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Die äthiopische Renaissance

XVIII – 21 Le Baroque Nomade – Melothesia Æthiopica

harmonia mundi EVCD O14; EAN: 3 149028 078626

Ulrich4

Jean Christophe Frisch, Leitung
Cyrille Gerstenhaber, Gizachew Goshu, Stimmen
Emmanuelle Guigues, Pascal Clément, Thibault Roussel,
Mathieu Dupouy, Endres Hassen, Misale Legesse, Zenash Tsegaye, Melaku Belay

Crossover-Programme sind en vogue. Ob schon früh bei Tony Scott mit „Music for Zen Meditation“ oder letztens das AsianArt Ensemble mit „Rituals“, nun also Äthiopien und Renaissance, eine kühne Kombination, oder? Im Booklet erfährt man über die christlich-jesuitische Vergangenheit, für die vor allem Portugal und seine Musikkultur im 17. Jahrhundert zuständig war.
Soweit der Background dieser CD. Obwohl  ja Abessinien auch eine Zeit lang italienische Kolonie war und der Rückgriff auf die italienische Renaissance-Musik auch von daher sich anbot, hinterlässt diese Produktion, so gut und engagiert sie sicherlich gemeint war und ist, einen eher zwiespältigen Eindruck. Zu überlegen ist die Energie, die von den „indigenen“ Musikern, Tänzern und Sängern aus Äthiopien auf den Hörer einströmt – oft so überzeugend, dass sich dazu tänzerisch zu bewegen beinahe zwingend notwendig wird – besonders bei Stück Nr. 5, wo der Groove einfach unwiderstehlich rüberkommt. Wenn dann die französischen Musiker ihren Beitrag anstimmen, instrumental durchaus verhaltener und teilweise stimmig auf den entsprechenden Instrumenten wie Gambe, Laute oder Flöte, dann ist der Unterschied fast zu eindrucksvoll.
Besonders, wenn Cyrille Gerstenhaber ihre durchaus kunstvolle Stimme einsetzt, aber eben „Kunst“ macht, dann wird die Kluft zwischen Kunstmusik und lebendiger Darbietung der Musiker Äthiopiens einfach zu groß. Der Beifall am Ende der Stücke ist eben auch dementsprechend mau und kurz.
Natürlich ist es spannend, zwei so verschiedene Kulturen einander begegnen zu lassen und gegenüber zu stellen, aber auch oder gerade wenn es ein Mitschnitt eines Live-Auftritts ist, wird eben überdeutlich, wo die Grenzen solch einer Crossover-Veranstaltung liegen. Und Renaissance-Musik muss nicht brav und akademisch daherkommen, auch nicht als mit wohl aus(ver)bildeter Stimme sich fast opernmäßig ins Trommelfell bohrender Gegensatz. In ihren besten Momenten hat sie durchaus Groove und wäre da ein echtes Pendant zur originären, lebendigen Musik-Kultur eines christlich-afrikanischen Landes, das auf weiter zurückreichende Wurzeln zurückblicken kann als es Europäern oft bewusst wird. Insofern hat diese CD – wie viele Einwände auch dagegen sprechen – eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Ich wünschte mir dazu eine europäische Sängerin, die aus nicht weniger unverbildeten Kraftquellen schöpfte wie ihre abessinischen Kolleginnen und Kollegen. Und solche Stimmen gibt es sowohl in Frankreich als auch in Italien durchaus, siehe Anna Magnani in „Riso amaro“.

[Ulrich Hermann, November 2015]