Abschließend die Besprechung der letzten drei Konzerte des diesjährigen Festivals „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum: Klavierabende von Mark Viner (21.8.), Illia Ovcharenko (22.8.) und Chiyan Wong (23.8.).
Wann immer der noch fast jugendlich wirkende Mark Viner in Husum auftritt, liegen die Erwartungen besonders hoch, weil er wie nur ganz wenige Künstler in geradezu idealer Weise das virtuose Kernrepertoire des Raritätenfestivals vertritt, vor allem mit Komponisten wie Leopold Godowsky oder Charles-Valentin Alkan. Viner ist zudem seit über 10 Jahren Vorsitzender der Alkan Society und arbeitet erfolgreich an der ersten Gesamtaufnahme von dessen Klavierwerk. Beide Hälften seines Konzerts am 21. 8. begann er jedoch mit Transkriptionen berühmter Melodien Charles Gounods durch Franz Liszt. Die klangliche und pianistische Souveränität des Pianisten erinnert sofort an Marc-André Hamelin, allerdings auch über weite Strecken an dessen gewisses – hier britisches – Understatement. Viners Darbietung von Les Adieux S 409 über ein Motiv aus „Roméo et Juliette“ erschien durchaus gehaltvoll; noch besser gelang die glitzernd klare Hymne à Sainte Cécile S 491 mit konsequent aufgebauter Steigerung. Dennoch vermisste man in seinem Klavierspiel echten Tiefgang: Emotional offensichtlich selbst absolut unbeteiligt, gehört er eben nicht zu den musikalischen „Deutern“, überlässt dies ganz seiner Hörerschaft. Ignaz Paderewskis Nocturne op. 16,4 erwies sich als gefällige Petitesse. Als Rarität interessanter das diesem 1926 gewidmete Nocturne „Ragusa“ (historischer Name Dubrovniks) seines amerikanischen Schülers Ernest Schelling, das über einem Barkarolen-Rhythmus zumeist hemiolische Melodik entwickelt, mit exquisiter Harmonik und atmosphärischem Klaviersatz.
Vom nach wie vor unterbelichteten Klavierschaffen Cécile Chaminades präsentierte Viner drei Stücke, die sich ebenfalls See-Motiven widmeten: Marine op. 38, nicht sonderlich charakteristisch; L’Ondine, mögliches Vorbild für Ravels gleichnamiges Stück, beides schlicht zu laut vorgetragen; schließlich die dankbaren Pêcheurs de nuit aus den Poèmes provençaux. Die großen pianistischen Herausforderungen des Abends waren erwartungsgemäß zum einen zwei perfekt beleuchtete „Phonoramas“ aus Godowskys Java-Suite: Wayang-Purwa und The Bromo Volcano – mit großartiger Durchsichtigkeit des komplexen, feinsinnigen musikalischen Geflechts und eindringlicher Bildhaftigkeit der vorjährigen Aufführung des kompletten Zyklus durch Patrick Hemmerlé nach einhelligem Bekunden des Publikums weit überlegen. Zum anderen überzeugten Alkans nettes Nocturne Nr. 4 „Le grillon“, Posement aus den 12 Dur-Etüden op. 35, wo Viner aus den dicken Akkorden gekonnt die Mittelstimmen herausarbeitete, und schließlich die Trois petites fantaisies op. 41: Zwar geriet ihm das Alla-breve von Nr. 2 etwas zu langsam und man erkannte nie, dass dessen Thema stets auftaktig beginnt, dafür gelang die typisch Alkansche, absolut verrückte Presto-Orgie von Nr. 3 – primitiv, aber gut – wirklich hinreißend. Was Alkan angeht, ist Viner momentan eindeutig der Platzhirsch. Die Bravos für diese Leistung waren redlich verdient. Trotzdem wäre wohl zumindest ein Werk mit gewichtigerer musikalischer Substanz für ein solches Programm wünschenswert.
Warum man sich vom Ukrainer Illia Ovcharenko, in diesem Jahr der jüngste Pianist in Husum, ausgerechnet Robert Schumanns erst 1976 veröffentlichte Exercises WoO 31 – über das Allegretto-Thema aus Beethovens Siebter – gewünscht hatte, blieb schleierhaft. Das eh‘ sehr unreife Werk erklang im Rittersaal bereits 2007 (Piers Lane), und Ovcharenko hatte sich für den 22. 8. aus den in drei Quellen überlieferten 15 Variationen eine dramaturgisch völlig misslungene Mischfassung zurechtgebastelt. Die rein technischen Schwierigkeiten meisterte er ordentlich, spielte aber durchwegs viel zu laut, was im Schloss vor Husum sofort Missfallen beim anspruchsvollen Publikum hervorrief. Ferruccio Busonis Elegie Nr. 3 „Meine Seele bangt und hofft zu dir“ gehört trotz enormer technischer Anforderungen zu den introvertiertesten Werken des Deutsch-Italieners. Leider agierte Ovcharenko auch hier zu massiv, kaum geheimnisvoll; die erzitternde Zartheit einer im Innersten verunsicherten Seele wurde so nicht deutlich.
Vieles am übrigen Programm – Werke von in der heutigen Ukraine gebürtigen Komponisten – gefiel dem Rezensenten dann sehr wohl. Für die rückwärtsgewandte, jedoch beim Raritätenfestival immer beliebte Salonmusik Sergej Bortkiewiczs traf Ovcharenko genau den richtigen Tonfall, etwa beim schönen Nocturne „Diana“ op. 24,1. Zwei Stücke Paderewskis erhielten von ihm die nötige Eleganz, ohne perfekt zu sein. Als Frühwerk Levko Revutskys (1889–1977) lehnt sich die Sonate h-Moll op. 1 recht uneigenständig an Liszt und Rachmaninow an, wirkte unter Ovcharenkos Händen allzu bombastisch: Selbst mit Gewalt lässt sich daraus kein Meisterwerk machen. Dies nivellierte die ausgezeichneten Wiedergaben von dessen Préludes zuvor. Insbesondere die beiden unkonventionellen Stücke op. 7 – das zweite haarsträubend brillant die gesamte Tastatur in Besitz nehmend – machten Eindruck. Noch faszinierender gelangen am Schluss die nicht nur harmonisch bemerkenswerten Cinq Préludes op. 44 seines Landsmanns Boris Ljatoschinsky, dessen fabelhafte Symphonien endlich mal in deutschen Konzertsälen erklingen sollten.
Das letzte Konzert am 23. 8. spielte der mittlerweile in Berlin lebende Hongkonger Chiyan Wong. Die in Details miteinander verflochtenen sechs Sätze der 1902 entstandenen Suite des von Kind an musikalisch gut vernetzten Gustave Samazeuilh (1877–1967) analysierte Wong geradezu in all ihren Feinheiten. Melodische Oberstimmen knallte er jedoch unverhältnismäßig spitz heraus: auf Dauer nervig. Dies störte bei den Variations sur «Auprès de ma blonde» des berühmten Pariser Organisten Naji Hakim (*1955) – an der Église de la Saint-Trinité Nachfolger Olivier Messiaens – weniger, da schon das Thema sehr staccato-mäßig daherkommt. Das ganz traditionell strukturierte Variationswerk mit unverhohlener Nähe zur französischen Unterhaltungsmusik endete mit einem ansprechenden Finale. Was Wong von seinem Kompositionslehrer Hakim wirklich mitgenommen hat, ließ sich allerdings anhand seines eigenen ganz kurzen Klavierstücks ‚tch‘ kaum festmachen. Etwas sinnlicher erklang immerhin Sergej Prokofjews Amoroso-Finale op. 102,6 aus der Cinderella-Suite.
Nach der Pause versuchte der in England ausgebildete Pianist den Zuhörern Busonis „Konzertfassung“ der Bachschen Goldberg-Variationen nahezubringen, die er vor 6 Jahren beeindruckend eingespielt hat. In Husum übertrieb er dabei freilich gnadenlos: Busoni empfahl den Wegfall sämtlicher Wiederholungen und den Verzicht auf neun der 30 Variationen, erstellte dafür eine klanglich wirkungsvolle Version der letzten Variationen – gerade hier schwächelte Wong kurz – und der Wiederholung der Aria ohne Verzierungen. Wong nahm die romantisierenden Vortragsangaben Busonis allzu ernst, überbetonte zudem die Entwicklung der Basslinie auf verstörend manierierte Art und Weise inklusive unmotivierter Tempomodifikationen. Schließlich entkleidete er die abschließende Aria nicht nur bis auf die Knochen, sondern ließ von ihr quasi überhaupt nichts mehr übrig – ein intellektuelles Experiment sehr zur Verärgerung des Publikums, das mehrheitlich keine Zugabe einforderte. So kam Ferruccio Busoni dieses Jahr in Husum insgesamt nicht gut weg. Neben selbst für den als Vielhörer berüchtigten Rezensenten inspirierenden Neuentdeckungen waren hingegen vor allem die Abende von Aline Piboule und Daniel Grimwood unvergessliche Höhepunkte der durchgehend erstklassigen Raritäten der Klaviermusik 2025.
[Martin Blaumeiser, 27. August 2025]
Hier geht es zu den beiden ersten Teilen des Berichts:
In Fortsetzung unseres ersten Beitragsüber das diesjährige Festival „Raritäten der Klaviermusik“ im Schloss vor Husum bespricht unser Rezensent die drei Konzerte vom 18.–20. August 2025:
Der schwedische Pianist Roland Pöntinen – schon mehrfach Gast des Husumer Festivals –konzentrierte sich in seinem Klavierabend am 18. 8. auf selten zu hörende Werke der 1890er Jahre. Otilie Suková (1878–1905) war eine Tochter Antonín Dvořáks und spätere Ehefrau seines Meisterschülers Josef Suk. Die Trauer über ihren frühen Tod verarbeitete dieser in seiner berühmten Asrael-Symphonie. Ihre einzigen eigenen Kompositionen, 4 kleine Klavierstücke, hatte Suk notiert; drei davon erschienen 1909 als Zeitschriftenbeilage, das wohl dem Vater gewidmete „Dem teuren Papa“ erst 2018 bei Bärenreiter. Bei Sukovás Humoreske wirkte Pöntinen noch etwas steif, trug dafür die drei übrigen, einfallsreicheren Stücke durchaus mit Feingefühl vor.
Wilhelm Stenhammar (1871–1927) war selbst ein exzellenter Pianist mit einer riesigen „Pranke“ wie Brahms, was man nicht nur seinem 2. Klavierkonzert anmerkt, welches zuletzt wieder gerne von Herbert Blomstedt zur Diskussion gestellt wurde. Die Sonate g-Moll (1890) ist hingegen noch ein Frühwerk, das stark an Brahms (Scherzo) und, unverkennbar im Finale, konkret an Schumanns Sonate in derselben Tonart anknüpft. Nur die Romanza verströmt bereits ansatzweise typisch nordische Melancholie. Pöntinen gestaltete im gesamten Stück die Tempi flexibel, hätte stellenweise aber rhythmisch noch prägnanter sein können. Er brachte die unterschiedlichen Charaktere der einzelnen Themen auf den Punkt, überzeugte gerade bei den lyrischeren Momenten. Nur den vierten Satz begann er deutlich zu laut. Nach Noten spielte er danach drei der späten 18 Klavierstücke op. 72 Peter Tschaikowskys und hinterließ hier einen eher zwiespältigen Eindruck. Sehr geschmackvoll gelang die Berceuse (Nr. 2), über erstaunlich eisernem Rhythmus; allerdings pfuschte Pöntinen schon hier bei schnellen Wechseln in die hohe Lage – manches wirkte zu unpräzise. Der Rhythmus von Tendres reproches (Nr. 3) erschien leicht missverstanden, und bei Scherzo-Fantaisie (Nr. 10) – nach Skizzen zur abgebrochenen 7. Symphonie entstanden und zugegebenermaßen im korrekt gewählten Tempo fast unspielbar schwer – ließ der Pianist manches unter den Tisch fallen, so dass das Stück tatsächlich wie ein vom Komponisten aus einer Orchesterpartitur improvisierter Auszug erklang.
Im zweiten Teil vermochte Pöntinen zum Glück, sich mächtig zu steigern. Richtig gut war schon die Auswahl von je drei Préludes (aus opp. 15 und 16) und Etüden (aus op. 8) Alexander Skrjabins, berückend schön Cécile Chaminades „Les Sylvains“ op. 60. Ihre Faune – in gekonntem, effektiven und harmonisch reichen Klaviersatz – schienen allerdings an diesem Abend eher mit nordischen Trollen Griegs verwandt als in mediterranen Gefilden angesiedelt. Drei der 6 Études op. 111 von Camille Saint-Saëns (Nr. 1; Nr. 4 mit durchdachten Glocken-Illusionen, Nr. 6 über Material aus dem Finale seines 5. Klavierkonzerts) beeindruckten ebenfalls. Zum Höhepunkt wurde jedoch zuvor ein makelloser, bis ins letzte Detail ausgeloteter Vortrag von Claude Debussys frühen Images oubliées: Anschlag, Pedalisierung und Nutzung des Resonanzraumes unter perfekter Kontrolle. Dieses Niveau wurde nochmals mit der ersten Zugabe, Ravels Pavane pour une infante defunté, bestätigt. Pöntinen entließ das Publikum mit seiner Bearbeitung von Vladimir Cosmas leitmotivischem Thema Sentimental Walk (frei nach Satie) aus der Filmmusik zu Jean-Jacques Beineix‘ „Diva“ (1981).
Am 19. August war der einzige heutzutage wirklich „exotische“ Programmpunkt die letzte der sechs Klaviersonaten (g-Moll op. 39, 1806) des Wiener Komponisten Anton Eberl (1765–1807), der anscheinend Schüler W. A. Mozarts war und noch nach dessen Tod der Familie verbunden blieb. Sein auch pianistisch recht anspruchsvolles, dreisätziges Stück nimmt sich bereits mehr Beethoven als seinen Lehrer zum Vorbild und erreicht im ausladenden langsamen Satz fast gleiches Niveau. Das Thema des Finales im 2/4-Takt scheint gar dem Hauptmotiv aus dessen „Sturm-Sonate“ op. 31,2 teils „abgekupfert“ zu sein. Herbert Schuch näherte sich dem tiefsinnigen Werk mit der gebotenen Gelassenheit und enormer klanglicher Sensibilität: Während des gesamten Konzerts wagte er das Risiko, ein Pianissimo bis an die Grenze dessen anzubieten, wo ein Steinway-D überhaupt noch reagiert: faszinierend. Bei der Wiederholung der Exposition des Kopfsatzes baute er ein paar stilistisch korrekte Verzierungen ein und nahm sich auch die Freiheit für ganz kleine formale Eingriffe an Eberls manchmal zu „quadratischer“ Periodenbildung. Dies alles vermochte das Publikum zu begeistern.
Ferruccio Busonis (1866–1924) späte Toccata (Preludio – Fantasia – Ciaccona) von 1922 gilt trotz ihrer relativen Kürze von gut 10 Minuten zu Recht als eines seiner Hauptwerke für Soloklavier: pianistisch vertrackt, harmonisch schon recht kompromisslos und von einer den Hörer geradezu erschlagenden Ausdrucksintensität – eigentlich. Der Komponist gibt zwar keine Metronomzahlen vor, dennoch verfehlte Schuch zum einen in allen Teilen die hier erwartbaren Tempi etwas nach unten und vereitelte so in den schnellen Abschnitten das in Lisztschem Sinne angestrebte Transzendieren kompositorischer und instrumentaler Virtuosität. Zum anderen müsste man sich klarmachen, welche Rollen verschiedene Motive nur wenig später in Busonis Opus summum, der nicht mehr ganz vollendeten Oper Doktor Faust spielen. Das Staccatissimo des Beginns geriet zu weich, das zugleich geforderte Arditamente oder das con calore aufblühende Thema in der Fantasia zu unterkühlt etc. Damit konnten Busoni-Kenner nicht wirklich zufrieden sein.
Ganz hervorragend dann wieder Busonis phänomenale Bearbeitung des Trauermarschs aus Richard Wagners „Götterdämmerung“. Erneut zahlte sich Schuchs Mut zu extrem leisem Spiel bei der Gestaltung einer dynamischen, quasi plastischen Illusion des hier weitgehend düsteren Klangbilds eines riesigen Orchesterapparats aus, wodurch klar modellierte (Leit-)Motive durch flächige Elemente sinnhaft unterfüttert erschienen.
Julius Reubkes (1834–1858) Orgelsonate „Der 94. Psalm“ sowie seine von Umfang und Schwierigkeit her dem Vorbild seines Lehrers Liszt kaum nachstehende Klaviersonate b-Moll entstanden kurz hintereinander Anfang 1857, als sich bereits die damals unheilbare „Schwindsucht“ abzeichnete, die ein Jahr später zum Tod des jungen Komponisten führte. Während die Orgelsonate sich, heute unbestritten, schnell als eine der großartigsten Orgelwerke des gesamten 19. Jahrhunderts herumsprach, geriet die Klaviersonate – da lange nicht mehr in Druck – bald in Vergessenheit und erweckte erst ab den 1980ern wieder das Interesse der Pianisten. Sie gehört aber längst noch nicht zum Standardrepertoire, stand dafür in Husum schon mehrfach auf dem Programm. Leider gelang es Herbert Schuch nicht, an das Niveau der besten Darbietungen des Werkes heranzukommen. Die drei miteinander verbundenen Sätze bilden eine Liszts h-Moll-Sonate vergleichbare bogenförmige Großform mit überbordender Energie. Schon beim Hauptthema des Kopfsatzes nahm Schuch dessen Wucht zu früh heraus, phrasierte die einzelnen Perioden zu deutlich ab. Ähnlich relativierte der Pianist andere Stellen, etwa nur wenig später das più forte e stringendo kurz vor dem quasi recitativo. Natürlich war Schuch den technischen Anforderungen des Werks gewachsen und beeindruckte wieder durch klanglich hervorragende Gestaltung der lyrischeren Momente, so beim choralartigen Seitenthema und durchgängig im Andante sostenuto. Leider folgte er nicht nur im ersten Satz Reubkes vorgeschlagenem Strich, sondern nahm auch im Finale, in dem der Komponist sich fraglos ein wenig wiederholt, einige kleine Kürzungen vor, die in diesem Fall unverzeihlich erschienen. Der Hauptkritikpunkt hier richtet sich jedoch an die Kleinteiligkeit von Schuchs Vortrag, die über größere Strecken laufende Entwicklungen für den Hörer nicht nachvollziehbar machte. Offenkundig unterschätzte der Pianist die Dramatik der gesamten Sonate mit ihrem bis zur Manie gesteigerten Zur-Schau-Stellen noch vorhandenen Überlebenswillens, wo hingegen in der wenig späteren Orgelsonate am Schluss bereits jedwede Hoffnung – die zumindest noch im ansonsten äußerst brutalen Psalmtext steckt – musikalisch negiert wird. So verkaufte er das Stück spürbar unter Wert, was dann selbst die wirkungsvollen Zugaben nicht mehr wettmachen konnten.
Eine wiederum andere Künstlerpersönlichkeit betrat am 20. 8. das Husumer Podium: Aline Piboule. Rein pianistisch mit konventioneller, grundsolider Technik und ohne irgendwelche Allüren, durch Extravaganzen aufzufallen, stellte sie sich ganz in den Dienst der von ihr vortrefflich präsentierten, wirklich weit jenseits des Mainstreams angesiedelten Klavier-Preziosen. Vom ersten Augenblick an erwies sich die Französin als wahre Poetin am Flügel, die es verstand, das Publikum unmittelbar zu fesseln. Cyril Scott (1879–1970) folgte als junger Komponist den französischen Impressionisten, bis hin zur Reanimation barocker Formen wie in der viersätzigen Pastoral Suite. Gerade der Rigaudon mochte manchen Hörer vielleicht an den entsprechenden Satz aus Ravels Le Tombeau de Couperin „erinnern“; tatsächlich ist Scotts Zyklus der ältere. Die für den Briten typischen, zahlreichen Taktwechsel erschweren manchmal, größere Zusammenhänge zu erkennen, was Piboule jedoch geschickt löste. Auffallend ihr hierbei äußerst sparsames Pedal, als wollte sie die Harmonik keinesfalls zusätzlich aufweichen. Schon beim liebenswerten Konzertwalzer Ernst von Dohnányis über ein Thema aus Leo Delibes Ballett Coppelia zeigte sie, dass sie natürlich Pedalisierung optimal einsetzen kann; ein durchaus virtuoses Stück, dafür ohne die Überdrehtheit ähnlicher Bearbeitungen etwa Godowskys oder Schulz-Evlers.
Frank Bridge (1897–1941) kennt man eher als Lehrer Benjamin Brittens als durch seine eigene Musik: wohl der immer noch meistunterschätzte britische Komponist des 20. Jahrhunderts. Dabei ist insbesondere die Kammermusik sensationell (Klavierquintett, 2. Klaviertrio, 4. Streichquartett) und wird über die Jahre immer moderner. Die Three Sketches von 1906 sind noch ganz tonal und absolut romantisch. Piboule erfasste deren Tiefgang perfekt und brachte sämtliche Feinheiten unprätentiös zum Tragen. Mel Bonis‘ (1858–1937) Kammermusik fand zuletzt zunehmend Beachtung auf dem Tonträgermarkt. Dass ihre Klavierwerke genauso anspruchsvoll, zugleich dankbar sind, bewies Aline Piboule mit zwei Beispielen aus einer ganzen Reihe von Stücken, die mythologische bzw. literarische Frauengestalten porträtieren. Ophélia – nachdenklich, mit tollen Klavierfarben, lediglich etwas zu lang – und Desdémona hinterließen einen starken Eindruck.
Der Rezensent hatte immer schon gewisse Probleme mit dem Spätwerk Gabriel Faurés. So begeisterte am Mittwoch allenfalls dessen Barcarolle Nr. 3 von 1885, während die späten Stücke – die 13. und damit jeweils letzten seiner Barcarolles bzw. Nocturnes (1921) – mal wieder langweilten. Keinesfalls die Schuld der Pianistin, die sich mit ein wenig übertriebener Dynamik leider vergebens bemühte, mehr Leben in diese Musik zu bringen. Das Beste kam an diesem Abend zum Schluss, mit Musik der beiden bretonischen Komponisten Guy Ropartz (1864–1955), dessen tolle Symphonien man unbedingt kennen sollte, und einem – wie Albert Roussel – seefahrenden Komponisten: Jean Cras (1879–1932). Dieser brachte es bis zum Konteradmiral und führte immer ein Klavier mit an Bord. In Deutschland noch nahezu unbekannt, sind seine Werke auf dem CD-Label timpani mittlerweile gut dokumentiert. Sehr interessant bei Ropartz‘ Nocturnes Nr. 1 & 3 ist z. B. deren rhythmische Binnenstruktur. So finden sich in beiden Stücken 7er-Rhythmen: In Nr. 1 im 7/4 bzw. 21/8-Takt (=7×3); Nr. 3 steht durchgehend im 21/16-Takt (=3×7) – auch sonst großartige Musik. Cras‘ Deux Paysages spielen mit Exotismen (I) bzw. einer von Tempo und Agogik ungemein flexibel behandelten, eingängig schlichten Melodie (II). Für diese Werke ist sicherlich noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten. Piboule traf mit ihren exzellenten Darbietungen beim Husumer Publikum damit schon mal voll ins Schwarze.
Das diesjährige Husumer Festival „Raritäten der Klaviermusik“ bot vom 16. bis 23. 8. 2025 erneut eine hochinteressante Auswahl an hörenswerten, dabei weitgehend unbekannten Werken. Für 2025 eingeladen hatten der künstlerische Leiter, Peter Froundjian– siehe unserInterview– und die Stiftung Nordfriesland: Saskia Giorgini, Daniel Grimwood, Roland Pöntinen, Herbert Schuch, Aline Piboule, Mark Viner, Illia Ovcharenko und Chiyan Wong. Zusätzlich zur angeschlossenen diesjährigen Ausstellung – „Ronald Stevenson (1928–2015): Der schottische Franz Liszt“ – gab es, wie immer, am 17. 8. eine Matinee: Kenneth Hamilton gedachte in seinem Gesprächskonzert des 10. Todestages seines ehemaligen Lehrers. Hier der erste Teil des Berichts unseres Rezensenten Martin Blaumeiser:
Der Rezensent besuchte zum ersten Mal das Husumer Festival, und generell muss man die für derartige Klaviervorträge wirklich optimale Atmosphäre und Akustik des schönen Rittersaals samt immer glänzend eingerichtetem Steinway-D Flügel loben, besucht von einem höchst aufmerksamen, fachkundigen und dankbaren Publikum, das anscheinend keine Huster kennt.
Die Konzertreihe eröffnete am Samstag, 16. 8., die italienische Pianistin Saskia Giorgini, die bei Leonid Margarius, Enrico Pace und Pavel Gililov studiert und u. a. 2016 den Internationalen Mozart-Wettbewerb in Salzburg gewonnen hat. Ihre letzten beiden CDs mit Klavierwerken Franz Liszts erhielten je einen Diapason d’Or, und der erste Teil ihres Programms widmete sich ausschließlich einer Reihe von natürlich eher selten zu hörenden Werken der späten Reifezeit des Komponisten, namentlich aus den Jahren 1865 bis 1885. Noch am bekanntesten davon dürfte das 6. Stück aus den Années de pelerinage (Troisième année) sein: Wie in ihrer gesamten Darbietung glänzte Giorgini in Sunt lacrimae rerum mit einer geradezu perfekten Balance zwischen Haupt- und Nebenstimmen sowie großartigem dramaturgischen Überblick über die zumeist von tiefem Ernst, Trauer und Melancholie oder gar Selbstzweifel getragene Musik. Ebenso lobenswert erschien ihre sehr geschickte Pedalisierungskunst, gerade auch bei rezitativischen Stellen: eine vollkommene Illusion von Legato-Kantabilität. Liszt verzichtet in den hier dargebotenen Stücken trotz des erwartbar hohen technischen Anspruchs – abgesehen vom bewusst einfach gesetzten Kleinen Klavierstück As-Dur aus S.192 – komplett auf äußerliche Virtuosität, selbst bei der 3. Trauerode „Le triomphe funèbre de Tasse“ über Material aus seiner symphonischen Dichtung Tasso. Umso mehr freute man sich über klar vermittelte Emotionen.
Der Rest von Giorginis Vortrag beschäftigte sich – Liszts 5 Ungarische Volkslieder eingeschlossen– mit kunstvollen Bearbeitungen zumeist folkloristischer Gesänge, im zweiten Teil von Amy Beach und Percy Grainger. Beachs Zyklus von vier Inuit-Gesängen, Eskimos op. 64, darf als Rarität gelten; ihre westliche Harmonisierung würde man heute wohl als „kulturelle Aneignung“ brandmarken. Giorgini spürte hierbei, wie auch im folgenden Omaha Tribal Dance (aus op. 83) jedoch ganz dem Gehalt der Melodien nach, arbeitete deren unterschiedliche Charaktere und unverstellte, schlichte Schönheit heraus. A Hermit Trush at Eve op. 92,1 mit seinem das Gefühl von Freiheit verströmendem Drosselgesang in der rechten Hand wurde zu einem der Höhepunkte des Abends. Aus der sehr detaillierten Notation Graingers – insbesondere im Lullaby (aus „Tribute to Foster“) mit fein ziselierten „Glasharmonikaklängen“ als Begleitung, wo die beiden Hände teils asynchron, aber eben gleichzeitig beschleunigen und abbremsen – zauberte Giorgini ein wohliges Klangbad, vermied aber die ebenfalls vom Komponisten angestrebten extremen Dynamikunterschiede.
Geniale Volksliedbearbeitungen und intelligente Opernparaphrasen nahmen im bedeutenden Klavierwerk des Schotten Ronald Stevenson (1928–2015) einen breiten Raum ein und setzten so bis ins 21. Jahrhundert die Transkriptionskunst Liszts fort. Für die diesjährige kleine Ausstellung „Der schottische Franz Liszt“ hatte Prof. Monika Hennemann (Cardiff) u. a. von Stevensons Witwe einige ganz besondere Leihgaben erhalten, und Kenneth Hamilton trug in seiner Matinee am 17. 8. nicht nur – zweisprachig – einige recht humorvolle Anekdoten vor, sondern selbstredend typische Kostproben aus Stevensons vielschichtigem Schaffen. Hamilton demonstrierte etwa die Verwendung von Obertoneffekten in den Three Scottish Ballads und dem Heroic Song for Hugh MacDiarmid sowie eine der Referenzen Stevensons an Henry Purcell (Little Jazz Variations on Purcell’s „New Scotch Tune“). Wirklich begeistert aufgenommen wurden dann zwei pianistische Schwergewichte: Die zum 100. Todesjahr Liszts entstandene Symphonic Elegy – mit zahlreichen Allusionen auf Liszt, Chopin usw. – sowie das auf einer pentatonischen keltischen Melodie aufbauende Stück Beltan Bonfire mit vielfältigen Bezügen, darunter einer feinen Anspielung auf die Feuer-/Wasserprobe aus der Zauberflöte. Insgesamt geriet Hamiltons kräftig entschiedener Vortrag etwas zu sehr in den Forte-Bereich; und waren die Stevenson-Bearbeitungen von Novellos „We’ll Gather Lilacs“ und Richard Taubers Erfolgsschnulze „My Heart and I“ eigentlich bereits programmierte, hinreißend effektvolle Zugaben, enttäuschte der Pianist mit Busonis Bearbeitung von Chopins As-Dur-Polonaise: viel zu schnell, nervös und die Absichten Busonis fast schon bösartig entstellend – völlig unnötig.
Im Konzert des Briten Daniel Grimwood am Sonntagabend erklang zunächst ein recht einfältiges, ganz in der Tradition der Wiener Klassik stehendes Rondo der aus dem heutigen Bad Tölz stammenden Komponistin Josepha von Fladt (geb. Kanzler, 1778–1843), die – zusammen mit C. M. von Weber und Meyerbeer – noch beim berühmten Abbé Georg Joseph Vogler ausgebildet worden war. Dies war wohl als Einstimmung auf die folgenden Kompositionen ihres berühmtesten Schülers, Adolph Henselt (1814–1889), gedacht: Nach dessen ersten kompositorischen Gehversuchen bei Fladt führte der Weg des hochbegabten Pianisten über Studien bei Johann Nepomuk Hummel (Weimar) und Sigismund Thalberg (Wien) 1838 bis zur Position des Hofpianisten beim russischen Zaren. Henselts Klavierkonzert galt bis um 1910 als wegweisender Gattungsbeitrag. Schon bei den drei Beispielen seiner gefälligen Salonmusik überzeugte Grimwood mit einem enormen, immer zielführend eingesetzten Dynamikumfang und einer auffallend individuellen, dabei schlüssig die harmonischen Verläufe unterstützenden Agogik, noch mehr bei Henselts Deux Romances, zwei in jeder Hinsicht fein gearbeiteten Transkriptionen von Liedern des damals in Russland beliebten Grafen Michail Wielhorsky.
Nach dem kurzen Dreaming op. 15,3 von Amy Beach dann eine echte Entdeckung: die noch völlig unbekannte Klaviermusik von Carl Baermann junior (1839–1913), einem Sohn des gleichnamigen berühmten Münchner Klarinettisten, dem u. a. Mendelssohn Konzertstücke für Klarinette & Bassetthorn gewidmet hatte. Carl jr. wirkte erfolgreich im Liszt-Umfeld und ging 1881 nach Boston, war dort etwa ein Lehrer von Amy Beach. Grimwoods Darbietung von fünf seiner 12 Etüden op. 4 (1877) – musikalisch hochwertig und technisch auf einem Niveau zwischen Chopin und Rachmaninow angesiedelt – hinterließ bereits größeres Erstaunen. Die späte, auch formal recht komplexe Polonaise pathétique (1913) erwies sich gar als, freilich rückwärtsgewandtes, Meisterwerk; mit geschicktem, anspruchsvollem Klaviersatz und dramatischer Emotionalität, deren weitgespannten Entwicklungsprozess der Brite mit großer Übersicht absolut faszinierend nachzeichnete.
Vom Dirigenten und Pianisten Eduard Schütt (1856–1933) kennt man allenfalls einige Paraphrasen von Walzern Johann Strauß‘. Im dreisätzigen, empfindungsreichen Au bal op. 75 (ca. 1905) begegnet der Komponist der gesellschaftlichen Institution des Tanzsaals schon fast wie einem Relikt einer untergehenden Epoche. Charles-Marie Widor (1844–1937) beschränkte sich keineswegs nur auf Orgelwerke, sondern schrieb Musik aller Gattungen. Sein Carnaval op. 61 ist ein umfangreicher (65 Partiturseiten!) 12-teiliger Klavierzyklus von Charakterstücken, thematisch jedoch nicht so geschlossen wie Schumanns gleichnamiges Opus. So könnte man aus diesem Werk fraglos Nummern einzeln aufführen. Technisch schwierig, auch weil pianistisch ungeschickter als etwa Liszt oder gar Godowsky, sind die mittleren Sätze 4-10 quasi in Tanzformen gegossene Nationalporträts, leider eher stereotyp und allesamt zu lang geraten; Grimwood erlaubte sich hier zwei, drei kleine Kürzungen. Bei den äußeren Stücken – von eigenwilligem, bisweilen bizarrem Charme, zudem klanglich beeindruckend – gelang dem Pianisten, den Funken aufrichtig überspringen zu lassen: mehr als nur anerkennender Applaus für einen wahren Kraftakt. Obwohl Liszts Transkription von Isoldes Liebestod in seiner orchestralen Wirkung nach wie vor stärker sein mag, gelang es Grimwood mit seiner Zugabe der Wagner-Bearbeitung von Moritz Moszkowski, deren Qualitäten – sie ist pianistisch deutlich virtuoser und strukturell enorm klar – optimal herauszuarbeiten: ein bemerkenswerter Abend.
Vom 16. bis 23. August findet im Schloss vor Husum wieder das Festival Raritäten derKlaviermusik statt: Jeden Tag ein Klavierabend (jeweils um 19:00 Uhr) plus eine Matinee am Sonntag, 17. 8. um 11 Uhr. Die alljährliche Konzertreihe – ausgefallen nur im Corona-Jahr 2020, und nachgeholt in Form eines kleinen zusätzlichen Drei-Tage-Festivals im Jahr 2022 – ist schon bald nach ihren Anfängen 1987 vom Geheimtipp zu einem festen Event der internationalen Klavierszene aufgestiegen. Dies mit ganz einmaligen Programmen und der Chance, nicht nur für junge Pianisten, auch eigene Entdeckungen und Wünsche jenseits des Mainstreams aufs Podium zu bringen. Dieses Jahr sind eingeladen: Saskia Giorgini, DanielGrimwood, Roland Pöntinen, Herbert Schuch, Aline Piboule, Mark Viner, Illia Ovcharenko und Chiyan Wong sowie für die Matinée zum 10. Todestag des britischen Komponisten Ronald Stevenson dessen ehemaliger Schüler Kenneth Hamilton. The New Listener nutzte die Gelegenheit für ein Interview von Martin Blaumeiser (TNL) mit dem Gründer und künstlerischen Leiter des Festivals, Peter Froundjian.
TNL: Wie sind Sie eigentlich seinerzeit auf Husum gekommen?
Peter Froundjian: „Ja, das war so, dass ich mich auf eine feste Stelle als Klavierdozent an der Musikschule, die für den ganzen Kreis zuständig und auch im Schloss angesiedelt ist, beworben hatte. Als ich dann die Location mit dem schönen Rittersaal gesehen habe, – ich kannte den Ort ja zuvor nur vom Namen – hat es für mich irgendwie sofort Klick gemacht. Denn es gab da etwas, was ich eigentlich durch meine Neugier, vieles kennenzulernen, schon während meines Studiums als gebürtiger Berliner im dortigen Musikleben immer schmerzlich vermisst hatte. Die Veranstalter trauen sich nicht, einen Namen wie Szymanowski oder Medtner und Alkan aufs Programm zu setzen. Mir hat mal einer gesagt: Egal, ob das Konzert sonst Bach, Mozart oder Chopin enthält – wenn da Szymanowski steht, kommen gleich 100 Leute weniger.“
TNL: Das ist leider tatsächlich so, selbst oder gerade in großen Städten.
Peter Froundjian: „Dass es sich so verhält, ist eben sehr horizontverengend. Ich sah es in Ankündigungen, dass in einer Woche z. B. zwei-, dreimal die b-Moll-Sonate von Chopin in einem Klavierabend auf dem Programm stand usw. All diese Dinge hatte ich im Hinterkopf. Und da habe ich mir vorgestellt: Also in diesem Saal, der weder zu groß noch zu klein ist, könnte man etwas arrangieren. Daher habe ich auch die Stelle angenommen und bin gependelt. Nach zwei Jahren habe ich dann die Möglichkeit bekommen, bei der Kulturabteilung des Kreises Nordfriesland mein Konzept vorzulegen, das eigentlich bis heute unverändert ist: mit acht Konzerten und einer Matinee. Das war ein Glücksfall, weil an so einen Ort die Mehrzahl der Besucher von außerhalb kommt. Die Leute, die Augen haben, um zu sehen, was da präsentiert wird, kommen aus London, New York oder was weiß ich, weil sie dort auch nicht bekommen, was in diesem Festival geboten wird. Das heißt, man konnte nicht nur ein, zwei Konzerte veranstalten, man musste es geradezu zu einem Festival – keinem großen – schnüren, damit es sich lohnt, anzureisen. Und dies hat sich als richtig erwiesen. 1987 überschnitt sich das noch mit dem Schleswig-Holstein Musikfestival, aber davon habe ich mich nicht anfechten lassen und gesagt: Mein Konzept ist gänzlich anders. Das ist speziell und das bleibt so, wie ich mir das vorgestellt habe. Und weil es beim ersten Mal schon gut ankam, da haben die mir beim Kreis Nordfriesland gesagt: Gut, dann machen Sie es nochmal weiter, und beim dritten Mal, 1989, war so eine Art Durchbruch.“
TNL: Da kamen Marc-André Hamelin und andere mit Alkan?
Peter Froundjian: „Genau, Ronald Smith mit Alkan, Hamish Milne, Jean-Marc Luisada und verschiedene Leute. So hat sich das etabliert.“
TNL: Welche Rolle spielt bei der Finanzierung denn heute die Stiftung Nordfriesland, die Stadt selber oder auch der Förderverein?
Peter Froundjian: „Also das ruht auf dem Kreis Nordfriesland. Die Stiftung Nordfriesland gehört zum Kreis und sie ist der Veranstalter. Die stehen dafür gerade und geben natürlich auch den größten Betrag. Von der Stadt Husum kommt ein eher bescheidener Zuschuss und der Förderverein tritt ein, wenn zum Beispiel unser Steinway D-Flügel, der immer wieder aus Berlin transportiert wird, kommt, was jedes Jahr mehr kostet. Es gibt immer kleine Neuigkeiten, kleine Änderungen, aber im Großen und Ganzen läuft es so; dafür steht dann der Förderverein auch.“
TNL: Ich missbillige den Begriff der sogenannten Kleinmeister, der lange selbst in der Musikwissenschaft verwendet wurde. Fürchterlich, was sind Kleinmeister? Oder umgekehrt, was ist – um es mit Marcel Reich-Ranicki zu formulieren – „weltbedeutend“?
Peter Froundjian: „Ich finde, man muss erstmal genug kennen, um dann seine eigene Wahl zu treffen. Selbst viele unter den Klugen plappern ja einfach alles nach. Es ist ja keine Kunst, zu sagen, dass die drei letzten Beethoven-Sonaten weltbedeutend sind. Da kann ich mich daran hängen und das über viele Generationen wiederholen. Bei diesen massenhaften Klavierwettbewerben gibt es ja immer einen Sieger oder einen ersten Preisträger. Ich muss immer ein bisschen den Kopf schütteln, wenn ich von dem dann wieder höre: Ach, ich freue mich jetzt sehr, sämtliche Beethoven-Sonaten aufzunehmen. Oder dies und das, was wir schon in x-facher Ausführung haben, sogar von unübertroffenen Künstlern. Wenn sich das Musikleben darin erschöpfen soll, wird es nicht gut ausgehen, dann wird’s wirklich museal. Ich möchte, dass man zeigt, was alles in der Musik möglich ist und möglich war, gerade auch auf dem Klavier. Das ist wie ein Mikrokosmos: Das Klavier ist ja ein Miniaturorchester und deswegen gibt es auch so viel Literatur. Aber die muss erstmal in einer gehörigen Breite gespielt und erkannt werden. Deswegen ist so ein Festival richtig. Ich rühre an keine Saison in den großen Musikzentren. Das Festival ist extra, eben im Sommer, und präsentiert etwas, was es im sonstigen Musikleben kaum gibt. Der Sinn ist nicht, um aus touristischen Gründen irgendetwas für diese oder jene Region auf die Beine zu stellen. Kommunalpolitiker verstehen nicht, wofür das Festival steht. Für sie ist einzig und allein entscheidend, ob es erfolgreich ist: Es kommen tatsächlich Viele; es ist ausverkauft. Na gut, dann können wir es weitermachen.“
TNL: Sie haben ein gutes Händchen für junge Pianisten und Pianisten, die ins Konzept des Festivals passen und an ausgefallenen Sachen einigermaßen interessiert sind. Wie treten Sie mit ihren Vorstellungen an die heran?
Peter Froundjian: „Ich lasse mir natürlich Programmvorschläge zukommen und dann redigiere ich manchmal da drin und sage: Dies oder das hätte ich gerne ersetzt. Oder manchmal bin ich auch mit etwas nicht einverstanden, weil ich das Werk einfach nicht so wertvoll finde, als dass es gespielt werden sollte. Manchmal gibt es da auch verschiedene Ansichten; ich muss aber davon überzeugt sein. Bei manchen Programmpunkten bin ich der Initiator gewesen. Ich habe z. B. letztes Jahr Alfonso Soldano ein Nocturne des nahezu gänzlich unbekannten französischen Komponisten Albert Bertelin empfohlen. Er hat es dann erfreut aufgegriffen, einstudiert und sogar zugestimmt, dass wir das auf die CD nehmen, auch wenn es nicht bis aufs letzte I-Tüpfelchen perfekt ist, weil er es wahrscheinlich zum ersten Mal vor Publikum gespielt hat. Und so erklingt es jetzt erstmalig auf einer Tonaufnahme. Dieses Jahr habe ich beispielsweise Chiyan Wong die Suite von Gustave Samazeuilh vorgeschlagen. Umgekehrt kamen von ihm dann die Variationen des Organisten und Komponisten Naji Hakim – auf solche Weise kommt ein einmalig spannendes Programm zusammen. Die Agenturen schießen übrigens nicht quer, was die Programme betrifft. Eher mal eine Plattenfirma, wenn es Kollisionen mit eigenen Studioaufnahmen und unseren Live-CDs gibt.“
TNL: Worin besteht der Reiz der kleinen Formen? Als Interpret muss man sofort hundertprozentig da sein, und dann ist es schon wieder vorbei. Gar nicht leicht, so etwas in einem Abend zwischen anderen Stücken unterzubringen.
Peter Froundjian: „Kleinere Stücke sind natürlich auch Lyrik. Und es gibt bedeutende Lyrik im geschriebenen Wort. In Konzerten sind solche Formate meist etwas unterrepräsentiert.
Manche Komponisten haben Bedeutendes auf diesem Gebiet geleistet. Es gibt so einige „leise“ Künstler, die kleinere Formate bevorzugt haben. Zum Beispiel Anatoli Ljadow: Der hat keine Sonate geschrieben, nur zwei, drei Variationszyklen: Das ist dann auch das Umfangreichste in seinem Schaffen. Gerade bei den Russen gibt es Leute, die bedeutende Klaviermusik geschrieben haben. Nehmen wir Mili Balakirew: Man redet nur von Islamey, aber da gibt es sehr gute Nocturnes, Mazurken usw. Wenn man an diese Gattungen nicht rangeht und die nie spielt, dann wird man immer nur ein schiefes und ungerechtes Bild von diesen Komponisten haben. Es geht um feine Auswahl der besten Dinge davon. Und dann bringt man wirklich wieder was Neues zu Gehör, was einfach im Archiv schlummert. Das mit den Raritäten ist eigentlich immer ein Balanceakt. Man muss akzeptieren, dass es viel schlechte Musik gibt und natürlich auch schlechte Komponisten, die dahinterstehen. Es braucht so eine innere Stimmgabel, um zu sehen: Ist das gut oder nicht? Ich gehe dafür selber ans Klavier oder höre mir eine Aufnahme an, und manchmal bin ich ganz erstaunt, wie gut etwas ist – und dennoch fast nie gespielt wurde. Dann sage ich, das muss ich demjenigen, den ich eingeladen habe, vorschlagen. Nicht ganz einfach, dieses Konzept so zu verwirklichen. Aber wenn es dann nachher steht, ist es eben handverlesen. Ich fange immer wieder neu mit der sprichwörtlich leeren Leinwand an.
Es gibt wenige Leute, muss man auch sagen, solche wie Marc-André Hamelin, die wirklich wissen, worum es geht. Der ist bisher – nicht offiziell – sowas wie ein Artist in Residence des Festivals gewesen und stemmt einfach alles. Nächstes Jahr kommt er wieder: Ich habe schon die Zusage, dass er spielen wird. Er hat immer neue Ideen und freut sich dann auch, wenn er seiner Inspiration freien Lauf lassen darf.
TNL: 2010 kam ja mal die Sonate von Jean Barraqué – ein kompliziertes, serielles Monstrum ohne Gleichen, das ich trotzdem mag. Was darf man dem Publikum, das besonders die verkappten oder verkannten Romantiker bis ins 20. Jahrhundert liebt, in Husum überhaupt zumuten?
Peter Froundjian: „Erstmal muss es einen Pianisten geben, der sowas gut spielt, – in diesem Fall Jean-Frédéric Neuburger – aber es war natürlich eine Zumutung. Einige waren wohl verärgert; vielleicht sind ein paar dann gegangen. Da bin ich bin tolerant bis zu einem gewissen Punkt, will eben auch nicht vor den Kritikern dastehen wie jemand, der praktisch nur einen sehr eingeengten Rahmen gelten lässt. Wir hatten ja auch Ustwolskaja und Charles Ives sowieso, einige Male sogar. Ich mache aber kein Festival gegen das Publikum und natürlich nicht nur für Leute wie Sie und mich. Nicht umsonst hat mal ein Pianist gesagt, Husum habe irgendwie das beste Publikum der Welt, und jedenfalls das stillste, was er je erlebt habe. Das ist ein gutes Zeichen. Wir machen allerdings keine Universitätsveranstaltung, sondern ein öffentliches Konzert und freuen uns darüber, dass auch normale Konzertbesucher Geschmack an unserem Festival gefunden haben und kommen und ihre Neugier sozusagen auf sehr angenehme und schöne Weise belohnt wird.“
TNL: Von Dogmatikern aus dem Umfeld der Darmstädter Schule wurde ja eine Art Sibelius-Verdikt gepflegt, – beim jüngeren Publikum zum Glück kein Thema mehr – was nach meiner Meinung dazu geführt hat, dass bei uns generell nordische Komponisten immer noch viel zu wenig gespielt werden.
Peter Froundjian: „Da haben Sie vollkommen recht; unglaublich, wie fest ein solches Verdikt hier saß – übrigens auch Künstlern gegenüber, die so zwischen den Stilen stehen, aber auch wirklich bedeutende Komponisten gewesen sind. Die Engländer waren nicht so – haben immer ein Faible gehabt für Sibelius oder Carl Nielsen. Übrigens hat ausgerechnet Neuburger dann 2013 die Sibelius-Sonate bei uns aufgeführt. Ich versuche auch, in den französischen Raum reinzugehen. Die Leute reden immer nur von Debussy und Ravel; was da alles unbekannt geblieben ist! Die ganze Schule um César Franck beispielsweise, Chausson, d’Indy, aber auch Chabrier: fantastisch! Ich würde mich ja freuen, wenn die Leute, die vom Impressionismus in der Musik sprechen, mal erkennen würden, dass der erste Impressionist nicht Debussy war, sondern eigentlich Emmanuel Chabrier. Der hat Musik „out of doors“ sozusagen schon in seinen Pièces pittoresques geschrieben; schließlich war er auch sehr mit den ganzen impressionistischen Malern befreundet.
Das Festival ist für mich auch ein Akt der Gerechtigkeit. Ein großes Wort, aber das steht bei mir im Vordergrund, und ich freue mich, wenn Komponisten zu Wort kommen, die wirklich ungerechterweise links liegen gelassen worden sind.“
TNL: Haben Sie noch bislang unerfüllte konkrete Programmwünsche? Wo Sie sagen: „Das wollte ich immer und das klappte irgendwie bislang nicht“, oder: „Ich bin jetzt erst auf etwas gestoßen, das auch für mich neu ist.“
Peter Froundjian: „Das kommt immer vor, aber aus dem Hut kann ich das heute nicht einfach sagen. Es gibt Werke, die ich ganz gerne noch vorgestellt haben würde, aber wir haben schon sehr, sehr viel gemacht. Trotzdem entdeckt man immer wieder Neues, und von der Pianistenseite kommt auch was, beispielsweise in diesem Jahr die Etüden von Carl Baermann junior; ich kannte den überhaupt nicht, aber wer kann das schon von sich behaupten?“
TNL: Ein Sohn des berühmten Klarinettisten [Anm. der Redaktion: Carl Baermann, 1811– 1885], oder?
Peter Froundjian: „Ja, der aus München. Dieser Sohn ist später nach Boston gegangen. Daniel Grimwood hat seine Musik entdeckt und will das wahrscheinlich auch einspielen. Jetzt trägt er bei uns einige Etüden und Stücke von ihm vor: wirklich sehr schöne Stücke.“
TNL: Die Mission des Festivals besteht also weiter. Wie sieht es denn mit jungem Publikum aus? Die sind es eigentlich leid, immer dieselben Dinge zu hören und wollen auch nicht unbedingt teure Eintrittspreise für normales Repertoire mit „großen Namen“ bezahlen. Wäre dafür das Husum-Festival nicht genau richtig?
Peter Froundjian: „Wir haben ein bisschen Probleme damit, Karten kostengünstiger abzugeben wegen der geringen Platzanzahl. Hätten wir 200 Plätze, wäre es schon besser, aber wir brauchen halt auch die Einnahmen durch die Eintrittspreise. Im normalen Musikleben will man oft den Pianisten, den großen Künstler vorstellen: mit Repertoire angefangen von Bach bis vielleicht Impressionismus, Bartók, Prokofieff oder so. Dieses Konzept gerät bei uns quasi gewollt ins Wanken, weil hier der Schwerpunkt auf den Werken liegt: Die Werke sind der Star. Natürlich möchte ich, dass sie bestmöglich dargeboten werden, und dafür muss man auch sehr, sehr viel können. Es geht nicht darum, jetzt den nächsten Preisträger vom – was weiß ich – Cliburn-Wettbewerb zu präsentieren, sondern die Werke bestmöglich darzubieten; und die besten Beweise dafür, dass das auch gelingt, sind ja die CDs. Insofern sind diese CDs das Bleibende von diesem Festival.“
TNL: Hätten Sie für das kommende Programm einen Tipp für jemanden, der noch nie beim Raritätenfestival war und vielleicht zwar klavieraffin ist, aber auch nicht der extreme Ausgräber bei sich zu Hause, was CDs betrifft?
Peter Froundjian: „Das Konzert von Roland Pöntinen [Montag, 18. 8. 25], würde ich sagen, und vielleicht auch das von Daniel Grimwood [Sonntag, 17. 8. 25], obwohl auf dem Programm alles unbekannte Namen sind. Die Leute wissen kaum, wer Eduard Schütt ist oder Charles-Marie Widor oder Carl Baermann junior. Aber das ist alles wunderschön klingende Musik.“
TNL: Wir freuen uns natürlich auf alle acht Konzerte, die Künstler und Ihr gesamtes Team. Herzlichen Dank für das Gespräch!
(Das Interview wurde am 5. 8. 2025 via Zoom geführt.)
Hinweis der Redaktion: Unser Rezensent wird im Anschluss an das Festival hier ausführlich berichten. Das diesjährige Programm und Infos zu noch verfügbaren Karten findet der interessierte Leser auf der Seite: https://piano-festival-husum.com/ Die zugehörige CD-Reihe erscheint bei Danacord: https://www.danacord.dk/collections/ husum.html Die beiden neuesten CDs sind auf der dortigen Homepage: https://danacord.com/
Anlässlich des 75-jährigen Bestehens der Hochschule für Musik und Theater Hamburg ruft die vorliegende Produktion mit dem Komponisten Ernst Gernot Klussmann (1901–1975) einen der Gründerväter der Institution in Erinnerung. Vorgestellt werden zwei frühe Kammermusikwerke, es spielen das Kuss-Quartett und der Pianist Péter Nagy.
Mit der vorliegenden Neuerscheinung des immer wieder mit musikalischen Pioniertaten aufwartenden Labels eda records – vormals unter dem Namen Edition Abseits bekannt – erlebt die Musik des Komponisten Ernst Gernot Klussmann ihre Premiere auf Tonträger. In der Tat: weder scheint es zu Lebzeiten Klussmanns zu einer Schallplattenproduktion gekommen zu sein, noch hat es bislang irgendeines seiner Werke in eine Anthologie oder dergleichen geschafft. Echtes Neuland also, und bereits ganz grundsätzlich einmal mehr ein Beleg dafür, welch unerhörte Fundgrube die Musik des 20. Jahrhunderts doch bietet mit einem schier überreichen Angebot an Könnern, deren Musik schlicht nicht wahrgenommen wird – in krasser Antithese zur nach wie vor verbreiteten Mär von der Begrenztheit des Repertoires der klassischen Musik.
Klussmann, geboren 1901 in Bergedorf, das damals noch nicht zu Hamburg gehörte, studierte zunächst privat Komposition und Orgel bei Felix Woyrsch (dessen Schaffen in den letzten Jahren erfreulicherweise an Aufmerksamkeit gewonnen hat) sowie Klavier u. a. bei Ilse Fromm-Michaels, selbst Komponistin. Anschließend zog es Klussmann an die Münchener Akademie der Tonkunst, wo er bei so eminenten Musikerpersönlichkeiten wie Joseph Haas (Komposition) und Sigmund von Hausegger (Dirigieren) studierte. Nach dem Abschluss seiner Studien 1925 fand er seine erste feste Anstellung in Köln und unterrichtete dort zunächst an der Rheinischen Musikschule und später an der Hochschule für Musik.
Zurück nach Hamburg ging er 1942, als das dortige Vogt’sche Konservatorium in eine Musikschule umgewandelt wurde, aus der dann eine Musikhochschule hervorgehen sollte. Die Leitung dieser Musikschule übernahm Klussmann. Da er 1933 in die NSDAP eingetreten war, wohl vorwiegend zum Schutz seiner Familie (seine Musik war in entsprechenden Kreisen bereits vorher als „entwurzelte Kunst“ bezeichnet worden), wurde er 1945 entlassen, 1948 nach langwierigen Berufungsverfahren jedoch wieder als Direktor eingesetzt. Als 1950 schließlich die avisierte Musikhochschule gegründet wurde, wurde Klussmann ihr stellvertretender Direktor und Professor für Komposition, was er bis zu seiner Pensionierung 1966 blieb. Er starb 1975 in Hamburg.
Sein Werkverzeichnis nennt 56 Opuszahlen, darunter nicht weniger als zehn Sinfonien; Vokalmusik spielt ebenfalls eine wichtige Rolle mit fünf Opern sowie Kantaten, Chorwerken und Liedern, zusätzlich Musik für Klavier und Orgel. Spätestens im letzten Jahrzehnt seines Lebens erlangte seine Musik kaum noch Beachtung: wie das Beiheft ausführt, verband Klussmann mit der Rundfunkausstrahlung seiner Sinfonie Nr. 6 op. 39 (1964) die Hoffnung auf eine Aufführung seiner mit der Sinfonie verwandten Oper Rhodope, aber letztlich ohne Erfolg: seine sämtlichen größer besetzten Werke der letzten Jahre blieben unaufgeführt. Ironischerweise gehörten private Rundfunkmitschnitte ebendieser Sinfonie bislang zu den wenigen Möglichkeiten, sich mit seiner Musik überhaupt zu befassen.
Das vorliegende Album stellt zwei Kammermusikwerke aus Klussmanns frühem Schaffen vor – in der Tat scheint sich seine Kammermusik ganz generell auf die ersten zwei Dekaden seiner kompositorischen Laufbahn zu konzentrieren. Mit dem Klavierquintett e-moll op. 1 begegnen wir Klussmanns überhaupt erstem „offiziellen“ Werk, entstanden 1925 wohl als Abschluss seiner Studien. Ein ambitioniertes, passioniertes, ausdrucksmächtiges Stück, dessen viersätzige Gliederung nicht von ungefähr an eine Sinfonie gemahnt, wahrhaft „orchestrale“ Kammermusik. Wie für ein Erstlingswerk nicht ungewöhnlich, orientiert sich Klussmann dabei relativ deutlich an spät- bis spätestromantischen Vorbildern, ohne sich allerdings in der Totalen einem bestimmten Komponisten oder einer spezifischen Richtung anzuschließen.
Das Hauptthema des 1. Satzes, vorgestellt von der 1. Violine, ist insofern für Klussmann eher untypisch, als dass es sich um eine auf relativ gängigem romantischem Vokabular aufbauende längere Melodielinie in erzählendem Tonfall handelt – bei einem Komponisten, dessen Musik bereits hier eher von kurzen, prägnanten Motiven geprägt ist. Das so beginnende Allegro impetuoso macht seinem Namen alle Ehre, geprägt von wuchtigem, vollgriffigem Klaviersatz und kraftvollen Repliken der Streicher sowie einem stark ausprägten Interesse an Kontrapunktik. Mir kam wiederholt das Heine-Zitat in den Sinn, das Hans Pfitzner seinem eigenen Erstling, der Cellosonate fis-moll op. 1, vorangestellt hat: „Das Lied soll schauern und beben“. Pfitzners Musik selbst hat dabei eher im zweiten Satz, einem intensiven, schwerblütigen Adagio in Des-Dur, ihre Spuren hinterlassen, wobei es auch hier an Momenten dramatischer Zuspitzung nicht mangelt.
Beinahe dämonisch mutet das folgende kurze Scherzo mit seinem von übermäßigen Dreiklängen durchzogenen Hauptthema an, die stampfende Dreierrhythmik ruft Bruckner in Erinnerung. Das ausgedehnte Finale beginnt mit einem fast hymnisch anmutenden Motiv, aus dem sich wiederum ein dezidiert kämpferischer Satz entwickelt mit (in der Thematik) noch relativ stark durch barocke Vorbilder geprägten polyphonen Elementen. Zwei Dingen gilt besonderes Augenmerk. Zum einen ist dies die Rolle der Tonarten, denn das Finale ist auch insofern ein sehr bewusst konzipierter Schlusspunkt, als dass man allen drei tonalen Zentren des Werks (e, des und c) wiederbegegnet – dem Des-Dur des 2. Satzes vor allem in einem lyrischen Seitengedanken, aber speziell e und c tragen untereinander im Laufe des Satzes ein veritables Gefecht aus. Eigentlich ist von Beginn an unklar, welches der definitive Grundton ist, denn schon das C-Dur des Beginns moduliert sehr schnell nach E-Dur, und ähnlich geht es weiter. Faktisch wird überhaupt erst mit dem Schlussakkord C-Dur als tonales Zentrum etabliert!
Zum anderen kristallisiert sich im Laufe des Satzes ein rhythmisches Dreitonmotiv heraus (eine fallende große Terz), das immer wieder insistierend ins Geschehen eingreift und den spätromantischen Rahmen durchaus ein wenig sprengt; man könnte hier fast etwas an Schostakowitsch denken, wobei natürlich nicht klar ist (und auch keine wesentliche Rolle spielt), ob Klussmann den jungen sowjetischen Komponisten zu diesem Zeitpunkt überhaupt kannte. Ähnliches tritt übrigens bereits im 1. Satz auf, wo sich aus der Exposition heraus ebenfalls eine dezidiert rhythmische Figur entwickelt, die die Musik vorantreibt.
Insgesamt erlebt man in diesem Werk zwar noch nicht den reifen Klussmann, und man könnte es mit einigem Recht für etwas überladen halten (weniger in der zeitlichen Ausdehnung von knapp 35 Minuten als eher in der stetigen Forcierung des Ausdrucks und seinem massiven Satz). Nichtsdestoweniger kann man Sigmund von Hauseggers Lob anlässlich der Uraufführung, als er insbesondere die „selbstständige, geistvolle Art, in der hier seine recht musikantischen, eigenwüchsigen Einfälle ineinanderfügt“, hervorhob, ausdrücklich zustimmen: ein Werk, das viel Interessantes und Verheißungsvolles enthält.
Entstanden in den Jahren 1928 bis 1930, ist das Streichquartett Nr. 1 op. 7 prinzipiell nur wenig jünger als das Klavierquintett. Und doch begegnet man in diesem Werk einem wesentlich veränderten Klangbild, einer viel raueren, herberen, lakonischeren, schlicht „moderneren“ Tonsprache, in mancher Hinsicht nicht untypisch für deutsche Musik der 1920er Jahre, wiederum allerdings ohne sich einem konkreten Vorbild anzuschließen. Gleich das Duett zwischen 1. Violine und Cello am Beginn lässt aufhorchen: Doppelgriffe im Bass, oftmals in Form paralleler Quinten, darüber in der Violine eine melodische Bewegung, die wie ein Fragment aus einer Gesangslinie anmutet, vielleicht sogar einem Chanson, einem Schlager, aber verfremdet und gleichsam aus der Distanz betrachtet. Hier und da wird cis-moll als Haupttonart des Quartetts angegeben; dies ist aber eher approximativ zu verstehen: es gibt nur wenige Passagen, in denen diese Tonart wirklich in aller Klarheit das Geschehen bestimmt, nicht einmal am Beginn. Mindestens frei- und teilweise polytonal ist das Quartett eigentlich durchgehend, stellenweise eigentlich fast schon atonal.
Sowohl für expressive Steigerungen als auch (sehr nachdrücklich, wie übrigens sein gesamtes Schaffen hindurch) für Kontrapunktik interessiert sich Klussmann nach wie vor, nun aber bewusster disponiert. So kommt es im Laufe des 1. Satzes (der zur Gänze im Adagio-Tempo gehalten ist) zwar zu beinahe gewaltsamen, scharf dissonanten Zuspitzungen, aber ebenso typisch ist das ruhige Brüten, in das die Musik immer wieder zurückfällt, und ebenso sehr wie dichte Polyphonie findet man hier auch karge, lediglich zweistimmige Passagen. Und wiederum leitet Klussmann aus dem Gesangsmelos des Beginns ein rhythmisches Motiv ab, aus dem Spannungen gewonnen werden und das die Musik formt.
Das Allegro an zweiter Stelle ist knapp gehalten, Musik erfüllt von flüchtiger Unruhe mit leicht groteskem Einschlag, geprägt von federnder, raschelnder Rhythmik, die in einen ambivalent-bitonalen Schlussakkord mündet. Dass der Marsch an dritter Stelle im 7/4-Takt gehalten ist und somit schon per definitionem „hinkt“, merkt bereits das Beiheft an. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen, denn selbst der 7/4-Takt wird eigentlich stets verunklart (etwa durch die Cellobegleitung, die passagenweise doch wieder einen Trochäus suggeriert), sodass man hier zwar allerhand Marschgesten begegnet, aber nie einem Metrum, das wirklich Fuß fasst, und die schneidig-punktierte Rhythmik eine Aura der Unklarheit umgibt. Der mit Fantasia überschriebene vierte Satz ist weniger langsamer Satz als in seinen Eckteilen Monolog, Rezitativ der Viola, im Mittelteil manifestieren sich Erinnerungen an den Marsch, und am Ende mündet die Musik in einen leicht verfremdeten, von einem Moment der Trauer erfüllten b-moll-Akkord.
Freundlicher dann das Finale: hier scheint es, als sei hinter den polyphonen Strukturen eine Art Volksweise verborgen, die allerdings niemals in aller Deutlichkeit in Erscheinung tritt, sondern eher als Idee im Hintergrund präsent ist, immer wieder anklingt, aber doch im Ungefähren bleibt. Was schließlich sehr explizit in Erinnerung gerufen wird, ist der 1. Satz (und ich würde davon ausgehen, dass man bei näherer Betrachtung noch mehr Binnenbezüge im ganzen Quartett finden wird), und ganz am Schluss steht wiederum affirmatives C-Dur – also die gleiche Tonart wie am Ende des Klavierquintetts, zwar auf ganz unterschiedlichem Wege erreicht, aber bei näherer Betrachtung dann doch wieder mit gewissen Parallelen. Ein starkes, nachhaltig in Erinnerung bleibendes Quartett, aus dem ich noch einmal ganz besonders den Kopfsatz hervorheben möchte.
Klussmann galt übrigens insbesondere als Bewunderer der Musik Gustav Mahlers, dem er später zu Beginn seiner 1950 komponierten Sinfonie Nr. 5 cis-moll op. 30 denn auch eine ziemlich unmittelbare Referenz erwiesen hat. Mit Mahlers Schaffen hat sich Klussmann bereits in den 1920er Jahren auseinandergesetzt, und insofern ist interessant, dass beide Werke auf dieser CD eigentlich nicht zwingend an Mahler denken lassen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man gewisse Parallelen (in der expressiven Glut etwa des 1. Satzes des Quartetts, in der Ironie mancher Passagen, das Beiheft weist zudem auf das ausdrucksorientierte Wesen der Polyphonie in Anlehnung an Klussmanns eigene Schriften hin).
Wenn die aktuelle Version des Wikipedia-Artikels zu Klussmann insbesondere seine Verwurzelung in der Spätromantik betont, dann ist dies jedenfalls ein wenig zu relativieren. Für die genannte Sinfonie Nr. 5 trifft dies sicherlich weitgehend zu; wie sie sich in Klussmanns übriges Schaffen aus jener Zeit einfügt, ist aber bereits eine offene Frage: schon das Quartett spricht ja eine andere Sprache, die Xenien für Klavier von 1948 antizipieren die Sinfonie wohl ebenfalls kaum; mehr Werke aus diesen Jahren sind mir leider nicht bekannt. Im Laufe der 1950er Jahre hat sich Klussmann dann intensiv mit der Zwölftontechnik befasst, und hört man Stücke wie die Sechste Sinfonie, Herodias für Alt und Orchester oder die späte, strenge Spiegelfuge (und Choral „Nun bitten wir den Heil’gen Geist“) für Orgel, dann ist dies zwar Musik eines Autors, der seine spätromantischen Wurzeln nicht verleugnet, das Klangbild aber ist doch wesentlich harscher und dissonanter, und man wird ohne Probleme in etwa gleichaltrige deutsche Komponisten jener Zeit finden, deren Musik wesentlich unmittelbarer der Tradition verpflichtet ist (ohne dass dies irgendein Werturteil implizieren würde).
Sehr erfreulich geraten sind die Interpretationen selbst. Mit dem Kuss-Quartett und dem Pianisten Péter Nagy haben sich Musiker zusammengefunden, die Klussmanns Musik mit großem Engagement und Sinn für die expressiven Spannungsfelder und -bögen dieser Musik darbieten. Gerade das Streichquartett ist darüber hinaus auch ein gutes Stück weit eine (allerdings kohärente!) Folge von Charakterbildern, und die Zeichnung all dieser Stimmungen mit all ihren Ambivalenzen, Subtilitäten und Grotesken gelingt dem Kuss-Quartett in vorbildlicher Manier.
Das Beiheft formuliert ein beherztes Plädoyer für Klussmann, wobei ein substantieller Teil auf die Diskussion seiner Rolle im Nationalsozialismus und das anschließende Entnazifizierungsverfahren entfällt. Leider werden die beiden Werke selbst dann eher knapp besprochen: hier gäbe es dem mit dieser Musik natürlich nicht vertrauten Hörer einiges mehr an die Hand zu geben, erst recht, weil das zentrale Argument für die Beschäftigung mit Klussmanns Musik nun einmal die Musik selbst ist. Am Rande notiert sei auch die etwas kuriose Volte im Grußwort des aktuellen Rektors der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Jan Philipp Sprick, der es nicht versäumen mag, auch in einem kurzen Text zu Klussmann auf die „Herausforderungen der digitalen Welt“ zu sprechen zu kommen.
Dies, wohlgemerkt, nur ganz am Rande, denn unter dem Strich ist dieses Album nur zu empfehlen. Man darf froh sein, Klussmanns Musik nun endlich auch auf Tonträger erleben zu können, und dies in solch gelungenen Einspielungen. Vielleicht entwickelt sich daraus ja mehr – zu wünschen wäre es.