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Editorischer Meilenstein: Die komplette Flötenmusik der Doppler-Brüder

Capriccio C7430 (12 CD); EAN: 8 45221 07430 6

Als preisgünstige Box kann man von Capriccio mittlerweile die Edition sämtlicher Flötenwerke der Doppler-Brüder Franz (1821–1883) und Carl (1825–1900) erwerben. Im Laufe der Aufnahmesitzungen zwischen 2007 und 2020 wurden dabei zahlreiche Werke neu entdeckt, so dass der Umfang von den ursprünglich geplanten 10 auf 12 randvolle CDs anwuchs. Eine editorische Meisterleistung, die vor allem dem unermüdlichen Forscherdrang des katalanischen Flötisten Claudi Arimany zu verdanken ist, der auch musikalisch als Hauptprotagonist auftritt.

Die aus Lemberg – dem heutigen Lwiw – stammenden Brüder Franz und Carl Doppler machten in der k. u. k. Monarchie in vielfältiger Weise Karriere: Dirigierend brachte es Franz bis zum zeitweisen Chefdirigenten der Wiener Hofoper, Carl über Budapest bis zum langjährigen 1. Kapellmeister in Stuttgart. Unvergessen blieben sie jedoch als Flötenvirtuosen und Komponisten, die europaweit auch gerne als Duo auftraten.

Obwohl die gut zwanzig Opern und Ballette das eigentliche Zentrum des kompositorischen Schaffens von Franz Doppler bildeten, wobei er sowohl deutschsprachige als auch ungarische Libretti vertonte, sind die Flötenwerke der Brüder heute natürlich von herausragender Bedeutung, da diese sich von frühester Jugend an mit „ihrem“ Instrument identifizierten und die Flöte beider Werdegänge – zunächst als Orchestermusiker – maßgeblich fördern sollte. Man kann eine Reihe von „Gattungen“ des gut über 100 Stücke (auf den CDs 157 Tracks) umfassenden Katalogs ihrer Flötenmusik unterscheiden: Musik für zwei Flöten ohne Begleitung (Stücke für Flöte solo existieren nicht!), Musik für eine bzw. zwei Flöten und Klavier – darunter Originalkompositionen und Bearbeitungen, wobei Opernpotpourris eine besondere Bedeutung haben –, Musik für Flöte(n) mit anderen Besetzungen, schließlich Werke für Flöte(n) und Orchester.

Bei der Musik mit zwei Flöten und Klavier handelt es sich bisweilen um gemeinschaftliche Produktionen beider Doppler-Brüder, wohingegen die Opernpotpourris für zwei Soloflöten sämtlich von Franz stammen. Diese Bearbeitungen mögen gegenüber den zeitgenössisch üblichen Reduktionen von Opernhits für Klavier vierhändig zunächst etwas fremdartig anmuten, erweisen sich allerdings beim näheren Hinhören als erstaunlich farbige und gekonnte Hilfsmittel zur Erschließung populären Opernmaterials. Obwohl nur relativ simple Aneinanderreihungen der jeweils bekanntesten Melodien, sind sie klanglich befriedigend und dramaturgisch geschickt angelegt, bringen die Arien nicht chronologisch und beziehen zumeist als Rahmung Teile der Ouvertüren mit ein. Einige dieser Potpourris existieren zudem in der Fassung für eine Flöte plus Klavier – und so finden sich in der Box musikalisch einige quasi „Doubletten“.

Von ganz anderer Qualität sind dann schon die Fantasien bzw. Paraphrasen über Fremdmaterial bzw. populäre Volksmelodien für Flöte(n) plus Klavier oder Orchester. Wenn Franz Doppler hier zwar nicht die Höhe entsprechender Werke Liszts erreicht – die Klavierparts sind eh‘ immer „machbar“ ausgelegt –, gibt es darunter etliche ansprechende und musikalisch einfallsreiche und gehaltvolle Stücke – zumindest mit virtuosen und dankbaren Flötenparts. Im Duettino über amerikanische National-Motive op. 37 hören wir so nicht nur allseits bekanntes amerikanisches Liedgut, sondern zusätzlich die Nationalhymne. Noch eine Stufe hochwertiger – zumindest für heutige Ohren – sind die echten „Originalkompositionen“, gerade von Franz. Dabei förderte die gründliche Materialrecherche einige Überraschungen zu Tage: Vor allem entdeckte man in den Altbeständen des Schott-Verlags – seit einigen Jahren im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek –, dass das immer schon als echtes Kleinod beliebte Andante et Rondo op. 25 für zwei Flöten und Klavier nur die beiden letzten Sätze einer veritablen viersätzigen Sonate in C-Dur darstellt, deren Anfangssätze Franz Doppler nicht veröffentlicht sehen wollte – warum auch immer. Originell sind weiterhin ein paar ungewöhnliche Besetzungen wie Das Waldvöglein op. 21 für vier Hörner und Flöte als Stimmungsbild mit klarer Rollenverteilung.

Die einzelnen CDs der Edition bedienen jeweils all diese Kategorien, wobei (in CDs 1–9) als krönender Abschluss etwas mit Orchester steht; teils in Orchestrierungen von Zeitgenossen. Höhepunkt hier ist natürlich Franz‘ Konzert d-Moll für zwei Flöten von 1854, das es durchaus mit der großen, dramatischen Konzertliteratur dieser Zeit für andere Instrumente aufnehmen kann, zweifellos ein Meisterwerk. CD 12 bringt schließlich noch Widmungen anderer Komponistenkollegen an Franz Doppler, darunter mehrere Fantasien über dessen Opernthemen.

Der katalanische Flötist Claudi Arimany (Jahrgang 1955) war Schüler des legendären Jean-Pierre Rampal (1922–2000) und gilt gerade als Pädagoge als dessen legitimer Nachfolger. Und – mit Erlaubnis von Delos – hören wir ihn auf CD 10 sogar nochmal mit Rampal und besagtem Opus 37 in einer Aufnahme von 1996. Arimany stemmt auch einen Großteil der Flötenparts der gesamten Box, wird aber von 17 weiteren Kollegen seines Fachs tatkräftig unterstützt, darunter Berühmtheiten wie János Bálint, Robert Aitken oder Lukas Dlugosz, deren Leistungen allesamt höchsten Erwartungen gerecht werden. Ausgezeichnet ebenso die Sopranistin Ingrid Kertesi mit einem faszinierenden Pásztorhangok (CD 2). Die Pianisten der Box können hingegen nicht vollständig überzeugen, liefern teilweise nur solide Begleitroutine ab, ohne klanglich oder musikalisch eigene Akzente zu setzen. Die verschiedenen, meist kleineren spanischen Orchester unter den jeweiligen Dirigenten machen ihre Sache dafür mehr als ordentlich.

Aufnahmetechnisch gibt die gesamte Box keinen Anlass zur Kritik, auch wenn Hall und Räumlichkeit nicht immer optimal wirken. Interessant und sehr sorgfältig ediert sind die Booklets – leider zumindest in der Download-Version nur auf Englisch. In sich über mehrere Heftchen fortsetzenden Essays erfährt der Leser nicht nur einiges aus dem Leben der Doppler-Brüder, teils autobiographisch wie über Zeitzeugenberichte, sondern es gibt neben den detaillierten Informationen über die einzelnen Werke zudem einige Spezialaufsätze, die z. B. der Frage nachgehen, warum die Dopplers zeitlebens die moderne Böhm-Flöte ablehnten und an der französischen Klappenflöte mit Tulou-System festhielten. Insgesamt kann man die editorische Leistung dieser Veröffentlichung in höchsten Tönen loben. Und die Flötengemeinde darf nicht nur fast 15 Stunden herrlichster Musik genießen – die allererste Gesamtaufnahme der Doppler-Kompositionen ist schlicht ein Muss!

[Martin Blaumeiser, Februar 2023]