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Ein geniales Trio eines 13-jährigen

Klaviertrios Erich Wolfgang Korngold /Alexander Zemlinksy

Stefan Zweig Trio (Sibila Konstantinova: Klavier; Kei Shirai: Violine; Tristan Cornut: Violoncello)

ARS Produktion, ARS 38 264; EAN: 4 260052 382646

Wunderkinder gibt es einige in der Musikgeschichte. Aber wie kann im Falle von Erich Wolfgang Korngold ein gerade 13jähriger, abgesehen von seiner extremen Begabung, noch so weit in die Zukunft schauen? Korngold sog in seinem Trio aus dem Jahr 1910 den Geist der Spätromantik auf, um ihn in etwas Neues zu verwandeln. Er vereinte die Farbenvielfalt eines Richard Strauss mit der kühlen Formstrenge der zweiten Wiener Schule, nutzte all dies, um sich in eigene kompositorische Abenteuer zu stürzen. Aber nie aus Selbstzweck, sondern um eine komplexe Empfindungswelt abzubilden – und die kann auch heute angesichts des zarten Alters seines Urhebers fassungslos machen.

Korngolds aufregende Mischung aus tiefer Subjektivität gepaart mit bestechender Eloquenz ist für das Wiener Stefan Zweig Trio gerade herausfordernd genug. Bei dem aus Paris stammenden Cellisten Tristan Cornut, dem japanischen Geiger Kei Shirai und der bulgarischen Pianistin Sibila Konstantinova nähren verschiedene kulturelle Hintergründe eine leidenschaftlich betriebene  gemeinsame Sache. Wenn die drei sich auf diesen Notentext stürzen, steigert sich jene elektrisierende Ambivalenz auf  Höchstlevel, wie sie in dieser frühreifen Komposition mit ihren ständig kontrastierenden Stimmungszuständen angelegt ist. Das Klavier malt den Melodienbogen des ersten Themas mit jener schwelgerischen Duftigkeit einer langsam untergehenden Fin de Siecle–Dekadenz, aber es wird weiter und mächtiger ausgeholt – mit noch mehr bedrängender Wucht, bevor wieder versöhnlich, ja gerne auch jugendlich-schwärmerisch Atem geholt wird. Man hat beim Spiel des Stefan Zweig Trios das Gefühl, Korngolds Komposition stellt hier nun ein Sprungbrett dar, vom dem sich drei mutigen Spieler in stürmischeren Ozean voller Gefühlswogen und ebensolcher tiefer Wellen-Täler hinein stürzen.

So viel darstellerische Konsequenz setzt sich in sämtlichen Tracks dieser Super-Audio-CD fort und erfährt in jedem Satz immer neue Ausprägungen. Das Scherzo ist gespickt mit fragmentarischen Ideen und verspielten kontrapunktischen Geniestreichen, die unter dem Zugriff des Stefan Zweig Trios manchmal gar ironisch wirken, als würde hier der französische Neoklassizismus vorweg genommen. Immer wieder offenbart sich große Darstellungskraft auf engem Raum: Emphatisch breiten sich Violinrezitative über zusammengeballte Pianoakzente aus, ebenso wirken die sonoren Cellokantilenen von Tristan Cornut. Immer wieder verblüfft die Flexibilität, in fliegendem Wechsel in ganz unterschiedliche Aggregatzustände einzutauchen, die in diesem Meisterwerk auf engem Raum beieinander liegen und von diesen Spielern lustvoll ausgereizt werden. Und auch der Finalsatz ist Fantasie-Labyrinth und aussagekräftiges Psychogramm zugleich. Wie kann einem 13-jährigen so vieles bewusst gewesen sein? Diese drei jungen Musiker vom Stefan Zweig Trio sind sich auf jeden Fall den disparaten Seelenregungen dieses Meisterwerkes bewusst.

Zwischen Tradition und Moderne, gibt es gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts so viele aufregende Gratwanderungen zu entdecken. Auch das zweite große Werk dieser CD erfüllt diesen Aspekt,  auch wenn hier jedoch eher die kontemplative Rückschau erfahrbar wird:  Zwar hat Alexander Zemlinsky einem der wichtigsten Modernisierer, Arnold Schönberg den Weg bereitet, aber dabei auch so ganz aus der Tradition von Johannes Brahms geschöpft. Vor allem letztere Aspekt ist Sache von Zemlinskys Trio aus dem 1901. Das Stefan Zweig Trio besinnt sich mit ganzer Seele darauf, worum es hier geht: Da wird großes, dichtes Gefühlskino gleich im ersten Satz aufgeboten, wo sich diese drei Stimmen zum intensiv aufbrandenden, dann wieder innig schwelgenden Über-Instrument vereinen. Man kann hier gut und gerne länger den durchgehenden Bogen, den steigerbaren Fluss der Emotionen aufbauen und später, gerne in harmonisch dunklen Farben – zur Reflexion und zum Verweilen auffordern, was vor allem durch das ausgesprochen in sich ruhende Klavierspiel von Sibila Konstantinova herbeigeführt wird. Schließlich bringt der rasante Finalsatz mit seinem punktierten Bewegung nochmal die wesentliche Qualität dieses Trios auf den Punkt: Eine grenzenlose, zugleich tief gründende Spiellust, welche für jedes Abenteuer – egal ob frühreif oder nicht –  bereit steht. 

[Stefan Pieper, Januar 2019]

Ein Licht im Dunkeln

Ars Produktion Schumacher, EAN: 4 260052 382561

A Light in the Dark; Schostakowitsch; Nordwestdeutsche Philharmonie, Erich Polz (Leitung), Sabine Weyer (Klavier)

„A Light into the Dark“ präsentiert ein Konzertprogramm mit Musik von Dmitri Schostakowitsch, begonnen mit der Festlichen Ouvertüre A-Dur op. 96. Darauf folgt das Klavierkonzert Nr. 2 F-Dur op. 102 und die Neunte Symphonie Es-Dur op. 70. Es spielt die Nordwestdeutsche Philharmonie unter Erich Polz, am Klavier sitzt Sabine Weyer.

In den letzten Jahren expandierte der Ruhm des 1975 gestorbenen Komponisten Dmitri Schostakowitsch immer weiter. Internationale Bekanntheit erhielt er bereits als Jugendlicher mit seiner Ersten Symphonie, die er als Abschlusswerk für das Konservatorium schrieb. Vom Regime immer wieder verfolgt, führte er ein Leben in Angst, wobei manche Lichtblicke wie der unbändige Erfolg des „Leningrader“ Symphonie Nr. 7 umso heller strahlten.

Eine Mystik umgibt die Zahl von neun Symphonien. So viele große Symphoniker kamen trotz allen Bestrebens nicht über sie hinaus, und so verbreitete sich förmlich die Angst, eine Neunte Symphonie zu komponieren, da einen vor Vollendung einer Zehnten der Tod ereilen könnte. Schostakowitsch schrieb, aus Trotz und Unbekümmertheit, eine regelrechte Anti-Neunte-Symphonie: Teils traditionell, dann wieder launisch und eigenwillig. An sich wäre sie „klassisch“ viersätzig konzipiert, doch Schostakowitsch extrahierte die Largo-Einleitung zum Finale als eigenen Satz; welch ein Scherz, um mit den Erwartungen zu spielen!

Das Klavierkonzert Nr. 2 schrieb er für seinen Sohn Maxim, der im Alter von 18 Jahren seinen ersten großen Auftritt mit Orchester haben sollte. Die Öffentlichkeit lobte das Konzert in den höchsten Tönen, während es für den Komponisten der Ausgangspunkt einer Schaffenskrise war: Er könne nicht mehr komponieren, schreibe zu homophon und für den Solisten zu leicht. Dass diese Eigenkritik ungerechtfertigt ist, dürfte allein die Anzahl an Aufführungen und Aufnahmen belegen.

Schostakowitsch ist zugleich dankbar wie undankbar zu spielen: Eine Aufführung klingt beinahe immer gut; doch darüber hinauszugehen, erfordert ein feines Gespür sowohl für die harmonische als auch die melodische Spannung.
Sabine Weyer geht virtuos an ihre Klavierstimme heran, setzt auf Klarheit. Dabei nimmt sie den Kopfsatz zu schnell, um darin die markante Klavierstimme noch ausgestalten zu können; durch langsameres Tempo hätte der Satz verspielter, freier und spritziger sein können. Umgekehrt erdrückt der Mittelsatz den Hörer beinahe durch pure Romantik, Weyer nutzt das volle Spektrum an Rubati und Wohlklängen. Hier wäre mehr Kontinuität wünschenswert gewesen, denn es handelt sich eben nicht um Chopin oder Liszt, sondern um ein Werk des mittleren 20. Jahrhunderts. Din gutes Maß an Distanz den Feinsinn beleuchtet diese Musik noch einmal ganz anders als schwelgende Verträumtheit; besonders in den rhythmisch vertrackten 3-gegen-2-Passagen. In den Randsätzen bleibt Weyer dafür prägnant und rhythmisch markant, treibt die Musik immer weiter voran.
Auf durchsichtige Stimmführung achtet auch die Neudwestdeutsche Philharmonie unter Erich Polz. Die einzelnen Solisten stimmen sich aktiv aufeinander ab und das Orchester wirkt allgemein ausgewogen. Selbst in den großen Tutti-Passagen kippt der Klang nicht in Krach, sondern behält Kraft und Volumen. Dafür fehlt manchmal dieser ewige Precipitato-Trieb nach vorne, der den Sätzen (auch, und gerade sogar, den langsamen!) eine Linearität und Struktur hin zu einem Ziel der Erfüllung verleiht. Gelungen sind die Kontraste im ersten Satz der Neunten Symphonie zwischen ‚altbacken‘-klassisch und aufbegehrend neutönerisch. Ebenso hinreißend die Spielfreude und Leichtigkeit in der Festlichen Ouvertüre.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Der Klang von Harfe und Klavier

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 546; EAN: 4 260052 385463

Das Duo Praxedis spielt Werke über Themen aus Opern für Harfe und Klavier. Auf dem Programm stehen das Duett über Themen aus Bellinis „La Sonnambula“ und Verschiedene Themen aus Donizettis „La Favorite“ von Charles Oberthür, Theodore Labarres Caprice über die selbe Oper op. 111 und sein Duo über Themen von Rossinis „La gazza ladra“. Dieser Oper widmete sich auch Benedetto Negri  in seinen „Réminiscences“. Von Henry Steil hören wir das Terzetto „Zitti, zitti, piano, piano“ aus der Oper „Il Barbiere di Siviglia“, deren Ouvertüre in einem Arrangement von Robert-Nicolas-Charles Bochsa erklingt. Sophie-Lucille Larmande des Argus komponierte eine Fantasie über Motive von Rossinis „Siège de Corinthe“ sowie eine über Hérolds „Marie“ und das Duo Concertante aus Meyerbeers „Emma“. Mozart wurde von François-Joseph Naderman bearbeitet, programmiert werden Variationen über Themen aus „Figaros Hochzeit“.

Nur selten hören wir von einer Besetzung für Klavier und Harfe. Beide Instrumente verfügen über ein großes Spektrum an Möglichkeiten, können sich selbst begleiten und mehrstimmig spielen – entsprechend besteht auf den ersten Blick keine Notwendigkeit, Klavier und Harfe zusammenzubringen. Dazu kommt, dass das Klavier im 19. Jahrhundert an Klangvolumen und Durchschlagskraft gewonnen hat, während die Harfe nur einen kleinen Klangkörper besitzen kann, da die Saiten von beiden Seiten bespielt werden. Die Gefahr ist also groß, dass der Pianist den Harfenisten heillos übertönt.

Und doch überschneidet sich die Geschichte der Harfe mit der des Klaviers, was zu einer Reihe heute kaum gehörten Werke für eben diese Besetzung führt. Es ist die Salonszene, in welcher die beiden Instrumente zusammentrafen: Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert wurde es Mode, Opernthemen für Soloinstrumente oder kleine Kammermusikbesetzungen zu arrangieren, sie zu variieren oder darüber zu fantasieren. Die meisten der Bearbeitungen waren nicht erstrangig für den virtuosen Konzertmusiker gedacht, sondern galten der Freizeitgestaltung und dem leichten Hörgenuss. In Frankreich und später in England wurde die Harfe ein beliebtes Instrument für den gehobenen Salon – wo fast immer ein Klavier anzutreffen war.

Auf der vorliegenden Aufnahme finden wir nun elf solcher Bearbeitungen vorwiegend aus dem frühen 19. Jahrhundert. Herrliche Themen aus beliebten Opern reihen sich in freier Form aneinander, der Hörer kann entspannt folgen und die Highlights der Bühnenwerke genießen. Tiefgreifende Momente oder zwingend geschlossene Formen gibt es selten, doch solche streben dieser Salonwerke auch nicht an.

Es erstaunt mich, wie abgestimmt doch Klavier und Harfe zusammen klingen. Die Komponisten waren sich der klanglichen Ähnlichkeit und der daraus resultierenden Gefahr bewusst, dass ein Klavier beim Spiel in gleicher Lage die Harfe überdeckt, und wählten die Lagen der Stimmen geschickt aus. Klanglich passen sich die beiden Musikerinnen feinhörig aneinander an: Die Pianistin Praxedis Geneviève Hug setzt auf zartes und perlendes Spiel mit wenig Pedal, wodurch die Harfe voll zur Geltung kommt. Die Partnerinnen wirken gleichberechtigt und musizieren als Einheit zusammen. Sie verleihen den Werken eine Leichtigkeit und Frische, nehmen dabei virtuose Ausbrüche ebenso ernst wie simple oder gar oberflächliche Liedstrukturen. So entlockt das Duo Praxedis der Musik eine Bedeutung, welche die damalige Mode überdauert, und bis heute anhält.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

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Stilpalette

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 248; EAN: 4 260052 382486

Christian Erny plays Arthur Lourié piano works

Christian Erny spielt ausgewählte Klavierwerke des aus Russland stammenden Komponisten Arthur Lourié. Auf dem Programm stehen die Cinq Préludes fragiles op. 1, Deux Estampes op. 2, Valse, Intermezzo, Petite Suite en Fa, Gigue, Nocturne und Lullaby.

Das Leben Arthur Louriés war durchsetzt von Misserfolgen und Neuanfängen, von stetigem Wandel. Von Russland über Deutschland und Frankreich verschlug es Lourié bis in die USA, wo er resigniert starb; begleitet wird diese Reise von einer Palette an Stilbrüchen und -änderungen, als Komponist wagte er sich an immer neuere Ausdrucksmittel.

Seine ersten Werke beziehen sich hauptsächlich auf die Musik Frankreichs um die Jahrhundertwende, nur bedingt schweben Anklänge der russischen Spätromantik mit. Als früher Glücksgriff erweist sich sein Opus 1, fünf fragile Präludien, die auf geringem Raum prächtige Farben und innige Gefühle offenbaren. Die Deux Estampes op. 2 fahren im Kielwasser Debussys, sowohl die Titel als auch die Musik verbeugen sich vor dem stillen Revolutionär. Sie setzen sich aus typischen Elementen und Harmonien von Debussys Musik zusammen, die Lourié lose zusammenkittete. Werke aus Louriés Berliner Zeit zeigen Anklänge an Stawinskys Neoklassizismus, was sich nicht zuletzt auf eine persönliche Verbindung der beiden Komponisten zurückführen lässt. Größeres Format besitzen Nocturne und Intermezzo, beide 1928 komponiert; hier wendet sich Lourié neuen Ausdrucksformen zu, ein aufkeimender Personalstil scheint durch, den Verbitterung und rückwärtsgewandte Nostalgie auszeichnet.

Die Stärke Christian Ernys liegt auf dem Feld des Momentzaubers, durch seinen flüchtig-weichen Anschlag schafft er eine zarte, schwelgende Atmosphäre. Die Vergänglichkeit schwingt mit, was den Hörer anregt, aktiv mitzuerleben. Während ich bei seinen Aufnahmen als Dirigent das Gefühl bekam, der Chorklang halte in der Harmonie und im Übergang der Klanggebilde nicht zusammen, stimmt Erny am Klavier die Intervalle ab, so dass jeder Ton hervorklingt. Weiterforschen könnte Erny noch am Zusammenhalt der Struktur: Er bemüht sich kaum, die längeren Werke als Einheit zu verstehen, belässt sie in ihrer losen Gestalt. Hierdurch verfallen gerade die Estampes in Einzelteile, denen der Bezug zueinander fehlt, aber auch die Nocturne und das Intermezzo

[Oliver Fraenzke, Juli 2018]

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Virtuosität und Romantik

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 242; EAN: 4 260052 382424

Romantic, Brilliant, Imaginative: Semenenko (Violine), Firsova (Klavier); Grieg, Tschaikowski, Castelnuovo-Tedesco, Paganini, Schubert 

Violinmusik aus der Epoche der Romantik birgt vorliegende CD mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova. Die Eckpfeiler dieser Einspielung sind die Erste Violinsonate F-Dur op. 8 von Edvard Grieg und die Fantasie C-Dur D 934 von Franz Schubert. Dazwischen befinden sich drei Bearbeitungen von Werken für Violine und Orchester: Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, Mario Castelnuovo-Tedescos Konzertparaphrase über die Cavantine Largo al Factorum aus Figaros Hochzeit und Paganinis I Palpiti, ebenfalls über ein Thema Rossinis. Das Arrangement von Paganinis Variationswerk für zwei Instrumente stammt von Fritz Kreisler.

Die Produktion der vorliegenden Aufnahme war der Preis eines Kammermusikwettbewerbs an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, den Aleksey Semenenko und Inna Firsova gewonnen haben. Das Programm entwickelt sich ausgehend von Schuberts großer C-Dur-Fantasie von 1827, in denen er seine Eindrücke eines Auftritts von Paganini verarbeitete. So ist natürlich auch der Teufelsgeiger vertreten mit einer Paraphrase über Rossini, was den Faden weiterspinnt zu Castelnuovo-Tedesco und dessen Fantasie über ein Rossini-Thema aus Tancredi. Tschaikowski und Grieg komplettieren die Aufnahme, wobei Griegs Erste Violinsonate das erste Werk war, das Semenenko in die Welt der Kammermusik einführte. Mich verwundert, dass Inna Firsova nicht auf dem Cover erwähnt wird, ihr Name verbirgt sich auf der Rückseite und ihr Bild im Booklet: Und das, obgleich Semenenko doch Kammermusik studiert und bei Grieg und Schubert das Klavier einen mindestens ebenbürtigen Part zur Violine spielt, wenn nicht einen gewichtigeren!

Die Violinsonate Edvard Griegs gibt ein Bild frei auf zwei fleißige und detailverliebte Musiker, die minutiös darauf bedacht sind, die Noten genau wiederzugeben. Sie betrachten die Musik aus gewisser Distanz und fühlen sich trotzdem in die Welt des Komponisten ein. Ein großes Spektrum an Artikulations- und Dynamikabstufungen bringt Abwechslung und Vielseitigkeit in das Werk, immer neue Klangfarben bereichern die Sonate. Zu wenig achten sie allerdings noch auf das Schlichte, Volkstümliche, was ja gerade Grieg und seine skandinavischen Kollegen so sehr prägt. Der Mittelsatz wird zum Kunstwerk und verliert die Einfachheit des Volksliedes; die charakteristische Fidel-Passage lockt nicht zum Bauerntanz, sondern in den Konzertsaal. Gleiches gilt für Tschaikowskis Sérénade Mélancholique, die unartifizielle und zutiefst menschliche Gefühle ausdrückt, auch das einfache Volk anspricht.

Es folgen zwei Virtuosenwerke, in denen Semenenko seine Brillanz und Leichtfüßigkeit unter Beweis stellt. Unglaubliches gelingt ihm in Paganinis I Palpiti, wo der Hörer kaum aus dem Staunen herauskommt. Grazil bewegt er sich zwischen all den Hürden und zeitgleich gibt er den formalen Aufbau der Stücke zu verstehen, geht auch auf die Phrasierung und den innermusikalischen Kontext ein.

Das Finale ist die 25-minütige Fantasie C-Dur von Franz Schubert, in welcher der Komponist die Errungenschaften der großen Virtuosen in symphonischen Kontext eingliedert und in reinste Musik verwandelt. Auch bezüglich der Darbietung ist dies der Höhepunkt der Einspielung, die Musiker hören einander zu und erreichen ein vollkommenes Miteinander. Inna Firsova tritt in den Vordergrund: Bei Grieg wurde sie noch von der Violine überlagert und in den Bearbeitungen weilte sie doch eher in Begleitfunktion. Nun aber trumpft Firsova auf und demonstriert ihre überlegene Meisterschaft des Klaviers, die sie zur Entdeckung macht. Ihre Läufe ragen heraus und geben den Eindruck, die Erde würde sich anheben oder absenken, wenn sie in die Höhe beziehungsweise Tiefe rauscht. Ebenso bemerkenswert ist, wie autonom ihre beiden Hände fungieren. Gerade bei großem Abstand ergänzen sich die Stimmen kontrapunktisch wie zwei nur miteinander funktionierenden Kraftfelder.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

 

Kein Püppchen, sondern eine reife Musikerin

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 753; EAN: 4 260052 387535

Zala Kravos spielt für Ars Produktion Schumacher die vier Balladen op. 10 von Johannes Brahms, Franz Liszts zweite Ballade in h-Moll S 171, Frédéric Chopins vier Impromptus opp 29, 36, 51 und 66 sowie „Crystal Dream“ von Albena Petrovic-Vratchanska.

Die zur Zeit der Aufnahme gerade einmal 14-jährige Zala Kravos wählte ein heikles Programm für ihre Debut-CD aus: herausfordernd nicht nur in Bezug auf die mechanisch-technischen Anforderungen, sondern auch hinsichtlich des poetischen und musikalischen Gehalts in den zu ausgewählten Werken. Die Balladen op. 10 von Brahms und die beiden Balladen von Liszt, es erklingt deren zweite, sind düstere und innerlich rumorende Werke, die Reife und Ausdrucksstärke mit meist nur schlichten Mitteln verlangen. Das Virtuosentum steht dabei ganz im Hintergrund, der Fokus liegt auf tönender Aussagekraft. Die vier Impromptus von Frédéric Chopin sind leichteren Gemüts, fordern entsprechendes Zartgefühl, innere Ruhe und Reflektiertheit. Keines dieser Werke gehört in das übliche dankbare Repertoire eines Wunderkindes, welches sich der Welt als meisterlicher Tastenakrobat präsentieren will. Eben dies ist, was hier Aufsehen erregt.

Das letzte Werk der CD ist von Albena Petrovic-Vratchanska, eine effektvolle kleine Fantasie, die ihre Wirkung aus einer auf die tiefen Saiten gelegten Halskette bezieht und – der Pianistin gewidmet – über den Namen „Zala“ komponiert wurde.

Das düstere, zwiespältige Cover wirkt beinahe gespenstisch: Auf der einen Hälfte die schöne kindliche Gestalt, auf der anderen das gruselige Negativ mit invertierten Farben. So eindrucksvoll dieses Cover einerseits erscheint, so hätte es mich doch beinahe etwas abgeschreckt. Zu viele Künstler und vor allem Künstlerinnen, die sich so oberflächlich „püppchenhaft“ und wirkungsvoll düster darstellen, spielen wie ein klingendes Pendant zu den Bildern. Doch nicht so Zala Kravos.

Die junge slowenische Musikerin fesselt mit überraschender, ja gar überwältigender Reife und Präsenz. Bewusst über die poetische Aussage steuert Zala Kravos zielsicher durch die komplexen Formen, wodurch selbst die rhapsodisch verzweigte Liszt-Ballade Bündelung und Geschlossenheit aufweist. Die Brahms-Balladen bleiben erdverbunden und unprätentiös in der Darstellung. Verblüffend, wie reflektiert und erfahren sich Zala Kravos den beiden Giganten Brahms und Liszt nähert! Hier tritt kein typisches Wunderkind auf, sondern eine seriöse Musikerin, der es um die innermusikalischen Werte geht. Selbst die Reise zu der farbenreichen Welt Chopins ist bereits weit fortgeschritten, wenngleich der Anschlag noch nicht die Zartheit und die musikalische Wirkung noch nicht die mannigfaltige Introversion und vieldeutige Innerlichkeit aufweist, welche als die wohl wichtigsten Gegensätze zu seinem Zeitgenossen Liszt gelten können. Doch bin ich mir sicher, dass Zala Kravos auch diese Welt schnell für sich gewinnen und mir ihrer erstaunlichen Intuition durchdringen kann. Persönlich halte ich diese Pianistin für eine der vielversprechendsten Entdeckungen der letzten Zeit und hoffe sehr, dass sie den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen wird. Wenn sie weiterhin die Musik und nicht das Showbusiness vor Augen hat, dürften wir wohl bald einer neuen Größe mit zeitlosen Qualitäten in unseren Konzertsälen begegnen.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Ein unbeachteter Russe

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 209; EAN: 4 260052 382097

Im zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Klavierwerke des russischen Virtuosen Sergei Lyapunov für Ars Produktion ist Florian Noack zu hören mit der Novelette op. 18, der Barcarolle op. 46, der Humoreske op. 34, mit drei Stücken op. 1, sieben Preludes op. 6, Chant du crépuscule op. 22, Variationen und Fuge über ein russisches Thema op. 49 sowie mit Fêtes de Noël op. 41.

Die meisten dürften den Namen Sergei Lyapunov zwar bereits irgendwo gehört haben, doch etwas Konkretes mit ihm in Verbindung bringen werden wohl die wenigsten, kein einziges seiner Werke genießt heute große Bekanntheit. Immer wieder ist die Rede von „Epigonentum“, quasi ein Todesurteil für nicht etablierte Musik (während dies bei bereits entdeckten Komponisten scheinbar niemanden stört). Was die Chancen auf große Verbreitung verringert, ist nicht zuletzt auch die hohe Virtuosität, die sogar den kleinen Miniaturen innewohnt und einen Großteil der Werke ausschließlich für professionell ausgebildete Pianisten spielbar macht. Bestätigt wird dies alleine schon dadurch, dass drei der auf dieser CD zu hörenden Stücke Ersteinspielungen sind.

Charakteristisch für Lyapunov sind große uniforme Flächen, die bedingt werden durch fließende Themen in gleichen Notenwerten, welche repetitiv ausgekostet werden, meist ohne dabei durchgeführt oder groß variiert zu werden. Rhythmisch passiert dabei meist wenig, alles ist auf den dynamischen Melodiefluss und spannungssteigernde Harmonik angewiesen. Bei langen Werken besteht somit schnell die Gefahr, dass Langwierigkeit aufkommt, da es an Kontrasten und Abwechslungsreichtum fehlt, doch interessanterweise ist dies beinahe nie der Fall (außer vielleicht bei der Barcarolle, die schon sehr umfangreich ist für das, was tatsächlich musikalisch geschieht). Anders als beispielsweise Chopin, der stets für Kontrast und Entwicklung sorgte, verträumt sich Lyapunov in seine Themen und schöpft diese so weit wie nur möglich aus. Es herrscht fast durchweg ein voller Klang, der durch virtuose Nebenstimmen erreicht wird, welche die schlichten Melodien umgarnen. Auf diese Weise bilden die technischen Anforderungen eine unumgängliche Herausforderung im Dienst der Musik, und die Virtuosität ist nicht reiner Selbstzweck. Das bedeutendste Stück sind zweifellos die Variationen und Fuge auf ein russisches Thema op. 49 – welch eine unbändige Kraft und Schroffheit in diesem Werk steckt und welch eine flexibel sich wandelnde Vielseitigkeit! Durch Abwechslungsreichtum stechen auch die Fêtes de Noël op. 41 in all ihrer Beschaulichkeit heraus. Mit Zartheit betören können zudem Chant du crépuscule op. 22 und der Walzer aus den drei Stücken op. 1. Bei den anderen Stücken überwiegt größtenteils die Monochromie bei Ausnutzung der physikalisch möglichen Fingerfertigkeit, die natürlich durchaus Reiz und eine gewisse Schönheit besitzen, jedoch nicht das außerordentlich hohe Niveau der soeben genannten Werke erreichen. Schade, dass der Booklettext von Guy Sacre ausschließlich Banalitäten nennt und einen ewigen Vergleich anstimmt, wie technisch anspruchsvoll Lyapunov doch sei – was wesentlich an dieser Musik ist, scheint ihm nicht deutlich zu sein.

Der junge belgische Pianist Florian Noack erweist sich als ein großes Talent mit einem außergewöhnlich feinsinnigen Anschlag, innigem Gefühl und aufbegehrender Expressivität. Chamäleongleich kann er sich allen Charakteren anpassen und in die Musik regelrecht eintauchen. Noack kann die Sanglichkeit und Lyrik auskosten, ebenso auch nach vorne drängen und seinem Ausdrucksvermögen bis in die wildesten Passagen freien Lauf lassen. Die Schwierigkeiten lässt er vergessen, so leicht fliegt er über die Tasten und hebt die mit größter Einfachheit gestrickten Hauptstimmen hervor. Beeindruckend ist Noacks Pedaleinsatz, der ein sauberes Legato ermöglicht, aber niemals etwas verschwimmen lässt – so dass nicht einmal auffällt, dass überhaupt Pedal benutzt wird. Einziger Kritikpunkt ist, dass Florian Noack sich im Fortebereich etwas versteift, seine Flexibilität geht dadurch verloren und der Klang wird unverhältnismäßig trocken und hart, gar rabiat. Hier kann er des Öfteren noch nicht seine Emotionen bändigen, was aber gerade in solch intensiven Passagen unbedingt erforderlich ist, um die Geladenheit auch dem Hörer weiterzureichen und nicht alles für sich selbst zu „verbrauchen“. Abgesehen davon ist Florian Noack ein ausgesprochen feinsinniger Musiker und ihm scheint eine glänzende Karriere zu bevorstehen – bleiben wir weiter auf dem Laufenden!

[Oliver Fraenzke, Juli 2016]