Archiv des Monats: Juli 2025

Richard-Strauss-Tage 2025 [2]: Symphonische Italienreisen von Mendelssohn und Strauss

Wie der Strauss-Wolf-Liederabend (siehe den ersten Teil dieses Beitrags) nach Italien führte, so stand auch das zweite Symphoniekonzert der Richard-Strauss-Tage 2025 im Zeichen des Landes, „wo die Zitronen blühn“. Unter der Leitung von Rémy Ballot spielte das Münchner Rundfunkorchester die Italienische Symphonie op. 90 von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Symphonische Fantasie Aus Italien op. 16 von Richard Strauss. Dazwischen waren fünf Orchesterlieder von Strauss zu hören, gesungen von der Sopranistin Joo-Anne Bitter.

Italien, das Sehnsuchtsland der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, hat so manchen ausländischen Komponisten dazu angeregt, ihm musikalisch Tribut zu erstatten. Mendelssohns Italienische Symphonie, 1831 bis 1833 während und nach seiner großen Italienreise komponiert, kann als das erste große symphonische Werk eines Nicht-Italieners der romantischen Epoche gelten, welches den Geist und die Atmosphäre Italiens in Tönen festzuhalten sucht. Unter den zahlreichen in den folgenden Jahrzehnten entstandenen orchestralen Italienhuldigungen finden sich Werke wie Hector Berlioz‘ Harold en Italie, Pjotr Tschaikowskijs Capriccio Italien, die Italienische Suite von Joachim Raff, die wunderbar atmosphärischen Impressions d’Italie von Gustave Charpentier und Edward Elgars groß angelegte Ouvertüre In the South (Alassio). Auch der zeitgleich mit Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen ansässige Franz Mikorey, dessen Kammermusik in den ersten Konzerten der diesjährigen Strauss-Tage zu hören war, findet sich mit einer Symphonie namens Adria in dieser Reihe. Richard Strauss selbst besuchte Italien erstmals 1886. Die lebhaften Eindrücke, die er Auf der Campagna, In Roms Ruinen, Am Strande von Sorrent und vom Neapolitanischen Volksleben empfing, lieferten ihm die Inspiration zu vier entsprechend betitelten symphonischen Sätzen, die er unter dem Titel Aus Italien zusammenfasste. Mit diesem Werk betrat Strauss zum ersten Mal das Gebiet orchestraler Programmmusik, ohne bereits eine Symphonische Dichtung im Sinne seiner späteren Werke vorzulegen. Als Gattungsbezeichnung für die gut dreiviertelstündige Komposition wählte er den Begriff „Symphonische Fantasie“.

Aus Italien lässt sich als das Übergangswerk schlechthin zwischen Straussens frühem Schaffen und seiner mit Macbeth und Don Juan einsetzenden Periode der symphonischen Hauptwerke bezeichnen. Wie in keinem anderen seiner Stücke aus dieser Zeit begegnen einander hier Altes und Neues. Die einstige Orientierung an Brahms wirkt besonders im zweiten Satz nach, der in Tempo und Rhythmik stark an den Kopfsatz der Brahmsschen Dritten Symphonie gemahnt. Dagegen steht eine große Zahl an Stellen, die spätere Strausssche Einfälle anklingen lassen. So erscheinen die Anfangstakte rückblickend wie eine Vorstudie zu den Eröffnungen von Macbeth und Also sprach Zarathustra. Auch taucht im Kopfsatz ein Begleitmotiv auf, das im Don Juan nahezu wörtlich als einer der Kontrastgedanken wiederkehrt. Im dritten Satz malt Strauss die Wellen vor Sorrent mit jenen chromatischen Terzenläufen, die ab nun eines seiner Markenzeichen werden. Allgemein behandelt Strauss das Orchester in Aus Italien mit einer Geschicklichkeit, die der Virtuosität späterer Jahre schon äußerst nahe kommt. Hinsichtlich der ersten Takte mit ihrer räumlichen Tiefe, und auch vieler weiterer Stellen der Partitur, kann man schon von einem typischen Strauss-Klang sprechen.

Was Aus Italien von den späteren Tondichtungen trennt, ist namentlich die Art und Weise der musikalischen Bewegung. In den beiden Allegro-Sätzen befindet sich Strauss diesbezüglich noch im Fahrwasser von Brahms und Berlioz. Die breite Grundströmung der Musikdramen Wagners, die ab dem Macbeth seine symphonischen Werke grundiert und ihnen zu ihrem charakteristischen langen Atem verhilft, hat hier noch nicht völlig von ihm Besitz ergriffen. Der Wille, aus dem gewohnten klassisch-frühromantischen Temporahmen auszubrechen, zeigt sich gerade im Finale sehr deutlich, doch bleibt es letztlich bei Ansätzen, sodass in diesem Satz Abschnitte unterschiedlicher stilistischer Prägung kurios nebeneinander stehen. Auch wenn man diesen Umstand durch das Programm des Satzes legitimieren kann – auf den Straßen Neapels mag es wohl zuweilen etwas konfus zugehen –, lässt sich kaum leugnen, dass die Stärken dieser Symphonischen Fantasie vor allem in den beiden langsamen Sätzen liegen. Nichtsdestoweniger muss man Rémy Ballot Recht geben, wenn er am Tag vor dem Konzert im Podiumsgespräch mit Dominik Šedivý, dem künstlerischen Leiter der Strauss-Tage, äußerte, Aus Italien sei gut genug, um die Erinnerung an Richard Strauss zu rechtfertigen, auch wenn er nach diesem Werk nichts mehr komponiert hätte. Und so freut man sich, diese selten gespielte Komposition einmal im Konzert zu hören – zumal in einer solch kultivierten Aufführung.

Ballots Herangehensweise an die Straussschen Orchesterwerke ist nicht pittoresk motiviert. „Wenn man bei Aus Italien zu sehr an Italien denkt“, so der Dirigent weiter im oben erwähnten Gespräch, „läuft man Gefahr, dass es nicht italienisch klingt!“ Ebenso verhalte es sich im Falle des Heldenlebens, das er letztes Jahr in Garmisch dirigierte: „Wenn man sich allzu sehr darauf versteift, es möglichst heroisch klingen zu lassen, wird man den vielen Teilen des 45-Minuten-Stücks nicht gerecht, die eben nicht heroisch klingen. Es ist eine Landschaft mit vielen verschiedenen Konturen.“ Ballot hält sich an die Vorgaben der Partitur, die er genauestens zu realisieren sucht. Er ist ein Dirigent, der die Noten liest – und sie nicht bloß buchstabiert. Er dirigiert musikalische Sinneinheiten, nicht beziehungslos aufeinander folgende Töne. Wenn er musikalische Werke mit Landschaften vergleicht, so muss man hinzufügen, dass die große Tugend dieses Musikers darin besteht, sich eine phänomenale – nämlich phänomenologische – Ortskenntnis innerhalb dieser Landschaften zu verschaffen. So überlässt man sich als Hörer gern diesem Cicerone, wenn es darum geht, Strauss auf seinen Gängen durch Roms Ruinen und Neapels Gassen zu folgen. Namentlich der Gefahr, dass es im zweiten Satz gar zu verwinkelt und schwerfällig zugeht, verstand Ballot erfolgreich entgegenzuwirken. Nominell ist In Roms Ruinen ein „Allegro molto con brio“, allerdings vermittelt der Satz nicht den Eindruck einer besonders hohen Geschwindigkeit. Strauss dürfte diese Bezeichnung wohl vor allem gewählt haben, um einem zu breiten und spannungslosen Vortrag entgegenzuwirken. Ballot, unter dessen Leitung das ganze Werk ziemlich genau die in der Partitur vermerkten 47 Minuten dauerte, versuchte nicht, aus dem Stück krampfhaft das Presto zu machen, das es nicht ist. Er scheuchte das Orchester nicht hindurch, sondern hielt es durch Liebe zum Detail dazu an, die Musik zu beleben. Besonders konnte man sich über jedes neue Erklingen des Hauptthemas freuen, in dem der Kontrast zwischen der 6/4- und der 3/2-Betonung durch spannungsvollen Vortrag der Überbindung in der Mitte des ersten Taktes trefflich herausgearbeitet wurde.

Ballot hatte sich bereits vor zwei Jahren in Garmisch mit der Schottischen Symphonie als vorzüglicher Mendelssohn-Dirigent empfohlen, mit der Italienischen bestätigte er den damaligen Eindruck aufs neue. In Mendelssohns weitgespannter, sanglicher Melodik fühlt er sich offensichtlich ebenso wohl wie in dessen immer elegant und virtuos gesetztem Kontrapunkt. Die Fähigkeit des Dirigenten, in parallel ablaufenden melodischen Schichten zu denken – was seinen Strauss so fasslich und fesselnd macht –, bewährt sich hier aufs Schönste, nicht zuletzt an den Knotenpunkten der musikalischen Entwicklung, den Kadenzen, die er stets in der belebenden Schwebe zwischen Zielpunkt und Atemschöpfen vor dem Weiterschreiten hält.

Zwischen den beiden italienischen Symphonien standen fünf Strausssche Orchesterlieder: Ich liebe dich, Meinem Kinde und Mein Auge op. 37/2–4, Winterweihe op. 48/4 und Morgen op. 27/4. Dem Münchner Rundfunkorchester gesellte sich hier die Sopranistin Joo-Anne Bitter hinzu, was man durchaus einen Glücksfall nennen kann. Sie agierte nicht als dominante Solistin, sondern als gleichrangige Partnerin des Orchesters, strebte weniger danach möglichst die Instrumente zu überstrahlen, denn als führende Stimme aus ihrer Menge hervorzuleuchten. Damit fügte sie sich in Ballots Arbeitsweise gut ein, der danach trachtete, möglichst jede Schicht des klanglichen Gefüges zu ihrem Recht kommen zu lassen. Man hatte also im Grunde Kammermusik für Gesang und Orchester vor sich. Besonders gut tat diese Art der Darbietung dem Morgen, einem Lied, das von seinen Interpreten oft genug zur Schnulze degradiert worden ist. Hier hörte man es als ein schlichtes, anmutiges Stück, völlig unprätentiös und ohne falsche Exaltiertheit. Bei der Textdeutlichkeit der Sängerin, den sich ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge bewussten Orchestermusikern, der vokal und instrumental auf die Kadenzen hin entwickelten Melodik war gar kein Boden gegeben, auf dem Kitsch hätte entstehen können. So sollte es immer sein!

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Robin Hood bei den Zisterziensern: Innsbrucks geheimer GMD mit historisch signifikanten Premièren

Das Orchester der Akademie St. Blasius spielte unter der Leitung von Karlheinz Siessl im Zisterzienserstift Stams die Uraufführung von Elias Praxmarers Orgelkonzert Die Heilige Stadt (Solist: der Komponist) sowie die Tiroler Erstaufführungen der Musik für Orchester von Rudi Stephan und der Symphonie Nr. 2 von Alfredo Casella.

In Deutschland wüsste ich derzeit keinen Dirigenten, der sich unter derart unwägbaren finanziellen Bedingungen und entsprechend knapp bemessenen Einstudierungszeiten das traut, was Karlheinz Siessl mit seinem freiberuflichen Orchester der Akademie St. Blasius in Innsbruck nun schon seit weit mehr als einem Jahrzehnt unbeirrbar verfolgt. Ich habe Siessls Wirken kennengelernt, als er – auf Initiative von Peter Kislinger und in Anwesenheit des Komponisten – die musikalisch hoch anspruchsvolle Sinfonia per archi von Anders Eliasson zur mitteleuropäischen Erstaufführung brachte. Seither bewundere ich die unersättliche Erkundungslust, getragen von solidem Kapellmeisterhandwerk und immer offenen Ohren für alle historischen und aktuellen Phänomene des Dirigierens, mit welcher Siessl regelmäßig Unbekanntes, Vergessenes und vor allem sehr viel ganz Neues ganz ohne ideologische Scheuklappen einem treuen und mittlerweile längst auch genau das von ihm erwartenden Publikum in der tirolischen Landeshauptstadt und im Tiroler Umland präsentiert, darunter bereits drei der vertrackten Solokonzerte des herausragenden lebenden finnischen Komponisten Kalevi Aho und die stets eigentümliche und urwüchsig querständige Musik seines Landsmanns Michael F. P. Huber. Mit Karlheinz Siessl hat Innsbruck seinen essenziellen Pfeiler wider das träge musikalische Establishment, und nicht ohne Grund genießt er unter seinen Orchestermusikern und weiteren Anhängern eine Art Heldenstatus, so als eine Art Robin Hood der Komponisten.

Diesmal lud die Akademie St.Blasius zum Festkonzert am 19. Juli in die prachtvoll renovierte Basilica minor im Zisterzienserstift Stams im Oberinntal. Trotz oder wegen des widrigen Wetters war das Publikum zahlreich erschienen, und nach knapp zwei Stunden Musik ohne Pause herrschte spürbar eine allgemeine Atmosphäre des ehrfürchtigen Staunens und heiterer Erfülltheit.

Zu Beginn erklang als Uraufführungsheimspiel ein Concertino für Orgel und Streicher von Elias Praxmarer, dem Stiftsorganisten von Stams, das Die Heilige Stadt in der Johannes-Offenbarung in Tönen zu malen beabsichtigte. Ein orthodox dreisätzig gegliedertes Werk im Windschatten des offenkundig verehrten Olivier Messiaen, eine ganz unverhohlene Huldigung an den französischen Kultkomponisten einer Majorität heutiger Organisten. Um ungestört Synchronisation zu erreichen, befand sich das Streichorchester mit Dirigent oben bei der Orgel, außerhalb des Sichtbereichs des Publikums, das dem Solisten auf einem großen Bildschirm auf die Finger schauen, Kontrabässe besichtigen und gelegentlich von der Seite einen Blick auf die Gestik des Dirigenten erhaschen durfte.

Dann kamen die Musiker nach unten, und das eigentliche Konzert begann. Siessl hatte es gewagt, zwei herausfordernde Werke für großes Orchester aufs Programm zu setzen, die leider fast nie zu hören sind und innerhalb von fünf Jahren entstanden. Dies war für einige Zuhörer Grund genug, hunderte Kilometer weit nach Stams zu pilgern.

Zunächst erklang als äußerst überfällige Tiroler Première das orchestrale Hauptwerk von Rudi Stephan (1887–1915), dem viel zu jung an der galizischen Ostfront gefallenen Wormser Meister, der seinerzeit als die „große Hoffnung der deutschen Musik“ betrauert wurde. Seine Musik für Orchester (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, weit umfangreicheren ersten Musik für Orchester, aus der dieses endgültige Werk hervorging) ist 1912 entstanden und bildet einen absoluten Gipfelpunkt des frühen Expressionismus. Es muss nicht gesagt werden, dass Stephan als 25jähriger bereits sein Handwerk vollendet beherrschte und zu einer unverkennbar eigenen Tonsprache gefunden hatte; dass die einsätzig kompakte Komposition zwei extrem kontrastierende Welten – die eine schicksalhaft dunkel lastend und sehr breit, die andere dramatisch gezackt, auffahrend und sehr rasch – in immer wieder übergangslos aneinandergeschnittenem Wechsel gegeneinander agieren lässt, bis eine Art lakonische Euphorie dem wild sich aufbäumenden Geschehen ein rasches Ende bereitet. Die Aufführung bestach mit identifikatorischer Kraft und dem Willen zu sachlich gebändigter Expressivität. Lediglich bezüglich der Temporelationen gab es einige pragmatisch nachvollziehbare, jedoch rein musikalisch einigermaßen willkürliche Entscheidungen des Dirigenten.

Dies gilt auch für das abschließende Werk, fiel hier, in den weiten Gefilden der ausufernden Form, jedoch naturgemäß nicht so offenkundig ins Gewicht. Alfredo Casellas 1908–09 in Paris entstandene und unumwunden Gustav Mahler huldigende Zweite Symphonie, ein recht gigantisch dimensioniertes Opus ultimum eines 25jährigen, der bereits die Kunst der Orchestration in einer schwindelerregenden Vollendung beherrschte, die seine russischen Vorbilder gerne vergessen lässt, führt uns in vier Sätzen ein bombastisch imponierendes Panorama der Ausdrucksvielfalt und ins Extrem gesteigerten Klangpracht des großen Orchesterapparats vor. Zum Schluss tritt schließlich auch noch die große Orgel hinzu und verwandelt, zusammen mit vor allem dem massiven Blech und dem luxuriös betrauten Schlagzeug, den hohen Raum in ein panharmonisch tosendes Universum. Man muss nun hervorheben, dass für die Aufführenden vor den Kirchenbänken eigentlich viel zu wenig Platz ist; dass deshalb das Orchester maximal in die ersatzweise verfügbare Breite gezerrt werden musste, dass es dadurch sehr schwierig war, Holzbläser und Blechbläser, die sich gegenseitig niemals rechtzeitig hätten hören können, in Abstimmung zu halten (das einzige, was hier zusammenhält, ist die glücklicherweise sehr ökonomische und entschiedene Zeichengebung Siessls, der man anmerkt, dass er mit seiner stürmischen Truppe schon so manches Wagnis bestanden hat); dass die Raumakustik ab einer bestimmten Massierung der Klanggewalten keine Transparenz mehr ermöglicht und auch der überschattende Nachhalleffekt nicht gering ist; dass angesichts der großen Bläserbesetzung – aus Kosten- und Raumgründen – eigentlich viel zu wenige Streichinstrumente mitwirkten, die überdies in der heute in Mode gekommenen Aufstellung mit auf rechts und links verteilten ersten und zweiten Geigen die Struktur eher zerstreuend abbilden; dass also die Bedingungen für eine erfolgreiche Aufführungen äußerst riskant und schwierig waren. All dessen eingedenk, ist Siessl und seinem Orchester ein exzellentes Gelingen einer heroischen Tat zu bescheinigen, und man darf annehmen, dass fast alle Anwesenden sehr berührt von dem gewaltigen Werk waren und sich über eine baldige Wiederbegegnung mit demselben freuen würden – obwohl Casella auch in diesem Werk, einem seiner besten und substanziellsten, nicht durchgehend edelste Erfindung und geistige Tiefe offenbart, jedoch stets hypnotische Klangwirkungen und zündendes Musikantentum, zugleich auch klar orientierende Formgebung mit unmissverständlicher Dramaturgie des großen Aufbaus. Es spricht also überhaupt nichts dagegen, dass sich in Österreich – oder überhaupt im deutschsprachigen Raum und natürlich auch in Italien und Frankreich – bald Nachahmer finden, gerne auch im Bereich der sogenannten Toporchester, die sich auf dieses monumentale Spektakel einlassen. Ganz besonders gelungen sind das Scherzo und der langsame Satz, doch auch der Kopfsatz ist mit vollendetem Aufbau und glänzender Erfindung gesegnet, und lediglich im Finale mag sich die Frage stellen, die ja auch Mahler regelmäßig zu stellen ist: Hält es letzten Endes wirklich zusammen? Um diese zu beantworten, wären weitere Aufführungen nach dieser so verdienstvollen späten österreichischen Erstaufführung die besten Gelegenheiten. Fürs Orchester und für die Zuhörer ist es jedenfalls ganz besonders dankbare Musik, die mit Ovationen gefeiert wurde. Und Innsbruck darf dann irgendwann getrost Karlheinz Siessl ein Denkmal errichten, tut er doch mehr für die Sache der Musik und dies nachhaltiger als jeder Generalmusikdirektor und andere offiziell bestallte Würdenträger von Land und Landeshauptstadt. Mut und Interesse an der Musik hat er ohnehin mehr als alle anderen.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Große Welt im kleinen Dorf: Das Quatuor Arod mit Attahirs „Al Asr“ in Feldafing

Was soll man dazu sagen? Die kulturelle Asymmetrie ist frappierend: Wo die Geldbeutel noch einigermaßen voll sind (soweit das bei den heutigen Zuständen noch zutrifft), wird entweder eingehegt lobbyistisch organisierte Nischenkultur gepflegt (musica viva usw.) oder überwiegend ein vermeintlicher Mehrheitsgeschmack mit PR-gestütztem Mainstream versorgt.

Feldafing ist ein kleines, äußerst beschauliches Dorf – mit einer Anmutung wie ein Städtchen von langer Tradition – am Starnberger See. Seit vielen Jahren finden dort im Juli die Musiktage Feldafing statt, derzeit unter der künstlerischen Leitung der Geigerin Franziska Hölscher und des mittlerweile weltbekannten Pianisten Kit Armstrong. Für das diesjährige Eröffnungskonzert haben sie sich mit dem französischen Quatuor Arod das überragende Streichquartett unserer Zeit an die Seite geholt, mit einem rein französischen Programm. Das Quatuor Arod hat zuletzt mit einem phänomenalen Album der Quartette von Debussy und Ravel sowie des Quartetts Al Asr von Benjamin Attahir (erschienen bei Erato/Warner Classics) die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nie zuvor habe ich beispielsweise die Mittelsätze von Ravel und Debussy so großartig musiziert gehört (eine unbedingte Empfehlung für jeden Interessierten!).

Diesmal brachten sie das Quartett von Attahir mit. Davor spielten Franziska Hölscher, Cellist Jérémy Garbarg und Kit Armstrong als Continuo das erste Concert Royal von François Couperin – eine elegante, freundlich kurzweilige Eröffnung. Dann Attahir: keine Beschreibung wird hinreichen, um die Größe und Intensität dieser Musik zu charakterisieren. Unverkennbar ein Werk des neuen Jahrtausends, ist es – zumindest in der unüberfrefflichen Aufführung des Quatuor Arod – von absolut bezwingendem Zusammenhang in einem einzigen großen, die stark kontrastierenden Abschnitte überspannenden Bogen. Schon früh wird jenes markante Motiv eingeführt, welches dann die gewaltige Schlussfuge bestimmt. Seit dem späten Beethoven hat niemand eine so revolutionäre, unaufhaltsam über Stock und Stein jagende Fuge geschrieben, die zugleich absolut frei und trotzdem eine wirkliche Fuge ist.

Diese Musik ist nicht nur von physisch spürbarer Sprengkraft, extremer Spannung und Dichte, sondern auch ein fortwährend unvorhersehbares Abenteuer, dabei aber unbeirrbar zusammenhängend geformt. Im weitesten Sinne ist sie ‚freitonal‘, das heißt stets im Spannungsbezug erlebbar um harmonische Zentren herum aufgebaut und sich kontinuierlich entwickelnd; in konventionellem Kritikersprech freilich würde dies als ‚atonal‘ bezeichnet, was nur der Beweis wäre, dass man das Wesentliche nicht hört. Ich kenne jedenfalls keinen Komponisten der jüngeren Generationen heute, der auch nur entfernt die Größe erreicht, die für Benjamin Attahir den Ausgangspunkt seines Schaffens bildet, in welchem (wohl auch, obwohl in Toulouse geboren, auf seine marokkanisch-libanesische Herkunft zurückweisend) Einflüsse arabischer Musik erkennbar sind, jedoch niemals klischeehaft oder einengend. Ein Genie, mit einem Wort, und auf Augenhöhe serviert. Man muss sich denn auch nicht wundern, dass das gänzlich ‚undressierte‘, unvoreingenommene Publikum mit überbordender Begeisterung reagierte.

Danach spielte das Quartett zusammen mit Kit Armstrong das recht selten im Konzert zu hörende, wunderbare 1. Klavierquintett von Gabriel Fauré, ein sowohl abgeklärtes als auch leidenschaftliches Spätwerk. Die eigentlich makellose Aufführung litt lediglich unter den deutlich zu raschen Tempi, die der Pianist in allen drei Sätzen anschlug und durchzog. Diese Entscheidung liegt bei solch spontaner Zusammenkunft klar bei ihm, und er spielte mit edler Klangkultur und klarer Struktur, wie gewünscht ‚harfengleich‘, und mit durch nichts ablenkbarem Fokus.

Dann folgte das 1890-91 entstandene Concert für Violine, Klavier und Streichquartett von Ernest Chausson, das große Meisterwerk seiner wenig Konkurrenz bietenden Gattung – eine Musik von so überbordend ekstatischer Leidenschaftlichkeit in vier glanzvollen, auch dem Tragischen und Melancholischen und sowieso dem Stürmischen immensen Raum gebenden Sätzen, dass mir als beste Kurzcharakterisierung erscheint: Sie ist das historische Bindeglied zwischen Wagners Tristan und Scriabins Poème de l’extase, ein Stück Bekenntnismusik ohnegleichen, nicht nur in der französischen Literatur ohne Pendant. Wie schade, dass Chausson 1899 mit gerade einmal 44 Jahren einem Unfall zum Opfer fiel!

In diesem hochkarätigen Monumentalwerk, das auch klanglich die Besetzung maximal ausschöpft, durften alle Beteiligten glänzen und sich ihres Musikerschicksals erfreuen. Und welch ein Luxus es ist, als Solisten von einem solchen Streichquartett sekundiert zu werden, kann sich jeder denken.

Wunderschön dann die Zugabe: Faurés früher, in seiner gemütvollen Versonnenheit erstaunlich Brahms-naher Cantique de Jean Racine, das Gesangsquartett schlicht aufs Streichquartett übertragen und getragen von Kit Armstrongs Klaviergewebe – hier auch tempomäßig ideal. Ein sensationelles Konzert hinsichtlich Programm und Ausführung, für dessen Abwesenheit sich die ‚Weltstadt‘ München schämen und auf dessen Ausrichtung das kleine Feldafing stolz sein darf, zumal die kleine, wunderschöne Alte Pfarrkirche St. Peter und Paul ein idealer akustischer und optischer Rahmen ist.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Richard-Strauss-Tage 2025 [1]: Bläsermusik und Liebeslieder

Wie in den vergangenen Jahren boten die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen auch 2025 ein Programm, das man ob seiner Reichhaltigkeit nur loben kann. Verschiedene Schwerpunkte ließen sich erkennen. So fiel auf, dass der Großteil der dargebotenen Werke von Richard Strauss entweder seiner frühesten oder seiner spätesten Schaffensperiode angehörte. Bläsermusik war auffallend präsent, wobei die beiden Sonatinen für 16 Bläser, die Strauss in den 1940er Jahren komponierte (und die ihrem Diminutivtitel zum Trotz ziemlich umfangreiche Werke sind), in einen größeren musikgeschichtlichen Kontext gestellt wurden. Das zweite Symphoniekonzert stand ganz im Zeichen Italiens, dem auch in einem Liederabend und einer musikalischen Lesung ausgiebig gehuldigt wurde. Außerdem wurden in zwei Kammerkonzerten Werke des Komponisten Franz Mikorey (1873–1947) zu neuem Leben erweckt, der zur gleichen Zeit wie Strauss in Garmisch-Partenkirchen wohnte. Der Verfasser dieser Zeilen hätte gern diesen beiden Konzerten, wie auch anderen Veranstaltungen in der ersten Hälfte des einwöchigen Musikfestes, beigewohnt, musste sich aus terminlichen Gründen aber auf die folgenden Konzerte vom 26. bis 28. Juni beschränken:

26. Juni: Kammerkonzert III (Werke von Richard Strauss und Richard Wagner), Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr, Major Rudolf Piehlmayer

27. Juni: Liederabend (Werke von Richard Strauss und Hugo Wolf), Chelsea Zurflüh (Sopran), Gerrit Illenberger (Bariton), Gerold Huber (Klavier)

28. Juni: Sinfoniekonzert II (Werke von Richard Strauss und Felix Mendelssohn Bartholdy), Joo-Anne Bitter (Sopran), Münchner Rundfunkorchester, Rémy Ballot

Der Auftritt des Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr war als „Kammerkonzert“ ausgewiesen, da als Hauptwerk des Abends Straussens Bläsersonatine Nr. 2, die Fröhliche Werkstatt, fungierte. Auch der anschließende Feierliche Einzug der Ritter des Johanniter-Ordens ist nicht für volles Blasorchester, sondern nur für Blechbläser und Pauken geschrieben. Bei den übrigen Stücken jedoch war das Musikkorps in seiner vollen Besetzung zu hören. Zu Beginn erklang der Festmarsch C-Dur, den Strauss 1888 für das Münchner Orchester Wilde Gungl komponierte, in einer Bearbeitung von Gottfried Veit. Am Ende des Programms standen der Einzug der Gäste aus Richard Wagners Tannhäuser, bearbeitet von Stephan Ametsbichler, und Gestatten Strauss, ein Werk des Garmisch-Partenkirchener Komponisten Friedrich Szepansky. Man fragt sich, was Richard Strauss, der bekanntlich ein Gegner von Potpourri-Arrangements war, zu letzterem Stück gesagt hätte. Es handelt sich nämlich um ein Potpourri, das sich aus Auszügen verschiedener Straussscher Kompositionen zusammensetzt, wobei der Bearbeiter eine Meisterschaft besonderer Art an den Tag legte: Szepansky hat keinen Takt eigener Musik hinzugefügt, sondern die Strauss-Exzerpte so ausgewählt, dass keines mit dem anderen in Konflikt gerät – angesichts des weiten Atems, der die originalen Kompositionen prägt, kein leichtes Unterfangen. Das Potpourri hebt an mit der Einleitung aus Also sprach Zarathustra, führt dann mittels des „Anstiegs“ aus der Alpensinfonie zum Hauptthema des Don Juan, dem sich (stark gekürzt) weitere Abschnitte des gleichen Werkes anschließen, und mündet in den Marsch aus Schlagobers, dessen klopfende Anfangstakte direkt aus den Schlusstakten des Don Juan hervorgehen.

Die Wiedergabe der Werke rief mir die Erinnerung an Berichte aus dem 19. Jahrhundert wach, als die Dirigenten der städtischen Musikvereine häufig die örtlichen Militärkapellen zu Konzerten heranzogen, weil man von diesen Ensembles überdurchschnittliche Leistungen erwarten konnte. Das Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr zeigte, dass Erwartungen dieser Art auch heute ihre Berechtigung haben. Mit Major Rudolf Piehlmayer verfügt es über einen feinsinnigen Dirigenten, der sich in den individuellen Charakter der jeweiligen Werke einzufühlen weiß, sodass bei einem vielseitigen Programm, wie es an diesem Abend geboten wurde, Abwechslung garantiert ist. Die anmutigen, oft verwinkelten polyphonen Spiele der Fröhlichen Werkstatt waren bei ihm in ebenso guten Händen wie die monumentale Schlichtheit des sich in weiten Bögen entfaltenden Johanniter-Einzugs. Er scheute sich durchaus nicht, seinen Musikern in der sehr effektvoll mit auf der Empore aufgestellten Fernfanfaren dargebotenen Tannhäuser-Festmusik eine gewisse Schmissigkeit zu entlocken, doch vermied er sorgsam jeden Eindruck undifferenzierten Lärmens. Die Disziplin des Orchesters, das zum größten Teil aus Militärangehörigen, aber auch einer Anzahl Zivilisten besteht, wurde gleich im eröffnenden Straussschen Festmarsch deutlich, der dynamisch fein abgestuft dargeboten wurde. Erst in den letzten Takten, wo es sehr wohl am Platze war, gestatte man sich als markante Schlussgeste ein donnerndes „Tschingbumm“. Nachdem mit den Schlagobers-Klängen das offizielle Programm zu Ende war, boten die Musiker als Zugabe eines ihrer Paradestücke, den Kaisermarsch. Als das Trio erreicht war, drehte sich der Dirigent zum Publikum, dirigierte mit über dem Kopf gehaltenen Taktstock weiter und sang gemeinsam mit der Mehrzahl des Orchesters, nur noch vom tiefen Blech begleitet, die Liedmelodie, wodurch deutlich wurde, dass das Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr auch als Chor zu überzeugen versteht.

Am Tag darauf gaben die Sopranistin Chelsea Zurflüh und der Bariton Gerrit Illenberger gemeinsam mit dem Pianisten Gerold Huber einen Strauss-Wolf-Liederabend. Dichterisch zusammengehalten wurde das Programm durch das Thema der Liebe, das sich durch sämtliche vorgetragene Gesänge zog. Die Lieder waren dabei geschickt angeordnet: Traten die Gesangsolisten in den 13 Strauss-Liedern der ersten Programmhälfte noch als gewöhnliche Vortragende getrennt voneinander auf, standen sie in der zweiten Hälfte gemeinsam auf der Bühne, um durch abwechselnden Vortrag von 18 Liedern aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch in die Rollen eines Liebespaares zu schlüpfen. Der Strauss- und der Wolf-Teil waren also wie Vorspiel und Haupthandlung aufeinander bezogen. In den Strauss-Liedern stellten sich Chelsea Zurflüh und Gerrit Illenberger jeweils mit einem Block von mehreren Gesängen vor. Illenberger – ein Sänger mit einer ebenmäßig ausgebildeten Stimme, die auch in höheren Lagen ihre baritonale Färbung nicht einbüßt – wirkte dabei zunächst präsenter, weil ihm mit Liedern wie Ich trage meine Minne op. 32/1 und Ach weh, mir unglücklichem Mann op. 21/4 schlicht die zugkräftigeren Stücke zugeteilt waren, die die für Straussens Verhältnisse auffallend dezenten Mädchenblumen op. 22, mit denen Zurflüh den Abend eröffnet hatte, in den Schatten stellten. Im Gesamtzusammenhang jedoch erschien dieser Beginn letztlich sinnvoll, als sanfte Vorbereitung zu den viel leidenschaftlicheren, hocherotischen Brentano-Liedern aus op. 68, die die Sopranistin am Ende des ersten Teiles sang. Mit hörbarer Freude stürzte sie sich in die Koloraturen des abschließenden Amor und verlieh dem Lied einen sirenenhaft lockenden Tonfall.

Hatte sich bereits im ersten Teil sowohl bei Zurflüh, als auch bei Illenberger eine deutliche Begabung zur Textausdeutung namentlich dort gezeigt, wo sie in erzählenden Liedern wörtliche Rede handelnder Personen wiederzugeben hatten, so verstärkte sich das mimische Element im zweiten Teil deutlich. Die Auswahl aus Wolfs Italienischem Liederbuch war so zusammengestellt worden, dass jeweils ein Frauenlied und ein Männerlied einander abwechselten und sich eine Liebesgeschichte in Dialogform ergab. Der das Liederbuch durchziehende humoristische Grundton ließ die gestischen Interaktionen zwischen Sopran und Bariton, die teils stärker, teils dezenter, aber immer im Einklang mit der Stimmung der jeweiligen Lieder ausfielen, durchaus nicht fehl am Platze erscheinen.

Zurflüh und Illenberger konnten sich in jedem Moment des Abends auf ihren Klavierbegleiter Gerold Huber verlassen, der es verstand, zur Grundierung des Gesangs stets die richtige Atmosphäre zu schaffen. Huber ist ein grandioser musikalischer Kurzgeschichtenerzähler. Hellwach wechselt er den Tonfall, wie es die jeweilige Situation erfordert, ohne den Überblick über das Geschehen zu verliehen. Als besonders schönes Beispiel seiner Kunst sei das „Violin“-Nachspiel im Wolf-Lied Nr. XI genannt, in dem er karikierende Akzente und Tempoverzögerungen anbrachte, bevor er in den letzten Tönen, gleichsam von der Rollenfigur zurück zur Erzählerperspektive wechselnd, wieder in den zurückhaltenden Grundduktus des Liedes einbog und damit den Vorhang der kleinen Szene schloss.

(Zur Fortsetzung siehe hier.)

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Klaviertrios und Klavierstücke aus Anton Bruckners Schülerkreis

Gramola, 99295; EAN: 9003643992955

Das TONALi Trio und der Pianist Daniel Linton-France präsentieren Klaviertrios und Solostücke aus Anton Bruckners Schülerkreis. Das bei Gramola erschienene Album enthält Kompositionen von Mathilde Kralik von Meyrswalden, Paul Caro, Franz Marschner, Cyrill Hynais und Alfred Stross.

Anton Bruckners Leben wurde wesentlich durch seine Tätigkeit als Pädagoge bestimmt. Als Schulmeistersohn war ihm der Lehrerberuf sozusagen „in die Wiege gelegt“ worden, und er ging ihm jahrelang gewissenhaft nach. Erst mit 31 Jahren, als sich ihm die Möglichkeit bot, Domorganist in Linz zu werden, konnte er sich entschließen, die Laufbahn eines Berufsmusikers einzuschlagen. Als er 1868 in Wien die Nachfolge seines Lehrmeisters Simon Sechter antrat, war damit auch eine Rückkehr zum Lehrerdasein verbunden, nun allerdings in Form einer Konservatoriumsprofessur für Kontrapunkt und Generalbass, der sich später noch eine eigens für ihn eingerichtete Stelle als Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Wiener Universität anschloss. Daneben erteilte Bruckner regelmäßig Privatunterricht. In den rund zweieinhalb Jahrzehnten als Musiklehrer in Wien gab er seine Kenntnisse an eine stattliche Anzahl von Schülern weiter, von denen nicht wenige später namhafte Persönlichkeiten des Musiklebens wurden.

Der heute wohl bekannteste Komponist unter den Schülern Bruckners dürfte allerdings ein Künstler sein, der zu Lebzeiten besonders stark unter Misserfolgen zu leiden hatte: Hans Rott. Nicht zuletzt wegen seiner Vorbildfunktion für Gustav Mahler, der selbst nicht bei Bruckner studiert hatte, ist Rotts Leben mittlerweile gut erforscht, sein Schaffen ausführlich auf Tonträgern dokumentiert. Bei den meisten anderen Bruckner-Schülern sieht es diesbezüglich wesentlich schlechter aus. So ist jede Initiative zu begrüßen, die dazu beiträgt, unsere Kenntnisse über diese Komponisten zu erweitern und zu vertiefen. Das Bruckner-Jubiläumsjahr 2024 hat einiges dazu beigetragen. Namentlich auf kammermusikalischem Gebiet gab es interessante CD-Veröffentlichungen.

In Bruckners eigenem Schaffen spielt Kammermusik nur eine untergeordnete Rolle. Wenn man von dem großartigen Streichquintett absieht, handelt es sich bei seinen wenigen Werken auf diesem Gebiet um Gelegenheits- oder Studienarbeiten, die er nicht für die Öffentlichkeit bestimmte. Unter seinen Schülern finden sich dagegen zahlreiche Komponisten, die die Kammermusik ausgiebig pflegten. Die ausgeprägte Fixierung ihres Lehrers auf die Gattung der Symphonie hat sich anscheinend auf keinen von ihnen vererbt. Dass es von Bruckner-Schülern manch ambitioniertes Instrumentalwerk in Gattungen gibt, denen sich Bruckner gar nicht gewidmet hat, belegt eindrucksvoll eine bei Gramola erschienene Doppel-CDs des TONALi Trios und des Pianisten Daniel Linton-France, auf denen sich drei Klaviertrios und zwei Werke für Solo-Klavier finden.

Das älteste der Trios stammt von Mathilde Kralik von Meyrswalden (1857–1944), einer Oberösterreicherin die seit 1876 bei Bruckner studiert und sich 1878 mit Gustav Mahler den 1. Preis beim Kompositionswettbewerb des Konservatoriums geteilt hatte. 1880 im Bösendorfer-Saal uraufgeführt, hat es die Wiener Musikkritik gehörig aufgemischt, wie mehrere im Beiheft ausführlich zitierte Rezensionen belegen. Das Thema, das die Herren von der Presse der jungen Komponistin in verschiedenen Variationen zu lesen gaben, lautete, es gehe in dem Werk, dem man Begabung nicht absprechen könne, „noch zu wüst und regellos zu“ – „Natürlichkeit und Einfachheit“ sei anzustreben. Die deutlichste Ablehnung kam von Max Kalbeck, einem der ärgsten Widersacher Bruckners, der meinte, Wagner und Liszt hätten dem Trio „ihren verhängnisvollsten Segen“ gegeben… Mit knapp eineinhalb Jahrhunderten Abstand wird man Kraliks Trio gewiss kein revolutionäres Neutönertum mehr attestieren, nicht einmal im Sinne Wagners und Liszts, deren Einfluss sich meines Erachtens in engen Grenzen hält. Aber die Keckheit, mit der die Komponistin ihren Gedanken Ausdruck verleiht, wirkt nach wie vor fesselnd. Äußerlich konventionell gehalten, enthalten die vier Sätze des F-Dur-Trios zahlreiche originelle Einzelheiten. Dem klassischem Ebenmaß, das ihre Kritiker einforderten, geht Kralik geradezu freudig aus dem Weg. Bereits in der Exposition des Kopfsatzes lässt sie die Musik durch geschickte Verwandlungen des Hauptmotivs und Wechsel der Satztechnik mehrfach plötzlich Haken schlagen. In den Ecksätzen, wie im harmonisch besonders reichen langsamen Satz, werden die Themen bei ihrer Verarbeitung in einer Weise verfremdet, die an ähnliche Prozeduren in den (erst Jahre später entstandenen) Symphonien Gustav Mahlers erinnert. Das rastlose Scherzo hat keinen eigenen Schluss, sondern geht direkt in das kräftig einher schreitende Finale über. Dass die Musik bei allem jugendlichen Drang nie weitschweifig wird, ist ein weiterer Vorzug dieses erfrischenden Werkes.

Viel klassizistischer gibt sich das sechs Jahre jüngere Trio in E-Dur des Schlesiers Paul Caro (1859–1914), der von 1880 bis 1885 bei Bruckner studierte und ihm nach Abschluss seiner Studien ein Exemplar dieses Werkes zueignete. Im Gegensatz zu Kralik setzt Caro auf innerlich einheitlich gestaltete, deutlich voneinander abgehobene Themengruppen und eine geradlinige Verarbeitung seiner Gedanken, die teils an die Wiener Klassiker gemahnen, teils von einer starken Neigung zur Folklore zeugen, namentlich zum Ländler. Caros Stärken liegen, abgesehen von seinem grundsoliden kontrapunktischen Handwerk und seiner vornehmen Melodik, vor allem im Klanglichen: Im Adagio, mit gut 10 Minuten der bei weitem längste Satz des knapp halbstündigen Werkes, erzeugt er mit den drei Instrumenten einen vollen, warmen, nahezu orchestralen Ton; dem Scherzo stellt er eine kurze Einleitung voran, in der das Klavier glockenspielartige Töne erzeugt.

Der dritte Trio-Komponist des Albums ist der aus Böhmen stammende Franz Marschner (1855–1932), Bruckner-Schüler von 1882 bis 1885, ein vielseitiger Mann, der neben seiner kompositorischen Tätigkeit den Brotberuf eines Schullehrers ausübte und mehrere philosophische Schriften verfasste. Im Gegensatz zu den viersätzigen Trios Kraliks und Caros besteht sein Werk nur aus drei Sätzen, doch ist es mit etwa 40 Minuten deutlich länger. Seine wesentlich spätere Entstehungszeit, um 1902, merkt man ihm nicht an, da es stilistisch in vergleichbaren Bahnen wandelt. Charakterlich unterscheidet es sich von beiden anderen Trios deutlich. Man denke bei der Haupttonart c-Moll nicht an Beethoven! Marschner vermeidet rasante Tempi und lässt sich zur Entwicklung seiner breit ausgesponnenen Gedanken viel Zeit, sodass man als geistigen Ahnherrn dieser Musik Franz Schubert wohl bezeichnen kann. Auch die gesangliche Melodik, die farbige Harmonik und die namentlich im Finale durchschlagende Neigung zu Wanderschritt-Rhythmen deuten in dessen Richtung. Sehr glücklich verknüpft Marschner in diesem Trio sein großes kontrapunktisches Können mit einem ausgeprägten Gespür für Klangfarbe und Klangfülle. Gerade der breit ausgeführte langsame Satz gewinnt dadurch symphonische Größe. Im Mittelteil des Finales verarbeitet Marschner eine Variante des Kopfsatz-Hauptthemas zu einem skurrilen Fugato, das mit seiner schwerfällig torkelnden Rhythmik und chromatischen Melodik eine Heurigen-Szene nachzubilden scheint.

Johanna Ruppert, Violine, Christoph Heesch, Violoncello, und Alexander Vorontsov, Klavier, die sich zum TONALi Trio zusammengefunden haben, widmen sich hingebungsvoll der Aufgabe, die drei Trios zu neuem Leben zu erwecken. Die charakterlich sehr verschiedenen Werke werden nicht über einen Kamm geschoren und keine unangenehmen Manierismen in die Musik hineingetragen. Die Musiker lassen sich auf den jeweiligen Personalstil ein und zeigen sich den geruhsamen Fortschreitungen Marschners nicht minder gewachsen als den abrupten Richtungswechseln Kraliks. In jeder Situation wissen sie den Überblick zu behalten und ihrem Vortrag jene Richtigkeit zu verleihen, die Kohärenz schafft und die Spannung über das ganze Werk aufrecht erhält.

Die Trios werden durch zwei kürzere, charakterlich stark miteinander kontrastierende Klavierwerke ergänzt: den Liebessang von Cyrill Hynais (1862–1913) und die Variationen a-Moll von Alfred Stross (1858–1912). Hynais verband mit Bruckner nicht nur das Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern auch künstlerische Zusammenarbeit: Er erstellte Klavierbearbeitungen bzw. -auszüge mehrerer Werke Bruckners und betreute die Erstdrucke der Ersten, Zweiten und Sechsten Symphonie. Sein Liebessang erinnert stark an die Klavierdichtungen Franz Liszts. Das mäßig bewegte Stück beginnt dunkel, nach einer Tonart suchend, blüht aber bald in schwärmerischer, weit ausladender Melodik und sehnsuchtsvoll umherschweifenden Harmonien auf. Gewisse melodische Wendungen verraten, dass es sich um das Stück eines Wiener Komponisten handelt: Dem geraden Takt zum Trotz hört man gelegentlich Walzeranklänge, und Franz Schuberts Lindenbaum steht, wie ein punktiertes Motiv anzeigt, nicht weit weg.

Die Biographie von Alfred Stross ist neben derjenigen Hans Rotts wohl die traurigste unter allen Bruckner-Schülern. Wie der gleichaltrige Rott versank Stross in geistige Umnachtung und starb in einer psychiatrischen Anstalt. Im Gegensatz zu den verhältnismäßig zahlreichen Orchesterwerken, die von Rott überliefert sind, sind die Strossschen Symphonien, die es nachweislich gegeben hat, verschollen. Eine Anzahl seiner Klavierwerke erschien jedoch zu seinen Lebzeiten im Druck. Den Variationen op. 15 liegt ein eigenes Thema zugrunde, ähnlich düster gestimmt wie das entsprechende Thema aus Schuberts d-Moll-Streichquartett, das ebenfalls mit einem daktylischen Rhythmus anhebt. Im Verlauf der Variationen wird die Musik zunehmend unruhig, es entspinnt sich ein soghaftes, rastloses Kreisen um sich selbst, das nur von einer Dur-Variation in der Mitte des Stückes unterbrochen wird. Das Ende spiegelt die Stimmung des Anfangs.

Die Aufführungen der Solostücke durch Daniel Linton-France stehen nicht ganz auf der Höhe der Darbietungen des TONALi Trios. Den weniger günstigen Eindruck machen die Stross-Variationen, die zu wenig vorausschauend gespielt werden. Es klingt, als vollziehe der Pianist die harmonischen Vorgänge erst im Moment des Spielens nach. Mehrfache leichte Verschleppungen des Tempos erscheinen nicht aus der Musik heraus motiviert. Besser gelingt ihm der Hynaissche Liebessang mit seinen weiten Bögen, die dem Eindruck der Kleinteiligkeit, wie er in den Variationen aufkommt, entgegenwirken. Aber auch dieses Stück hätte durch intensiveres Fernhören an Wirkung dazugewonnen.

Zum Schluss bleibt noch die Frage: Was haben all diese Werke der Bruckner-Schüler mit Bruckner zu tun? Gewiss: Die Art wie Caro seinen Kopfsatz gestaltet, nämlich zweiteilig mit einem Durchführung und Reprise verschmelzenden zweiten Teil, deckt sich mit entsprechenden musiktheoretischen Aufzeichnungen Bruckners und dessen eigenen Kompositionen seit der Sechsten Symphonie. Marschner bezieht thematisch Kopf- und Finalsatz aufeinander und lässt sein Finale mit dem Hauptthema des Kopfsatzes in der Dur-Variante enden, was nun wirklich ein typisch Brucknerscher Kunstgriff ist… Aber klingen diese Werke und die anderen tatsächlich besonders stark nach Bruckner? Hört man ihnen an, dass ihre Komponisten beim selben Lehrer studierten? Ich meine: nein! Außer den erwähnten formalen Äußerlichkeiten wird man vielleicht noch einzelne Wendungen finden, denen man eine Nähe zu Bruckner attestieren kann, aber im Großen und Ganzen zeigen diese durchweg hörenswerten und wertvollen Kompositionen paradoxerweise, dass der Musikpädagoge Anton Bruckner keine Schule im engeren Sinne herangebildet hat. Er verhalf seinen Schülern zu handwerklicher Souveränität, aber er drängte ihnen seinen eigenen Stil nicht auf. Wenn sie auch gelegentlich auf das eine oder andere von Bruckner selbst angewendete Kunstmittel zurückgriffen, so folgten die Schüler doch in der Regel anderen Vorbildern und Traditionen. Entsprechend wird durch die Werke seiner Schüler erst recht deutlich, wie einzigartig Bruckner als Künstlerpersönlichkeit in seiner Zeit dastand.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]