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Richard-Strauss-Tage 2025 [2]: Symphonische Italienreisen von Mendelssohn und Strauss

Wie der Strauss-Wolf-Liederabend (siehe den ersten Teil dieses Beitrags) nach Italien führte, so stand auch das zweite Symphoniekonzert der Richard-Strauss-Tage 2025 im Zeichen des Landes, „wo die Zitronen blühn“. Unter der Leitung von Rémy Ballot spielte das Münchner Rundfunkorchester die Italienische Symphonie op. 90 von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Symphonische Fantasie Aus Italien op. 16 von Richard Strauss. Dazwischen waren fünf Orchesterlieder von Strauss zu hören, gesungen von der Sopranistin Joo-Anne Bitter.

Italien, das Sehnsuchtsland der Bildungsbürger des 19. Jahrhunderts, hat so manchen ausländischen Komponisten dazu angeregt, ihm musikalisch Tribut zu erstatten. Mendelssohns Italienische Symphonie, 1831 bis 1833 während und nach seiner großen Italienreise komponiert, kann als das erste große symphonische Werk eines Nicht-Italieners der romantischen Epoche gelten, welches den Geist und die Atmosphäre Italiens in Tönen festzuhalten sucht. Unter den zahlreichen in den folgenden Jahrzehnten entstandenen orchestralen Italienhuldigungen finden sich Werke wie Hector Berlioz‘ Harold en Italie, Pjotr Tschaikowskijs Capriccio Italien, die Italienische Suite von Joachim Raff, die wunderbar atmosphärischen Impressions d’Italie von Gustave Charpentier und Edward Elgars groß angelegte Ouvertüre In the South (Alassio). Auch der zeitgleich mit Richard Strauss in Garmisch-Partenkirchen ansässige Franz Mikorey, dessen Kammermusik in den ersten Konzerten der diesjährigen Strauss-Tage zu hören war, findet sich mit einer Symphonie namens Adria in dieser Reihe. Richard Strauss selbst besuchte Italien erstmals 1886. Die lebhaften Eindrücke, die er Auf der Campagna, In Roms Ruinen, Am Strande von Sorrent und vom Neapolitanischen Volksleben empfing, lieferten ihm die Inspiration zu vier entsprechend betitelten symphonischen Sätzen, die er unter dem Titel Aus Italien zusammenfasste. Mit diesem Werk betrat Strauss zum ersten Mal das Gebiet orchestraler Programmmusik, ohne bereits eine Symphonische Dichtung im Sinne seiner späteren Werke vorzulegen. Als Gattungsbezeichnung für die gut dreiviertelstündige Komposition wählte er den Begriff „Symphonische Fantasie“.

Aus Italien lässt sich als das Übergangswerk schlechthin zwischen Straussens frühem Schaffen und seiner mit Macbeth und Don Juan einsetzenden Periode der symphonischen Hauptwerke bezeichnen. Wie in keinem anderen seiner Stücke aus dieser Zeit begegnen einander hier Altes und Neues. Die einstige Orientierung an Brahms wirkt besonders im zweiten Satz nach, der in Tempo und Rhythmik stark an den Kopfsatz der Brahmsschen Dritten Symphonie gemahnt. Dagegen steht eine große Zahl an Stellen, die spätere Strausssche Einfälle anklingen lassen. So erscheinen die Anfangstakte rückblickend wie eine Vorstudie zu den Eröffnungen von Macbeth und Also sprach Zarathustra. Auch taucht im Kopfsatz ein Begleitmotiv auf, das im Don Juan nahezu wörtlich als einer der Kontrastgedanken wiederkehrt. Im dritten Satz malt Strauss die Wellen vor Sorrent mit jenen chromatischen Terzenläufen, die ab nun eines seiner Markenzeichen werden. Allgemein behandelt Strauss das Orchester in Aus Italien mit einer Geschicklichkeit, die der Virtuosität späterer Jahre schon äußerst nahe kommt. Hinsichtlich der ersten Takte mit ihrer räumlichen Tiefe, und auch vieler weiterer Stellen der Partitur, kann man schon von einem typischen Strauss-Klang sprechen.

Was Aus Italien von den späteren Tondichtungen trennt, ist namentlich die Art und Weise der musikalischen Bewegung. In den beiden Allegro-Sätzen befindet sich Strauss diesbezüglich noch im Fahrwasser von Brahms und Berlioz. Die breite Grundströmung der Musikdramen Wagners, die ab dem Macbeth seine symphonischen Werke grundiert und ihnen zu ihrem charakteristischen langen Atem verhilft, hat hier noch nicht völlig von ihm Besitz ergriffen. Der Wille, aus dem gewohnten klassisch-frühromantischen Temporahmen auszubrechen, zeigt sich gerade im Finale sehr deutlich, doch bleibt es letztlich bei Ansätzen, sodass in diesem Satz Abschnitte unterschiedlicher stilistischer Prägung kurios nebeneinander stehen. Auch wenn man diesen Umstand durch das Programm des Satzes legitimieren kann – auf den Straßen Neapels mag es wohl zuweilen etwas konfus zugehen –, lässt sich kaum leugnen, dass die Stärken dieser Symphonischen Fantasie vor allem in den beiden langsamen Sätzen liegen. Nichtsdestoweniger muss man Rémy Ballot Recht geben, wenn er am Tag vor dem Konzert im Podiumsgespräch mit Dominik Šedivý, dem künstlerischen Leiter der Strauss-Tage, äußerte, Aus Italien sei gut genug, um die Erinnerung an Richard Strauss zu rechtfertigen, auch wenn er nach diesem Werk nichts mehr komponiert hätte. Und so freut man sich, diese selten gespielte Komposition einmal im Konzert zu hören – zumal in einer solch kultivierten Aufführung.

Ballots Herangehensweise an die Straussschen Orchesterwerke ist nicht pittoresk motiviert. „Wenn man bei Aus Italien zu sehr an Italien denkt“, so der Dirigent weiter im oben erwähnten Gespräch, „läuft man Gefahr, dass es nicht italienisch klingt!“ Ebenso verhalte es sich im Falle des Heldenlebens, das er letztes Jahr in Garmisch dirigierte: „Wenn man sich allzu sehr darauf versteift, es möglichst heroisch klingen zu lassen, wird man den vielen Teilen des 45-Minuten-Stücks nicht gerecht, die eben nicht heroisch klingen. Es ist eine Landschaft mit vielen verschiedenen Konturen.“ Ballot hält sich an die Vorgaben der Partitur, die er genauestens zu realisieren sucht. Er ist ein Dirigent, der die Noten liest – und sie nicht bloß buchstabiert. Er dirigiert musikalische Sinneinheiten, nicht beziehungslos aufeinander folgende Töne. Wenn er musikalische Werke mit Landschaften vergleicht, so muss man hinzufügen, dass die große Tugend dieses Musikers darin besteht, sich eine phänomenale – nämlich phänomenologische – Ortskenntnis innerhalb dieser Landschaften zu verschaffen. So überlässt man sich als Hörer gern diesem Cicerone, wenn es darum geht, Strauss auf seinen Gängen durch Roms Ruinen und Neapels Gassen zu folgen. Namentlich der Gefahr, dass es im zweiten Satz gar zu verwinkelt und schwerfällig zugeht, verstand Ballot erfolgreich entgegenzuwirken. Nominell ist In Roms Ruinen ein „Allegro molto con brio“, allerdings vermittelt der Satz nicht den Eindruck einer besonders hohen Geschwindigkeit. Strauss dürfte diese Bezeichnung wohl vor allem gewählt haben, um einem zu breiten und spannungslosen Vortrag entgegenzuwirken. Ballot, unter dessen Leitung das ganze Werk ziemlich genau die in der Partitur vermerkten 47 Minuten dauerte, versuchte nicht, aus dem Stück krampfhaft das Presto zu machen, das es nicht ist. Er scheuchte das Orchester nicht hindurch, sondern hielt es durch Liebe zum Detail dazu an, die Musik zu beleben. Besonders konnte man sich über jedes neue Erklingen des Hauptthemas freuen, in dem der Kontrast zwischen der 6/4- und der 3/2-Betonung durch spannungsvollen Vortrag der Überbindung in der Mitte des ersten Taktes trefflich herausgearbeitet wurde.

Ballot hatte sich bereits vor zwei Jahren in Garmisch mit der Schottischen Symphonie als vorzüglicher Mendelssohn-Dirigent empfohlen, mit der Italienischen bestätigte er den damaligen Eindruck aufs neue. In Mendelssohns weitgespannter, sanglicher Melodik fühlt er sich offensichtlich ebenso wohl wie in dessen immer elegant und virtuos gesetztem Kontrapunkt. Die Fähigkeit des Dirigenten, in parallel ablaufenden melodischen Schichten zu denken – was seinen Strauss so fasslich und fesselnd macht –, bewährt sich hier aufs Schönste, nicht zuletzt an den Knotenpunkten der musikalischen Entwicklung, den Kadenzen, die er stets in der belebenden Schwebe zwischen Zielpunkt und Atemschöpfen vor dem Weiterschreiten hält.

Zwischen den beiden italienischen Symphonien standen fünf Strausssche Orchesterlieder: Ich liebe dich, Meinem Kinde und Mein Auge op. 37/2–4, Winterweihe op. 48/4 und Morgen op. 27/4. Dem Münchner Rundfunkorchester gesellte sich hier die Sopranistin Joo-Anne Bitter hinzu, was man durchaus einen Glücksfall nennen kann. Sie agierte nicht als dominante Solistin, sondern als gleichrangige Partnerin des Orchesters, strebte weniger danach möglichst die Instrumente zu überstrahlen, denn als führende Stimme aus ihrer Menge hervorzuleuchten. Damit fügte sie sich in Ballots Arbeitsweise gut ein, der danach trachtete, möglichst jede Schicht des klanglichen Gefüges zu ihrem Recht kommen zu lassen. Man hatte also im Grunde Kammermusik für Gesang und Orchester vor sich. Besonders gut tat diese Art der Darbietung dem Morgen, einem Lied, das von seinen Interpreten oft genug zur Schnulze degradiert worden ist. Hier hörte man es als ein schlichtes, anmutiges Stück, völlig unprätentiös und ohne falsche Exaltiertheit. Bei der Textdeutlichkeit der Sängerin, den sich ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge bewussten Orchestermusikern, der vokal und instrumental auf die Kadenzen hin entwickelten Melodik war gar kein Boden gegeben, auf dem Kitsch hätte entstehen können. So sollte es immer sein!

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Patrick Hahn mit Zemlinsky beim Münchner Rundfunkorchester

Nur einen Tag nach Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ besuchte unser Rezensent im Münchner Prinzregententheater das Sonntagskonzert des Münchner Rundfunkorchesters vom 21. April 2024 unter Patrick Hahn. Auf dem Programm standen zwei Kompositionen Alexander Zemlinskys: Die Sinfonietta op. 23 sowie die fabelhafte „Lyrische Symphonie“ op. 18, in der Johanni van Oostrum und Milan Siljanov die beiden Gesangspartien gestalteten.

Münchner Rundfunkorchester, Patrick Hahn, Johanni van Oostrum, Milan Siljanov
© BR/Markus Konvalin

Wenn man unmittelbar nach den Jubiläumskonzerten zum 75-jährigen Bestehens des BRSO als zweiter Klangkörper des Bayerischen Rundfunks nicht nur gratulieren, sondern ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit des kleineren Münchner Rundfunkorchesters setzen wollte, war es vielleicht nicht unbedingt die klügste Idee, sein Sonntagskonzert ausschließlich dem Wiener Komponisten Alexander Zemlinsky (1871–1942) zu widmen. Nur eingefleischte Fans – der Rezensent gehört freilich dazu – gerade dieser musikalischen Stilepoche werden die Gelegenheit ergriffen haben, quasi im Tagesabstand zwei so hochbedeutende, dazu äußerst selten gespielte Werke wie Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ und Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ anhören zu wollen. So war das Prinzregententheater an diesem Sonntagabend kaum zu zwei Dritteln gefüllt. Widmete die alte MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) von 1968 dem Lehrer Schönbergs noch weniger als eine Textspalte und wurde Zemlinskys Musik bis zu Beginn der 1980er Jahre so gut wie nicht gespielt, sind dessen ausgezeichnete Opern und Streichquartette, vor allem jedoch seine offenkundig an Mahlers Lied von der Erde anknüpfende Lyrische Symphonie, in der sieben Gedichte des bengalischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore vertont werden, mittlerweile sicher im Repertoire verankert und auch auf Tonträgern gut zugänglich.

Patrick Hahn, der sympathische Erste Gastdirigent des Rundfunkorchesters, beginnt den Abend mit der dreisätzigen Sinfonietta von 1934, in der Zemlinsky von seiner Verwurzelung in der Spätromantik längst abgerückt ist – und selbst die Roaring Twenties allenfalls noch als Nachklang wirken. Das Stück ist heterogen, hochartifiziell, schwankt zwischen brillantem Humor, virtuosem Aberwitz und durchaus depressiven Vorahnungen. Hahn dirigiert dies alles kraftvoll und souverän – die linke Hand könnte dabei noch mehr gestalten als nur Dynamik und Einsätze zu verwalten. Das Orchester hat sichtbar Spaß an dieser diffizilen Musik, klingt gerade in den knackigen Tuttis des Kopfsatzes prächtig, bleibt in dessen komplexer Polyphonie und den eher kammermusikalischen Phrasen gleichermaßen durchsichtig. In der düsteren Ballade des zweiten Satzes werden die grundierenden Ostinati flexibel aufgefasst, die gut geführte Dynamik führt zu einem Höhepunkt ohne Pathos mit ebenso organischem Abbau. Die hervorragende Leistung der Holzbläser (Klarinettensolo!) ist besonders hervorzuheben. Das Finale beginnt fein, wird im Forte dann leicht lärmend, gegen Schluss regelrecht wild, ohne seinen Humor zu verlieren und wird dabei von Hahn umsichtig kontrolliert: eine beachtliche Leistung des Orchesters.

Noch vor der Pause wird dann von Moderatorin Anna Greiter mit dem Dirigenten und live demonstrierten Klangbeispielen die Lyrische Symphonie – die heuer ihren 100. Geburtstag feiert – vor allem wohl für die zugeschalteten Rundfunkhörer erklärt. Natürlich soll hier eben nicht in erster Linie ein Fachpublikum angesprochen werden, jedoch gerät das Vorhaben durch unsagbar dümmliche Fragen fast zur Farce. Nein – in dem Stück geht es nie um plumpe Erotik, vielmehr um geschlechterspezifische Stereotypen und die darin begründeten Schwierigkeiten von Beziehungen überhaupt. Und wenn die musikgeschichtliche Nachwirkung von Zemlinskys Stück – von Alban Bergs Lyrischer Suite bis etwa zu Michael Gielens Un Vieux Souvenir – komplett unterschlagen wird, ist das schon traurig. Der Programmhefttext von Wolfgang Stähr hingegen ist völlig adäquat.

Das Rundfunkorchester hatte bei der Vorbereitung doppeltes Pech mit gleich zwei Absagen für die Sopranpartie hintereinander (Marlis Petersen bzw. Vera-Lotte Boecker), so dass die Südafrikanerin Johanni van Oostrum äußerst kurzfristig eingesprungen sein muss. Sie singt stimmlich schön und gestaltet differenziert – die Stimme ist aber leider selbst für diese in den Streichern klar unterdimensionierte Besetzung zu klein. Zemlinsky hat kongenial aus den 85 unzusammenhängenden Gedichten aus Tagores Band Der Gärtner zwar keinen wirklichen „Plot“ exzerpiert. Aber die ausgewählten Texte zeichnen teleologisch, dabei kreisförmig eine Beziehungsentwicklung nach: von der Sehnsucht des Mannes und der mädchenhaften Schwärmerei für den „Märchenprinzen“ über Eroberung, gegenseitiges Unverständnis in Ekstase, Loslassen bzw. Verlassen bis hin zum erneuten Alleinsein. Beim Sopran hat der Komponist dies viel deutlicher in die Gesangsstimme integriert als beim Bariton. Der extremen Spannweite von jugendlichem Überschwang im 2. Gesang bis zur Eiseskälte mit nicht mehr tonalen Intervallgängen im 6. Gesang wird van Oostrum noch nicht wirklich gerecht, erwischt manchmal auch nicht alle Töne korrekt. Perfekt hat dies nach Meinung des Rezensenten bisher vielleicht nur Julia Varady in der Aufnahme mit ihrem Gatten Dietrich Fischer-Dieskau hinbekommen. Bei Milan Siljanov spürt man dagegen sofort, dass er sich eingehend mit Text und Musik auseinandergesetzt hat: Textverständlichkeit, Diktion, Emotion – alles wirklich überzeugend. Seine auffallend einnehmende Stimme kommt ohne Mühe über das Orchester und seine Darbietung erfasst die Vielschichtigkeit der Partie gut, vermeidet dabei bewusst Übertreibungen, gerade im 3. Lied, und überlässt dies dem Orchester.

Das Münchner Rundfunkorchester stellt die enorme Farbigkeit – hier übertrifft der erfahrene Zemlinsky sogar die „Gurre-Lieder“ seines Schülers Schönberg – ganz hervorragend zur Schau. Die vielen Effekte – namentlich Glissandi – in allen Instrumentengruppen wirken daher eher schmerzlich, emotional überwältigt oder einfach als tonmalerische Natur-Mimesis: grandios z. B. die Stelle im 4. Gesang bei „der Wind seufzt durch die Blätter“. Den großen symphonischen Zusammenhang kann Patrick Hahn allerdings nicht überall herstellen. Bei den echten Höhepunkten bzw. Zwischenspielen, wo Zemlinsky dann tatsächlich mal ein dreifaches Forte bemüht, fehlen hier schlicht mindestens ein Dutzend Streicher. Ebenso gibt es Stellen, wo das Holz zugedeckt wird oder sogar die Hörner [Ziffer 104] nicht mehr durchkommen, was dann eher der Platzierung auf der Bühne des Prinzregententheaters geschuldet ist. Die Ausgestaltung sämtlicher Solostellen – vorzüglich das Violinsolo im 4. Satz – braucht sich keinesfalls hinter dem BRSO zu verstecken. Bei der Wahl der Tempi fällt auf, dass Hahn im ersten Satz schon ab dem Baritoneinsatz ein wenig zu zäh agiert und das Stück noch größere Flexibilität verdienen würde. Der gesamte 6. Gesang gerät viel zu langsam und die ein wenig unsichere Sopranistin bräuchte da bessere Führung durch den Dirigenten. So zerfällt hier jegliche Spannung. Insgesamt zweifellos ein mutiger und durchaus gelungener Abend, zu dem man dem Rundfunkorchester gratulieren darf. Das Publikum im Saal reagierte auf diesen Vorstoß in offensichtliches Neuland gar enthusiastisch.

[Martin Blaumeiser, 22. April 2024]

Lustig war gestern

GIUDITTA
Musikalische Komödie von Franz Lehár
Christiane Libor, Sopran
Laura Scherwitzl, Sopran
Nikolai Schukoff, Tenor
Chor des Bayerischen Rundfunks
Münchner Rundfunkorchester
Ulf Schirmer
cpo 777 749-2
EAN: 761203774920

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Niemand sollte das Unterfangen wagen, ein Musikdrama nur anhand eines Tondokumentes zu besprechen. Viele Stimmen klingen auf Platte prächtig, bewegen sich aber als Person im Theater kaum und entbehren da jeder Ausstrahlung. Die Stimme allein macht keinen Künstler auf der Bühne aus – Präsenz, Bewegung, Charisma und Musik – werden erst zusammen ein: Gesamtkunstwerk.

Lehár, einer der produktivsten und erfolgreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, verschrieb sich fast gänzlich dem Genre der Operette. Zu ihrer frühen Zeit – der Frechdachs der musikalischen Bühne! Hier wurden Konventionen der Gesellschaft auf komödiantische Weise unterminiert – die Ständegesellschaft, die heuchlerische Moral. Und das allpräsente Pathos der Kaiserzeiten – Militarismus, nationaler Wahn:  Alles versank heiter im Walzer- und Polka-Schwung.

Lehár nennt seine finale Operette GIUDITTA eine „musikalische Komödie“. Also nicht mehr Operette. Das ist eine bewusste Irreführung. Komische Handlung keineswegs – oder was ist lustig daran: ein (sorry) ziemliches männliches Weichei, aber offenbar fesch, verliebt sich in eine Frau, die selbstbestimmt und ihrer Wirkung bewusst nur den Auslöser sucht, der es ihr erlaubt, ihrer erstarrten Beziehung zu entfliehen. Protagonistin GIUDITTA : eine nicht-mehr LULU. Kein Wesen mehr, das, ohne Willen, Begierde und Leid erzeugt. Ganz sicher ihrer Wirkung auf Männer und eigener erotischen Bedürfnisse bewusst. Ihren langweiligen Ehemann verlässt sie schleunigst für einen (vermeintlich) schneidigen Offizier, der in Afrika in der kurzen, wenig glücklichen, italienischen Kolonialzeit reüssieren will.

Und ihn ruft der Krieg. Sie will ihn ganz und halten und rät zur Desertion. Aber er geht. GIUDITTA  muss sich abwenden, zieht weiter und wird von begehrenden Bewunderern umringt.

„Meine Lippen die küssen so heiß“, die bekannteste Nummer des Stücks. Die Melodie stellt ihre Opfer-Täterrolle klar: Begehrte und Begehrende. Zu Lehárs Zeiten ein Wagnis auf der Bühne. Eine moderne Frau.

Das hat mit Romantik nichts mehr zu tun. GIUDITTA dokumentiert eine Zeitenwende: „vom wissend-würde-ein-Weib“ hin zur Frau, die von vornherein ganz weiß, was sie will. Die Tragik dabei, die aber keine ist: ihr Geliebter verfällt ihr, aber seine Liebe ertrinkt in Selbstzweifel und Unfähigkeit. Ihren Lebenshunger vermag er, gefangen in Konvention, nicht zu erfüllen. Er versagt angesichts ihres Anspruchs auf umfassende und körperliche Liebe und sein vermeintlich zwingendes Pflichtgefühl gibt ihm die Gelegenheit, ihr zu entfliehen. Um im Selbstmitleid sein eigenes Scheitern sich als eine fatale Verstrickung widriger Umstände zu erklären.

Am Ende des Werkes klimpert er ihr auf einem Hotelpiano noch wenige sentimentale Akkorde hinterher, während sie mit ihrem neuen Liebhaber soupieren will.

GIUDITTA dekonstruiert bereits in den 1930er Jahren, was heute längst entsorgt ist: die „romantische“ Vorstellung von Liebe, die alle Widerstände überwindet und in vollendeter Zweisamkeit Glück und Erfüllung findet. Und das möglichst auf ewig.

Franz Lehárs Musik: Die Operette ist welk geworden. Lustig war gestern. Er vermag jedoch durch seine überströmende sinnliche Erfindung, mit der (für „Operette“ etwas dicklich) schimmernden Instrumentation, schmelzenden, sangbaren Linien von Beginn an zu fesseln. Und zu verzaubern. Puccini klingt nach, Huppertz, der Komponist des Films „Metropolis“ ist ein überraschender Genosse im Duktus. Bernsteins „West Side Story“ – nicht weit hinterm noch dunklen Horizont.

Das Münchener Rundfunkorchester, der Chor des Bayerischen Rundfunks unter Ulf Schirmer – und die vielen Vokal-Solisten: Frau Libor ZUERST und Frau Scherwitzl für ALLE genannt:

Die Textverständlichkeit ist vorbildlich. Alle Mitwirkenden sind mit hörbarer Freude dabei. Durchsichtiger Klang. Großartige Leistung. Ein rundum-sorglos Glück!

GIUDITTA gehört auf die Bühne. Nicht auf eine CD – aber wenn es so schön und spannend gerät, wie in dieser Einspielung: diese muss in die CD-Regale all jener, die Musik lieben!

Nur einen Beckmesser-Tafelstrich: kein Textbuch im Booklet! Zumindest einen Link auf eine Webseite, wo das Fehlende verfügbar ist, sollte sein. Gibt es nicht auch Menschen, die mitlesen wollen? Jene zuerst, die deutscher Sprache nicht mächtig sind, aber es anhand von etwas Schönem rascher zu lernen wünschten?

[Stefan Reik, Juni 2016]

Im Zwiespalt

David Pia
Münchner Rundfunkorchester / Ulf Schirmer

Eugen d’Albert (1864-1932)
Konzert für Violoncello und Orchester C-Dur op. 20 (1899)
Max Bruch (1838-1920)
Kol Nidrei für Violoncello und Orchester op. 47
Ernst von Dohnányi (1877-1960)
Konzertstück D-Dur für Violoncello mit Orchester op. 12 (1903/04)
Max Bruch
Canzone für Violoncello und Orchester op. 55 (1891)

Farao Classics    B 108089
4 025438 080895

Ulrich0017

Diese CD hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist die Musik in allen Stücken wunderschön und ungeheuer melodisch, was ja auch  d i e  Stärke des Instruments Violoncello ist – kein Wunder, dass der einzig mich überzeugende Gitarrist, nämlich Julian Bream, eben einst auch Cello studiert hat, weswegen er auch wusste, wie man auf der klassischen Gitarre melodiös spielt, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen. Und alles, was den Solisten David Pia (geb. 1982) angeht und sein Spiel auf dem Stradivari-Cello von 1698, das ist absolut überzeugend in allen Bereichen, tonlich, gesanglich, emotional und musikalisch bewegt und bewegend, wie man es sich eigentlich nicht besser wünschen kann. Und zu allermeist ist auch die Begleitung des Münchner Rundfunkorchesters unter Ulf Schirmer technisch adäquat, besonders in den leisen Stellen, im piano oder pianissimo. Wird es aber laut, dann fährt einem der Schreck in die Glieder, den da entsteht an manchen Stellen einfach undifferenzierter Lärm. Von Struktur oder erkennbarem musikalischem Aufbau kann dann gar nicht mehr die Rede sein.  Beispiel: zweiter Satz der Canzone von Max Bruch, wo das Orchester an einer Forte-Stelle einfach „losplärrt“, schade!
Auch die Pauke im letzten Satz spielt leider einfach nur zusammenhangslose Noten, und differenziert den Dreier-Rhythmus überhaupt nicht, sind ja doch alles gleiche Noten, die da stehen – nein, von wegen!!
Auch fällt auf, dass an Stellen, wo eine Phrase oder ein Akkord im Orchester wiederholt wird, oft einfach nur dasselbe starr wiederholt wird, statt es  w i e d e r  zu holen, denn es gibt prinzipiell in der Musik keine Wiederholung, sondern ist etwas physikalisch scheinbar gleich, dann ist das zweite Mal doch nie unbeeinflusst vom erstmaligen Erklingen.
Aber das ist wohl für viele Musiker viel zu viel der Vertiefung, und solche Gedanken – das hält ja nur vom Üben ab!
Andererseits ist die Musik so überzeugend in den meisten Momenten, dass diese CD über weite Strecken eben nicht mit den altgedienten Cello-Schlachtrössern prunkt, sondern den Hörer mit Musik bekannt macht, die es verdient, öfter im Konzert gehört zu werden – was jetzt nicht für Kol Nidrei von Max Bruch gilt, das ja durchaus schon lange ein „Reißer“ ist. Aber für das wunderschön melodiöse Konzert von d’Albert und das – längere! – mächtige Konzertstück von Dohnányi gilt das natürlich nicht, das ist eine echte Bereicherung im Repertoire.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]