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Richard-Wetz-Aufführungen auf dem Linzer Brucknerfest

Chouchane Siranossian auf einem Transparent am Linzer Taubenmarkt, das das Konzert vom 1. Oktober ankündigte.

Über das Programm des diesjährigen Linzer Brucknerfestes kann man sich nur in Tönen höchsten Lobes äußern. Unter dem Motto „Visionen – Bruckner und die Moderne“ haben es sich die Veranstalter zum Ziel gesetzt, Anton Bruckners Ausstrahlung auf die Musik des 20. Jahrhunderts hörbar zu machen. Man beschränkte sich dabei keineswegs auf häufig zu hörende Werke, sondern präsentierte dem Publikum eine große Zahl wertvoller Kompositionen, denen lange Zeit eine ihrer Qualität entsprechende Rezeption versagt geblieben ist. Darin muss man den Hauptverdienst des Festes erblicken. Es ist zu hoffen, dass auch andere Musikfeste sich vom Entdeckerspürsinn der Linzer anstecken lassen und uns ähnlich klug gestaltete Programme bieten, anhand derer so recht die Vielfalt musikgeschichtlicher Entwicklungen deutlich wird. Schwerpunkte ließen sich im Veranstaltungsplan des Brucknerfestes vor allem in Hinblick auf das Schaffen dreier um 1880 geborener Komponisten erkennen: Heinrich Kaminski, Richard Wetz und Franz Schmidt. Der Verfasser dieser Zeilen hat zwei Konzerte besucht, in denen Werke von Richard Wetz aufgeführt wurden: Am 30. September erklang im Mariendom neben Bruckners 150. Psalm und Arvo Pärts Cantus in memoriam Benjamin Britten das Requiem op. 50, am 1. Oktober im Brucknerhaus neben Gottfried von Einems Bruckner Dialog op. 39 und Bruckners Erster Symphonie (in der Fassung von 1890) das Violinkonzert h-Moll op. 57. Beide Male spielte die PKF – Prague Philharmonia unter Leitung von Eugene Tzigane. Das Chorkonzert wurde vom Prager Philharmonischen Chor (Einstudierung: Lukáš Vasilek) und den Solisten Claudia Barainsky (Sopran) und Nikolay Borchev (Bariton) bestritten, Violinsolistin im Orchesterkonzert war Chouchane Siranossian.

Es hätte Wetz gewiss gefreut, seine Werke in diesem Rahmen gespielt zu wissen, fühlte er sich doch dem Schaffen Bruckners aufs Engste verbunden, seit er die Musik des österreichischen Meisters zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sich entdeckt hatte. Der gebürtige Schlesier, der seit 1906 als Dirigent und Pädagoge in Erfurt lebte, leitete mehrere Erstaufführungen Brucknerscher Kompositionen in Mitteldeutschland. Die Erfurter Aufführung der f-Moll-Messe im Jahr 1907 war überhaupt erst die dritte auf dem Gebiet des Deutschen Reiches. 1922 trat er mit einer kurzen Monographie über Bruckner hervor, die im Reclam-Verlag herauskam, gehört also auch als Musikschriftsteller zu den Bruckner-Pionieren. Im Sommer 1930 unternahm er eine Fußwanderung durch den Bayerischen Wald nach Passau, fuhr mit dem Schiff nach Linz und erfüllte sich anschließend den lang gehegten Wunsch, Bruckners Grabstätte in St. Florian zu besuchen. Ob ihn jedoch die Aufführungen seiner Werke, wie man sie nun auf dem Linzer Brucknerfest hören konnte, zufriedengestellt hätten, wage ich zu bezweifeln.

Ich möchte über Eugene Tzigane nichts Schlechtes sagen, denn dieser Dirigent hält wirklich Ausschau nach hochwertigen Stücken, die die Konzertprogramme bereichern können, und führt sie in klugen Zusammenstellungen auf. So dirigierte er im Juni dieses Jahres in Weimar das Festkonzert anlässlich des 150. Geburtstags der Hochschule für Musik Franz Liszt, in welchem neben der Champagner-Ouvertüre Waldemar von Baußnerns das prächtige Klavierkonzert Hans Bronsart von Schellendorfs, Franz Liszts zu selten zu hörender Orpheus, sowie Werke zweier zeitgenössischer Thüringer Komponisten, des vor wenigen Jahren gestorbenen Karl Dietrich und Wolf Günther Leidel, zur Aufführung kamen. (Dass auf diesen Seiten damals nicht darüber berichtet wurde, liegt einzig daran, dass ich am Tage des Konzerts aufgrund anderer Verpflichtungen nicht in Weimar sein konnte.) Also, ich halte fest: Tzigane ist von edlen Absichten geleitet, die man nur befürworten kann. Die Frage ist: Halten seine Aufführungen, was die Absichten versprechen? Leider waren die Linzer Konzerte nicht dazu angetan, diese Frage bejahend zu beantworten.

Das Kirchenkonzert litt vor allem unter den sehr ungünstigen akustischen Bedingungen des Mariendoms. Bei dem eröffnenden Psalm Bruckners las ich in der Partitur mit und konnte zahlreiche Noten sehen, ohne die zugehörigen Töne zu hören. Was mein Ohr erreichte, war eine verwaschene Skizze des Werkes. Der Klang löste sich in der Kirchenhalle auf wie eine Brausetablette im Wasserglas. Dasselbe galt für das Wetz-Requiem. Die Größe und Schönheit beider Werke konnte man nur an jenen Stellen ahnen, an welchen der Chor in langen Notenwerten homophon a cappella sang, oder sonstwie das kontrapunktische und orchestrale Geschehen dermaßen reduziert war, dass die Stimmen nicht ineinander verschwammen und einander gegenseitig ausschalteten. Kann man den Dirigenten dafür verantwortlich machen? Ich glaube, dass auch viele andere Kapellmeister an diesen akustischen Bedingungen gescheitert wären. Vielleicht hätten die Veranstalter gut daran getan, den Raum mit hölzernen Schallwänden auszukleiden? Allerdings schien Tzigane auch kaum Rücksicht auf den langen Nachhall im Dom zu nehmen. Der Brucknersche Psalm wurde strikt in einem so hohen Tempo durchdirigiert, dass die Feinheiten der Partitur auch unter besseren Bedingungen kaum zur Geltung gekommen wären. Der erste dissonante Höhepunkt von Wetzens Dies Irae warf noch sein Echo durch den Raum, als der Chor schon die leise Fortsetzung anstimmte, welche dadurch im Nachhall unterging. Einzig Pärts Cantus in memoriam Benjamin Britten gelangte in diesem Konzert zu einer gelungenen Darbietung. Das nur für Streicher und eine gelegentlich schlagende Glocke geschriebene Stück erwies sich als unverwüstlich, ja die Domakustik schien die gewünschte meditative Wirkung der Pärtschen Prolationskanons noch zu unterstützen.

Eigentlich bot nur das Orchesterkonzert am folgenden Tage die Möglichkeit, Eugene Tziganes Leistung als Dirigent einzuschätzen. Allerdings war auch hier der Gesamteindruck nicht sehr erfreulich. Zu Beginn hörte man Gottfried von Einems Bruckner Dialog, einen viertelstündigen symphonischen Satz, dem der Komponist das Choralthema aus dem unvollendeten Finalsatz der Neunten Symphonie Bruckners zugrunde gelegt hat. Es erklingt teils so, wie Bruckner es niedergeschrieben hat, teils in abgeleiteter Form, im Wechsel mit eigenen Gedanken Einems, sodass man tatsächlich meint, einem Gespräch zweier sehr unterschiedlicher Komponistenpersönlichkeiten beizuwohnen. Leider hat Tzigane es nicht vermocht, die Charaktere angemessen herauszuarbeiten. Weder das ungemein kapriziöse Wesen Einems, der nie um einen humorvollen Hakenschlag verlegen ist, noch die majestätische Schlichtheit des Brucknerschen Chorals kamen zur Geltung. Alles wurde bewältigt, als wären die Ausführenden in Eile gewesen.

Wie im Kirchenkonzert der Pärtsche Cantus, so stach auch hier die mittlere Nummer heraus, was vor allem dem Umstand zu verdanken ist, dass Chouchane Siranossian als Solistin für das Wetzsche Violinkonzert gewonnen werden konnte. Dieses Werk lässt sich als symphonische Rhapsodie charakterisieren. In seinem halbstündigen Verlauf werden wenige kurze Motive gleichsam improvisierend einem beständigen Verwandlungsprozess unterzogen, wobei aber alle Abschnitte des Stückes so geschickt aufeinander bezogen sind, dass sich ein fest zusammenhängendes Ganzes ergibt. Es ist eine über weite Strecken lyrische, oft sehr zarte Musik, die sich zwar durchaus zu glanzvollen Höhepunkten steigern kann, sich anschließend aber regelmäßig ins Halbdunkel zurückzieht. Chouchane Siranossian fand den richtigen gesanglichen Ton für dieses Stück und erfüllte ihre Stimme bis in die Verzierungen hinein mit Leben. Nie drängte sie sich über Gebühr in den Vordergrund, sondern ließ auch den Orchesterinstrumenten, gerade in den sparsam instrumentierten Passagen, Raum zur Entfaltung, und wirkte so wie die Hauptschlagader eines klingenden Organismus. Dieses introvertierte Stück war bei ihr in sehr guten Händen!

Die Erste Symphonie Bruckners beschloss das Konzert. Leider konnte man Tziganes Darbietung keine der Qualitäten nachrühmen, die Rémy Ballots Aufführung (ebenfalls Fassung 1890) vor gut einem Monat im nahen St. Florian auszeichneten. Die Tempi waren recht zügig und wurden stur durchgehalten. Statt auf Detailarbeit wurde auf grobe Effekte gesetzt, namentlich in den Blechbläsern. Man konnte den Dirigenten zwar auf unterschiedliche Weise gestikulieren sehen, doch hatten diese Gesten keinen hörbaren Einfluss auf den Klang. Die Violinen beispielsweise spielten nicht geschmeidiger, obwohl sie mehrfach geradezu gestreichelt wurden. Eher wirkte es, als werde der Dirigent vom Orchester mitgerissen als umgekehrt. Daran, dass man viele der einkomponierten Verflechtungen der ersten und zweiten Violinen nicht hörte, hatte auch die Aufstellung der Streicher mit beiden Violingruppen auf der (vom Dirigenten gesehen) linken Seite ihren Anteil. Auch hätten die langen Haltetöne der Bässe, die gegen Ende von Wetzens Violinkonzert die Solokadenz grundieren, den Raum besser gefüllt, wären sie von hinten statt von der Seite gekommen.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]