Schlagwort-Archive: Rupert Huber

Erfrorenes, Aufgewärmtes und Leonardo

Beat Furrers Klavierkonzert, Herkulessaal, 8.3.2019 – © Astrid Ackermann

Nachdem Beat Furrer letztes Jahr den Ernst von Siemens Musikpreis erhalten und im Rahmen der Verleihung ein denkwürdiges Konzert dirigiert hatte, war das Publikum der musica viva diesmal besonders gespannt auf neue Stücke des in Österreich beheimateten Schweizers. Statt des in der Jahresvorschau angekündigten „Nero su nero“ brachte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 8.3.2019 unter Peter Rundel Furrers „Schnee-Szenen“ in der Konzertfassung zur Uraufführung. Erneut erklang im Herkulessaal das 11 Jahre alte Klavierkonzert mit Nicolas Hodges. Für den musikalischen Höhepunkt des Abends sorgte diesmal dann allerdings a cappella der Chor des Bayerischen Rundfunks unter Rupert Huber mit „Enigma Nr. 1-7“.

Den Komponisten Beat Furrer (*1954) als einen der führenden seiner Generation vorstellen zu müssen, erübrigt sich mittlerweile. Nicht erst durch den Ernst von Siemens Musikpreis 2018 – Furrer hatte bereits 1992 den Förderpreis der Stiftung empfangen – ist sein Schaffen umfassend gewürdigt worden. Dazu kommt noch sein unermüdliches Engagement für Neue Musik als Dirigent – etwa des von ihm gegründeten Klangforum Wien. Erst vor knapp zwei Monaten sorgte die Uraufführung seiner mittlerweile achten Oper Violetter Schnee (Libretto: Händl Klaus) an der Berliner Lindenoper für Furore. Das von einer Szene aus Tarkowskijs berühmten Film Solaris sowie Pieter Bruegels Gemälde Die Jäger im Schnee (das auch Eingang ins Berliner Bühnenbild fand) inspirierte Stück handelt von unaussprechlichen, existenziellen Veränderungen – hier des Sonnenlichts –, die die fünf Protagonisten letztlich sprachlos machen. Die Musik jedoch hat noch etwas zu sagen, und sie tut dies in faszinierender Weise:

Die Schnee-Szenen bestehen aus einem langen Orchester-Prolog, zwei (von 30), allerdings zentralen Szenen aus dem bereits fortgeschrittenen Stadium der Oper und einem Intermezzo – ob letzteres überhaupt gespielt wurde, fragten sich in der Pause viele Zuhörer. Wie es Furrer in der 17-minütigen Einleitung gelingt, kontinuierliche Veränderungen des Lichts von Dunkelheit bis zu gleißender Helligkeit akustisch zu vermitteln, ist schon sensationell. Eigentlich bauen die Klangprozesse auf einfachen Modellen auf: In den Streichern zunächst Skalen, sogar mit tonalen Schnittstellen, später Skordatura und Glissandi. Dagegen stehen unruhigere Bläsereinwürfe. Die Entwicklung des Prologs findet so konsequent statt, dass sich beim Hörer eine unglaubliche Spannung aufbaut – egal, ob die teilweise auch gegenläufigen Ereignisse schnell oder langsam ablaufen. In Unkenntnis der Partitur fragt man sich, welche faszinierenden „Tricks“ hier zur Anwendung kommen (Shepard Scale?). Jedenfalls ist schon dies eine Meisterleistung, die Peter Rundel souverän umsetzt. Leider kommen die beiden Sopranistinnen mit der Akustik des Herkulessaals in den zwei folgenden Szenen überhaupt nicht zurecht, dazu fehlt ihren Stimmen die Tragfähigkeit. Sophia Burgos (sie hatte vor zwei Jahren unter Currentzis Claude Viviers Lonely Child mit deutlicher Verstärkung gesungen) kommt noch halbwegs herüber, von Yeree Suh hört man schon in der achten Reihe so gut wie nichts. Daran hätte sich wohl auch kaum etwas geändert, wenn Rundel das Orchester hier noch mehr zurückgenommen hätte – schade!

Nicolas Hodges hat Furrers Klavierkonzert im Rahmen des musica viva Festivals 2008 schon im Herkulessaal gespielt – damals mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Brad Lubman. Das Werk ist sicherlich einer der gelungensten Gattungsbeiträge des vorigen Jahrzehnts. Erstaunlich, wie hier das Orchester als Resonanzraum des Solisten wirkt. Umgekehrt verfremdet das Soloklavier – eigentlich sind es zwei; ein Orchesterklavier ist komplex und technisch nicht weniger anspruchsvoll mit dem Solisten verzahnt, dient als Klangbrücke zum übrigen Ensemble – etwa durch stumm niedergedrückte Bässe das Spektrum einzelner Orchesterinstrumente. War bei Lubman das Konzert noch in einzelne Episoden zerfallen, gelingt dem phänomenal sicheren Hodges mit Rundel und einem bestens gelaunten Symphonieorchester des BR auch hier eine musikalische Entwicklung aus einem Guss. Das Orchesterklavier hätte allerdings streckenweise etwas lauter spielen dürfen. Der Riesenbeifall ist mehr als verdient.

Nach einer weiteren halbstündigen Umbaupause – die sind mittlerweile geradezu lächerlich, mit ein paar Studenten hätte man die Bühne sicher in 10 Minuten leerräumen können – durfte noch der Chor des Bayerischen Rundfunks a cappella mit Enigma Nr. 1-7 glänzen. Die visionären Texte von Leonardo da Vincis Profezie sind ein herrliches Beispiel für die Rätselkultur der Renaissance. Die Nummern 1-4 und 6 wurden von Beat Furrer für Jugendchöre komponiert, bewegen sich noch durchaus in einem tonal gefärbten Kontext (Zentraltöne), alles sehr schön anzuhören; Nr. 2 mit seinen über Glissandi erreichten Akkordrückungen ist etwas fad, Nr. 3 ein fast klassisch polyphoner Satz. Nummer 7 und die sehr umfangreiche Nr. 5 sind dann eindeutig für Profis, doppelchörig mit bis zu 32 Stimmen, die von Mundgeräuschen über Sprechen bis zum Singen in Extremlagen alles abverlangen, was die menschliche Stimme so hergibt. Rupert Huber leitet den Chor mit Taktstock, erreicht maximale Präzision und eine restlos überzeugende klangliche und dynamische Differenzierung. Der Chor bleibt heute Sieger nach Punkten – frenetischer Applaus zum Schluss.

[Martin Blaumeiser, März 2019]

Exotismus und Klischee

NEOS 11606; EAN: 4 260063 116063

Rupert Huber: rūḥ-i-gulāb · Mein Venedig; Chor des Bayerischen Rundfunks, Madīḥ Ensemble, Rupert Hubert (Leitung), Doris Huber (Schalenglocken)

Werke für Chor mit Instrumentalisten von Rupert Huber hören wir auf vorliegender CD aus dem Hause NEOS. Als Hauptwerk erklingt rūḥ-i-gulāb („Die Seele der Rose“), ein Modem für fünfstimmigen Chor, ägyptisches Madīḥ Ensemble und zehn Schalenglocken nach einem Gedicht von Sharaf al-Din al-Būsīrī, welches von Friedrich Rückert ins Deutsche übersetzt wurde. Es singt der Chor des Bayerischen Rundfunks zu den Instrumentalklängen vom Madīḥ Enselmble mit Doris Huber an den Schalenglocken. Das zweite zu hörende Werk heißt „Mein Venedig“ für gemischten Chor mit Schalenglocken, Okarinas und Röhren nach einem Gedicht von Rose Ausländer; der Komponist dirigiert beide Werke.

Rupert Hubers Musik dient der Wirkung, der vom Musiker aus den Hörer überspringenden Energie. Eine Aufführung soll die Partitur so getreu wie möglich wiedergeben, die intendierte und nach Möglichkeit verschriftlichte Vorstellung des Komponisten so genau wie möglich wiedergeben. Diesen Übergang von Vorstellung zu Kodifizierung zu Wahrnehmung und Wirkung beschreibt Huber mit dem technischen Begriff Modulation, nennt seine Werke entsprechend „Modems“.

Die beiden auf dieser CD vorliegenden Modems könnten genauso gut „Stimmungsbilder“ betitelt werden, denn das charakterisiert ihren Gehalt mit einem verständlichen Begriff. Es handelt sich um überwiegend statische Werke ohne besondere Kontraste, deren Gleichförmigkeit tranceartige Wirkung erzielt. Die Musik will den Hörer in einen gewissen Zustand bringen, dient mehr dem Erleben als dem tatsächlichen Hören. Dazu bedient sie sich Stilmitteln, die leicht einzuordnen sind. In rūḥ-i-gulāb sind dies Exotismen: ein Ensemble voll von arabischen Instrumenten und ein dazu passender Gesang, Schwingungen durch die Schalenglocken und nur leicht variierte rhythmische Gestalten. Die primäre Wirkung verfehlt rūḥ-i-gulāb nicht, der Hörer fühlt sich sogleich ein in eine südöstliche Welt; doch er muss in ihr verharren für über 45 Minuten. Denn es passiert nicht viel, was die Aufmerksamkeit bannen könnte oder den Wunsch, dieser Klangsphäre weiterhin beizuwohnen. Es fehlen Kontraste, neue und bereichernde Elemente, welche die Musik würzen; stattdessen erhalten wir unaufhörlich das Gleiche: regelrecht anbiedernde Exotismen, die den Musikethnologen mehr reizen würden als den Hörer, der irgendwann gesättigt ist.

„Mein Venedig“ bedient sich eines anderen Klischees, nämlich dessen der Konturlosigkeit und der Undurchdringbarkeit. Das Werk verweigert traditionelle Notationsformen, so dass die Partitur aus Textanweisungen besteht, an die sich der in drei Reihen aufgestellte und mit jeweils einem Instrument (Schalenglocken, Okarinas oder Röhren) versehene Chor zu halten hat. Eröffnet wird „Mein Venedig“ durch allmählich aufkommendes Rauschen und Flüstern: ein gerne verwendeter Effekt für zeitgenössische Komponisten, um ihre Musik einzuleiten. Doch danach? Danach passiert erneut nichts mehr, was von Belang wäre: die Musik verharrt in dieser Flüster- und Rauschwelt, ohne dass es einen großen Ausbruch oder spürbare Kontraste gäbe.

Vielleicht wirkt diese Musik ja auf denjenigen, der sie live hört, doch gebannt auf CD verblasst ihr Effekt zu nicht enden wollender Kontinuität.

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

   Bestellen bei jpc