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Bulgarisches…

Emil Tabakov (b.1947)
Complete Symphonies, Volume One
Five Bulgarian Dances (2011) & Symphonie Nr. 8 (2007-2009)
Bulgarian National Radio Symphony Orchestra; Emil Tabakov

Toccata Classics TOCC 0365; EAN: 5 060113 4456

Bulgarische Sänger? Na klar, Ghiaurov etc. und natürlich Ari Leschnikoff von den „Comedian Harmonists“ und noch ein paar andere, wie Spass Wenkoff, aber ansonsten? Ja, doch, die bulgarischen Rhythmen, vertrackt, vertrackt, aber von einem Symphoniker, von einem bedeutenden Komponisten? Wenigstens mir bis dato ziemlich unbekannt.

Doch das hat sich spätestens mit dieser CD des bulgarischen Komponisten und Dirigenten Emil Tabakov gründlich geändert. Denn dessen fünf bulgarische Tänze von 2011 sind ein Feuerwerk und gehen nicht nur in die Ohren, nein, in die Beine und wie!

Eine wunderbare ergötzliche musikalisch-musikantische Musik, noch dazu vom Komponisten selber aufs Beste in Szene gesetzt und dirigiert. Diese Personalunion ist zwar nicht ganz selten, aber auf solchem Niveau wünscht man sie sich öfter.

Vier schnelle und ein gemäßigter Tanz, die mit ungleich zusammengesetzten Rhythmen, für die ja die bulgarische Musik – auch die Folklore – berühmt ist, bravourös spielt, ein Parade-Beispiel für die Qualität des Bulgarischen Nationalen Rundfunk-Symphonieorchesters aus Sofia. Eine Wonne, die nicht nur den Ohren guttut, auch dem ganzen zuhörenden und bewegten Menschen.

Sperriger kommt die achte Symphonie daher, die von 2007-2009 entstand. Tabakov komponiert nämlich – wie auch Kollege Mahler – hauptsächlich in den Ferien im Sommer. Angesichts dieser Beschränkung ist sein Werkverzeichnis äußerst reichhaltig,  wie das Booklet ausweist. Abgesehen von neun Symphonien stehen auch Werke fast aller anderen Gattungen zu Buche.

Seine achte Symphonie baut meist auf kleinen verständlichen Motiven auf, die aber in allen möglichen Arten verarbeitet werden, klanglich, rhythmisch, melodisch oder harmoniemäßig, sodass ein dichtes, dunkles, erratisch abgründiges Klangwerk zu hören ist, das Tabakov als Meister der Instrumentation und der Komposition ausweist. Auf zwei langsame Largo-Sätze folgt ein schnelles Presto, das die fast 44 Minuten lange Komposition abschließt.

Diese erste CD einer Serie mit Werken von Emil Tabakov unter seinem Dirigat ist ein empfehlenswerter Beitrag zur Musik eines Landes, dessen „klassische“ Musik-Kultur dankenswerter Weise dadurch aus dem Schatten tritt.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Trotz alledem

SADIE HARRISON
The Rose Garden of Light
(A Crossover Between Afghan and Western Music)
Traditionelle Afghanische Musik und Musik von Sadie Harrison

ANIM  Junior Ensemble of Tradtional Afghan Instruments
Kevin Bishop, Viola
Ensemble Zohra
Cuatro Puntos

TOCC 0342, EAN: 5 060113443427

Afghanistan hat düstere Zeiten erlebt und erlebt sie bis heute. Dass das Regime der Taliban mit Kultur oder gar mit Kunst gar nichts am Hut hatte, dass ihnen Tradition und Menschlichkeit einfach egal waren und sind, ist bekannt. Dass aber dabei auch alle Musikinstrumente systematisch zerstört wurden, war mir neu. Über die Hintergründe und den Neuanfang vor ungefähr zehn Jahren gibt das Booklet sehr informativ und klar Auskunft, auch über die Musikerinnen und Musiker, über deren Zusammenarbeit mit westlichen, besonders amerikanischen Künstlern und Lehrern – Kevin Bishop sei hier stellvertretend genannt.

Die Komponistin Sadie Harrison wurde 1965 in Australien geboren und lebt in England. Sie arbeitete einige Jahre zusammen mit dem Musiker Kevin Bishop im neugegründeten Musikinstitut in Kabul, wo sie die alten Traditionen der afghanischen Musik neu belebten und ihre Kompositionen entstanden.

Herausgekommen ist ein spannendes Crossover – was ja immer ein Risiko ist, wenn traditionelle Musik mit „westlicher“ zusammenkommen soll, von misslungenen, wie von gelungenen Beispielen gibt es eine große Anzahl. (Nachzulesen auch bei the-new-listener).
Aber im Fall dieser erfreulichen CD ist es sehr gelungen, angefangen vom ersten Stück mit dem Titel „Der Judasbaum“ des afghanischen Komponisten Ustad Mohammed Omar, eines berühmten Rubab-Spielers, gefolgt von einem Viola-Solo von Sadie Harrison von 2014 „Allah hu“, überzeugend gespielt von Kevin Bishop, bevor das Hauptstück der Komponistin „The Rose Garden of Light“ von 2015 für Streich-Sextett und Jugend-Ensemble erklingt. Es drückt vor allem die neugewonnene Hoffnung auf eine friedliche und menschenwürdige Zukunft dieses zerstörten und zwischen unterschiedlichen Interessen aufgeriebenen Landes aus.  Und ist mit einer Dauer von fast 25 Minuten das Zentrum dieser CD.

Es folgen einige traditionelle Folksongs, teils instrumental, teils arrangiert für Streichsextett von Kevin Bishop.

Die Schönheit und Gelassenheit des gemeinsamen Musik-Erlebens überträgt sich in wunderbarer Weise auf den Hörer und ermöglicht ihm eine Erfahrung jenseits aller oft ach so reißerisch aufgebauschten Medienberichte über eine uralte Musik und Kultur, die hoffentlich bald wieder zurück finden kann zu ihrer ureigensten Sprache und Form.

Es gibt so viel Staunenswertes und Erlebbares auf unserem „Blauen Planeten“, für ihren „kleinen“ Beitrag gebührt dieser runden Scheibe Dank und besondere Aufmerksamkeit.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Klezmer-Musik aus dem Shtetl

Joachim Stutschewsky (1891-1982)
Kammermusik
Works for Cello and Piano, Klezmer Wedding Music, Hassidic Fantasy
Musicians of the Pittsburgh Jewish Music Festival
Aron Zelkowicz, cello; Luz Manriquez, piano; Jennifer Orchard, violin; Marissa Byers, clarinet

Toccata Classics TOCC 0314
5 060113 443144

Joachim Stutschewsky? Noch nie gehört? Dann geht’s Ihnen so wie mir. Als allerdings die ersten Takte seiner Musik erklangen, das war es um mich und meine Ohren – nein, nicht nur die – geschehen! Wer war dieser Unbekannte? Das hervorragende Booklet gibt erschöpfend Auskunft über den Musiker, der eine kurze Zeit 1924 in Wien Cellist des berühmten Kolisch-Quartetts war. Dann aber sich doch lieber seiner eigentlichen Bestimmung neben seinem Cello-Spiel widmete: der Komposition seiner ureigensten Musik, die auf der Herkunft aus einer Klezmer-Familie im Shtetl fußt. Und die er nach seiner Übersiedlung 1948 nach Palästina auch im neuen Staat Israel bekannt machen wollte. Aber wenig bis gar kein Interesse wurde seinen Plänen entgegen gebracht, die modernen seriellen und zwölftönigen Komponisten waren im neuen Kulturbetrieb gefragt, niemand wollte die alten jiddischen Weisen hören. Aufbruch zu neuen Unfern war die alleinige Devise. Und so kämpfte, spielte, missionierte Stutschewsky fast 20 Jahre lang, bis er die Renaissance seiner Musik und damit auch der ostjüdischen Tradition miterleben konnte.
Heute ist die Musik der Klezmorim weltweit bekannt und geliebt, was viele dementsprechenden Musikerinnen und Musiker in ihren Konzerten hören und spüren.

Die vier Musiker des Pittsburgh Jewish Music Festivals spielen Stutschewskys Musik, als wäre die Tinte auf den Notenblättern gerade trocken geworden. Mit Leib und Seele, mit Herzblut und Leidenschaft ertönen die Stücke, sei es für Klavier und Cello bei den allermeisten Stücken von 1933 bis 1962, oder für Klavier-Trio bei der Klezmer Wedding Music,  oder für Klavier, Cello und Klarinette in der Hassidic Fantasy. Natürlich verwendet Joachim Stutschewsky vor allem die Tonsprache seiner überlieferten Melodien, allerdings ist insbesondere die Klavierbegleitung deutlich farbiger und chromatischer, rhythmisch sehr pointiert und spannend. Es ist eine wahre Freude, diesen spielfreudigen und musikalisch-musikantischen Musikern zuzuhören, sich von der tiefen Emotionalität der Melodien mitnehmen zu lassen und immer aufs Neue einzutauchen in die Welt der Jahrhunderte alten Klezmer-Tradition, die uns heute in ihrer Unmittelbarkeit ganz besonders ansprechen kann. Auch wenn er die zeitgenössische Musik eines Schönberg, Berg und Webern direkt vor Ort in Wien miterlebt hat, sie sogar mit aus der Taufe hob, war Stutschewsky doch bald bewusst, dass sein Weg ein anderer, ein scheinbar rückwärts gewandter und doch andererseits so zutiefst menschlich verbundener war und sein würde, was seine Musik – zumal, wenn sie so überzeugend und hinreißend dargeboten wird – zu einer berührenden, überzeugenden Musenoffenbarung macht.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Blechbläser im Glück!

Robin Walker
Orchestral Music

Great Rock is Dead – Funeral March
The Stone Maker – Symphonic Poem
The Stone King – Symphonic Poem
Odysseus on Ogygia – Prelude

Novaya Rossiya Smphony Orchestra
Leitung: Alexander Walker

 

Toccata Classics, TOCC 0283; EAN: 5 060113 442833

Freunde an Dominanz der Blechblasabteilung im orchestralen Gefüge werden sich hier rundum wohlfühlen!

Robin Walker, geboren 1953 in York, U.K., studierte laut Selbstauskunft jahrelang die Musik Wagners. Das war und ist immer eine gute Idee!
Wagner bindet das Blech in ein Gespinst sich fortwährend wandelnder Entwicklung ein, wo es nur an wenigen, exponierten Stellen dominiert. Alle anderen Passagen gestalten die Streicher und Holzbläser, die mit mehr Farben zu zaubern vermögen – und dann dient das Blech nur – oder schweigt.

Robin Walker schlägt das Buch sozusagen von hinten auf: was wäre, spräche primär das Blech? Sicher, auch Streicher und Holzbläser dürften teilnehmen, aber die Hauptlast müssten die Ritter (und Ritterinnen) des Messings stemmen?

Die vier Stücke der Portrait-CD entstanden im Zeitraum von 1995 bis 2011. Erstaunlich, wie Walker in all den Jahren seiner gewählten Klangsprache treu bleibt. Diese, tief verwurzelt in spätromantischem Gestus, nie sentimental oder pastoral, macht es dem Hörer leicht – warum auch nicht? Das Schwere ist ja nicht per se das Bessere!

Entgegen der Bezeichnung „Symphonische Dichtung“ folgen die Stücke keinem literarischen Vorbild, sondern stets ausschließlich einer ideellen Konzeption des Komponisten. Titel wie „Funeral March“ und „Prelude“ stellen nur Ausgangspunkte der Inspiration dar, konzeptionell und konstitutiv wirken beide nicht verschieden.
Walker spricht von organisch gewachsenem Material, das konstruktiv gefasst wird. Dieser Vorgabe nachzufolgen, stellt eine Herausforderung dar.
Mächtige, nie massive Äußerungen im Blech, nein: hervorragend, wie Walker es erreicht, diese klangmächtigste Sektion des Orchesters transparent und sogar, an einigen Stellen, anrührend schön(!) in Szene zu setzen. Er öffnet seinen Bläsern weiteste Räume zur Entfaltung – ein großes Tor, alle Farben, um Geschicklichkeit, Sicherheit und Schönheit des Tones – und vor allem: Kraft – zu offerieren.
Allein: die dramaturgische Gleichartigkeit der Stücke, das Außerachtlassen weiterer verfügbaren Orchesterfarben, das permanente Auf und Ab, das nahezu nur vom Blech vorgetragen wird, das wenig Bezwingende der Form – lässt den Hörer am Ende eher erschöpft als erfrischt zurück. Die Stücke entbehren bei allem Können und Wollen des unverwechselbaren Charakters.

Das Novaya Rossiya Orchestra bereitet Freude: die Blechbläser haben hörbar Spaß daran, so richtig klotzen zu können. Alexander Walker (nicht verwandt) kontrolliert sicher und lässt seinen Musikern die Freuden, die diese voll auskosten.
Der Tontechnik großen Respekt, alle Opulenz durchsichtig und in der Wucht klar abzubilden.
Mein Rat: beim Hören der CD vorher alle Nachbarn warnen und die Fundamente des Hauses prüfen – so feurig in der Tiefe erlebt man Bass-Posaunen sonst kaum! Jericho ante portas!

Bei weitergehendem Interesse: www.robinwalker.org

[Stefan Reik, Juni 2016]

Stilvolle Stilkopien

Toccata Classics, Tocc 0346; EAN: 5 060113 443465

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Drei „After-Concertos“ von David Deboor Canfield sind bei Toccata Classics eingespielt. Der amerikanische Komponist schrieb 2007 sein Concerto nach Glière für Altsaxophon und Orchester, 2013 folgte eines für Sopransaxophon nach Tschaikowsky und vergangenes Jahr legte er noch eine Rhapsody nach Gershwin nach, wo die Violine den Solopart erhält. Hayrapet Arakelyan am Saxophon und Rachel Patrick an der Violine übernehmen die Solostimmen, es spielt die Sinfonia Varsovia unter Ian Hobson.

Es ist bedauerlich, dass uns weder Reinhold Moritzewisch Glière noch Pjotr Iljitsch Tschaikowsky ein Saxophonkonzert geschenkt haben (Glasunow hingegen hat in späten Jahren noch eines nachgereicht), sind doch schließlich sämtliche von ihnen erhaltenen Solokonzerte (inklusive des nicht vollendeten Violinkonzerts Glières) wahre Meisterwerke. Und auch, dass George Gershwin nur sein eigenes Instrument, das Klavier, mit Konzert- und Konzertstückliteratur bedacht hat, ist für die anderen Instrumentalisten reichlich ungerecht. So dürfte sich das vielleicht David BeBoor Canfield gedacht haben, als er seine drei „After-  Concertos“ plante. Hier bekommt ein Saxophon endlich einmal die Gelegenheit, auch romantische Literatur im verblüffend originalgetreuen Stil von Glière und Tschaikowsky zu spielen und ein Violinist darf sich über eine gershwineske Solorhapsodie freuen. Nicht auf der CD erschienen sind eine Elegy nach Brahms für Altsaxophon oder Klarinette und Klavier, ein Quintett nach Schumann für Saxophonquartett und Klavier sowie eine Ragtime-Sonate nach Scott Joplin für Altsaxophon und Klavier. Auch Werke ohne „Vorlage“ gibt es aus der Feder des 1950 in Florida geborenen Komponisten, immer in einem zum Heiteren tendierenden, beschwingt-eingängigen Stil, der durchaus auch eine individuelle Note aufweist.

Die drei hier zu hörenden „After-Concertos“ waren eine wirkliche Überraschung für mich. Statt den erwarteten flachen und vermeintlich witzigen Aufgriffen einiger weniger Floskeln des jeweiligen Vorbilds in standardisiert übertriebener Scherzparaphrasierung erhält der Hörer hier drei vollwertige Solokonzerte, die tatsächlich eine ernst gemeinte Musik präsentieren. Es sind auch keine direkten Musikzitate zu finden (jedenfalls fielen mir keine auf), sondern es handelt sich um eigenständige Werke, welche lediglich einem bestimmten Stil huldigen. Oft entsteht der Eindruck, als wenn wirklich gerade ein Stück von Glière, Tschaikowsky oder Gershwin vorgetragen würde, so genau hat sich Canfield den jeweiligen Stil angeeignet. Natürlich gibt es einige Details, welche den „Betrug“ bei genauerem Hinhören sichtbar erscheinen lassen, wie etwa unübliche Instrumentierungen an einer bestimmten Stelle oder alleine schon die Tatsache, dass ein Tschaikowsky-Konzert wesentlich länger als 20 Minuten dauert. Doch das ist unwichtig, schließlich geht es nicht darum, dem Nachgeahmten ein Werk unterzujubeln, sondern vielmehr, eine eigene und unabhängige Stilkopie zu schaffen. Und diese ist, in dreifacher Ausführung, wahrlich gelungen. Canfield schuf drei vielseitige, farbenreiche und für den eingeweihten Hörer oft durchaus amüsante Werke (wobei angemerkt werden sollte: es ist zu keiner Zeit intendiert lustig, dieser Effekt stellt sich eher automatisch ein bei einer gut gemachten Stilkopie), die den nachgeahmten Komponisten eine besondere Würdigung angedeihen lassen und ihrem Genie in der Qualität der Hommage auch gerecht werden.

Beide Solisten, Hayrapet Arakelyan und Rachel Patrick, bieten ihre anspruchsvolle Stimme mit Bravour, sicherer Intonation und reinem Spiel dar. Bei Patrick erscheint es manchmal so, als wäre ihr Spiel vor allem auf äußeren Effekt angelegt und nicht innerlich mitempfunden, wenngleich Phrasierung und Linienführung solide sind. Hayrapet Arakelyan hingegen spielt hörbar mit voller Leidenschaft und Hingabe, ist vollkommen in die Stücke involviert und integriert sich aktiv in den Orchesterapparat. Seinem Instrument entlockt er ungeahnt feine Klangnuancen und lässt lange Dialoge mit dem Orchester, aber auch Monologe in eigenen verschiedenen Stimmlagen ausdrucksvoll entstehen. Die Sinfonia Varsovia unter Ian Hobson hält sich dezent im Hintergrund, bildet aber eine untadelige Klanggrundlage, über der sich die Solisten entfalten können. In mancher Tuttipassage fehlt es manchmal etwas an Klangfülle und -Dichte – doch dies zu kompensieren, sind die Solisten stets schnell wieder zur Stelle.

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Damrosch entsteigt in Azusa der Mottenkiste

Leopold Damrosch
Symphonie A-Dur (1878)
Fest-Ouvertüre C-Dur (1871)
Franz Schubert/orchestr. Damrosch: Marche militaire D 733 Nr. 1

Toccata Classics TOCC 0261
ISBN: 5060113442611

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Diese Kritik schreibe ich nicht nur, weil die vorliegende Aufnahme wertvoll ist, sondern auch ganz bewusst geschärft als eine Art ‚Gegendarstellung’ zu einer peinlich überheblichen, freundlich vernichtenden Besprechung in einem viel gelesenen deutschen Klassik-Online-Magazin. Hier spielt ein Studentenorchester – das Azusa Pacific University Symphony Orchestra – unter dem so engagierten wie gewissenhaften und feinfühligen Dirigenten Christopher Russell, und natürlich können wir nicht die Studio-Perfektion internationaler Glanz-Klangkörper vom Schlage London Symphony oder Los Angeles Philharmonic erwarten – aber das erwarten wir auch nicht von einem gelungenen Konzert, und überhaupt erwarten wir das heute nur, weil Perfektion die einzige hörbare Messlatte für musikalische Ignoranten ist, die nichts von musikalischen Kriterien des Zusammenhangs verstehen. Und es ist unbedingt zu betonen, dass man hier zwar hin und wieder nicht ganz sauber ausgestimmte Akkorde hören kann, dass dies jedoch auf einem Niveau stattfindet, dem wir auch in vielen Livekonzerten renommierter Profiorchester begegnen. Also: Entwarnung an alle, die mein Vorgänger abgeschreckt hat – man kann es sich gut anhören, und mit immensem Gewinn und Vergnügen. Denn: hier spielt ein Orchester, das so intensiv an der Musik gearbeitet hat, dass man sofort merkt, dass alle Musiker das Stück kennen und sich nicht, wie ansonsten in Orchesteraufnahmen seltenen Repertoires üblich, im zufälligen Irgendwo eines Schaltplans befinden, dessen Funktionsweise ihnen unbekannt ist, sondern genau wissen und erleben, was dem, was sie gerade tun, vorausging und wohin es weiterführt.

Leopold Damrosch (1832-85), ein halbes Jahr vor Johannes Brahms geboren, ist Kennern vor allem bekannt als der Vater und Lehrer des Dirigenten Walter Damrosch (1862-1950), der 1885 mit dem Tod seines Vaters die Leitung der New York Symphony Society übernahm und bis 1928 innehatte. Die Musik Leopold Damroschs ist gekennzeichnet von vollendeter Beherrschung der Mittel in der Tradition der avancierteren Linie der klassizistischen deutschen Romantik, die einerseits wie Brahms von Beethoven und Schumann herkam und andererseits begierig die unwiderstehlichen Einflüsse von Berlioz, Liszt und Wagner in sich aufsog. Er war Geiger und hatte in Berlin bei Siegfried Wilhelm Dehn Komposition studiert. Außerdem promovierte er 1854 als Mediziner und trat dem Freimaurer-Orden bei, in welchem er später in den USA in prominenter Funktion wirkte. Dann spielte er unter Liszt in der Weimarer Großherzoglichen Kapelle. Ab 1858 wirkte er als Dirigent in Breslau. Obwohl wie auch Felix Draeseke zunächst neudeutsch revolutionär eingestellt, ist bei Damrosch als Komponist doch zusehends eine Fusion mit den gemäßigteren Elementen der Beethoven-Nachfolge festzustellen. 1872 ging er nach New York, wo er 1873 die Oratorio Society und 1878 die New York Symphony Society gründete.

Von Damrosch hat das im kalifornischen Azusa nordöstlich von Los Angeles ansässige Azusa Pacific University Symphony Orchestra unter seinem Leiter Christopher Russell 2014-15 folgende Werke für vorliegende CD bei Martin Andersons Raritäten-Fishing-Label Toccata Classics aufgenommen: eine Fest-Ouvertüre in C-Dur, die 1871 vor der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten entstand; die große, dreiviertelstündige Symphonie in A-Dur von 1878, also aus dem Gründungsjahr seines New Yorker Orchesters; und sein einst beliebtes Orchesterarrangement des ersten der drei bekannten Marches militaires op. 51 in D-Dur für Klavier zu vier Händen von Franz Schubert. In seinen Originalkompositionen zeigt Damrosch sich als souveräner Meister leuchtkräftiger Orchestration mit kontrapunktischem Geschick, harmonischer Gewandtheit und klarem Sinn für einprägsame Melodik und effektvolle Dramaturgie. Die Fest-Ouvertüre ist ein gelungener, wie der Titel nahelegt nicht allzu tiefgängiger Genre-Beitrag, der sich als Eröffnung anbietet. Damroschs Herzblut ist in seine große Symphonie eingeflossen, die er selbst nicht zur Aufführung brachte. Sie blieb in der Schublade liegen bis ins 21. Jahrhundert! 2005 wurde eine kritische Edition erstellt, und am 8. Februar 2015, nach mehr als 136 Jahren, spielten jene Musiker die Uraufführung, die das Werk an den folgenden Tagen aufnahmen und nun hier als Ersteinspielung vorstellen. Ein großer symphonischer Sonatensatz eröffnet die Symphonie mit einer langsamen Einleitung von evokativer Weite. An zweiter Stelle steht das Scherzo, das als Intermezzo scherzando betitelt ist: ein knapper Satz zackig herausfahrenden Charakters mit einem geschmeidigen Trio als Gegensatz, das noch einmal wiederkehrt. Zentrum der Symphonie ist eine grandiose Marcia solenne von machtvoll pathetischer Wirkung und extremen Gegensätzen, die auch die deutlichste Nähe zu den Neudeutschen herstellt. Es folgt ein flunkernd geschwindes Finale mit klaren Kontrasten, und gegen Ende kehrt die Einleitung des Kopfsatzes wieder und verleiht dem Werk die intendierte zyklische Wirkung, bevor es zum kraftvollen Ausklang kommt. Die nachfolgende Schubert-Bearbeitung eignet sich als Zugabe, ist allerdings bei aller handwerklichen Geschliffenheit weder originell noch besonders feinsinnig, aber es muss ja auch nicht alles, was geschürft wird, gleich Gold sein.
Das kalifornische Elite-Uni-Orchester gibt unter seinem offenkundig kompetenten und musikalischen Dirigenten alles, was in seiner Macht steht. Was man technisch nicht so gut kann wie professionelle Vereinigungen, die seit Generationen eine Tradition weiterreichen, die stets auch nicht nur ihre positiven Seiten hat, macht man keineswegs nur mit Engagement und Wagemut wett. Nein, hier spielt ein Orchester, das die Werke kennt und sich in langen Probenphasen mit ihrem Gehalt verbunden hat, das an die Größe dieser Musik glaubt und ihr eine Authentizität verleiht, die den Hörer ergreifen kann. So entsteht eine Folgerichtigkeit des Ablaufs, die in routinierten Aufnahmesessions, bei denen oftmals vom Blatt gelesen wird und keines der Werke je im Zusammenhang durchgespielt, geschweige denn auch nur ansatzweise auf eine zusammenhängende Wirkung hin geprobt wurde, niemals erreicht wird. Also: weniger Perfektion, aber viel mehr Sinn, Bezug und Verinnerlichung. So ähnlich könnte die Symphonie geklungen haben, wäre sie seinerzeit aufgeführt worden, denn damals waren die professionellen Orchester noch nicht so perfektioniert wie heute, aber sie spielten beseelter, zumal nur der Augenblick des Entstehens zählte, bevor die Wiederholbarkeit durch konservierte Aufnahmen ein anderes Zeitalter einleitete, dessen Errungenschaften neben dem informellen Gewinn für jedermann auch krasse Verluste mit sich brachte. Alleine der Symphonie wegen lohnt sich diese CD, wenn man lebendig entstehende Musik hören will und nicht nur steril poliertes Einerlei. Und eines vermittelt sich in dieser durchaus berührenden Aufführung: Damrosch war kein Originalgenie, jedoch durchaus ein hörenswerter Komponist, der das Bild der Zeit in wertvoller Weise ergänzt. Aus der Mottenkiste der Geschichte ist weiterhin immer wieder Bemerkenswertes zutage zu fördern. Wie heißt es im Kino: Pradikat wertvoll.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2016]

Die Reise zu Busch geht weiter

Adolf Busch (1891-1952)
Kammermusik CD 2
Bettina Beigelbeck
Busch Kollegium Karlsruhe

Toccata Classics  TOCC0293
5 060113442932

Ulrich6

Divertimento für Klarinette, Oboe und Englischhorn op.62b (1944)
Sonate in A-Dur für Klarinette und Klavier op. 54 (1939, rev. 1940)
Suite in d-Moll für Klarinette solo op.37a (1926)
Hausmusik: Duett No. 2 für Violine und B-Klarinette op.26b (1921)
Fünf Kanons in Unisono für drei Instrumente, BoO 60 (1949)
Hausmusik: Deutsche Tänze für B-Klarinette, Violine und Violoncello op.26c (1921)

Mit der zweiten CD mit Kompositionen von Adolf Busch – den meisten nur als einer der überragenden Geiger des 20. Jahrhunderts bekannt – füllen Bettina Beigelbeck und das Kollegium Karlsruhe eine weitere Lücke im Schaffen des als Komponist immer noch allzu unerschlossenen Geigers, neben Fritz, Hermann, Willi und Heinrich der genialste von fünf Brüdern.
Es beginnt mit einem sehr aparten, sechssätzigen Divertimento für Klarinette, Oboe und Englischhorn aus dem Jahr 1944, als Adolf Busch längst nach Amerika ausgewandert war und dort eben mit anderen Kollegen seine Projekte realisierte. Die seltene Besetzung der drei Holzbläser vereinigt aufs Schönste die verschiedenen Klangfarben, die Themen sind sowohl vom Melodiösen als auch vom Rhythmischen her kleine Kostbarkeiten. Wobei das dunkelgetönte Englischhorn die Bassfunktion hat. Zum Abschluss wird der erste Satz noch einmal wiederholt und gibt so dem ganzen Stück eine  gelungene zyklische Struktur.
Die 1939 entstandene und 1940 revidierte Sonate für Klarinette und Klavier, die Busch auch seiner Freundschaft mit dem englischen Klarinettisten Reginald Kell (1906-1981)
„verdankt“, wie auch seinem legendären Duo-Partner und Schwiegersohn Rudolf Serkin (1903-1991), ist ein Schwergewicht in drei Sätzen und dauert auch fast eine halbe Stunde. Bettina Beigelbeck und der Pianist Manfred Kratzer spielen das Allegro ma non troppo, das Scherzando vivace und das Grave, Adagio espressivo e cantabile, Allegretto, Molto Allegro – quasi presto mit der entsprechende Hingabe und lassen diese Komposition als ein Hauptwerk für diese Besetzung aufscheinen. Beiden Partien sind alle möglichen virtuosen und umfassend musikalischen Schwierigkeiten einkomponiert, die aber den melodischen und musikalischen Fluss niemals stören oder zum Selbstzweck werden. Die Kombination Klarinette und Klavier hat ja durchaus schon längere Tradition, man denke an Schumann oder an Saint-Saëns, Draeseke, Reger und andere.
In der Suite in d-Moll für Klarinette solo wünschte ich mir noch mehr Gelassenheit und befreiten linearen Fluss, der den Intervallen, die ja auf der Klarinette vollkommen mühelos zwischen Extremlagen springen können (ein besonderes Merkmal dieses so wundervoll singen-könnenden Instruments), mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe. Sie sind ja doch das A und O dieser viersätzigen Suite, die mich  daran erinnert, dass auch Igor Strawinsky (1882-1971) drei Stücke für Klarinette solo komponierte, die ich einmal mit Ralph Manno (geb. 1964) in staunenswerter Aufführung hörte.
Dass Adolf Busch den Terminus „Hausmusik“ und Stücke dieser Art nicht verschmähte, war schon bei der nicht weniger lohnenden ersten CD mit Kammermusik mit Klarinette zu hören. Auch hier stehen vier Duette für Klarinette und Violine, von 1921, an. Wieder  die berührende Melodik zweier sehr gut zu einander passenden Instrumente, die diesen Stücken eine Leichtigkeit geben, die zum Nachspielen durchaus reizt. Es mag Hausmusik sein, allerdings auf hohem Niveau.
Auch die fünf Unisono-Kanons für drei Instrumente von 1949 –neben der Klarinette sind auch zwei Oboen mit von der Partie –, als Geschenk zu Weihnachten für Buschs zweite Frau Hedwig (1916-2006) komponiert, sind Hausmusik im eigentlichen Sinne, jedoch gespickt mit Herausforderungen, sowohl was das Zusammenspiel als auch was die technischen Schwierigkeiten anbelangt.
Auch als „Hausmusik“ deklariert sind die Deutsche Tänze aus dem Jahr 1921, das für Busch sowieso ein wichtiges war, denn zum ersten Mal ging er da zu Aufnahmen ins Schallplattenstudio. Außerdem entstand damals sein Violinkonzert a-Moll.
Mit einem „gemütlichen“ Walzer beginnen sie, sehr “groovy“, ein wunderschönes Stück für die drei Instrumente. Der Walzer führt dann unmittelbar in ein humoristisches Vivace über, das wiederum von einer Walzer-Reminiszenz abgelöst wird, der ein poco tranquillo folgt und melancholische Töne bringt, die allerdings schnell einer erneut walzerseligen Stimmung weichen. Äußerst hörenswert, durchaus auch wieder zum Nachspielen reizend, ist diese kleine Folge von fast biedermeierlichen und durchaus nicht im Tiefsinn versinkenden Tänze.
Also nicht nur als phänomenaler Geiger, dessen Beethoven- und Mozart-Einspielungen bis heute Gültigkeit haben (neben unzähligen anderen Aufnahmen, die Adolf Busch auch einmal zusammen mit seinem Bruder, dem Dirigenten Fritz Busch, machte), ist Adolf Busch eine Erscheinung von Ausnahmerang, und es wird Zeit, dass er auch als Komponist seinem Rang entsprechend wahrgenommen wird, wofür die ausgezeichnete Klarinettistin Bettina Beigelbeck und ihre vortrefflichen Mitstreiter nun eine wahrhaft scharf geschliffene Lanze gebrochen haben. Beide CDs (Nr. 1 und 2) sind ein bravouröser Beginn und lassen auf Weiteres nachdrücklich hoffen.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]