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Raffs Samson in Weimar uraufgeführt

Joachim Raffs 1857 vollendete Oper Samson wurde am 11. September 2022 unter Leitung Dominik Beykirchs in der Inszenierung Calixto Bietos im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt.

Joachim Raff, mit seinen Klavier-, Kammermusik- und Orchesterwerken einer der meistgespielten Komponisten des 19. Jahrhunderts, hatte mit seinen Opern deutlich weniger Glück. Nur zwei der insgesamt sechs Werke dieser Gattung, König Alfred (UA 1851) und Dame Kobold (UA 1870), gelangten zu seinen Lebzeiten auf die Bühne, und nur Dame Kobold erwies sich als so erfolgreich, dass sie gedruckt wurde (ihre Ouvertüre wird heutzutage im Rundfunk gern gesendet). Die übrigen Opern Raffs mussten dagegen lange warten, bis sie erstmals zum Erklingen gebracht wurden. Die Parole (1868) wartet bis heute. Benedetto Marcello (1878), deren Hauptfigur der bekannte Barockkomponist ist, war 2002 auf den Herbstlichen Musiktagen in Bad Urach konzertant zu hören, wurde aber bislang nicht inszeniert. Raffs letzte Oper, Die Eifersüchtigen, die er in seinem Todesjahr 1882 schrieb, wurde vor wenigen Tagen, am 3. September 2022, im Theater Arth (Schweiz, Kanton Zug) erstmals gespielt. Den äußeren Anlass bot das 200-Jahr-Jubiläum des Komponisten, der 1822 in Lachen am Zürichsee geboren wurde. Ebenfalls aus diesem Grunde folgte nun, am 11. September, im Deutschen Nationaltheater Weimar die Uraufführung des biblischen Musikdramas Samson – und man fragt sich: „Warum erst jetzt?“

Die Geschichte des Samson zeigt einmal mehr, wie sehr das Schicksal einer Oper von Zufällen abhängen kann, und dass eine Häufung ungünstiger Ereignisse im Stande sein kann, ein Stück, das eigentlich alles hat, um auf der Bühne erfolgreich zu sein, gar nicht erst auf dieselbe kommen zu lassen. Raff begann im Jahr 1851 mit den Arbeiten an der Oper – zu einer Zeit, als er in Weimar für Franz Liszt als eine Art musikalischer Assistent tätig war und dort dessen Einsatz für die Werke Richard Wagners aus nächster Nähe miterleben konnte. Wie Wagner schrieb er sich das Libretto selbst, und vertiefte sich dazu so intensiv in die alttestamentarische Geschichte von Samson und Delilah, dass er kurzzeitig sogar daran dachte, an der Jenaer Universität über den Stoff zu promovieren. Die musikalische Ausarbeitung beendete er erst 1857 nach seiner Übersiedelung nach Wiesbaden. Gerade als er mit Franz Liszt in Verhandlungen über eine Uraufführung des Werkes in Weimar getreten war, ereignete sich dort der Skandal um Peter Cornelius‘ Barbier von Bagdad, in dessen Folge Liszt sich mit dem Hoftheater zerstritt und sein Kapellmeisteramt niederlegte. Geplante Aufführungen in Wiesbaden und Darmstadt zerschlugen sich wegen Besetzungsschwierigkeiten. Später begeisterte sich der berühmte Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Wagners erster Tristan, für das Werk, doch starb er 1865 völlig überraschend, bevor er irgendwo eine Inszenierung hatte erreichen können. Spätestens nachdem 1877 Camille Saint-Saëns mit Samson et Dalila den gleichen Stoff erfolgreich auf die Bühne gebracht hatte, resignierte Raff – längst als Instrumentalkomponist berühmt geworden – und überließ es der Nachwelt, sich um seinen Samson zu kümmern.

Nun, da man erstmals die Gelegenheit hatte, Raffs Oper zu hören, kann man getrost sagen, dass die Zeitgenossen des Komponisten ein bedeutendes Werk verpasst haben. Bereits die Art und Weise, wie Raff den Bibelstoff dichterisch bearbeitet, zeugt vom dramatischen Talent des Autors. Die Figur der Delilah formt er gänzlich um und gewinnt dadurch Personenkonstellationen, die die Vorlage nicht hergibt. Erscheint Delilah in der Bibel als kühl berechnende und bestechliche Frau, die Samson mit voller Absicht ins Verderben lockt, so liebt sie ihn in Raffs Drama genauso wie er sie. Dadurch verschwindet die Tendenz der Vorlage: Man erlebt den Konflikt der Israeliten und Philister als neutraler Beobachter und wird nicht vom Dichterkomponisten dazu verleitet, sich auf eine Seite zu schlagen. Auch musikalisch ergreift Raff nicht Partei. Das Fest der Philister im letzten Akt hätte gewiss die Möglichkeit geboten, es als eine Art schwarze Messe zu vertonen. Die Musik ist aber schlicht festlich und fröhlich. Raff hatte kein Interesse daran, die Philister pauschal als Bösewichte zu zeichnen. Die Gewichtung liegt nicht auf den politischen, sondern auf den persönlichen Konstellationen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Liebe zweier Menschen aus einander feindlich gesinnten Lagern – ähnlich Romeo und Julia. Samson ist, wie in der Bibel, ein bärenstarker Krieger und besiegt im ersten Akt die Philister mit Leichtigkeit. Allerdings verzichtet Raff nahezu gänzlich auf einen in der Vorlage eminent wichtigen Teil der Handlung: Wir erleben nicht, dass Delilah Samson nach den Quellen seiner Kraft ausfragt, auch fehlt dem Werk eine Szene, in der ihm die Haare (seine Energiequelle) geschnitten werden. Samson selbst ist es, der sich aus Liebe zu Delilah die Haare schneidet (was zwischen zweitem und dritten Akt passiert sein muss). Delilah hilft ihren Landsleuten nur dabei Samson gefangen zu nehmen, weil sie fürchtet, er, der sich nach seinem Sieg freiwillig am Hof der zum Frieden gezwungenen Philister aufhält, könne sie wieder verlassen. Von der Absicht ihn zu blenden, ahnt sie nichts. Da Delilah bei Raff die Tochter des Philisterkönigs Abimelech ist, ergibt sich die Möglichkeit, auch diesen als differenzierten Charakter zu gestalten: In seinem großen Monolog im zweiten Akt schwankt er, ob er sich gegen Samson verschwören, oder ihn aus Rücksicht auf das Liebesglück seiner Tochter verschonen soll. Erst der energische Einspruch seiner Heerführer und des Oberpriesters bewegt ihn dazu, Samsons Gefangennahme zu betreiben. Auch am Schluss ändert Raff die Vorlage entscheidend: Delilah verkleidet sich als israelitischer Knabe, um Samson auf dem Dagonsfest zwischen die Säulen des Tempels führen zu können. Als er den Tempel zum Einsturz bringt, stirbt sie mit ihm – auch ein Liebestod…

Dem spannungsvoll angelegten Libretto entspricht eine meisterliche musikalische Gestaltung. Jeder der fünf Akte ist pausenlos durchkomponiert und bildet eine zusammenhängende Großform, was teils durch wiederkehrende Motive unterstrichen wird. Unbestreitbar ist diese Konzeption auf Wagners Einfluss zurückzuführen. Es wäre aber eine grobe Vereinfachung, würde man Raff deswegen als einen Nachahmer Wagners bezeichnen. Verglichen mit Wagner wirken seine Melodien schlichter. Im Orchesterklang bevorzugt er hellere Farben. In der Harmonik hat er keine Angst vor kühnen Fortschreitungen, bewegt sich überhaupt auf der Höhe des im mittleren 19. Jahrhundert Erreichten, aber eigentlich „wagnerisch“ wirkt seine Handhabung der Chromatik nicht. Man tut, anstatt ihn vorschnell mit einem Etikett zu versehen, gut daran, ihn als einen durchaus eigenen Kopf zu betrachten, der die Entwicklungen seiner Zeit wachen Sinnes verfolgt, kritisch sichtet und sich davon dienstbar macht, was der Umsetzung seiner künstlerischen Pläne nützt. Im Samson muss man nicht nur die Geschlossenheit der einzelnen Akte loben, sondern auch die Steigerung zum Schluss hin. Der letzte Akt ist zugleich der musikalisch hervorragendste. Raff hat hier, in Anlehnung an die französische Große Oper, die Tempelszene als umfangreiche Ballettnummer gestaltet und mit einer Suite delikat instrumentierter, teils anmutiger, teils schwungvoller Tänze versehen, die geschickt zum katastrophalen, im wahrsten Sinne des Wortes bestürzenden Finale hinführen.

Was die musikalische Umsetzung betrifft, so können die Kräfte des Weimarer Nationaltheaters stolz auf sich sein. Die Staatskapelle Weimar unter der Leitung Dominik Beykirchs zeigte sich hochmotiviert. Besonderes Lob verdienen die während der zeremoniellen Szenen auf der Bühne spielenden Blechbläser. Emma Moore, eine sehr wandlungsfähige Sopranistin, gestaltete Delilah angemessen vielschichtig und brachte mit gleichem Geschick die zarte wie die energische Seite ihrer Figur zum Ausdruck. Uwe Schenker-Primus überzeugte als zwischen Zaudern und Handeln hin- und hergerissener Philisterkönig, ebenso Avtandil Kaspeli als mit dämonischer Energie die Handlung vorantreibender Oberpriester. Mit Peter Sonn stand für die Titelrolle ein seine Kräfte klug disponierender Tenor zur Verfügung.

Aus den Briefen, die Raff an Liszt schrieb, während er mit ihm über eine Aufführung des Samson in Weimar verhandelte, wissen wir, dass er großen Wert auf eine genaue Umsetzung seiner Vorstellungen legte. Mit Recht, denn wer sich die Mühe macht, ein psychologisch vielschichtiges Werk zu dichten und es mit dem ihm zur Verfügung stehenden großen kompositorischen Können in Musik zu setzen, der darf wohl erwarten, dass man sich zumindest bei der Uraufführung an seine Vorgaben hält. Was hätte dagegen gesprochen, dies auch 2022 zu tun? Besser als mit der Inszenierung Calixto Bieitos wäre das Theater auf jeden Fall damit gefahren. Bieito hat Raffs Werk im Grunde nur genutzt, um eine Reihe infantiler Einfälle auf die Bühne zu bringen, die sich überdies schnell abnutzen. Während in der ersten Hälfte ein Konzept noch insofern erkennbar war, als dass der Regisseur die in den Dialogen unterschwellig präsenten Machtfragen zwischen den Figuren durch gegenseitiges Prügeln und Schubsen zum Ausdruck brachte, gelegentlich auch durch Andeutungen sexueller Handlungen (die kein bisschen provokant, eher routiniert, ja beinahe prüde wirkten), so war die zweite Hälfte nach der Pause nur noch albern und ärgerlich. Wenn man am Haus kein Ballett hat, so kann man doch eine Tanzszene immer noch durch der Musik angemessene Bewegungen der Mitwirkenden sinnvoll umsetzen. Stattdessen geriet die Szene im Tempel Dagons in Bieitos Inszenierung zu einer armseligen Regietheater-Karikatur. Es wurde ein Basketball hin und her geworfen, dann setzte sich der Chor auf den Boden und fing an, lachend Plüschtiere in die Luft zu werfen. Schließlich torkelten alle Beteiligten wie besoffen im Kreis über die Bühne und schlenkerten sinnlos mit den Armen herum. Statt den Schwung der Tempeltänze zu einer interessanten Choreographie zu nutzen, wurde die Musik hier mit allen Mitteln gestört. Auch die Wirkung des Schlussakkordes wurde in Mitleidenschaft gezogen: Eigentlich war der Tempel schon eingestürzt, doch sah man Samson noch nach Verklingen der Musik am Boden kauern und sich schluchzend in Hände und Arme beißen. Was soll dieser Unsinn? Man kann dem Werk, das fraglos zum Bedeutendsten gehört, was Raff geschrieben hat, und unter den Werken der deutschen Zeitgenossen Richard Wagners einen hohen Rang beanspruchen darf, nur wünschen, dass es einmal in einer guten Inszenierung über eine Bühne geht!

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

Lieder von Wetz und Ansorge zu neuem Leben erweckt

Die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar feiert 2022 ihr 150-jähriges Bestehen und veranstaltet anlässlich dieses Jubiläums mehrere Konzerte. Am 21. Juni fand im Saal Am Palais ein Solo- und Liederabend statt, in welchem Studierende der Fächer Klavier und Gesang Proben ihres Könnens lieferten. Zur Aufführung gelangten Klavierwerke von Franz Liszt, Lieder von Richard Wetz und Conrad Ansorge, sowie Vokalquartette von Johannes Brahms.

Über den ersten Teil des Konzerts, der ganz der Klaviermusik Liszts gewidmet war, fasse ich mich kurz. Von den drei Ausführenden dieses Programmabschnitts hinterließ nur Can Çakmur, der die Ballade h-Moll und zwei der späten Valses oubliées spielte, einen stärkeren Eindruck. Çakmur verfügt über eine brillante Geläufigkeit, die ihn auch rascheste Läufe scheinbar mühelos meistern lässt, und ein breites Spektrum hinsichtlich des Anschlags und der Dynamik. Seine Fähigkeit zu sehr leisem, dennoch deutlichem Spiel zeigte sich namentlich am Schluss der Valse oubliée Nr. 4. Im Mittelteil der Valse oubliée Nr. 1 fielen maniriert wirkende Verzögerungen auf. Trotz seinem offensichtlichen Talent gelang es Çakmur nicht, die Ballade h-Moll als ein zusammenhängendes Ganzes darzustellen. Die zahlreichen Motivwiederholungen und Sequenzen hätten einen weniger gleichförmigen Vortrag, stärkere Differenzierung im Kleinen und einen längeren „Atem“ in der Phasierung vertragen. Die Abfolge der einzelnen Abschnitte wirkte wenig motiviert.

Interessanter war die zweite Konzerthälfte. Ich möchte zunächst auf den Schluss zu sprechen kommen. Der Abend ging mit zwei auf Schiller-Texte komponierten Vokalquartetten von Johannes Brahms zu Ende: Der Abend op. 64/2 und Nänie op. 82 (letztere bekanntlich für Chor und Orchester komponiert). Von Megumi Hata am Klavier begleitet, sagen Evelina Liubonko (Sopran), Kateřina Špaňárová (Alt), Taiki Miyashita (Tenor) und Christoph Kurzweil (Baß). Die Aufführungen verdeutlichten vor allem, dass es zum Quartettgesang nicht genügt, einfach nur vier gute Stimmen zusammenzubringen. Evelina Liubonko kann man sich wunderbar auf einer Opernbühne vorstellen. Hier aber wirkte sie fehlbesetzt, denn sie sang nicht wie die Oberstimme eines Quartetts, sondern wie eine Solistin, indem sie sich nicht nur durch die Lautstärke, sondern auch durch häufiges Vibrato von den übrigen Stimmen abhob.

Zuvor standen die Sopranistin Emma Moore und die Pianistin Teodora Oprișor im Mittelpunkt, die jeweils vier Lieder von Richard Wetz und Conrad Ansorge vortrugen. Teodora Oprișor hat bereits im vorigen Jahr ihr Liedgestalterexamen mit Werken dieser beiden Komponisten bestritten, und man kann sie in der Entscheidung, sich für sie einzusetzen, nur bestärken. Dank mehreren in den letzten drei Jahrzehnten herausgekommenen CD-Veröffentlichungen weiß man inzwischen wieder, dass Richard Wetz (1916–1935 Kompositionsprofessor in Weimar) ein herausragender Symphoniker und Oratorienkomponist gewesen ist. Für sein gut 100 Titel umfassendes Liedschaffen ist dagegen noch Pionierarbeit zu leisten (wozu als Grundlage die bei Musikproduktion Höflich/Beyond the Waves erschienene Gesamtausgabe empfohlen sei). Conrad Ansorge, einer der letzten Schüler Liszts, ist als Komponist nie zu einem solchem Ruhm gelangt, wie er ihn als Pianist genießen konnte. Dass allerdings seine Kompositionen nach seinem Tod weitgehend unbeachtet blieben, und auch die Tonträgerproduktion bislang wenig Notiz von ihnen genommen hat, kann man, den Kostproben nach zu urteilen, die Moore und Oprișor ihrem Publikum boten, nur als schwerwiegendes Versäumnis bezeichnen. Ansorge und Wetz waren introvertierte Künstler, die ihre entscheidende Prägung zwar im späten 19. Jahrhundert erfuhren – das heißt: als Gesangskomponisten unter dem Einfluss der arios-deklamatorischen Singstimmenbehandlung Richard Wagners –, aber in ihrer Musik eine Gegenwelt zu den blendenden Effekten und der überbordenden Ornamentik mancher ihrer Zeitgenossen schufen. Wetz kleidet seine Gesänge dabei bevorzugt in ein feierliches Halbdunkel, während Ansorge schimmernde Gebilde von zerbrechlicher Zartheit erschafft. Emma Moore war den Stücken eine gewissenhafte und textdeutliche Interpretin, deren kraftvolle Stimme jedoch in der Akustik des relativ schmalen und hohen Saales oft etwas überstark wirkte. In Teodora Oprișor stand ihr eine Begleiterin zur Seite, die sie nie übertönte, aber immer präsent blieb. Die Pianistin hat sich die Werke so zu eigen gemacht, dass sie ihren Part bis in die letzten Winkel mit Leben erfüllen konnte. Den Höhepunkt an Subtilität erreichte sie in Ansorges Richard-Dehmel-Vertonung Dann op. 10/7, deren leise nachschlagende Synkopen sie zu unheimlicher Spannung steigerte. Wahrlich, es ist eine Freude, diese Musik in so kompetenten Händen zu wissen!

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Im Rausch

Decurio, DEC-005; EAN: 4 270000 083532

Auf ihrem Album mit dem Tite Volupté bündeln die Sopranistin Emma Moore und die Pianistin Klara Hornig Liederzyklen von Debussy, Kraus und Ullmann. Sie beginnen mit den vergleichsweise selten zu hörenden Cinq Poèmes de Charles Baudelaire von Debussy in ihrer für den Tonsetzer ungewohnt romantisch-wuchtigen Ausgestaltung. Im Zentrum stehen die Acht Gesänge nach Gedichten von Rainer Maria Rilke des eher als Dirigent bekannten Clemens Krauss. Ergänzt wird das Programm durch Viktor Ullmanns Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26.

Sinnlichkeit der Texte und der Musik, das bildet den Mittelpunkt des Albums Volupté von Emma Moore und Klara Hornig. Der nicht wörtlich ins Deutsche übersetzbare Titel steht dabei nach Aussagen der Künstlerinnen für das Schwelgerische, den Ausbruch aus den Konventionen und das Eintauchen in rauschhaft-weltfremde Zustände.

Als Auslöser für die Aufnahme fungierte ein Liedzyklus von Clemens Krauss bestehend aus acht Rilke-Vertonungen, der die Künstlerinnen seit Jahren in den Bann zieht und dem sie einen prominenteren Platz im Liedrepertoire wünschen. Die Musik von Krauss wird beeinflusst durch seine künstlerische wie private Nähe zu Richard Strauss, von dem er einige Werke uraufgeführt hat und sogar am Libretto der Oper Capriccio beteiligt war. Gerade harmonisch lässt sich die Nähe erkennen, wobei Krauss dem Höreindruck nach mehr den tonalen Zentren verbunden bleibt und unmittelbare Ausbrüche daraus ausschließlich in Ausdeutung des Textes unternimmt. Zumindest lässt Krauss seine Modulationen leichter verfolgen, als Strauss es meist tat – so behaupten sie Eigenständigkeit, die man ihnen nicht absprechen sollte. Die Acht Lieder muten im Klaviersatz äußerst orchestral an und bieten den Interpret*innen Herausforderungen nicht bezüglich des Mechanischen, sondern des Gestalterischen. In ihrer Wirkung erweisen sie sich jedoch als äußerst dankbar, da man den Text und die musikalischen Kommentare auf diesen gut verfolgen kann und sich so die Worte in den Tönen vornehmlich entfalten.

Die Cinq Poèmes de Charles Baudelaire erscheinen fast untypisch für Claude Debussy, so getragen voll und wuchtig behandelt er das Klavier. Trotz der typisch französischen Akkorderweiterungen schwingt ein wenig die deutsche Spätromantik mit, zumindest angesichts der ausladenden Gesten und des süffig schwelgenden Pathos. Allein die Länge des ersten Liedes erstaunt: Knappe neun Minuten misst es. Unabhängig dessen untermauern sie Debussys feines Gespür für die Texte und deren Bildlichkeit, die er bedingungslos in Töne verwandelt und es einmal mehr schafft, auch andere Sinne als das Hören allein durch die Imagination zu aktivieren.

Musikalisch am radikalsten begehren die Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26 auf, die gerade auch das sehnende, verlangende Element des Liebens thematisieren und greifbar mitfühlend ausdrücken. Ullmann setzt auf Kürze und Prägnanz, reduziert auf entscheidende Motive, statt die Linie frei dem Text nach umzusetzen, woraus eine extreme Geschlossenheit und Dichte resultiert. Er kreiert hoch expressive Mikrokosmen, die unter steter Hochspannung stehen. Ihm gelang wie nur wenigen anderen im Umkreis Schönbergs ein solch unverwechselbarer Personalstil.

Die vorliegende Aufnahme durch Emma Moore und Klara Hornig präsentiert eine innige, wohldurchdachte und doch emotionale Deutung der drei Liedzyklen. Die beiden Musikerinnen setzen auf Wärme und weichen Klang, auf Expressivität ohne Zwang. Klara Hornig denkt gerade Debussy und Krauss orchestral, was bei Letzterem an die Grenzen der klanglichen Möglichkeiten des Klaviers stößt. Ullmann erscheint bei ihr wieder pianistischer, dabei stets abgründig. Hornig kultiviert einen samtenen Anschlag frei von Härte und schlagenden Bewegungen, sie entwickelt eine ausgewogene Dynamik mit reicher Abstufung. Bei Emma Moore sticht besonders ihre klare Aussprache hervor, die jeden Konsonanten erklingen lässt, ohne ihn überzubetonen, was einerseits dem Textverständnis zugutekommt, andererseits aber auch einen angenehmen Ambitus an Konturen hervorbringt. Bis in die hohen Lagen brilliert sie durch einladend warmes Timbre. Unverkennbar bleibt die langjährige Zusammenarbeit der beiden Musikerinnen, die im gleichen Atem agieren und ihr Drängen und Innehalten perfekt abstimmen.

[Oliver Fraenzke, März 2022]