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Tragisch ausgelöschter Meister der klassischen Moderne

Joachim Mendelson
2. Symphonie (1939), Symphonie de chambre (1938), Quintett für Oboe, Streichtrio und Klavier (1939), Sonate für Violine und Klavier (1937)

Tatjana Blome (Klavier), Frédéric Tardy (Oboe), Ulrike Petersen (Violine), Ignacy Miecznikowski (Viola), Claudio Corbach (Cello), Polnisches Rundfunk-Symphonieorchester, Jürgen Bruns

EDA 040
ISBN: 840387100401

EDA040

Immer wieder zucken wir gerade als Musiker aufs Neue zusammen, wie unsere nationalsozialistischen Vorgänger innerhalb kürzester Zeit im Zuge systematischer Zerstörung insbesondere die polnische Kultur dem Erdboden gleich gemacht haben. So vieles ist unwiederbringlich verloren! Und jetzt präsentiert das Berliner Label EDA, das seit zwei Jahrzehnten mehr tut für die vergessene polnische Musik als alle anderen zusammen, einen Komponisten, den ich bis dahin überhaupt nicht kannte – einen jüdisch-polnischen Komponisten, der 1943 im Warschauer Ghetto getötet wurde. Joachim Mendelson wurde 1892 in Warschau geboren, schrieb sich ursprünglich Mendelssohn und lebte ab 1929 in Paris, bis er 1935 als Dozent für Musiktheorie und Harmonielehre an die Musikakademie seiner Heimatstadt berufen wurde, wo sein Leben wie so viele 1939 in die Hände der Deutschen fiel. Der exzellente Booklettext von Initiator Frank Harders-Wuthenow, einem der beschlagensten, engagiertesten und intelligentesten Musikforscher unserer Zeit, bringt alles vor, was die Recherchen über Mendelson zu so einer Einführung beitragen konnten, und das ist leider sehr wenig, denn fast alles ist vernichtet worden, darunter sämtliche Manuskripte Mendelsons, die bei der Niederbrennung Warschaus 1944 in Flammen aufgingen. Daher kann man es nur als unschätzbaren Glücksfall ansehen, dass fünf Werke Joachim Mendelsons beim französischen Verlagshaus Max Eschig im Druck erschienen sind. Sie sind alles, was erhalten ist: ein etwas früher entstandenes Streichquartett sowie die vier auf vorliegender Portrait-CD enthaltenen Kompositionen: eine Sonate für Violine und Klavier (1937), eine Kammersymphonie (1938), und aus dem Jahr 1939 ein Quintett für Oboe, Violine, Viola, Cello und Klavier sowie die Zweite Symphonie. Bei der Datierung handelt es sich jeweils um das Jahr der Veröffentlichung, die Kompositionen dürften etwas früher entstanden sein, doch kann man anhand der stilistischen Reifung – wie Harders treffend konstatiert – davon ausgehen, dass die Veröffentlichungsreihenfolge einigermaßen der Entstehungabfolge entspricht. Alle vier Kompositionen sind dreisätzig mit der Abfolge schnell-langsam-schnell.

Schon in der Violinsonate zeigt Mendelson eine deutlich eigene Handschrift, die natürlich stark von französischen Vorbildern geprägt ist, jedoch sowohl zum Besten darunter gehört als auch mit einem dezidiert slawischen Einschlag besticht, der gleichwohl viel subtiler vorhanden ist als etwa bei einigen anderen lange in Paris tätigen Kollegen wie etwa Martinu. Besonders zeuberhaft ist der langsame Satz, ein ätherisch melismatisches Andante ma non troppo. Die Kammersymphonie bezeugt bereits eine offenkundige Weiterentwicklung, beispielsweise in der organischen Handhabung der würzigen freien Dissonanzen, und auch hier ist es der langsame Mittelsatz, ein vital schwebendes Larghetto, das besonders eigenartig klingt und mit einer unwiderstehlichen Atmosphäre umfängt. Und man darf staunen, wie herrlich farbenreich und mit welchem Sinn für Balance und Kontraste Mendelson orchestrierte.

Ein großes Meisterwerk ist das Quintett für die seltene Besetzung von Oboe, Streichtrio und Klavier. Hier haben auch die ohnehin so geistreichen schnellen Sätze nochmals sichtlich an Substanz gewonnen, und der kontrapunktisch meisterliche Fluss ist staunenerregend in der Leichtigkeit und freien Anmutung, mit welcher die komplexen Kunststücke inszeniert werden. Mendelson zeigt sich immer mehr als ein vortrefflicher Meister der Formdramaturgie, und nie wird es neoklassizistisch oberflächlich, nie modisch stilisiert, nie schwerfällig tiefgründig. Diese Musik ist durchweg durchflutet von Leben, Charme, hellwachem Geist und Brillanz im Dienste aristokratisch feinsinniger Aussage. Die Zweite Symphonie, wohl sein letztes Werk in Freiheit, krönt sein erhaltenes Schaffen (leider können wir sie nicht der Ersten gegenüberhalten), und ihr Larghetto darf als einer der schönsten Sätze für Orchester in den letzten Zwischenkriegsjahren gelten. Nun möge diese CD anregen, diese Werke auch im Konzertleben zu präsentieren.

Die Einspielungen sind mit großem Engagement und Liebe zur Sache geschehen. Mich stören vor allem zu kurz ausgehaltene Töne, vor allem bei beiden Akteuren in der Violinsonate. Im Orchester sind die lauteren Passagen oft vertikal eher unstrukturiert und zumal in den schnellen Sätzen recht primitiv artikuliert. Lyrische Innigkeiten entschädigen andernorts für derlei Einbußen. Das Klangbild ist in den Kammermusikwerken ansprechender, da präziser und ausgewogener, als in den Orchesteraufnahmen. Insgesamt ist das eine CD, die jeder kennen sollte, dem die Musik der klassischen Moderne ein echtes Anliegen ist, und der sich für höchstkarätige Kammer- und Orchestermusik des 20. Jahrhunderts interessiert.
[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, März 2016]