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Wie der Vater, so der Sohn

Alpha classics, alpha 425; EAN: 3 760014 194252

Die „komponierte Interpretation“ zu Schuberts Winterreise aus der Feder Hans Zenders wird zum dritten Mal aufgenommen. Es spielt die Deutsche Radio Philharmonie unter Robert Reimer gemeinsam mit dem Tenor Julian Prégardien.

Auch ein blindes Huhn findet mal ein Korn; auch wenn das Korn eigentlich einem anderen gehört und das Huhn nur etwas an der Schale nagen darf. So geht es dem Komponisten Hans Zender mit seiner Winterreise. Mit diesem Werk kam Zender plötzlich ins Gespräch, und Kontroversen um die eigenartige Bearbeitung brachten Aufführungen, Aufnahmen und entsprechend Bekanntheit. Die meisten Kompositionen Zenders sind nicht gerade in einem Stil geschrieben, der große Popularität versprechen würde – also muss der Kern Schuberts herhalten. Und tatsächlich gelang dem Komponisten so der große Wurf, denn selbst 25 Jahre nach der Fertigstellung der „komponierten Interpretation“ diskutiert man eifrig über ihren Gehalt, die darin vorgenommenen Änderungen und die Auswirkungen auf den Affekt von Schuberts spätem Liedzyklus.

Hans Zender hat die Lieder nicht einfach nur für Orchester arrangiert, sondern hat sie auf seine eigene Weise interpretiert. Hinzugefügte Vor-, Zwischen- und Nachspiele verbinden die einzelnen Lieder und legen den Fokus auf die Stimmung der Lieder, zu denen hingeführt wird oder von denen sich der Reisende entfernt. Neu eingearbeitete Klangeffekte heben einzelne Worte oder Passagen hervor, so muss der Sänger beispielsweise drei Mal ansetzen, wenn der Schnee ihm ins Gesicht fliegt, bis er ihn herunterschütteln kann, da das Ensemble ihn immer wieder mit neuen „Schneeverwehungen“ attackiert. Andere Effekte lassen das Eis wirklich klirren oder die Tränen erstarren. Dabei belässt Zender die meisten Noten gleich, teilt nur die einzelnen Stimmen der Klavierbegleitung zwischen den Instrumenten auf und fügt in seltenen Fällen ein paar Noten hinzu. Der findige Hörer wird darüber hinaus minimale Änderungen in der Gesangspartie wahrnehmen, manche Änderungen Schuberts im Text von Müller wurden rückgängig gemacht (beispielsweise „mein Herz ist wie erstorben/erfroren“).
Eine Meinung über solch eine Vorgehensweise zu fällen, würde den Rahmen jedes Rezension sprengen, würde den Platz einer gesamten Abhandlung in Anspruch nehmen. In aller Kürze ließe sich zusammenfassen: Schuberts Liederzyklus ist vollendet und bedarf weder Aktualisierung, noch Interpretation, denn alles steht perfekt in den Noten. Dennoch spricht nichts gegen eine persönliche Stellungnahme oder eigene Anschauung auf den Liederzyklus, die – wie es Zender tut – den Hörer auf bestimmte Aspekte aufmerksam macht und den Fokus auf manche Details lenkt. Viele der Effekte in der Winterreise kratzen nur an der Oberfläche und nicht an der Substanz der Lieder, doch manche treffen auch den Kern und verstärken einmalige Klang- und Gefühlswelten, welche die Winterreise birgt.

Zum 25-jährigen Jubiläum der Komposition erscheint auf Alpha classics die nunmehr dritte Aufnahme von Zenders Winterreise mit Julian Prégardien als Tenor. Prégardien, hat der den Zyklus nicht schon einmal aufgenommen? Nicht ganz, aber sein Vater, Christoph Prégardien, sang 1999 die zweite Aufnahme mit dem Sylvain Klangforum unter Sylvain Cambreling (die erste Aufnahme sang Hans Peter Blochwitz mit dem Ensemble Modern unter Leitung des Komponisten). Julian Prégardien gelingt eine emotionale und zeitgleich reflektierte Aufnahme der Lieder, wobei er besonders auf den langsamen Prozess der Entfremdung und des Verrücktwerdens eingeht. Die Deutsche Radio Philharmonie hingegen erkundet nicht die Tiefsinnigkeit der Stücke, lässt manch einen zentralen Effekt völlig unter den Tisch fallen und holt nur wenige der wichtigen Stimmen hervor. Dem Orchester fehlt die bildliche Vorstellungskraft, die Farbe und die Kontur, welche erst die treibende Kraft durch die Lieder darstellt. Zudem stören mich manche Entscheidungen, bewusste Änderungen in Zenders Partitur wieder rückgängig zu machen und zu Schuberts Original zurückzukehren – denn eben diese Änderungen geben gewissen Reiz. Vielleicht war es auch Zender selbst, der die Anweisung gab, manche Änderungen zu verwerfen? Doch in jedem Fall hätte ich als Dirigent nicht darauf gehört.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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