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Dunkle Farben sensibel gestaltet: George Benjamin bei der musica viva

Sir George Benjamin trat im Symphoniekonzert der musica viva am 12. Dezember 2025 gleich in Doppelrolle als Dirigent und Komponist mit einem vielschichtigen Programm auf. Neben dem neuen Klavierkonzert „The purple fuchsia bled upon the ground“ der Italienerin Clara Iannotta – Solist: Pierre-Laurent Aimard – erklangen drei Kompositionen aus Großbritannien: Oliver Knussens „Choral“, Harrison Birtwistles „Deep Time“ und Benjamins eigenes „Concerto for Orchestra“.

Clara Iannotta, Pierre-Laurent Aimard, George Benjamin © BRmusicaviva/Astrid Ackermann

Im recht gut besuchten Herkulessaal konnte man am Freitag ein außergewöhnliches Konzert der musica viva genießen. Bei vier auf den ersten Blick höchst unterschiedlichen Stücken ließ eine Gemeinsamkeit die Zuhörer mal wohlig, mal unheimlich erschauern: Der britische Komponist und Dirigent Sir George Benjamin, u. a. Träger des Ernst von Siemens Musikpreises 2023, zelebrierte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks geradezu ein Fest der dunklen Farben.

Nur für Bläser, Kontrabässe und Schlagzeug geschrieben, stimmt das nur knapp 10-minütige Choral des damals erst 19-jährigen, erstaunlich frühreifen Oliver Knussen (1952–2018) fast wie eine Ouvertüre auf die Klangwelt des Abends ein. Die Musik fußt auf einer Folge aus vier Akkorden; einer davon ist der berühmte mystische Akkord Sabanejews, den Skrjabin in seiner Tondichtung Promethée verwendete. Dies beginnt schon sehr basslastig (Tuben, Kontrafagotte, Kontrabassklarinette etc.). Die hohen Bläser treten dem als zwitschernde Naturlaute entgegen, die sich aus Ravels Daphnis et Chloé verirrt haben könnten. Ziemlich früh gibt es Röhrenglocken, die vor allem eine zusätzliche räumliche Dimension liefern sowie eine Steigerungswelle; später einen dramatischen Moment, wo die Piccoloflöten sich einem unheimlichen Schlund von wiederum tiefsten Bässen entziehen müssen. Wenn der mystische Akkord sich endlich in seiner bekannten Gestalt Bahn bricht, erwartet man eigentlich eine weitere Entwicklung, aber alles fällt plötzlich schnell zusammen, als ob eine Skizze absichtlich beiseitegelegt worden wäre. Benjamin dirigiert wie immer sehr einfach, dabei absolut effektiv. Nie drängt er seine Person durch große Gesten irgendwie in den Vordergrund: Vornehme Bescheidenheit, die vielleicht genau deswegen hervorragende Durchsichtigkeit und enorme klangliche Sensibilität beim Orchester erreicht.

Die Römerin Clara Iannotta (*1983) erhielt 2017 einen der Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung und ließ schon immer mit ihren faszinierenden Einfällen zur Erweiterung der orchestralen Klangpalette aufhorchen: Einerseits mit vielfältigen Objekten, nicht nur aus der Musikhandlung, die einige Spieler zusätzlich bedienen müssen, andererseits ungewöhnlichen Präparationen ihrer eigentlichen Instrumente, die nicht originell sein wollen, sondern einzig dem Zweck dienen, konkrete und im Fall Iannottas glaubwürdig bereits zuvor imaginierte Klänge zu erzeugen. Im 2024 uraufgeführten The purple fuchsia bled upon the ground – der Titel ein Zitat aus dem Gedicht Burial der Irin Dorothy Molloy – verarbeitet die Komponistin die Traumata des Krebstodes ihrer Mutter sowie ihrer inzwischen überwundenen eigenen Erkrankung. Daher beginnt das Werk sofort mit einem bedrohlich fatalen Riss durchs gesamte Orchester. Ähnliche Effekte, freilich weniger subtil, kennt man optisch (!) und dramaturgisch aus manchen Horrorfilmen. Das Soloklavier ist ausnahmsweise bis auf die beiden tiefsten Saiten von der Präparation ausgenommen. Der fabelhafte, einmal mehr hochkonzentriert agierende Pierre-Laurent Aimard begeistert hier nie mit konventioneller Virtuosität, sondern präziser Integration seines dennoch ungemein anspruchsvollen Parts in das Gesamtgeschehen – samt durchgängigem „Schattenklavier“, einer klanglich-räumlichen Hüllkurve um das Soloinstrument aus E-Gitarre, MIDI-Piano und Akkordeon.

Viele der – auf Spielerebene – völlig ungewöhnlichen Klänge Iannottas erinnern immerhin sehr an manches, was bei Orchestermusik der 1970er bis 1990er Jahre als Tonband-Zuspielung oder Live-Elektronik zu hören war: insofern doch ein wenig vertraut. Es zeugt jedoch von enormem Durchsetzungswillen, all dies sozusagen real und „natürlich“ zu erzeugen. Trotzdem ist Iannottas Konzert keineswegs überinstrumentiert, nervt nicht – wie etwa zuletzt der Gattungsbeitrag Alberto Posadas (wir berichteten) – mit einer Unzahl isolierter Einzelereignisse. Vielmehr wohnt dem sehr differenzierten und zerbrechlich-instabilen Klangkosmos Iannottas eine erstaunliche Konsistenz inne, die vor allem tatsächlich emotional berührt. Allein das entschädigt für die, zumindest beim ersten Hören, nicht erkennbare Form. Für die exzellente Aufführung gibt es verdient langen Applaus.

Merkwürdigerweise bleibt das als Reaktion auf den unerwarteten Tod des eng befreundeten „Olly“ Knussen entstandene, kleiner besetzte Concerto for Orchestra (2021) Benjamins etwas blass. Zwar trägt es den Titel zu Recht, da hier typische Charakteristika einzelner Soloinstrumente- bzw. Orchestergruppen teils durchaus humorvoll – die Persönlichkeit Knussens widerspiegelnd – präsentiert werden: allen voran die Solo-Tuba als trauriger Clown; so ist Benjamins Werk keine übliche Trauermusik „in memoriam…“. Jedoch wirkt das über 17 Minuten durchgehende Tempo ein wenig fade – trotz unterschiedlicher darüber gelegter Zeitschichten: an der Oberfläche teils äußerst nervöse Streicher, im Untergrund der erneut sehr dunklen Bassregion ein sich langsam bewegendes Fundament, vielleicht an die riesige Gestalt des Verstorbenen erinnernd. Der immer auffallend sensible Komponist Benjamin hatte hier nicht unbedingt seine stärksten „farblichen“ Eingebungen und bleibt auch in seiner Darbietung an diesem Abend emotional wenig mitreißend.

Ganz anders Deep Time (2016), das letzte Werk von Altmeister Harrison Birtwistle (1934–2022) für ganz großes Orchester: Der Titel soll „geologische Zeit“ versinnbildlichen, also die extrem langsame, dabei stetige und phänomenale Veränderung unseres Planeten – musikalisch allenfalls als Idee im Hintergrund umsetzbar. Wieder beginnt es ruhig und quasi unterirdisch pulsierend mit Tuba, Kontrabasstuba und großen Trommeln. Im Laufe der Musik begegnet man erwartbaren, heftigen Eruptionen: Derlei Gewaltakte hatte Birtwistle zeitlebens überzeugend in seinem Repertoire. Dies wird aber nie zur oberflächlichen Klangorgie: Die abschließenden Röhrenglocken mit Vibraphon und Glockenspiel verhallen wie ein Hinweis auf die unbegreifbare Ewigkeit. Das BRSO unter seinem alle verblüffenden Details umsichtig einfordernden Dirigenten realisiert dies völlig begeisternd. Insgesamt ein wunderbar gelungenes Konzert, für das sich Publikum und demonstrativ George Benjamin beim Orchester bedanken.

[Martin Blaumeiser, 13. Dezember 2025]

Die Oscars zeitgenössischer Musik

Am 3. Mai werden die alljährlichen Musik- und Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung im Herkulessaal München verliehen. Die Förderpreise gehen dieses Jahr an Clara Iannotta, Oriol Saladrigues und Timothy McCormack, den Hauptpreis erhält Beat Furrer. Jeder der Komponisten bekommt einen Portraitfilm von Johannes List, Furrer zudem eine Laudatio von Thomas Macho. Das Klangforum Wien spielt unter Leitung des Hauptpreisträgers Werke aller vier.

Der Ernst von Siemens Musikpreis ist die bedeutendste Auszeichnung für zeitgenössische Komponisten und Musiker, die sich neuer Klangkunst verschrieben haben. Die Verleihung ist jedes Jahr ein wahrer Festakt und Höhepunkt für die Ernst von Siemens Musikstiftung, die jährlich über 100 Projekte fördert.

Die drei Förderpreise gehen an junge, aufstrebende Komponisten, denen es ermöglicht werden soll, sich eine Zeit lang ohne Geldsorgen ihrer schöpferischen Arbeit zu widmen. Den ersten der auf 35.000 Euro dotierten Komponistenpreise verdient sich die aus Italien stammende Komponistin Clara Iannotta: Ihr Werk „troglodyte angels clank by“ von 2015 macht großen Eindruck. Es ist konzipiert für 13 verstärkte Instrumente und Objekte. Langsam schält sich der Klang aus anfänglichem Raspeln und Knattern, bis hohe Frequenzen die Überhand gewinnen und beinahe tinnitushaft im Ohr verankert bleiben. Iannottas Musik ist nicht zum Hören gedacht, sondern zum Erleben; und eben dies geschieht, wenn die verstärkten Frequenzen kontinuierlich aneinanderreiben, wobei sie ganz eigenartige Gefühle und Stimmungen wachrufen. Oriol Saladrigues geht naturwissenschaftlich an die Musik heran, weiß um die unumgängliche Imperfektion eines jeden künstlerischen Schaffens und kalkuliert diese genau mit ein. Ihn beschäftigt das gängige Topos, Zeit und Raum zu verbinden, zu verschieben und neuartig darzustellen, was auch sein heute uraufgeführtes Werk „tempo sospeso“ prägt. Ein Schmunzeln geht durch das Prinzregententheater, als der Portraitfilm von Timothy McCormack gezeigt wird, der ihn als sympathischen und offenen Klangforscher darstellt, der von einem Hornisten die abstrusesten Effekte abverlangt. Weder Töne, noch Rhythmen gäbe es in seiner Musik, sprach der Komponist, Klänge entstehen für ihn durch Kräfte, die gebündelt und geleitet werden, und nicht durch gezielten Einsatz von Instrumenten.

Saladrigues und McCormack bleiben mir musikalisch nur wenig präsent, ihr Eindruck verwischt schnell; Iannotta ist es, die mich fesselt und deren eigenartige Tonwelt mich gefangen hält. Es lässt sich schwer sagen, ob die Durchdringung und Wucht ihrer Aussage auch in Übertragungen oder Aufnahmen wirksam sind, doch live ergreift sie die Aufmerksamkeit und besticht in jeder Sekunde.

1992 wurde Beat Furrer ebenfalls mit dem Förderpreis ausgezeichnet, nun kehrt er als Hauptpreisträger zurück. Er entschied sich dazu, seine „Canti della tenebra“ nach Gedichten von Dino Campana für Mezzosopran und Ensemble aufzuführen, womit die Wahl auf ein echtes „Münchner“ Werk fiel, das am 7. Februar 2014 in der Muffathalle das Licht der Welt erblickte. Damals schon begeisterte mich der starke Bezug zwischen Text und Musik, die Verbindung zwischen dem italienischen Futuristen, der seine letzten Jahre in Irrenanstalten verbrachte, und der Klangwelt des österreichisch-schweizerischen Komponisten der Gegenwart. Auch wenn die fünf Lieder ursprünglich für Gesang und Klavier konzipiert waren, schreien sie doch nach größerer Besetzung: Mit dem großen Ensemble klingen sie beinahe symphonisch. Beat Furrer hat kein Verlangen danach, modern oder futuristisch zu sein, er bleibt er selbst und kreuzt seine verschiedenen Einflüsse zu einer persönlichen Musik, die einzigartig und unverkennbar ist. Hautnah erleben wir den Aufbau und die Gestaltung von Motiven, die sich durch die einzelnen Lieder ziehen und immer wieder auftauchen – der Komponist bezieht den Hörer mit ein. Musik und Text verschmelzen zu einer Einheit, Tanja Ariane Baumgartner fügt sich in das Geflecht der Instrumentalstimmen ein, ohne dass eine der Seiten überwiegen würde. Die Maßstäbe für den diesjährigen Komponisten-Hauptpreis lagen hoch, ist schließlich der letzte Preisträger Per Nørgård einer der bedeutendsten und überragenden Symphoniker unserer Zeit: Doch dürfte Beat Furrer eine gute Wahl und ein würdiger Nachfolger sein.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]