etwas größerem zu sein, das war schon sehr eindrücklich! Es kamen dann viele spannende Projekte: Mit 16 durfte ich das Verdi-Requiem singen, dann ging es mit 17 auf Konzertreisen nach Osteuropa. Hier sind viele starke Eindrücke hängen geblieben. Aber zugleich habe ich immer Klavier gespielt. Aber auch noch viele andere Dinge gemacht. Ich war auch recht lange als Gitarrist in Rockbands aktiv.

Was gibt Ihnen dieser offene Blick über die Tellerränder?

Ein erfülltes Musikerdasien braucht verschiedene Wirkungsgebiete. Ich mag Genreabgrenzungen überhaupt nicht. Ich habe zum Beispiel zwei sehr gute Freunde, mit denen ich mich sehr gut über Musik unterhalte – und die sind beide Popmusiker! Man merkt, dass die Produkte vielleicht unterschiedlich sind, aber schlussendlich ist die Botschaft man Ende doch ziemlich gleich, sie kommt nur in verschiedenen Kanälen zum Ausdruck!

Wo haben Sie die Bookletfotos gemacht? Das könnte auch ein Industriedenkmal im Ruhrgebiet sein!

Die Fotos entstanden in einem stillgelegtem Fabrikareal in Winterthur. Ich mag eine solche Ästhetik in Kombination mit diesem Repertoire. Das gibt dem Ganzen einen anderen Anstrich. Chormusik hat teilweise immer noch den Anstrich, dass sie verstaubt und uncool ist. Aber da bin ich ganz anderer Meinung. Und dafür muss man heute mit zeitgemäßem Artwork Farbe bekennen. Zum Glück sind heute viele junge Künstler unterwegs, die so etwas super machen und hier für neue Zugänglichkeit sorgen.

Haben Sie schon mal etwas in einer solchen Location aufgeführt?

Nein, leider noch nicht. Aber wir denken schon lange darüber nach, vielleicht mal, um in dieser Fabrikhalle eine Johannespassion aufzuführen. Das wäre fantastisch. Aber es ist eine Frage des Geldes. Es gibt schon viele alte Industriebauten, die kulturell genutzt werden, aber insgesamt hinkt die klassische Musik da noch etwas hinterher.

Am Ende steht die Zuversicht

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 551; EAN: 4 260052 385517

Christian Erny ist nicht nur ein fabelhafter Pianist, sondern ebenso ein Chordirigent aus Passion.  Ob am Flügel oder mit seinem im Jahr 2015 gegründeten Ensemble „The Zurich Chamber Singers“ – es geht dem Schweizer darum, die Klangfarben mit maximalem Feinsinn zu mischen. Das jüngste Resultat ist die CD „Passio“ ,welche er für das Ars-Label aufgenommen hat. Werke von Johann Sebastian Bach, Henry Purcell und des Renaissance-Komponisten Thomas Tallis treffen auf eine neue Auftragskomposition von Kevin Hartnett aus dem Jahr 2016.

Egal, ob man die höhere Sache, um die es hier geht, gläubig-spirituell oder philosophisch auffasst: Den Kern dieses musikalischen Projektes bilden Worte zur Passion und Auferstehung Jesu Christi, einer Grundlage unserer abendländischen Kultur. Sie sind der Ausgangspunkt der Renaissance-Motetten von Thomas Tallis und bilden ebenso einen erzählerischen roten Faden in den „Funeral Sentences“ von Henry Purcell. Auch Johann Sebastian Bachs Motette „Jesu meine Freude“ reflektiert über das gleichnamige Kirchenlied sowie Bibelworte aus dem Römerbrief. Und auch der blutjunge Kevin Hartnett nahm sich biblischer Inhalte an, wenn er Worte aus den sieben Bußpsalmen in einen assoziativen Fluss bringt.

Allein einen jungen amerikanischen Komponisten mit einem solchen Unterfangen zu beauftragen zeugt von Christian Ernys Streben nach Relevanz im Heute. Das wird übrigens auch durch die fotografische Abbildung der Sängerinnen und Sänger in einer alten Fabrikhalle fortgesetzt. Noch mehr zeugt die künstlerischen Umsetzung selbst diesem Willen nach Relevanz: Die „Zurich Chamber Singers“ muten wohl kaum wie ein monolithischer „Chor“ im altmodischen Sinne an. Denn dafür sind alle Beteiligten doch viel zu ausgeprägte musikalische und stimmliche Charaktere. Damit sich dies am besten entfaltet, ist in Ernys Chor eine 12köpfige Besetzung das absolute Maximum.

Christian Erny fordert von jedem Einzelnen, sein individuell Bestes zu geben. Dieses Postulat verleiht dem Gesang so viel individuelle Färbung, was aber nie zu Lasten der Ausbalancierung geht. Also wirkt die strenge Renaissance-Polyphonie in Tallis Salvator Mundi wie eine lichtdurchflutetes Klanggebäude, in dem Luft zum Atmen und Bewegungsfreiheit vorherrscht – und eben nicht wie ein düsteres Gemäuer. Wie innig und berührend diese Sängerinnen und Sänger agieren können, zeigt sich weiterhin in den choralartigen Linien von Henry Purcells „Funeral Sentences“.

Kevin Hartnetts „De profundis“ aus dem Jahr 2016 wirkt überhaupt nicht wie ein neutönerischer Fremdkörper, der etwa den dramaturgische Bogen sprengen würde. Im Gegenteil: Das zehnminütige Chorstück ist eine perfektes Bindeglied, um aus dem Gesamtkontext aller Stücke etwas unbedingt zeitloses zu schöpfen. Tiefempfunden und hochkonzentriert schwören sich die Sängerinnen und Sänger auf repetitive Muster ein, lassen Phrasen organisch atmen und bauen Erregungskurven voll subtiler Hochspannung auf. Ernys verfeinerte Kunst der Klangfarben-Mischung kann einmal mehr die berühmten Berge versetzen – vor allem, wenn subtile Verschiebungen von Tonalität und Harmonie ergreifende Wendepunkte hervorbringen, ebenso wie Assoziation an östliche Musikkulturen den Rahmen ausweiten.

Das „Bach-Erlebnis“, welches diese CD im folgenden aufbietet, bündelt sämtliche vorhandenen Qualitäten und ist von bestechender Klarheit und Eindringlichkeit. Höchst lebendig und eindringlich inszenieren die Zurich Chamber Singers die 11 Abschnitte von Johann Sebastian Bachs Kantate „Jesu, meine Freude“. Zu einem protestantisch-kargen Orgel-Kontinuum erheben sich die Stimmen, um von der Trauer, aber mindestens von genauso viel Zuversicht zu künden. So unmittelbar wie hier wirken die vielgestaltigen Affekte nur ganz selten. Also kann man davon ausgehen, dass alle Beteiligten den Sinngehalt der Texte tief verinnerlicht haben. Entsprechend lebt eine Bandbreite zwischen tiefer, echter Traurigkeit und hellem, frühlingshaften Vorwärtsstreben.

Genau das wird durch eine weitere dramaturgische Entscheidung unterstrichen: Thomas Tallis Trauergesang bildet den Anfang dieser Platte, während das zweite Stück „If ye love me“ am Ende ein optimistisches Signal setzt.

[Stefan Pieper, Februar 2018]

Dieses Licht leuchtet, aber blendet nicht!

Hauchzarte, sphärische Flagoletts in höchster Tonhöhe stehen am Anfang von „Distant Light“, jenem 1997 von Pēteris Vasks geschaffenen Stück für Solovioline und Orchester. Auch wenn sein Schöpfer, der 1946 in Lettland geborene Komponist es als Solokonzert bezeichnet – ist es nicht doch eher ein Rezitativ? Oder eine Meditation? Als Bekenntnis zur Humanität will es sein Schöpfer allemal verstanden wissen – ebenso wie das im Jahr 2006 uraufgeführte, ebenfalls einsätzige Stück „Vox amoris“. Der junge schweizerische Geiger Sebastian Bohren geht in einer neuen Aufnahme der spirituell-meditativen Botschaft dieser Stücke auf den Grund – und konnte sich dabei auf das Georgische Kammerorchester Ingolstadt sowie auf die Chaarts Chamber Artists bestens verlassen!

„Vox Amoris“ und „Distant Light“ treffen einen Nerv – und sind daher seit ihrer Entstehung bei Publikum und Interpreten viel gefragt. Im Vergleich mit anderen, bereits vorhandenen und – nicht weniger gehaltvollen – Deutungen gelingt es Sebastian Bohren, hier  weitere, bereichernde Perspektive aufzuzeigen.

Wo manche das Melos in romantisierender Klanglichkeit verdichten und andere den tragischen Gestus durch betont dunkle Färbungen und eine gewisse „drängende“ Tongebung auf der Violine hervorheben, da lässt Sebastian Bohrens Spiel deutlich mehr Luft zum Atmen, was den expansiven Linien in diesen Stücken extrem zugute kommt. Weit öffnen sich hier Klanglandschaften, in denen sich Expression und Emphase ganz wie von selbst entwickeln. Vasks Tonsprache übt sich ohnehin in einer klugen Ökonomie, was die Melodik oft eingängig und durchaus auch mal etwas cineastisch wirken lässt. Wer hier feinfühlig hineinhört, kann sehr viel unmittelbaren, oft zart berührenden Ausdruck hervorbringen. Diesem Ideal kommt Sebastian Bohrens Spiel auf der Violine bestens nahe. Er macht nie zu viel Druck auf den Seiten. Der Ton funkelt und strahlt in allen Registern. Klug ist der Einsatz von oft sehr reduziertem, dann wieder ruhig pulsierendem und vor allem nie nervös wirkendem Vibrato. Und genau dieser Sinn für sensibles Maß geht im besten Sinne auf die beiden Orchester über.

„Distant Light“ ist das extrovertierte, dramatischere Stücke von beiden. Auf die elegische Einleitung folgt ein rhythmisch bewegter Mittelteil, der dramatische Eruptionen bis hin zu clusterhaften Verdichtungen freisetzt. In den kolossalen Solokadenzen lebt eine klare, aufgeräumte Rhetorik, dass es nie zur circensischen Demonstration von Virtuosität ausartet.  Am Ende steigt die Melodie wieder in den Himmel hinauf – durch ähnliche Flagoletts ganz hoch oben wie am Anfang. Das Licht, was hier leuchtet, blendet nie!

„Vox Amoris“ ist eine Hymne des lettischen Komponisten auf die Liebe. Es folgt einer ähnlichen Dramaturgie, aber mit weniger stark auftrumpfender Geste. Wärmende Emotionalität    ist hier alles. Hier wird Bohren Spiel eins mit den Chaarts Chamber Artists, mit denen er schon seit Jahren produktiv zusammenarbeitet – und die in der vorliegenden Aufnahme mit entsprechend intuitiven Gespür auf jede noch so feine Regung der Volovioline reagieren! Zu „Vox Amoris“ hat Sebastian Bohren übrigens eine besondere Beziehung, da er sich schon zu Beginn seiner  Karriere intensiv mit diesem Werk auseinander gesetzt hatte.

Und da aller guten Dinge drei sind, wurde dieser Aufnahme noch eine sinnvolle Ergänzung hinzugefügt –  nämlich das in einer fast seelenverwandten Ausdruckswelt daherkommende Stück „Chiaroscuro“ von Gya Kancheli.  Hier wird der Hörer wieder in eine stärker expandierende Dramatik hinein gezogen. Auch hier erhebt sich Bohrens selbstbewusstes Spiel wie ein Monolog, der sich und niemandem mehr zu beweisen braucht. Die Steigerung mitten im Stück ist die wuchtigste, heftigste von allen dreien, erzeugt durch ein perkussives Gewitter der Schlaginstrumente und eine temporären Sprengung jeder Tonalität.

Fazit: Sebastian Bohren und das Georgische Kammerorchester Ingolstadt sowie die Chaarts Chamber Artists demonstrieren anhand der unkonventionellen Musik von Peteris Vasks und Gya Kancheli einen hellsichtigen Weg, um über jede formalisierte Solokonzert-Konvention hinaus zu wachsen. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass hier bewusst auf einen Dirigenten verzichtet wurde. So wird das Orchester zur konzentrischen Umgebung für einen jungen Ausnahme-Solisten.

Die Steigerung wäre jetzt noch, diese Konstellation in einer Surround-Aufnahme noch plastischer erfahrbar zu machen.

[Stefan Pieper, Januar 2018]

„Die Musik soll singen“

Der schweizerische Geiger Sebastian Bohren ist schon lange mit Pēteris Vasks Fantasie für Violine und Streichorchester „Vox Amoris“ vertraut. Als er sie nun mit den Chaarts Chamber Artists einspielte, dachte er noch gar nicht an ein großes Medienecho. Der visionären Kraft dieser Stücke, ihrer melodischen Direktheit und Bildkraft kann sich kaum jemand – egal ob Hörer oder Interpret –  entziehen. Also wuchs auch Sebastian Bohrens Unterfangen zu einem größeren Projekt. Mit den Chaarts Chamber Artists wurde „Vox Amoris“, (2009) eingespielt – für eine Neuaufnahme des  viel gefragten Violinkonzertes „Distant Light“ (1997) konnte das Georgische Kammerorchester Ingolstadt gewonnen werden. Gija Kanchelis „Chiaroscuro“ komplettiert die Neuaufnahme zu einem bemerkenswerten Dreiklang. Dass Sony diese drei Stücke nur als Download veröffentlichte, sehen sowohl der Komponist als auch der Interpret nicht als Einschränkung.  

Stefan Pieper hat bei Komponist und Interpret nachgefragt.

 

Stefan Pieper: Sind Sie glücklich damit, dass Sony Music Ihr neues Release nur als Download veröffentlicht?

Sebastian Bohren:  Ja, das war sogar meine Initiative. Die Grundidee war, diese Musik speziell für Streaming Portale anzubieten. Es gibt ja bereits CD-Veröffentlichungen, unter anderem auch eine auf ECM mit Gidon Kremer. Aber nichts davon war bislang als Download verfügbar. Deswegen schließt meine Live-Einspielung hier eine echte Lücke. Und obwohl es das neue Release nicht als physische CD gibt, habe ich auch die optische Gestaltung nicht dem Zufall überlassen. Ich habe viel Zeit investiert, damit der Gesamtauftritt sehr hochwertig daher kommt. Ich glaube, das ist uns sehr gut gelungen.

Pēteris Vasks: Ich bin im Internet auf die neuen Liveaufnahmen mit Sebastian Bohren gestoßen. Es ist schön, dass man diese Musik jetzt auch in den elektronischen Medien entdecken und hören kann. Mir gefällt seine Interpretation von Vox Amoris sehr gut, ebenso wie er Distant Light interpretiert. Sein Spiel transportiert eine Botschaft, und darum sollte es in diesen Kompositionen ja gehen.

Stefan Pieper: Können Sie schon etwas über die Resonanz sagen?

Sebastian Bohren: Ich hatte befürchtet, dass eine rein digitale Veröffentlichung bei den Rezensenten nicht gut ankommt, die es nach wie vor kritisch sehen, wenn etwas nur online ist. Aber dann hat sich alles sehr positiv entwickelt. Es gab eine ausgesprochen gute Resonanz von Petris Vasks.

Stefan Pieper: Herr Vasks, was macht Sebastian Bohren anders als Gidon Kremer?

Pēteris Vasks: Bei Sebastian Bohren klingt vieles weicher und inniger, während Gidon Kremer eher auf die tragischen, dramatischen Gesten setzt. Für mich ist es immer interessant zu hören, wenn ein Interpret etwas findet, was für mich eine positive Überraschung ist. Ich komponiere die Noten, aber die Musik beginnt erst durch die Interpretation zu leben. Wenn Sebastian Bohren diese Musik zum Leben erweckt, vor allem, wenn er Vox Amoris spielt, habe ich das Gefühl, dass diese Musik speziell für ihn komponiert worden ist. Er ist sehr jung und voll mit Liebe und Idealismus. Das hört man einfach hier heraus.

Stefan Pieper: Herr Bohren, was für einen persönlichen Bezug haben Sie zu dieser Musik?

Sebastian Bohren:  Der Anfang meiner solistischen Karriere war immerhin mit dem Stück Vox Amoris – und ich erhielt immer gute Rückmeldungen, wenn ich es gespielt habe. Das Stück haben auch bereits viele andere Geiger ins Repertoire aufgenommen!

Stefan Pieper: Obwohl das ja eigentlich kein Standardrepertoire ist?

Sebastian Bohren: Also für mich persönlich schon! Ich habe mich immer schon für diese Musik interessiert und wollte sie spielen. Distant Light habe ich dann etwas später gelernt.

Stefan Pieper: Was verbindet diese Stücke miteinander? Was sind Unterschiede und Gemeinsamkeiten?

Sebastian Bohren: Distant Light ist wie ein ausgewachsenes Violinkonzert. Es hat längere Kadenzen und ist geigerisch sehr virtuos. Es transportiert eine ganz andere Grundstimmung als Vox Amoris: Es ist dunkler – und das hoffnungsvolle Licht ist immer nur weit entfernt wahrnehmbar. Vox Amoris ist dagegen ein einziger großer Liebesgesang.

Pēteris Vasks: Vox Amoris und Distant Light unterscheiden sich von ihrer Stimmung und Dramatik voneinander. Das Violinkonzert ist das dramatischere Stück von beiden. Da ist die Stimmungsamplitude größer und tragischer. Auch ein fabelhafter Interpret wie Sebastian Bohren kann seine Deutung dieser Werke noch ausbauen. Er kann die Dramatik noch weiter entwickeln. Aber ich bin jetzt schon sehr begeistert von seinem Spiel und freue mich sehr über diese Aufführungen!

Stefan Pieper: Trotzdem ist auch Distant Light sehr weit weg von einem üblichen Violinkonzert mit dieser typischen Dialogstruktur zwischen Soloinstrument und Orchester.  Alles ist viel konzentrischer um die Violine zentriert und die Geige ist gewissermaßen das emotionale Epizentrum. Wie sehen Sie das?

Sebastian Bohren: Pēteris Vasks drückt sich kompositorisch in seiner ganz eigenen, sehr direkten Sprache aus. Aber man verkennt diese Musik immens, wenn man diese bewusste Einfachheit mit Einfältigkeit gleichsetzt. Mir sagte einmal ein Kenner von moderner Musik, er könne mich nur bemitleiden, da wäre doch erst nach mehreren hundert Takten das erste Vorzeichen drin. Diese Musik aber als Kitsch anzusehen, ist ein großes Missverständnis! Vasks hat eine evidente Fähigkeit für das Melodische, Expressive. Man muss diese Musik in dem Kontext verstehen, aus dem sie kommt. Niemals geht es darum, sich hier als Spieler in Szene zu setzen. Stattdessen soll man die Musik bescheiden spielen, mit möglichst viel Authentizität!

Pēteris Vasks: Distant Light ist im Kern ein Konzert, auch wenn es schon mannigfaltige Verwendung fand, etwa für Choreografien im Tanztheater. Bei Vox Amoris sehe ich nicht so sehr eine typische Konzertform. Ich bin frei. Ich denke eigentlich gar nicht darüber nach, welche Form habe ich hier erfüllt und welche nicht. Es ist doch eigentlich gar nicht von Belang, etwa nachzuzählen, wie viele Kadenzen es hier in einem Stück und wie viele im anderen gibt.  Ehrlich gesagt – ich weiß einfach nicht, warum hinterher die eine oder die andere Form herauskommt. Ich kann es nicht erklären und lege auch keinen Wert darauf. Wenn ich in einer Arbeitsphase bin, dann strömt die Musik einfach wie ein Fluss, den ich natürlich kontrolliere. Trotzdem. Ich mache mir doch nicht zu aller erst über eine Form Gedanken. Ich habe mich teilweise mit Gidon Kremer auseinandergesetzt, der mir verschiedene Möglichkeiten aufzeigte. Das hat mich weiter ermutigt, mehr für die Violine zu komponieren. Ansonsten ist das Cello mein absolutes Lieblingsinstrument. Ich habe jetzt zwei Cellokonzerte, ebenso Bratschenkonzerte und auch Solostücke für Kontrabass komponiert, den ich selber spiele.

Stefan Pieper: Mit was für Herausforderungen ist der Solist in diesen Stücken konfrontiert?

Sebastian Bohren: Vor allem muss man eine technische Affinität zu diesen melodischen Elementen haben und einen weiten Bogen spannen können. Das sind Grundvoraussetzungen. Es muss irgendwie aus dem Inneren empfunden sein. Es braucht eine Form der Reinheit. Es geht darum, von Anfang an vernünftige Entscheidungen zu treffen – vor allem, was das Timing anbelangt! Man muss intuitiv erfassen, welche Tonart Hoffnung oder Verzweiflung bedeutet. Vor allem das muss zum Ausdruck kommen! Man muss hier eine Vielzahl von verschiedenen Farben auf der Geige erzeugen. Es geht um das Verhältnis von viel und wenig Druck, von viel und wenig Vibrato auf der Geige.

Stefan Pieper: Wie ist es um die Interaktion mit dem Orchester bestellt?

Sebastian Bohren: Bei Distant Light ist es eine etwas größere organisatorische Herausforderung als bei Vox Amoris. Der Solist muss gut Bescheid wissen, wann spielt er mit wem. Dies funktioniert meiner Meinung nach ohne Dirigent am besten. Ich denke, man muss einen Zustand erreichen, wo sich alle gemeinsam drauf einlassen. Man braucht ausreichend Probezeit, außerdem müssen alle Beteiligten die richtige Sensibilität haben und sich mit dem Stück identifizieren.

Stefan Pieper: Können Sie Ihre grundsätzlichen musikalischen Ideale formulieren?

Pēteris Vasks: Die Musik muss vor allem singen. Mir sind in meinen Kompositionen starke Gesangslinien wichtig, die etwas erzählen. Hinter allem, was ich komponiere, soll eine Botschaft stehen. Ich liebe unsere fantastisch schöne Welt, aber ich bin auch oft sehr traurig über die Gegenwart. Dieser ganze, die Welt immer mehr beherrschende Materialismus ist nicht gut.

Stefan Pieper: Was kann Musik dagegen tun?

Pēteris Vasks: Musik hat zuallererst eine emotionale Komponente und natürlich auch eine intellektuelle. Ich denke an mein Publikum. Auch darin gehe ich einen konsequenten Weg. Es ist unser aller gemeinsames Projekt, durch die Musik die Welt etwas besser zu machen. Das birgt die idealistische Hoffnung, dass Dinge vielleicht wieder etwas besser ins Gleichgewicht zueinander kommen.

Im leidenschaftlichen Wettstreit mit sich selbst

Stefan Tarara misst sich an den Solosonaten von Eugène Ysaÿe:

Der erste Preis beim George Enescu Violinwettbewerb markierte für den Geiger Stefan Tarara auch in persönlicher Hinsicht einen Meilenstein: Tarara, der im Jahr 2015 sein Studium in Zürich bei Zakhar Bron abschloss, fühlt sich durch seine rumänischen Eltern dem Namensgeber dieses international bedeutsamen Wettbewerbs seelenverwandt. Wenn er es auf seiner aktuellen CD mit den Sonaten des Belgiers Eugène Ysaÿe solistisch aufnimmt, tritt Tarara in einen leidenschaftlichen Wettstreit mit sich selbst.

Ich habe gerade in einem Video Ihre irrwitzigen Arpeggiensprünge bei Paganini bewundert. Stimmen Sie damit überein, dass Paganinis Capricen eigentlich sehr angenehm zu spielen sind, weil sie so „geiger-gerecht“ gesetzt sind?

Es stimmt, aber es muss immer noch gründlich geübt werden und schwer bleibt es dennoch. Aber Sie haben recht, es gibt viel Musik, die noch deutlich gemeiner geschrieben ist.

Hat er die ganzen Sachen für sich selber geschrieben, damit er sich beim Spielen wohl fühlt?

Vieles hat Paganini gar nicht selber geschrieben. Die Capricen und andere großen Werke sind von ihm persönlich, aber vieles haben seine Schüler für ihn gemacht. Einiges ergab sich direkt aus seinem Spiel. Und er hatte immer eine panische Angst, dass es ihm jemand gleich tut und dass da jemand ist, der noch etwas virtuoser und fetziger spielt.

Geht es auch Ihnen heute darum, besser als andere zu sein?

Im Wettstreit liegt der Reiz, sein bestes zu geben und Anerkennung zu bekommen. Aber den stärksten Wettbewerb trägt man mit sich selber aus. Da geht es gegen sich selbst und nicht gegen andere. Der Erfolg hängt immer von der Tagesform ab. Alles kann sich im nächsten Moment schon wieder ändern. Es gibt so viele Variablen. Am wichtigsten ist es, sich selbst treu zu bleiben. Aber Musik ist ja nicht nur Wettstreit. Es geht in erster Linie darum, Menschen zu verbinden. Wer Kammermusik macht, profitiert immer von anderen Menschen.

Welche Erfahrungen haben Sie bei den Wettbewerben gemacht?

Sie haben in den letzten Jahren sehr viel Spaß gemacht. Man muss eine ganz bestimmtes Mindset mitbringen. Bei den großen Wettbewerben sind viele Medien involviert und vieles wird heute per Livestream übertragen, so dass man hier wahrgenommen wird. Ich will hier natürlich das beste geben  – und im Kopf bleibt der Wunsch, den ersten Preis zu bekommen!

Was unterscheidet ein Wettbewerbsvorspiel von einem Publikumskonzert?

Der Unterschied wird mir erst jetzt so richtig bewusst, wo ich auch viel als Pädagoge tätig bin und auch selber in der Jury sitze: Dort sitzen Leute, die vor allem die Fehler zählen. Die meisten Zuschauer wollen aber die schönen Momente erleben. Das sind unterschiedliche Ausgangssituationen. Also richte ich beim Wettbewerbsspiel ein besonderes Augenmerk auf Intonation, Rhythmus und Stabilität. Das gehört natürlich auch im Konzert unmittelbar dazu, aber hier steht noch mehr der Ausdruck und die musikalische Linie im Vordergrund.

Und dafür muss man auch mal einen Fehler zulassen dürfen. Ein Chirurg kann sofort einen Menschen umbringen, wenn er einen Fehler macht. Diese Gefahr besteht bei uns Musikern zum Glück nicht. Aber wir können Menschen zu Tode langweilen. Im Wettbewerb braucht es objektive Richtwerte, Intonation, Interpretation, Textgenauigkeit und Rhythmus. Trotzdem sollte niemand einen Wettbewerb gewinnen, der einfach nur richtige Töne spielt.

Was leisten Wettbewerbe überhaupt für die eigene Karriere?

Ich bekomme kostenlose Werbung. Das ist das, was für mich am wichtigsten als Interpret ist. Es haben mich mehrere Leute gehört. Vielleicht gibt es welche, denen es gefallen hat. Die Chance, woanders eingeladen zu werden, steigt immens. Das ist am wichtigsten. Es geht mir darum, die Leute zuhause hinter den Screens zu überzeugen – ebenso die 1000 bis 1500 Leute, die im Saal sind.

Es geht immer um Erfahrung. Wenn man gut vorbereitet ist und einen guten Tag hat, eröffnet dies die  Chance, sich einem riesigen Publikum zu präsentieren. Das Preisgeld ist sowas von egal.

Vor allem der erste Preis im Enescu Wettbewerb hat mich extrem nach oben katapultiert. Das hat auch etwas mit meiner persönlichen Prägung zu tun. Meine Eltern kommen aus Rumänien und ich bin zweisprachig aufwachsen. Ich bin mit der Musik Enescus wirklich groß geworden. Es war ein Traum für mich, Enescu in Rumänien zu spielen – eben dort, wo er herkommt. Ein anderer Wettbewerb, in dem ich „nur“ einen dritten Preis bekommen habe, hat fast ebenso viel für die Karriere geleistet, nämlich der Wieniawski-Wettbewerb in Polen. Die Polen lieben diesen Wettbewerb und unterstützen ihre Künstler ohnegleichen. Vor allem diese beiden Wettbewerbe haben sehr viel bewirkt. Auf einmal haben mich viele Labels angeschrieben. Vorher war ich es, der die Labels anschrieb, was nicht so viel gebracht hat.

Warum haben Sie sich für diese Solo-CD für Eugene Isayes Solosonaten entschieden?

Ich habe Ysayes Sonaten durchgängig seit meiner Jugend angehört. Vor allem die Einspielung von Frank Peter Zimmermann hat mich von klein auf stark inspiriert. Zimmermann war für mich ein Riesen-Idol. Es war ein ständiger Traum, sie mal selbst zu spielen.

Was fordert Sie in dieser Musik besonders heraus?

Es wird durchaus sämtliche Paganini-artige Virtuosentechnik abverlangt. Aber Isayes Virtuosität kommt viel „musikalischer“ daher.  Die Sonaten sind natürlich auch stark von Bach beeinflusst. Eine Nähe zu George Enescu ist ebenfalls stets präsent. Ysayes Sonaten sind verschiedenen Personen gewidmet. Er wollte gewissermaßen auf moderne Art eine „Bachsonate“ schreiben. Jede Sonate hat einen eigenen Charakter. Da lebt beispielsweise Fritz Kreislers Süßlichkeit in einer der Sonaten. Wir haben in der sechsten Sonate einen ausgeprägt spanischen Charakter, sogar mit einer Habanera. Aber bei allen vielfältigen Einflüssen kann man Isayes Stempel in jeder Note finden. Er hat seinen eigenen Stil, Polyphonie zu schreiben, den niemand sonst geschafft hat. Das hier ist eine andere, moderne, virtuose Polyphonie. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Isaye kann einen Tick besser mit  geigerischen Aspekten umgehen als Bach. Ysaye hat doch etwas besser gewusst, wo die Stärken der Geige liegen. Wenn ich mir Bachs wohltemperiertes Klavier anhöre, ist da eine vollendete Perfektion. Aber es bleibt eine Bachfuge für Geige, bei der zu vieles vom Klavier her gedacht ist mit allen sich daraus ergebenden Limitierungen. Ysaye ist doch vielmehr von den technischen Gegebenheiten der Geige ausgegangen.

Der berühmte „Dies Irae“ – Choral hat es Ysaye ja auch sehr angetan!

Er hat dieses Thema in der zweiten Sonate im Sinne von Bach paraphrasiert. Das wirkt hier oft richtig improvisatorisch. Die zweite Sonate ist die eingängigste von allen sechs. Wer bislang noch gar nicht mit Ysaye in Berührung kam, sollte als erstes die zweite Sonate hören!

Wie waren Ihre Konzerterfahrungen mit diesen Sonaten?

Ich habe schon öfter einzelne Sonaten in ein Programm eingabaut. Alle sechs in einem Programm zu spielen ist sehr schwer für ein Publikum. Das kann schnell ermüden. Da kommen mehrere unterschiedliche Farben viel besser beim Publikum an. Man muss an seine Zuhörer denken. Und klassische Musik hören ist immer viel Konzentrationsarbeit.

Sie erwähnten vorhin den Wettstreit mit sich selbst? Stehen diese Sonaten idealtypisch für dieses Prinzip?

Durchaus. Es geht darum, als eine Person Gefühle heraus zu bringen, die sonst ein ganzes Orchester freisetzt. Man ist als Solist viel freier, kann sich viel erlauben. Andererseits darf man sich auch nicht zu frei fühlen, das bekommt dann sehr schnell einen sagen wir mal zigeunerischen Charakter. Man will sich ja auch in einer klaren, präzisen Struktur präsentieren.

Hilft dafür auch die Kompetenz des Wettbewerbsspiels? 

Auf jeden Fall. Hier fließen zwanzig Jahre Hausaufgaben ein, die ich gemacht habe.

[Interview geführt von: Stefan Pieper, Dezember 2017]

Stalin sah es nicht gerne, dass es in der Ukraine eine eigene Kultur gibt

Violina Petrychenko verweigert sich dem Repertoire-Mainstream und reanimiert die Klaviermusik ihres Landsmannes Vasyl Barvinsky.

Violina Petrychenko lebt heute in Köln, hat aber noch einen starken Bezug zu ihrer ukrainischen Heimat. Vor allem liegt ihr die dortige Musikkultur am Herzen. Entsprechend tatkräftig engagiert sie sich für die Wiederentdeckung der Komponisten ihres Heimatlandes – und legt aktuell eine CD mit der lyrisch-intimen Klaviermusik von Vasyl Barvinsky vor. Tief berührt war sie vom Schicksal dieses Komponisten, der so ganz die stalinistische Willkür zu spüren bekam. So wurden sämtliche Noten seiner Werke öffentlich verbrannt. Schließlich kam Barvinsky selbst ins Straflager. Sein einziges „Verbrechen“?  Er hatte immer eine Lanze für die gewachsene ukrainische Musikkultur gebrochen.

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Auf dem Booklet-Foto halten Sie ein Notenblatt ins Feuer. Was für Empfindungen hatten Sie, als dieses Foto entstand?

Ich werfe die Noten nicht ins Feuer, sondern hole sie aus diesem Feuer wieder heraus, um sie der Welt zugänglich zu machen. Ich will auf das Schicksal dieses Komponisten hinweisen. Seine Noten wurden von den Stalinisten öffentlich verbrannt, glücklicherweise konnte ein Teil gerettet werden.

Wie sind Sie auf Vasyl Barvinskys Musik gestoßen?

Ich selbst komme aus der Ostukraine. Dort ist Barvinsky ganz unbekannt. Er wird auch in Konzerten bislang nicht gespielt und auch beim Studium in Kiew bin ich nicht auf ihn gestoßen. Vor drei Jahren habe ich meine zweite CD „Ukrainian Moods“ mit Werken ukrainischer Komponisten vorbereitet und dafür recherchiert. Dabei bin ich eher zufällig über den tragischen Lebenslauf von Barvinsky gestoßen und war schockiert. Ich beschloss, dass dieser Komponist eine eigene CD mit seiner Musik verdient. Vor einer Woche habe ich außerdem beschlossen, auch die restlichen seiner Klavierwerke aufzunehmen. Die Arbeiten an der nächsten CD beginnen im Februar.

Ich habe die Musik als romantisch, aber auch etwas introvertiert und zart modern empfunden. Die Spurenelemente ukrainischer Musik sind eher versteckt. Wie sehen Sie das?

Die ukrainische Suite ist voll von Elementen aus der Volksmusik, die anderen Zyklen auf der CD weniger. Es gibt auch eine deutliche Prägung durch tschechische Musiker, etwas Vítezslav Novák oder Antonín Dvorák. Die Zyklen sind sehr unterschiedlich von den Stimmungen. Der Liebeszyklus ist betont traurig, manchmal fast schon depressiv. Die Präludien sind eher leichtgängig. Jedes zeigt einer andere Stimmung und kompositorische Herausforderungen für den jungen Barvinsky.

Ist die Musikkultur der Ukraine generell nah an der tscheschischen Kultur?

Es herrschte damals ein lebendiger Austausch zwischen der Ukraine und Böhmen. Viele Musiker, die in Lemberg arbeiteten, haben in Prag studiert.

Das kulturelle Leben in Ihrem gemeinsamen Heimatland war zu seinen Lebzeiten ja wohl äußerst lebendig, rate ich.

Ja, vor allem in Lemberg. Anfang des 20.Jahrhundert war es eine sehr interessante und spannende Stadt. Die ganzen schlimmen Zeiten, der Holocaust und der Krieg waren noch sehr weit weg.

Barvinskys Musik hat eigentlich kaum etwas aufrührerisches oder neutönerisches. Warum ist er überhaupt so extrem vom sowjetischen Regime drangsaliert worden?

Stalin sah es nicht gerne, dass es in der Ukraine eine eigene Kultur gibt. Viele Menschen, die zur Intelligenz gehörten, durften nicht weitermachen. Vielen von Barvinskys Stücken hört man an, dass er aus der Ukraine kommt. Ein solcher Patriotismus hat Stalin nicht gepasst, vor allem nicht, wenn er von einem Rektor am Konservatorium kam. Also hat er es sich einfach gemacht und wollte ihn wegschieben. Deswegen mussten Barvinsky und seine Frau für zehn Jahre in den Gulag.

Gab es einen konkreten Anlass für seine Verhaftung?

Ihm wurde vorgeworfen, Spion im Dienste Englands oder der Gestapo zu sein, was völlig absurd war, denn das hatte wirklich nichts mit seinem Leben zu tun. All dies wurde ihm angedichtet. Auch war er kein Mitglied der Union ukrainischer Sozialisten. Trotzdem musste er nach einer erfolgreichen Karriere als alter Mann ins Gefängnis gehen. Das war eine sehr böse Überraschung nach den Kriegsjahren, als er dachte, es beginne nun eine ruhigere Zeit …

Wie weit ist die Musik von Vasyl Barvinsky heute in der Ukraine selbst bekannt?

In einer großen, kulturell lebendigen Stadt wie Lemberg kennt man diesen Komponisten. Aber auch hier wird seine Musik allenfalls mal in kleinen Hochschulzirkeln, aber nicht in großen Konzertsälen aufgeführt, was ich sehr schade finde. Wenn wir weiter Richtung Osten gehen, ist er völlig unbekannt. Andere Komponisten sind etwas populärer. Insgesamt verhält es sich so wie in Deutschland. Überall wird das bekannte Repertoire rauf und runter gespielt, aber niemand traut sich, mal was neues zu präsentieren. Dabei gibt es doch so viel unentdeckte Musik.

Wie ist die Stimmung heute in der Ukraine angesichts der aktuellen Drangsalierung durch  Russland. Nährt dies einen Patriotismus in der Kultur?

Die Situation ist etwas schwierig. Ich spiele viel in der Westukraine und da herrscht ein positives Klima. Wenn ich in der Ostukraine spiele, agiere ich vorsichtiger. Da ziehe ich im Konzert dann einen Vergleich etwa zwischen Rachmaninoff und Barvinsky und will zeigen, dass wir in der Ukraine einen ähnlich bedeutenden Komponisten hatten. Vor allem auf Barvinskys Ukrainische Suite wurde sehr positiv reagiert – sie findet Zugang zu jedem Herzen. Aber Barvinskys Tonsprache ist eigentlich sehr international, ebenso verhielt es sich mit seinem Ruf zu Lebzeiten. Seine Noten wurden damals auch in Japan und England veröffentlicht.

Wie hat sich Ihr Wechsel nach Deutschland vollzogen und was war der Anlass?

Es ist extrem schwierig in der Ukraine als Musikerin zu leben, man verdient fast nichts. Man muss immer noch etwas nebenbei machen.

Weil es wenig Auftrittsmöglichkeiten gibt?

Die Konzerte sind zwar voll, aber es gibt nur die großen Philharmonien in einigen Großstädten, aber überhaupt nicht die ganze Vielfalt an kleineren Spielstätten. Ich wohne in Köln und allein in dieser Stadt kann ich in vielen kleinen Sälen spielen. In Lemberg gibt es nur die Philharmonie und vielleicht noch die Oper und das war es. Man kann vielleicht zwei bis dreimal im Jahr ein Konzert geben, mehr nicht. Der Staat will heute überhaupt keine Musiker mehr unterstützen. Der durchschnittliche Lohn für einen klassischen Musiker ist vielleicht 100 Euro.

Was gab den Ausschlag, bislang nur CDs mit ukrainischen Komponisten zu produzieren? Da gehört doch viel mehr Selbstbewusstsein zu, als neue Einspielungen bekannter Komponisten auf den Markt zu werfen.

Ich spiele natürlich auch gerne Chopin oder Schubert. Wenn ich mir Aufnahmen solcher Komponisten anhöre, greife ich aber meist zu Aufnahmen alter Meister. Jeder Pianist sollte sich fragen, ob er zu Chopin oder Schubert wirklich noch Neues sagen kann. Bei der ersten CD war ich noch vorsichtig und habe den unbekannten ukrainischen Komponisten Viktor Kosenko mit Werken von Alexander Skriabin kombiniert. Die gute Resonanz auf diesen Tonträger hat mich bestärkt, noch mehr ukrainische Musik heraus zu bringen, so entstand dann die bereits erwähnte CD »Ukrainian Moods« mit Werken von Revutsky, Kosenko, Kolessa und Schamo. Da bin ich schließlich auf Barvinsky gestoßen und ich muss sagen: Dieser Mensch inspiriert mich. Er muss so eine helle, ehrliche Natur gewesen sein, die nur für die Musik gelebt hat. Und dann hat er so ein tragisches Schicksal erlitten. Das nährte meinen Wunsch, wenigstens heute etwas für ihn zu machen.

Ihr Mut zu einem eigenständigen künstlerischen Weg, verdient höchste Anerkennung!

Danke! Und es macht Spaß, Vasyl Barvinskys Musik zu spielen. Ich freue mich auf die bevorstehende nächste CD-Aufnahme seines Klavierkonzertes mit Orchester. Dieses Werk galt sehr lange als verschollen. Das Konzert wurde 1937 geschrieben und war bis 1993 verloren. Das Manuskript kam schließlich in Buenos Aires wieder zum Vorschein. Barvinsky selbst muss am Ende seines Lebens geglaubt haben, dass alle seine Werke verbrannt wurden. Aber im Ausland wussten viele, dass es noch einiges von ihm geben musste. Es ist schon eine erstaunliche Geschichte mit diesem Repertoire – umso mehr freue ich mich, es jetzt aufnehmen zu können.

[Interview geführt von Stefan Pieper, 30. November 2017]