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Sir Simon Rattles „Wozzeck“ in der Isarphilharmonie

Mit drei konzertanten Aufführungen von Alban Bergs bahnbrechendem Opernklassiker „Wozzeck“ in der Münchner Isarphilharmonie HP8 startete Sir Simon Rattle seine neue Saison mit dem Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks. Zudem hatte man den Kinderchor der Bayerischen Staatsoper eingeladen und konnte mit hochkarätigen Solisten aufwarten, allen voran Malin Byström als Marie und Christian Gerhaher in der Titelrolle. Unser Rezensent besuchte das Konzert am 3. Oktober 2025.

BRSO, Christian Gerhaher, Sir Simon Rattle, Malin Byström (Aufführung vom 2. 10. 2025) / © BR-Astrid Ackermann

Für die Einführung zu Alban Bergs Wozzeck – nach Georg Büchners Dramenfragment und vor 100 Jahren im Dezember 1925 uraufgeführt – hat Annekatrin Hentschel mit dem 82-jährigen Komponisten, Dirigenten und Chansonnier HK Gruber den idealen Gesprächspartner. Gruber, wie Berg ein echter Wiener, könnte wohl stundenlang mit Sachverstand und Witz von der Jahrhundertoper – in puncto Qualität – schwärmen. Leider merkt man ihm in der Sprechgesangsrolle des 1. Handwerksburschen nachher dann doch an, dass er an diesem Abend stimmlich leicht angeschlagen ist. Die Vorteile der konzertanten Opernaufführung einer solch komplexen Partitur wie der des Wozzeck macht sich Sir Simon Rattle mit seinem mal wieder bestens aufgelegten BRSO natürlich voll zu Nutze. Vieles erscheint so deutlich transparenter als aus einem Orchestergraben im Opernhaus heraus, und für die Zuhörer wird einmal optisch deutlich, wie viele verschiedene solistische Aufgaben es da im Orchester zu bestaunen gilt. Ob man mit den Gesangssolisten im Rücken diese auch besser führen kann, darf jedoch angezweifelt werden. Zudem verleitet eine solche Aufstellung in einem großen Konzertsaal durchaus dazu, die Sänger dynamisch zuzudecken. Selbst der eigentlich stimmgewaltige Christian Gerhaher hat an einigen Stellen damit zu kämpfen, etwa in der Fuge (II. Akt, 2. Szene) oder der ersten Wirtshausszene.

Die stimmliche und emotionale Ausdeutung einer der Paraderollen des Baritons ist nach wie vor grandios. Die Palette an unterschiedlichsten Klangfarben auf engstem Raum und differenziertester Textbehandlung berührt den Saal von der ersten Szene an. Gerhahers Wozzeck ist nur noch äußerlich ein Getriebener, eigentlich längst dem Schicksal als in seiner Wahrnehmung der Welt entrückter Geistesgestörter voll ergeben und ohne Hoffnung: eine Figur, die allenfalls Mitleid erwecken kann. Dies wird ihm allerdings nur durch die Musik und das Publikum zuteil, überhaupt nicht von den übrigen Protagonisten. Die meisten sind erstklassig: Malin Byström als Marie begeistert durch außerordentlich sichere und flexible Tongebung, wirkt aber nicht durchgehend glaubwürdig. Die heikle Bibelszene zu Beginn des dritten Akts, wo Berg gerade an den melodisch großartigsten Stellen reinen oder halben Sprechgesang fordert, bewältigt sie partiturgetreu und absolut überzeugend. Nicky Spences seit vielen Jahren verlässlicher Charaktertenor ist für den Hauptmann eine Idealbesetzung. Mit immer noch exzellenter Höhe zeichnet er eine brüchige Figur; im Grunde ein Weichei, das vom Doktor (Brindley Sheratts) beliebig in die Enge getrieben werden kann. Dessen phänomenaler Bass – dämonisch, edel, hier zugleich ekelhaft zynisch und am Rand des Größenwahns – ist die eigentliche Überraschung des Abends, ungemein faszinierend. Dagegen fallen der glanzlose Eric Cutler (Tambourmajor), der allzu distanzierte Edgaras Montvidas (Andres) und Rinat Shaham (Margret), die sich in der zweiten Wirtshausszene in falsches Verismo-Pathos verirrt, merklich ab. HK Gruber, dem sich Rattle nicht etwa besonders zuwendet, weil er vom Dirigenten deutlichere Führung benötigen würde, sondern um klarzumachen, dass hier nun quasi ein zweites Orchester (sonst Bühnenmusik) spielt, setzt seine genaue Vorstellung von der Partie präzise um – wie gesagt, mit stimmlichen Einschränkungen. Der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra) und der Kinderchor der Bayerischen Staatsoper (Kamila Akhmedjanova) mit Felix Bellheim (Mariens Knabe) machen ihre Sache tadellos, ebenso Ludwig Mittelhammer (2. Handwerksbursch).

Rattle deutet mit dem Orchester die expressionistischen Qualitäten der Partitur stilistisch auf den Punkt genau aus. Die ja nur in wenigen Abschnitten bereits zwölftönige Komposition knüpft für ihn besonders an Gustav Mahler an: spürbar gerade bei den Tanzformen, deren ironische Behandlung Berg von dessen 9. Symphonie übernommen hat, aber gleichermaßen in Details der Orchestrierung. Auch Schönbergs Kammersymphonie op. 9 lässt bekanntlich grüßen, vieles erscheint als überdimensionale Ensemblemusik. Die teils komplizierten Klangschichtungen erscheinen beim BRSO mit der größten Selbstverständlichkeit, wirken natürlich bis vertraut, dienen allein dem dramatischen Fluss. Nie verfällt Rattle in Hektik, wählt sehr stimmige Tempi, die Berg eh‘ meist minutiös notiert, hat immer den nächsten Höhepunkt im Blick und gibt, wo es die Partitur ermöglicht, insbesondere Gerhaher genügend Freiraum für spontane Gestaltung. Insgesamt eine sehr solide, stets spannungsreiche Darbietung, hinter der sich freilich gute szenische Realisationen an großen Opernhäusern nicht verstecken müssen. Wer sich an dieses epochale Werk heranwagt, will es halt als Vorzeigestück für alle Mitwirkenden präsentieren; das gelingt an diesem Abend.

[Martin Blaumeiser, 4. Oktober 2025]