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Inspirierende Erfahrungen bei den „Raritäten der Klaviermusik im Schloss vor Husum“ (II)

In Fortsetzung unseres ersten Beitrags über das diesjährige Festival „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum bespricht unser Rezensent die drei Konzerte vom 18.–20. August 2025:

Der schwedische Pianist Roland Pöntinen – schon mehrfach Gast des Husumer Festivals –konzentrierte sich in seinem Klavierabend am 18. 8. auf selten zu hörende Werke der 1890er Jahre. Otilie Suková (1878–1905) war eine Tochter Antonín Dvořáks und spätere Ehefrau seines Meisterschülers Josef Suk. Die Trauer über ihren frühen Tod verarbeitete dieser in seiner berühmten Asrael-Symphonie. Ihre einzigen eigenen Kompositionen, 4 kleine Klavierstücke, hatte Suk notiert; drei davon erschienen 1909 als Zeitschriftenbeilage, das wohl dem Vater gewidmete „Dem teuren Papa“ erst 2018 bei Bärenreiter. Bei Sukovás Humoreske wirkte Pöntinen noch etwas steif, trug dafür die drei übrigen, einfallsreicheren Stücke durchaus mit Feingefühl vor.

Wilhelm Stenhammar (1871–1927) war selbst ein exzellenter Pianist mit einer riesigen „Pranke“ wie Brahms, was man nicht nur seinem 2. Klavierkonzert anmerkt, welches zuletzt wieder gerne von Herbert Blomstedt zur Diskussion gestellt wurde. Die Sonate g-Moll (1890) ist hingegen noch ein Frühwerk, das stark an Brahms (Scherzo) und, unverkennbar im Finale, konkret an Schumanns Sonate in derselben Tonart anknüpft. Nur die Romanza verströmt bereits ansatzweise typisch nordische Melancholie. Pöntinen gestaltete im gesamten Stück die Tempi flexibel, hätte stellenweise aber rhythmisch noch prägnanter sein können. Er brachte die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Themen auf den Punkt, überzeugte gerade bei den lyrischeren Momenten. Nur den vierten Satz begann er deutlich zu laut. Nach Noten spielte er danach drei der späten 18 Klavierstücke op. 72 Peter Tschaikowskys und hinterließ hier einen eher zwiespältigen Eindruck. Sehr geschmackvoll gelang die Berceuse (Nr. 2), über erstaunlich eisernem Rhythmus; allerdings pfuschte Pöntinen schon hier bei schnellen Wechseln in die hohe Lage – manches wirkte zu unpräzise. Der Rhythmus von Tendres reproches (Nr. 3) erschien leicht missverstanden, und bei Scherzo-Fantaisie (Nr. 10) – nach Skizzen zur abgebrochenen 7. Symphonie entstanden und zugegebenermaßen im korrekt gewählten Tempo fast unspielbar schwer – ließ der Pianist manches unter den Tisch fallen, so dass das Stück tatsächlich wie ein vom Komponisten aus einer Orchesterpartitur improvisierter Auszug erklang.

Im zweiten Teil vermochte Pöntinen zum Glück, sich mächtig zu steigern. Richtig gut war schon die Auswahl von je drei Préludes (aus opp. 15 und 16) und Etüden (aus op. 8) Alexander Skrjabins, berückend schön Cécile ChaminadesLes Sylvains“ op. 60. Ihre Faune – in gekonntem, effektiven und harmonisch reichen Klaviersatz – schienen allerdings an diesem Abend eher mit nordischen Trollen Griegs verwandt als in mediterranen Gefilden angesiedelt. Drei der 6 Études op. 111 von Camille Saint-Saëns (Nr. 1; Nr. 4 mit durchdachten Glocken-Illusionen, Nr. 6 über Material aus dem Finale seines 5. Klavierkonzerts) beeindruckten ebenfalls. Zum Höhepunkt wurde jedoch zuvor ein makelloser, bis ins letzte Detail ausgeloteter Vortrag von Claude Debussys frühen Images oubliées: Anschlag, Pedalisierung und Nutzung des Resonanzraumes unter perfekter Kontrolle. Dieses Niveau wurde nochmals mit der ersten Zugabe, Ravels Pavane pour une infante defunté, bestätigt. Pöntinen entließ das Publikum mit seiner Bearbeitung von Vladimir Cosmas leitmotivischem Thema Sentimental Walk (frei nach Satie) aus der Filmmusik zu Jean-Jacques Beineix‘ „Diva“ (1981).

Am 19. August war der einzige heutzutage wirklich „exotische“ Programmpunkt die letzte der sechs Klaviersonaten (g-Moll op. 39, 1806) des Wiener Komponisten Anton Eberl (1765–1807), der anscheinend Schüler W. A. Mozarts war und noch nach dessen Tod der Familie verbunden blieb. Sein auch pianistisch recht anspruchsvolles, dreisätziges Stück nimmt sich bereits mehr Beethoven als seinen Lehrer zum Vorbild und erreicht im ausladenden langsamen Satz fast gleiches Niveau. Das Thema des Finales im 2/4-Takt scheint gar dem Hauptmotiv aus dessen „Sturm-Sonate“ op. 31,2 teils „abgekupfert“ zu sein. Herbert Schuch näherte sich dem tiefsinnigen Werk mit der gebotenen Gelassenheit und enormer klanglicher Sensibilität: Während des gesamten Konzerts wagte er das Risiko, ein Pianissimo bis an die Grenze dessen anzubieten, wo ein Steinway-D überhaupt noch reagiert: faszinierend. Bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes baute er ein paar stilistisch korrekte Verzierungen ein und nahm sich auch die Freiheit für ganz kleine formale Eingriffe an Eberls manchmal zu „quadratischer“ Periodenbildung. Dies alles vermochte das Publikum zu begeistern.

Ferruccio Busonis (1866–1924) späte Toccata (Preludio – Fantasia – Ciaccona) von 1922 gilt trotz ihrer relativen Kürze von gut 10 Minuten zu Recht als eines seiner Hauptwerke für Soloklavier: pianistisch vertrackt, harmonisch schon recht kompromisslos und von einer den Hörer geradezu erschlagenden Ausdrucksintensität – eigentlich. Der Komponist gibt zwar keine Metronomzahlen vor, dennoch verfehlte Schuch zum einen in allen Teilen die hier erwartbaren Tempi etwas nach unten und vereitelte so in den schnellen Abschnitten das in Lisztschem Sinne angestrebte Transzendieren kompositorischer und instrumentaler Virtuosität. Zum anderen müsste man sich klarmachen, welche Rollen verschiedene Motive nur wenig später in Busonis Opus summum, der nicht mehr ganz vollendeten Oper Doktor Faust spielen. Das Staccatissimo des Beginns geriet zu weich, das zugleich geforderte Arditamente oder das con calore aufblühende Thema in der Fantasia zu unterkühlt etc. Damit konnten Busoni-Kenner nicht wirklich zufrieden sein.

Ganz hervorragend dann wieder Busonis phänomenale Bearbeitung des Trauermarschs aus Richard Wagners „Götterdämmerung“. Erneut zahlte sich Schuchs Mut zu extrem leisem Spiel bei der Gestaltung einer dynamischen, quasi plastischen Illusion des hier weitgehend düsteren Klangbilds eines riesigen Orchesterapparats aus, wodurch klar modellierte (Leit-)Motive durch flächige Elemente sinnhaft unterfüttert erschienen.

Julius Reubkes (1834–1858) Orgelsonate Der 94. Psalm“ sowie seine von Umfang und Schwierigkeit her dem Vorbild seines Lehrers Liszt kaum nachstehende Klaviersonate b-Moll entstanden kurz hintereinander Anfang 1857, als sich bereits die damals unheilbare „Schwindsucht“ abzeichnete, die ein Jahr später zum Tod des jungen Komponisten führte. Während die Orgelsonate sich, heute unbestritten, schnell als eine der großartigsten Orgelwerke des gesamten 19. Jahrhunderts herumsprach, geriet die Klaviersonate – da lange nicht mehr in Druck – bald in Vergessenheit und erweckte erst ab den 1980ern wieder das Interesse der Pianisten. Sie gehört aber längst noch nicht zum Standardrepertoire, stand dafür in Husum schon mehrfach auf dem Programm. Leider gelang es Herbert Schuch nicht, an das Niveau der besten Darbietungen des Werkes heranzukommen. Die drei miteinander verbundenen Sätze bilden eine Liszts h-Moll-Sonate vergleichbare bogenförmige Großform mit überbordender Energie. Schon beim Hauptthema des Kopfsatzes nahm Schuch dessen Wucht zu früh heraus, phrasierte die einzelnen Perioden zu deutlich ab. Ähnlich relativierte der Pianist andere Stellen, etwa nur wenig später das più forte e stringendo kurz vor dem quasi recitativo. Natürlich war Schuch den technischen Anforderungen des Werks gewachsen und beeindruckte wieder durch klanglich hervorragende Gestaltung der lyrischeren Momente, so beim choralartigen Seitenthema und durchgängig im Andante sostenuto. Leider folgte er nicht nur im ersten Satz Reubkes vorgeschlagenem Strich, sondern nahm auch im Finale, in dem der Komponist sich fraglos ein wenig wiederholt, einige kleine Kürzungen vor, die in diesem Fall unverzeihlich erschienen. Der Hauptkritikpunkt hier richtet sich jedoch an die Kleinteiligkeit von Schuchs Vortrag, die über größere Strecken laufende Entwicklungen für den Hörer nicht nachvollziehbar machte. Offenkundig unterschätzte der Pianist die Dramatik der gesamten Sonate mit ihrem bis zur Manie gesteigerten Zur-Schau-Stellen noch vorhandenen Überlebenswillens, wo hingegen in der wenig späteren Orgelsonate am Schluss bereits jedwede Hoffnung – die zumindest noch im ansonsten äußerst brutalen Psalmtext steckt – musikalisch negiert wird. So verkaufte er das Stück spürbar unter Wert, was dann selbst die wirkungsvollen Zugaben nicht mehr wettmachen konnten.

Eine wiederum andere Künstlerpersönlichkeit betrat am 20. 8. das Husumer Podium: Aline Piboule. Rein pianistisch mit konventioneller, grundsolider Technik und ohne irgendwelche Allüren, durch Extravaganzen aufzufallen, stellte sie sich ganz in den Dienst der von ihr vortrefflich präsentierten, wirklich weit jenseits des Mainstreams angesiedelten Klavier-Preziosen. Vom ersten Augenblick an erwies sich die Französin als wahre Poetin am Flügel, die es verstand, das Publikum unmittelbar zu fesseln. Cyril Scott (1879–1970) folgte als junger Komponist den französischen Impressionisten, bis hin zur Reanimation barocker Formen wie in der viersätzigen Pastoral Suite. Gerade der Rigaudon mochte manchen Hörer vielleicht an den entsprechenden Satz aus Ravels Le Tombeau de Couperin „erinnern“; tatsächlich ist Scotts Zyklus der ältere. Die für den Briten typischen, zahlreichen Taktwechsel erschweren manchmal, größere Zusammenhänge zu erkennen, was Piboule jedoch geschickt löste. Auffallend ihr hierbei äußerst sparsames Pedal, als wollte sie die Harmonik keinesfalls zusätzlich aufweichen. Schon beim liebenswerten Konzertwalzer Ernst von Dohnányis über ein Thema aus Leo Delibes Ballett Coppelia zeigte sie, dass sie natürlich Pedalisierung optimal einsetzen kann; ein durchaus virtuoses Stück, dafür ohne die Überdrehtheit ähnlicher Bearbeitungen etwa Godowskys oder Schulz-Evlers.

Frank Bridge (1897–1941) kennt man eher als Lehrer Benjamin Brittens als durch seine eigene Musik: wohl der immer noch meistunterschätzte britische Komponist des 20. Jahrhunderts. Dabei ist insbesondere die Kammermusik sensationell (Klavierquintett, 2. Klaviertrio, 4. Streichquartett) und wird über die Jahre immer moderner. Die Three Sketches von 1906 sind noch ganz tonal und absolut romantisch. Piboule erfasste deren Tiefgang perfekt und brachte sämtliche Feinheiten unprätentiös zum Tragen. Mel Bonis‘ (1858–1937) Kammermusik fand zuletzt zunehmend Beachtung auf dem Tonträgermarkt. Dass ihre Klavierwerke genauso anspruchsvoll, zugleich dankbar sind, bewies Aline Piboule mit zwei Beispielen aus einer ganzen Reihe von Stücken, die mythologische bzw. literarische Frauengestalten porträtieren. Ophélia – nachdenklich, mit tollen Klavierfarben, lediglich etwas zu lang – und Desdémona hinterließen einen starken Eindruck.

Der Rezensent hatte immer schon gewisse Probleme mit dem Spätwerk Gabriel Faurés. So begeisterte am Mittwoch allenfalls dessen Barcarolle Nr. 3 von 1885, während die späten Stücke – die 13. und damit jeweils letzten seiner Barcarolles bzw. Nocturnes (1921) – mal wieder langweilten. Keinesfalls die Schuld der Pianistin, die sich mit ein wenig übertriebener Dynamik leider vergebens bemühte, mehr Leben in diese Musik zu bringen. Das Beste kam an diesem Abend zum Schluss, mit Musik der beiden bretonischen Komponisten Guy Ropartz (1864–1955), dessen tolle Symphonien man unbedingt kennen sollte, und einem – wie Albert Roussel – seefahrenden Komponisten: Jean Cras (1879–1932). Dieser brachte es bis zum Konteradmiral und führte immer ein Klavier mit an Bord. In Deutschland noch nahezu unbekannt, sind seine Werke auf dem CD-Label timpani mittlerweile gut dokumentiert. Sehr interessant bei Ropartz‘ Nocturnes Nr. 1 & 3 ist z. B. deren rhythmische Binnenstruktur. So finden sich in beiden Stücken 7er-Rhythmen: In Nr. 1 im 7/4 bzw. 21/8-Takt (=7×3); Nr. 3 steht durchgehend im 21/16-Takt (=3×7) – auch sonst großartige Musik. Cras‘ Deux Paysages spielen mit Exotismen (I) bzw. einer von Tempo und Agogik ungemein flexibel behandelten, eingängig schlichten Melodie (II). Für diese Werke ist sicherlich noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten. Piboule traf mit ihren exzellenten Darbietungen beim Husumer Publikum damit schon mal voll ins Schwarze.

(Zum dritten und abschließenden Teil siehe hier!)

[Martin Blaumeiser, 22. August 2025]

Feminine Noten

In der kommenden Saison wird das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in jedem Konzert das Stück einer Komponistin aufführen. Bahnbrechende Programmplanung oder Quotenregelung? Wer solch Regulativ kritisch sieht – wie die Pianistin Elena Bashkirova, die kürzlich in einem Interview mit der FAZ meinte, dass gute Musik gespielt werden soll, weil sie gut, nicht weil sie von Frauen ist – berücksichtigt nicht, dass diese nie die gleichen Chancen hatten. Der Weg zu einem Bewusstsein, dass Qualität nicht an das Geschlecht gebunden ist, ist noch nicht abgeschlossen, das Interesse an Komponistinnen aber merkbar gewachsen. Es schlägt sich auch auf dem CD- und Buchmarkt nieder. Die nachfolgende Auswahl gibt einen kleinen Einblick in die Flut von Veröffentlichungen der letzten Zeit.

Barbara Beuys: Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche

Dittrich Verlag; ISBN: 978-3-947373-69-7

Beginnen wir bei Emilie Mayer. 1812 im mecklenburgischen Friedland geboren, geht sie nach dem Selbstmord des Vaters zu ihren Brüdern nach Stettin. Dort wird Carl Loewe, der heute für seine Balladen bekannte Musikdirektor, ihr Lehrer. Er erkennt ihr Talent und fördert sie, woraufhin sie sich über Konventionen und Vorurteile hinwegsetzt: sie wird Komponistin. Dabei beschränkt sie sich nicht auf kleine Formen, wie viele ihrer Kolleginnen, sondern kreiert neben Kammer- und Klaviermusik auch acht Sinfonien. In jeder Hinsicht selbstständig, publiziert sie ihre Werke auf eigene Kosten und organisiert Konzerte, das erste 1850 im Berliner Königlichen Schauspielhaus. „Ganz von weiblicher Hand ins Leben gerufen“, sei es „ein Unicum“, wie die Vossische Zeitung 1850 meldet. Es bekommt großen Zuspruch und erhält gute Kritiken aber auch abfällige Resonanz, die sich mehr auf ihr Geschlecht bezieht und sich an der Ansicht des Philosophen Friedrich Schlegel orientiert: „Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.“ Mayer, die zwischen der Hauptstadt und Stettin pendelt, hat sich zu Lebzeiten gegen männliche Dominanz behauptet, doch nach ihrem Tod 1883 gerät sie schnell in Vergessenheit. Erst Ende des letzten Jahrhunderts werden die Musikerin und ihr Werk wiederentdeckt. 2021 erhält sie ein Ehrengrab in Berlin, danach erscheint die erste Biographie. „Eine Spurensuche“ nennt sie die Autorin Barbara Beuys im Untertitel, er spielt an auf die spärliche Quellenlage. Doch Beuys macht aus der Not eine Tugend. Sie entwirft rund um die fragmentarisch verbürgten Lebensstationen Emilie Mayers ein vielschichtiges, um kleine Porträts von Zeitgenossen angereichertes Gesellschaftspanorama, das das kulturelle Umfeld ebenso einbezieht wie die damalige Situation der Frauen und deren Emanzipationsbestrebungen.

Compositrices. New Light on French Romantic Women Composers (8 CDs)

Bru Zane, BZ 2006; EAN: 8055776010090

Die Willenskraft der Deutschen, alle Herausforderungen im Alleingang zu überwinden, brauchte die etwas ältere Französin Louise Farrenc nicht. Sie beginnt ihre Karriere als Pianistin und gründet mit ihrem Ehemann, dem Flötisten Aristide Farrenc, einen Musikverlag, in dem ihre Werke gedruckt werden. Mit ihren Kompositionen Symphonien, Klavier- und Kammermusik etabliert sie sich bald auf den Pariser Konzertbühnen. Als sie eine Klavierprofessur am Konservatorium erhält, jedoch mit einem geringeren Gehalt als ihre Kollegen, kämpft sie um Gleichberechtigung und erreicht tatsächlich eine Angleichung. 

Louise Farrenc ist eine von 21 Compositrices, denen das Forschungskollektiv des Palazzetto Bru Zane eine ganze Box geschenkt hat. Vor dem Hören der acht prall gefüllten CDs lernen wir sie beim Lesen des vorzüglichen Booklets näher kennen: Musikerinnen, die vom Anfang des 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkten, damals eine gewisse Popularität genossen, heute aber bis auf wenige Ausnahmen kaum dem Namen nach bekannt sind. Die Rede ist beispielsweise von der 1764 geborenen Pianistin Hélène de Montgeroult und der Harfenistin Henriette Renié, Jahrgang 1875, die beide als Interpretinnen und Pädagoginnen Ansehen genossen, daneben komponierten und Lehrwerke für ihre Instrumente hinterließen. Oder von Marie Jaëll und Charlotte Sohy, die von ihren Gatten unterstützt und mit ihnen künstlerische Partnerschaften eingingen im Gegensatz zu vielen Kolleginnen, deren Kreativität durch häusliche Verpflichtungen und gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt war. Von der Außenseiterin Rita Strohl, geboren 1865, die mit spirituell durchdrungenen Werken von sich reden machte. Und nicht zuletzt von Mel Bonis, die statt ihres Taufnamens Mélanie die neutrale Verkürzung benutzte, in der Hoffnung, bessere Chancen bei der Verbreitung ihrer Werke zu haben. Auf familiäre Hilfe konnte sie nicht bauen. Belastet durch ein uneheliches Kind und gedrängt zur Heirat mit einem verwitweten Industriellen, musste sie ihr Leben lang um künstlerische Anerkennung kämpfen. Trotzdem war ihre Produktivität beeindruckend, ihr Œuvre umfasst 300 Werke unterschiedlichster Prägung. Eine Auswahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Anthologie, die allerdings nicht chronologisch oder nach Komponistinnen angeordnet ist. Jede CD steht für ein imaginäres, programmatisch die ganze stilistische und formale Bandbreite abdeckendes Konzert: Sinfonisches trifft auf Kammermusik, Vokalkantate auf Mélodies, Solo- auf vierhändige Klaviermusik.

Ein Beispiel: Die erste Silberscheibe beginnt mit einem in raffinierten Klangfarben schillernden Tongemälde von Mel Bonis, das thematisch um mythologische Frauen kreist. Dann erklingt eine Sonate für Cello und Klavier von Henriette Renié, die auf César Franck hinweist und anschließend führt ein Bouquet mit Liedern verschiedener Komponistinnen hinein in die feminine Vokalwelt u. a. maritime Miniaturen von Hedwige Chrétiens, Salonstücke von Cecile Chaminade und überschwängliche, fast opernhafte Gesänge von Charlotte Sohy. Interpretiert werden sie vom Tenor Cyrille Dubois und dem Pianisten Tristan Raës. Dabei gelingt dem langjährig vertrauten Duo große Liedkunst: eine perfekte Balance zwischen Stimme und Instrument, verbunden mit gestalterischer und dynamischer Subtilität. Auch die anderen Mitwirkenden sind stilistisch erfahrene Spitzenkräfte: Leo Hussain und das Orchestre national du Capitole de Toulouse sind darunter, das Piano-Duo Alessandra Ammara und Roberto Prosseda, der Cellist Victor Julien-Laferrière und die Sopranistin Anaïs Constans.

Nadia und Lili Boulanger: Les heures claires (3 CDs)

harmonia mundi, HMM 902356.58; EAN: 3149020946268

Die Compositrices bieten einen Querschnitt durch die feminine französische Musikgeschichte, der dazu anregt, tiefer in die Materie einzutauchen. Damit sind wir bei den Schwestern Nadia und Lili Boulanger, die in der Anthologie mit Nadias bombastischer Kantate La Sirène und drei Violinduos von Lili vertreten sind. Zur intensiveren Beschäftigung mit ihnen laden ihre kompletten Mélodies ein, die unter dem Titel Les heures claires bei Harmonia mundi herausgekommen sind. Das Booklet der Kassette beschreibt detailliert das Leben und Wirken der beiden fast symbiotisch miteinander verbundenen Künstlerinnen. Lili, die Jüngere, galt als Ausnahmetalent, errang als erste Frau 1913 den Prix de Rome, während Nadia 1908 den zweiten Platz erhielt. Nach Lilis frühem Tod mit nur 24 Jahren entschied sich die Ältere, nicht mehr zu komponieren. Sie wandte sich dem Dirigieren und Unterrichten zu und avancierte zu einer hoch angesehenen Pädagogin, die es bis zur Leiterin des Conservatoire Américain in Fontainebleau brachte. Die drei CDs führen ein in beider vokalen Kosmos, ergänzt um einige Stücke für Geige, Cello und Klavier. Im Mittelpunkt stehen zwei Zyklen, Nadias Les heures claires, den sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen und privaten Partner Raoul Pugno kreierte, und Lilis Clairières dans le ciel. Beide greifen Strömungen ihrer Zeit auf, mal mit spätromantischem Überschwang, mal in impressionistischen Harmonien schillernd, Lili auch einmal Wagners Tristan zitierend. Viele Lieder sind melancholisch grundiert, eines sticht besonders hervor: Dans l’immense tristesse, das letzte, von Lili kurz vor ihrem Tod vollendete, erschüttert durch die Kargheit der Mittel. Interpretiert wird dieser Abschied von Lucile Richardot, die dabei ihren reichen, wandlungsfähigen Mezzo ganz zurücknimmt. Sie trägt zusammen mit der äußerst nuanciert spielenden Pianistin Anne de Fornel den Löwenanteil der Edition, in Teilen verstärkt durch Stéphane Degout und Raquel Camarinha, die er durch erlesene Klangkultur, sie durch zarte Soprangespinste Boulangers vokale Kostbarkeiten ebenso ins schönste Licht rücken.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger

Berenberg Verlag; ISBN: 978-3-949203-50-3

Näher lernt man Nadia Boulanger in dem Band Ich denke in Tönen kennen. Darin sind Gespräche zwischen ihr und dem Dokumentarfilmer Bruno Monsaingeon aufgezeichnet. Sie beinhalten biographische Skizzen, Reflexionen über ihre pädagogische Arbeit und Unterrichtsmethoden, ihre musikalischen Vorlieben sowie Erinnerungen an für sie wichtige Personen: etwa an den Lehrer Fauré, den Freund Igor Stravinsky, an Interpreten und Schüler, die sie prägte. Viele Berühmtheiten sind darunter: Aaron Copland, Leonard Bernstein, Phil Glass, um nur einen Bruchteil zu nennen. Einige von ihnen kommen auch selbst zu Wort: Leonard Bernstein oder Yehudi Menuhin zollen ihr gleichermaßen Verehrung, Respekt und Bewunderung. Mit Wärme gedenkt die manchmal streng Urteilende dem jung verstorbenen Pianisten Dinu Lipatti und vor allem Lili, die für die große Schwester zeitlebens präsent bleibt. Ihrer Meinung nach ist sie „die erste wirklich bedeutende Komponistin der Geschichte“. Ein Zeitschriftenartikel des Lyrikers Paul Valéry beendet das Buch. Er fasst zusammen, was diese „Grand Dame“ der Musik ausmachte: „Nadia dirigierte. Man hätte meinen können, sie atme das, was sie hörte, und existiere nur – und könne nur existieren in der Welt der Klänge“.

Matthias Henke: Emmy Rubensohn. Musikmäzenin/Music Patron (18841961)

Hentrich & Hentrich; ISBN: 978-3-95565-523-5

Aus dem Rahmen der Komponistinnen fällt Emmy Rubensohn. Denn die aus einer jüdischen Familie stammende, 1884 geborene Leipzigerin ist weder professionelle Tonschöpferin noch Ausführende. Und doch passt sie zu ihnen, weil auch sie für Musik brennt. Als Zuschauerin und hinter den Kulissen. Dort agiert sie als Mäzenin, Konzertmanagerin und Netzwerkerin. Und sie betreibt einen Salon Domäne des weiblichen Bürgertums , anknüpfend an historische Vorbilder wie Rahel Varnhagen. Berühmte Künstler gehen bei ihr ein und aus, davon zeugt ein Gäste- und Erinnerungsbuch, das sie seit ihrer Heirat mit dem Fabrikantin Ernst Rubensohn 1907 führt. Die Dirigenten Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler sind darunter, die Primadonna Lilli Lehmann, der Maler Oskar Kokoschka und der Komponist Ernst Krenek. Er wohnt während seiner Kasseler Zeit bei dem Ehepaar, es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gehört Emmy zu den Gründungsmitgliedern des jüdischen Kulturvereins Kassel. 1940 emigriert sie mit ihrem Mann nach Shanghai, 1947 in die USA. Hier setzt sie bis zu ihrem Tod 1961 ihr förderndes Engagement für Musik und Kunst fort, gewinnt in Alma Mahler-Werfel eine Freundin und steht den Dirigenten Dimitri Mitropoulos und Joseph Rosenstock zur Seite. 2021 wird sie in ihrer Heimatstadt mit der Ausstellung Vorhang auf für Emmy Rubensohn! Musikmäzenin aus Leipzig gewürdigt, zunächst im Gewandhaus, momentan im Grassi-Museum. Vom Musikwissenschaftler Matthias Henke kuratiert, hat der Verlag Hentrich & Hentrich den üppig ausgestatteten, zweisprachigen Katalog herausgegeben. Die informativen Texte, zahlreichen Fotos und Dokumente machen ihn zu einer kulturhistorischen Fundgrube. Ans Licht kam die bisher kaum bekannte Vita von Emmy Rubensohn nach einer Spurensuche, wie Henke seine aufwendigen Recherchen bezeichnet. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, September 2023]