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Musikalisches Gipfeltreffen – Impressionen vom Enescu-Festival in Bukarest 2025

George Enescu ist nicht zu übersehen. Wer dieser Tage durch die prächtigen Straßen Bukarests flaniert, begegnet ihm an allen Ecken und Enden. Denn das Konterfei des berühmtesten nationalen Komponisten hängt an Wimpeln in der ganzen Stadt, markante Plakate – ein leuchtend orangener Kreis vor blauem Hintergrund – werben für Konzerte des „Internationalen George Enescu Festival“. Der Spätsommer 2025, genauer die Wochen zwischen dem 24. August und dem 21. September, steht ganz im Zeichen der größten Festspiele für klassische Musik in Rumänien. In Zahlen: rund 4000 Kunstschaffende aus 28 Nationen sind in über 100 Konzerten zu hören. Finanziert wird das Ganze zu etwa 90 % vom Staat, den Rest decken private Sponsoren ab. Die Tickets sind im Vergleich zu ähnlichen Festivitäten moderat, die günstigsten kosten 5 Euro, Studierende haben freien Eintritt und es gibt Rabatte für Senioren. Auch außerhalb der Hauptstadt werden Konzerte angeboten, etwa in Timișoara oder Sibiu.

Gegründet wurde das Internationale George Enescu Festival 1958, es fand zunächst mit Unterbrechung alle drei Jahre statt, seit 2001 sind es nur zwei. Doch wer ist der 1881 geborene Musiker? In Rumänien kennt ihn jedes Kind, er ziert die Vorderseite der Fünf-Lei-Banknote und seine folkloristisch inspirierten Stücke, etwa die beiden Rhapsodies Roumaines, sind populäres Allgemeingut. Enescu studierte in Paris, machte als Geiger und Dirigent Karriere und prägte das rumänische Musikleben bis Mitte der 40er Jahre. Das kommunistische Regime aber lehnte er ab, deshalb emigrierte er 1946 nach Frankreich, wo er 1955 starb. Als Komponist hinterlässt er ein vielseitiges, zwischen Spätromantik und Moderne stilistisch weitgefächertes Oeuvre, das mit wenigen Ausnahmen außerhalb Rumäniens immer noch eine Außenreiterrolle einnimmt. Das will das Festival ändern und Enescu über die Grenzen hinaus bekannter machen. Rund 50 seiner Werke werden gespielt, ein Höhepunkt wird die Inszenierung der einzigen Oper Oedipe sein. Doch die Festwochen bieten weit mehr als eine Enescu-Schau, sie sind gleichzeitig ein Gipfeltreffen künstlerischer Eminenzen. In einem Monat geben sich die Stars der klassischen Musikszene und internationale Spitzenorchester buchstäblich die Klinke in die Hand, gefühlt ist jeder von Rang und Namen vor Ort. Diesmal reisen beispielsweise Magdalena Kožená mit dem Orchestra dell’Academia Nazionale di Santa Cecilia an, Martha Argerich mit dem Orchestre de Monte-Carlo (geleitet vom Exgatten Charles Dutoit) und Anne-Sophie Mutter mit dem Orchestre National de France.

Die 27. Ausgabe steht 2025 unter dem Motto „Celebration“. Gefeiert werden Jubiläen bedeutender Komponisten und einiger Ensembles: die runden Geburtstage von Ravel, Pierre Boulez und Luciano Berio, der 50. bzw. 70. Todestag von Enescu und Schostakowitsch spiegeln sich in den Programmen wieder. So wird etwa Lady Macbeth von Mzensk, multimedial aufbereitet, erstmals in Rumänien gespielt.

Ravel: L’heure espagnole / © Petrica Tanase

Beim besuchten zweiten Wochenende dominiert Vokalmusik. Zum Auftakt gibt es in der Oper Bukarest eine komödiantisch pralle Produktion aus Cluj-Napota von Maurice Ravels Buffa L’heure espagnole. Das Ensemble, darunter die peruanische Tenorhoffnung Iván Ayón-Rivas, der vor Kraft strotzende Bariton Armando Noguera und die sinnliche Gaëlle Arquez, trifft charmant den frivolen Geist des Einakters. Deftiger langt Dirigent James Gaffigan zu: er entfacht mit dem Orquestra de la comunitat Valenciana spanisches Temperament, französische Subtilität bekommt weniger Raum. Die hat am nächsten Tag die Alte Musik-Truppe Les Ambassadeurs – La Grande Écurie, die mit auffällig vielen Instrumentalistinnen besetzt ist, reichlich im Gepäck. Auf dem Programm steht Dardanus von Jean-Philippe Rameau. Die Vertonung der griechischen Sage um den titelgebenden Halbgott und seine Liebesbeziehung zur feindlichen Prinzessin Iphise bereitet musikalisch viel Plaisier. Der Geiger und Dirigent Emmanuel Resche-Caserta entfaltet eine mitreißende, farbige Klangpracht, der Chœur de Chambre de Namur setzt als Zauberwesen, Ungeheuer und höfisches Personal chorische Glanzlichter und das Gesangsquintett – Judith Van Wanroij , Benoit-Joseph Meier, Thomas Dolié und Stephan Macleod – zeichnet sich durch stilistisches Können und vokalgestalterische Delikatesse aus. Die Krone aber gebührt Marie Prevost: als Venus lässt sie reinste Jubeltöne hören, spinnt zauberhafte Bögen und nimmt durch ihre sympathische Ausstrahlung zusätzlich für sich ein.

Jean-Philippe Rameau: Dardanus / © Andrada Pavel

Dardanus findet im prachtvollen Athenäum, dem historischen Schmuckstück unter den Bukarester Konzertsälen, statt. Dort gibt auch Asmik Grigorian, die gerade in Salzburg für ihren Crossover-Liederabend bejubelt wurde, zu später Stunde einen Soloabend traditioneller Art. Romanzen von Tschaikowski und Rachmaninoff, dazu zwei Enescu-Songs als Liebeserklärung an das rumänische Publikum stehen auf dem Programm. Die Sopranistin singt sie glorios, mit fülliger Stimme, samtigen Höhen und dramatischem Ausdruck. Sie macht aus den melancholischen Melodien große Arien, was der Atmosphäre der Lieder zwar nicht entspricht, aber beeindruckt. Auf Effekt setzt auch ihr Pianist Lukas Geniušas. In Gestus und Mimik ähnelt er einem exzentrischen Tastenlöwen, doch wie er sich in die Klavierbegleitungen versenkt und seine Solostücke zelebriert, ist bezwingend.

Asmik Grigorian und Lukas Geniušas / © Andrada Pavel

In bestem Licht präsentiert sich die Sinfonia Varsovia. Unter Leitung von Constantin Grigore bringt sie zusammen mit dem Kammerchor PRELUDIU – Voicu Enăchescu das Requiem for My friend von Zbigniev Preisner zu ergreifender Wirkung. Der Filmkomponist schuf es im Gedenken an den Regisseur Krzysztof Kieślowski, er verbindet liturgische Sequenzen mit einer weltlich-meditativen Klanglandschaft. Zwei Tage später beweist das Orchester in einem klug konzipierten Programm erneut seine Höchstform. Diesmal wird es von Marta Gadolinska, derzeit noch GMD in Nancy, beflügelt. Mit präziser Zeichengebung und gestalterischer Kraft lässt sie schon die Ouvertüre von Grażyna Bacewicz vor Spannung vibrieren, tritt dafür im anschließenden Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin ganz zurück und ist aufmerksame Begleiterin für Rafał Blechacz bei seinem poetisch-sensiblen Ausflug in die Romantik. Nach der Pause entwickelt die Dirigentin dann eine enorme, stets kontrollierte Sogkraft für Wojciech Kilars Tondichtung Krzesany und Enescus‘ Chor-Symphonie Vox maris, der Sound ist geschmeidig und voll, dabei aber nie kompakt. Wunderbar! Das Gastspiel des Warschauer Orchesters ist Teil der rumänisch-polnischen Kultursaison 2024-2025 und setzt damit in zunehmend nationalistisch geprägten Zeiten ein wichtiges Zeichen zur Völkerverständigung. So wie es auch der Auftritt des Ukrainian Freedom Orchestra zur Eröffnung ist, der sowohl als Geste wie als politisches Statement verstanden werden kann.

Marta Gadolinska / © Maria Gindac

Was gibt es noch? Nicht alles kann erwähnt werden angesichts der Fülle von Veranstaltungen. Es gibt Kammermusik im Sala Auditorium, eine konzertante Zauberflöte und György Kurtags Fin de partie als Referenz an den fast 100-jährigen Komponisten. Und auch an junge Menschen wird gedacht. Eine phantasievoll gestaltete Matinee im altehrwürdigen Odeontheater vermittelt Kindern Enescus Biographie in einer Mischform aus Musikausschnitten und Texten. Das Jugendorchester Orchestra Sinfonietta unter Mihnea Ignat offenbart hohes Niveau, das Manuskript liest der omnipräsente künstlerische Leiter und Dirigent Cristian Măcelaru selbst. Es ist sein Anliegen, das Festival für die junge Generation zu öffnen. Und er hat Erfolg damit: „Enescu in Control“ heißt ein Projekt – es präsentiert Programme unterschiedlichster Couleur, von Bachbearbeitungen bis zum Jazz, im angesagten Club Control, die offenbar den Geschmack der Youngsters treffen. Die Karten sind heiß begehrt – ein gutes Omen für die Zukunft.

Mihnea Ignat, Orchestra Sinfonietta / © Maria Gindac

[Karin Coper, September 2025]

Schönklang und dessen Opfer

RCA Red Seal; 1 90758 71142 3

Gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Andrew Litton nimmt Sebastian Bohren die Violinkonzerte von Felix Mendelssohn e-Moll op. 64 und Benjamin Britten op. 15 auf; zudem hören wir Tschaikowskis Sérénade mélancolique op. 26 für Geige und Orchester.

Regelrechten Hype genießt der aus der Schweiz stammende Geiger Sebastian Bohren in letzter Zeit: Presse wie Publikum loben seinen warmen, vollen Ton und die Eigenständigkeit seines Ausdrucks; seine Aufnahme aller Bach-Sonaten und -Partiten für Violine solo sorgen für Aufsehen. Mit der vorliegenden Aufnahme widmet sich Bohren nun Werken für sein Instrument mit Orchesterbegleitung, wozu er sich das flexible und vielseitige Royal Liverpool Philharmonic Orchestra als Partner wählte, unter der Leitung von Andrew Litton.

Doch der Funke mag nicht so recht überspringen in dieser Aufnahme, immer wieder gerät der Fluss der Musik ins Stocken. Dies liegt in erster Linie an Bohrens enormen Streben nach Schönklang und Klarheit, wofür er andere, teils wichtigere, Aspekte der Musik bereitwillig opfert. Bohren scheut gerade bei Mendelssohn und Tschaikowski das Piano und Pianissimo, was einige der hinreißendsten Effekte dieser Werke unterminiert. Bei Tschaikowski geht somit auch die Zartheit und Melancholie seiner ausdrücklich „mélancolique“ getauften Sérénade verloren, die Musik wirkt zu real und nicht emotional ergriffen. Bei Mendelssohn ist dies zudem eine der Ursachen dafür, dass das Orchester nicht gleichwertig zur Violine erscheint, sondern weit hinter ihr verschwindet – wodurch sogar manch ein wichtiger thematischer Einsatz kaum oder gar nicht zu hören ist. Hinzu kommt, dass Bohrens Spiel gespickt ist von Manierismen, was die These bestätigt, er schaue zu sehr auf die momentane Tonerzeugung und nicht auf den Kontext der Musik: Beinahe jeder Schwerpunkt liegt auf der schweren Zeit (also dem ersten und im 4/4-Takt dem dritten Schlag), die in raschen Passagen gerne durch leichtes Rubato ausgekostet und somit verlängert wird. Daraus resultiert eine vermeidbare Plumpheit, welche das Filigrane dieser Musik negiert. Fließender und plastischer hätte Bohren die Musik gestalten können, würde er auch einmal die schwachen Zeiten betonen und seine Rubati nicht auf die Schläge setzen, sondern auf die nächste Untereinheit (z.B. die zweite Sechzehntel oder zweite Note einer Triole).

Am ehesten funktioniert das Violinkonzert von Benjamin Britten, wobei auch hier das Finale ins Stocken gerät. Die ersten beiden Sätze jedoch stechen hervor im Vergleich zum Rest dieser Aufnahme: Im blues-artigen Kopfsatz findet Bohren viel Witz und kostet diesen aus, springt heiter zwischen den mitreißenden Einfällen hin und her, entlockt seiner Partie einige spannende Effekte und hält den Satz sogar formal einigermaßen zusammen. Im Mittelsatz besticht er durch virtuoses und makellos reines Geigenspiel.

Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra passt sich der Darbietung des Solisten an, enttäuscht im Mendelssohn und kann auch bei Tschaikowski nicht überzeugen, wird jedoch durch den unglaublichen Charme des viel zu selten gehörten Britten-Konzerts zu größerer Leistung angestachelt. Das Orchester steht unter dem Ruf, besonders abhängig zu sein von einem guten Dirigenten: Es kann Unvorstellbares hervorbringen, wenn es durch einen Meister seines Fachs geleitet wird – aber auch uninspiriert und farblos seine Pflicht erfüllen. Diese Aufnahme bestätigt das vortrefflich.

[Oliver Fraenzke, Januar 2019]

Was Tschaikowski wünschte

Nimbus Records, NI 7104; EAN: 0 710357 710421

Tschaikowski Symphonien 5 & 6, Voyedova; London Symphony Orchestra, Yondani Butt (Leitung)

Auf zwei CDs spielt das London Symphony Orchestra unter Yondani Butt späte Orchesterwerke von Pjotr Tschaikowski: Die letzten beiden Symphonien e-Moll op. 64 und h-Moll op. 74, die „Pathétique“, sowie die symphonische Ballade Voyedova op. 78.

Nach neun Jahren Abwesenheit vom Dirigentenpodium kehrte Yondani Butt 2009 wieder zum London Symphony Orchestra zurück und hinterließ uns in den letzten fünf Jahren seines Lebens eine Reihe hochqualitativer Aufnahmen von Beethoven, Brahms, Schumann, Wagner, Tschaikowski und von französischer Musik. 2012 entstand vorliegende Einspielung von Tschaikowskis späten Orchesterwerken.

Yondani Butt dirigiert das London Symphony Orchestra gewissenhaft und nüchtern, er treibt nicht in Pathos davon, entzieht sich aber auch nicht der Gefühlswelt von Tschaikowski. Die Musik des Russen beschäftigt sich viel mit einfachen Emotionen, zutiefst menschlichen Gedanken und Empfindungen. Eben dies versucht Butt in seinem Spiel umzusetzen, verkünstelt die Linien entsprechend nicht durch willkürliche Rubati. Butt ist kein Romantiker, der in der Musik schwelgt, sondern ein Sachwalter, der die Klangwelt erfasst und umsetzt. Dies birgt den Nachteil, dass wir von den Aufnahmen keine übermäßig-genuinen Inspirationen erwarten können und nicht unentrinnbar gefesselt werden vom Strom der Musik – dafür aber sind die Aufnahmen auf durchweg hoher Qualität ohne Schwankungen. Darüber hinaus sind sie fein reflektiert, so dass sich alles auf dem richtigen Platz befindet. Präzise weiß Butt um die Gesetze von Spannung und Entspannung, kontrastiert und fügt zusammen, hält die langen Sätze formal zusammen. Es gibt absolut nichts, was im Fluss der Musik stört – die Musiker stellen sich in den Dienst des Komponisten und bilden sein Werk ab, wie er es in den Noten wünschte.

[Oliver Fraenzke, Juni 2018]

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Virtuosität und Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 242; EAN: 4 260052 382424

Romantic, Brilliant, Imaginative: Semenenko (Violine), Firsova (Klavier); Grieg, Tschaikowski, Castelnuovo-Tedesco, Paganini, Schubert 

Violinmusik aus der Epoche der Romantik birgt vorliegende CD mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova. Die Eckpfeiler dieser Einspielung sind die Erste Violinsonate F-Dur op. 8 von Edvard Grieg und die Fantasie C-Dur D 934 von Franz Schubert. Dazwischen befinden sich drei Bearbeitungen von Werken für Violine und Orchester: Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, Mario Castelnuovo-Tedescos Konzertparaphrase über die Cavantine Largo al Factorum aus Figaros Hochzeit und Paganinis I Palpiti, ebenfalls über ein Thema Rossinis. Das Arrangement von Paganinis Variationswerk für zwei Instrumente stammt von Fritz Kreisler.

Die Produktion der vorliegenden Aufnahme war der Preis eines Kammermusikwettbewerbs an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, den Aleksey Semenenko und Inna Firsova gewonnen haben. Das Programm entwickelt sich ausgehend von Schuberts großer C-Dur-Fantasie von 1827, in denen er seine Eindrücke eines Auftritts von Paganini verarbeitete. So ist natürlich auch der Teufelsgeiger vertreten mit einer Paraphrase über Rossini, was den Faden weiterspinnt zu Castelnuovo-Tedesco und dessen Fantasie über ein Rossini-Thema aus Tancredi. Tschaikowski und Grieg komplettieren die Aufnahme, wobei Griegs Erste Violinsonate das erste Werk war, das Semenenko in die Welt der Kammermusik einführte. Mich verwundert, dass Inna Firsova nicht auf dem Cover erwähnt wird, ihr Name verbirgt sich auf der Rückseite und ihr Bild im Booklet: Und das, obgleich Semenenko doch Kammermusik studiert und bei Grieg und Schubert das Klavier einen mindestens ebenbürtigen Part zur Violine spielt, wenn nicht einen gewichtigeren!

Die Violinsonate Edvard Griegs gibt ein Bild frei auf zwei fleißige und detailverliebte Musiker, die minutiös darauf bedacht sind, die Noten genau wiederzugeben. Sie betrachten die Musik aus gewisser Distanz und fühlen sich trotzdem in die Welt des Komponisten ein. Ein großes Spektrum an Artikulations- und Dynamikabstufungen bringt Abwechslung und Vielseitigkeit in das Werk, immer neue Klangfarben bereichern die Sonate. Zu wenig achten sie allerdings noch auf das Schlichte, Volkstümliche, was ja gerade Grieg und seine skandinavischen Kollegen so sehr prägt. Der Mittelsatz wird zum Kunstwerk und verliert die Einfachheit des Volksliedes; die charakteristische Fidel-Passage lockt nicht zum Bauerntanz, sondern in den Konzertsaal. Gleiches gilt für Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, die unartifizielle und zutiefst menschliche Gefühle ausdrückt, auch das einfache Volk anspricht.

Es folgen zwei Virtuosenwerke, in denen Semenenko seine Brillanz und Leichtfüßigkeit unter Beweis stellt. Unglaubliches gelingt ihm in Paganinis I Palpiti, wo der Hörer kaum aus dem Staunen herauskommt. Grazil bewegt er sich zwischen all den Hürden und zeitgleich gibt er den formalen Aufbau der Stücke zu verstehen, geht auch auf die Phrasierung und den innermusikalischen Kontext ein.

Das Finale ist die 25-minütige Fantasie C-Dur von Franz Schubert, in welcher der Komponist die Errungenschaften der großen Virtuosen in symphonischen Kontext eingliedert und in reinste Musik verwandelt. Auch bezüglich der Darbietung ist dies der Höhepunkt der Einspielung, die Musiker hören einander zu und erreichen ein vollkommenes Miteinander. Inna Firsova tritt in den Vordergrund: Bei Grieg wurde sie noch von der Violine überlagert und in den Bearbeitungen weilte sie doch eher in Begleitfunktion. Nun aber trumpft Firsova auf und demonstriert ihre überlegene Meisterschaft des Klaviers, die sie zur Entdeckung macht. Ihre Läufe ragen heraus und geben den Eindruck, die Erde würde sich anheben oder absenken, wenn sie in die Höhe beziehungsweise Tiefe rauscht. Ebenso bemerkenswert ist, wie autonom ihre beiden Hände fungieren. Gerade bei großem Abstand ergänzen sich die Stimmen kontrapunktisch wie zwei nur miteinander funktionierenden Kraftfelder.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]