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Eine Reise wert für dreizehn Minuten

Die Uraufführung von Michael F.P. Hubers Ĉambretosono op. 63 und Arnold Schönbergs zeitloses Meisterwerk Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 wurden am 16. Oktober 2016 neben „Niemals Real und Immer Wahr“ von Jamilia Jazylbekova und „Objet Diaphane – Kammersinfonie“ von Charlotte Seither im VIERundEINZIG in der Hallerstraße 41 Innsbruck dargeboten. Es spielte die Kapelle für Neue Musik Windkraft unter Leitung von Kasper de Roo.

Einmal wieder zieht es mich nach Österreich ins schöne Tirol, und zwar erneut zu einer Uraufführung des Tiroler Komponisten Michael F.P. Huber. Zumal die Zusammenstellung spannend ist, denn sein neues Werk, Ĉambretosono ist für exakt die gleiche Besetzung geschrieben wie Schönbergs Kammersymphonie, welche im direkten Anschluss erklingt. Doch zuvor widmet sich „Windkraft“, wie diese „Kapelle für Neue Musik“ sich nennt, unter Leitung von Kasper de Roo zwei zeitgenössischen Komponistinnen.

Das Programm beginnt mit der Kammersymphonie Objet Diaphane für 13 Instrumente von Charlotte Seither, einer prominenten Gallionsfigur der zeitgenössischen Musik, deren Name immer wieder auf großen Veranstaltungen ‚Neuer Musik’ zu lesen ist. Die Kammersymphonie war ein Auftragswerk der Berliner Philharmoniker und erhielt den ersten Preis beim Internationalen Kompositionswettbewerb Prager Frühling 1995. Das gesamte Werk zentriert sich statisch um Einzeltöne, um welche sich ohne jede innere Folgerichtigkeit durch kleine Sekunden entstehende grelle Dissonanzenreibungen kumulieren. Es gibt keinerlei Entwicklung, Melodie oder irgendetwas, das dem Ganzen Zusammenhang geben würde, wodurch der Terminus ‚Symphonie’ dem Werk an sich nicht entspricht.

Interessante akustische Effekte erklingen in Jamilia Jazylbekovas „Niemals Real und Immer Wahr“ (Jamais Réel et Toujours Vrai) von 2012. Sie vertraut auf das Arsenal der geräuschhaften Effekte inklusive Streichen auf dem Holz oder Blasen ins falsche Ende der Mundstücke. Dadurch mögen reizvolle Klänge entstehen und auch verharrt diese geräuschhafte Musik nicht leblos statisch auf einem Fleck. Jazylbekovas Werk spricht Zustände an und kursiert eindrucksvoll im Raum, bei Hinzunahme von einigen musikalisch verbindenden Elementen wie Melodie oder prägnanter Rhythmik wäre es sogar möglich, das Geschehen auf zusammenhängend mitvollziehbare Bahnen lenken zu können.

Es folgt die Uraufführung Michael F. P. Hubers, und die Zuhörer horchen plötzlich erstaunt auf. Dieses Werk sticht in seiner Musikalität und auch dem profunden Können turmhoch hervor, hier herrscht eine vielgestaltige und feingliedrige motivische Arbeit, die Musik ist von nachvollziehbarem Fluss, alles erscheint in sinnfälliger Abfolge. Auf einen hektisch-wilden Kopfsatz von höchster Schwierigkeit für alle Musiker (denen besonders hier großer Respekt zu zollen ist!) folgt ein ruhig dahingleitendes Andante, doch auch dieses hat einige Überraschungen parat und tänzelt zwischenzeitlich verspielt („Giocoso“), bevor es wieder in die Ruhe zurückgleitet. Der dritte Satz ist ein mitreißender Tanz, dessen Walzerrhythmus immer wieder gewollt ins Stolpern gerät, voll rhythmischer Vitalität und herrlicher Einfälle. Es macht wirklich Freude, dieses dreizehnminütige Werk zu hören, es ist für Kenner gleichsam wie für Liebhaber von überwältigendem Reiz und alleine schon die Reise wert.

Schade, dass man dies nicht über den ganzen Abends sagen kann. Gewiss, Schönbergs Kammersymphonie ist ein großartiges Werk der Pionierzeit der freien Tonalität, doch verlangt es von den Musikern und vor allem vom Dirigenten vieles – darunter auch vieles, was an diesem Abend nicht wirklich vorhanden ist. Kasper de Roo inspiriert nicht, er hält taktierend zusammen und zählt, wobei jedoch die musikalischer Arbeit nicht vollkommen ausreicht – was vermutlich hauptsächlich den zu kurz bemessenen Probenzeiten geschuldet ist. Folglich kann es nicht verwundern, dass auch diese groß dimensionierte Kammersymphonie auseinanderfällt, der Hörer geht verloren in den aneinandergereihten Klangtürmungen, die weder von der Dynamik noch von der Phrasierung her genügend erschlossen wurden. Kasper de Roo verbirgt sich hinter überhetzten Tempi (die Kammersymphonie dauert unter ihm lediglich 22 Minuten!), ein gemäßigteres Tempo würde eine substanziellere musikalische Aussage verlangen, als hier vorliegt, um nicht „langweilig“ zu wirken. Die Musiker beherrschen allesamt ihre Instrumente und können dies auch demonstrieren, wären sicherlich auch zu noch mehr fähig, doch bei der anscheinend an diesem Abend indispositionierten Leitung leidet auch die potentielle Qualität der Instrumentalisten. In den zeitgenössischen Kompositionen sind die Musiker zu Hause und blühen auf, bei Schönberg fällt hingegen der überakustische Raum ins Gewicht, der die Töne knallen lässt und einiges an hineingegebener Geschmeidigkeit raubt.

Ob ich es nun bereue, angesichts der genannten Kritikpunkte bis nach Innsbruck gefahren zu sein? Definitiv nicht, denn alleine dreizehn faszinierende Minuten Musik können fesseln und den Abend zum Erlebnis avancieren lassen.

 [Oliver Fraenzke, Oktober 2016]