Archiv des Monats: Oktober 2025

Ein franko-belgischer Sonatenabend in Wien

Unter dem Motto Französische Violin-Welten fand am 16. Oktober 2025 im Großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses Wien ein Kammerkonzert mit Duo-Kompositionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts statt. „Französisch“ war hier im weitgefassten Sinne zu verstehen, denn es standen ausschließlich Werke französischsprachiger Belgier auf dem Programm. Freilich: César Franck lebte als naturalisierter französischer Bürger in Paris, wo er als Lehrmeister zwei Generationen französischer Komponisten ausbildete. Auch Guillaume Lekeu, Schüler Francks, verbrachte den letzten Abschnitt seines viel zu kurzen Lebens, in dem er seine bedeutendsten Werke schrieb, in Frankreich. Rémy Ballot (Violine) und Anika Vavić (Klavier) brachten an diesem Abend die Violinsonaten Francks und Lekeus zur Aufführung, die beide für den dritten Komponisten des Programms geschrieben wurden, den großen Violinisten Eugène Ysaÿe. Von diesem erklang zu Beginn das kurze Charakterstück Rève d’enfant. Zwischen den beiden Sonaten spielten Rémy Ballot und seine Ehefrau Iris Ballot den langsamen Satz aus Ysaÿes Sonate für zwei Violinen.

Man hörte also ein stilistisch sehr einheitliches Programm. Die Musik des Abends entführte die Zuhörer in die Welt der Belle Epoque bzw. des Fin de Siècle, deren musikalischer Stil maßgeblich von César Franck geprägt wurde. Es ist die Zeit der opulent angereicherten Funktionsharmonik mit ihren raffinierten Alterationsakkorden, chromatischen Zwischentönen und Stellvertreterharmonien. Bei aller Modernität ihrer Musik haben sich die Komponisten der Franck-Schule, im Gegensatz zu den modernistischen Strömungen seit den 1920er Jahren, nicht als Bürgerschrecks inszeniert. Ihre Musik ist eine Spätblüte der Salon-Kultur des 19. Jahrhunderts. Die Ästhetik ist konziliant, verbindend ausgerichtet: Leidenschaft und Eleganz sind keine Gegensätze, Tiefgründigkeit und Schroffheit keine Synonyme; das Kunstfertige zeigt sich in anmutigster Gestalt (siehe den Kanon im Finale von Francks Sonate) und überall, im Heftigen wie im Ruhigen, strahlt die Musik eine einladende Wärme aus.

Zu diesem Eindruck trägt nicht zuletzt bei, dass viele Gedanken bei Franck, Lekeu und Ysaÿe vokal erfunden sind. Rémy Ballot trägt dieser Gesanglichkeit Rechnung, indem er ausgiebig Vibrato anwendet. Was ihn dazu bewegt ist Kunstverstand und Eigenverantwortung des Ausführenden bei der Verlebendigung der Musik, nicht Manierismus und Mode. Nachdem das Vibrato einige Zeit in gewissen Kreisen ziemlich verpönt gewesen ist, kommt es derzeit anscheinend als Mode und Manier wieder, mit der die Musik zugekleistert wird, ganz gleich, ob es passt oder nicht. Für Ballot ist es schlicht ein Kunstmittel, kein Selbstzweck. Er nutzt es, um Schattierungen zu schaffen und Binnenkontraste zu setzen, was sich gerade in der 40-minütigen Sonate Lekeus als vorteilhaft erweist. Je nach Situation im musikalischen Geschehen wendet er es stärker oder schwächer an. Ganz fremd ist ihm die übertriebene Emotionalisierung, der aufgesetzte Effekt, die Affektiertheit. Er entwickelt die Musik von innen her, dem Spannungsauf- und abbau der harmonischen Verhältnisse folgend. Ganz wunderbar gelingt ihm die allmähliche Entfaltung des Kopfsatzes der Franck-Sonate aus der Stille heraus!

Anika Vavić ist zweifellos eine ausgezeichnete Pianistin. Das Geburtstagskonzert für Kalevi Aho, das sie gemeinsam mit dem Ehepaar Ballot vor zwei Jahren in Wien gegeben hat, ist mir noch in guter Erinnerung. Leider war diesmal ihre Leistung nicht ganz so herausragend wie damals. Die Lekeu-Sonate wirkte nicht ausreichend durchdrungen, was anhand der ruhigeren Teile des Werkes deutlich wurde. Der aufgewühlte letzte Satz war nicht zu beanstanden. Diejenigen Abschnitte der beiden ersten Sätze, die im Klavier wenig figuriert sind, hätten dagegen mehr melodische Ausrichtung vertragen. Hier wirkte manches eher aneinandergereiht denn als tonsprachliche Sinneinheit erfasst. Vavićs Vortrag der Franck-Sonate litt nicht unter dieser Schwäche. Hier fanden Violine und Klavier zu einer gelungenen Darbietung zusammen.

Den Höhepunkt des Abends markierte der zweite Satz aus Ysaÿes Violinduo, ein 1915 entstandenes Stück, das stellenweise die Grenzen des Franckschen Idioms zum Impressionismus Debussys überschreitet. Das Zusammenspiel von Iris und Rémy Ballot ist in seiner makellosen Harmonie schlichtweg bewundernswert. Angesichts der Achtsamkeit, mit der sie einander die Motive hin- und herreichen und sich gegenseitig stützen und ergänzen, meint man, einen einzigen Menschen zugleich auf zwei Violinen spielen zu hören. Gern hörte man von den beiden nun auch die übrigen Sätze der Ysaÿe-Sonate!

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2025]

80 Jahre musica viva: K. A. Hartmann, Alberto Posadas und ein hinreißendes Cellokonzert von Benjamin Attahir

Anlässlich des 80. Geburtstags der Münchner musica viva bewältigte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 24. Oktober 2025 im Herkulessaal unter Duncan Ward ein beachtliches Programm: Zu Ehren des Begründers der Konzertreihe erklang Karl Amadeus Hartmanns späte 8. Symphonie. Zuvor gab es zwei neuere Instrumentalkonzerte: Das „Königsberger Klavierkonzert“ von Alberto Posadas (*1967) mit dem Pianisten Florian Hölscher sowie das Cellokonzert „Al Icha“ von Benjamin Attahir (*1989) mit Jean-Guihen Queyras.

Jean-Guihen Queyras, Christopher Ward, BRSO / © Astrid Ackermann-BR

Kaum zu glauben: Die Münchner Konzertreihe für moderne Musik, musica viva, wurde nun 80 Jahre alt. Die Verteilung des Programms quer über die gesamte Spielzeit eines Spitzenorchesters sucht wohl weltweit ihresgleichen und hält das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, oft einschließlich des Chores, in stetem Kontakt zu aktuellen Kompositionen. Als der Münchner Komponist Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) am 7. Oktober 1945 im Prinzregententheater das erste Konzert veranstaltete – mit Musik von Mahler, Debussy und Busoni – war der anhaltende Erfolg der Reihe noch nicht absehbar. Längst zählt die musica viva zu den absoluten Aushängeschildern Münchner Kultur und das Konzert am Freitag war nicht nur wegen des Jubiläums wieder gut besucht – mit einem heterogenen und ungewöhnlich langen Programm.

Der Spanier Alberto Posadas hat kurz zuvor in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den Happy New Ears-Preis 2025 für Komposition der Hans und Gertrud Zender-Stiftung entgegengenommen. Der Preis für Publizistik zur Neuen Musik ging diesmal an Christian Utz. Posadas richtet sich häufig an mathematischen Modellen aus – z. B. im Streichquartett-Zyklus Liturgia fractal an komplexen Fraktalen. Derlei Konzepte mögen bei Kammermusik noch aufgehen. In seinem Königsberger Klavierkonzert (2023) ist es der Eulerkreis, den der Mathematiker im Umfeld des berühmten Königsberger Brückenproblems entwickelt hatte, eine der Grundlagen der Graphentheorie. Dass sich dies musikalisch auf klangliche „Brücken“ zwischen Klavier und Orchester übertragen lässt, zeigt Posadas mit einer völlig hypertrophen Orchestrierung, die zwar erstaunliche und interessante Einzelereignisse hervorbringt, jedoch mangels wahrnehmbarer motivischer Arbeit auf den Hörer ziellos, fast beliebig wirkt: ein mit zudem 40 Minuten Länge völlig unverdaulicher Klops. Florian Hölscher, der Posadas bereits den Klavierzyklus Erinnerungsspuren abgerungen hatte, muss einen exorbitant schwierigen Part bewältigen: auf der Tastatur Cluster und schnellste Bewegungsmuster in ständigem Wechsel, im langsamen Mittelsatz unkonventionelles, sonores Spiel im Innern des Flügels. Der Brite Duncan Ward steuert die Klangmassen erneut souverän, kann aber bei dieser Musik keinen Funken überspringen lassen, weder aufs Orchester noch das Publikum: wohlwollender Applaus allenfalls für den Solisten.

Völlig andere musikalische Qualitäten zeigt dann das Cellokonzert Al Icha des französischen Komponisten Benjamin Attahir. Kulturell gleichermaßen in der westlichen wie der arabischen Musik verwurzelt, hat sich Attahir sogar mit Klezmer beschäftigt. In der Zeit des Corona-Lockdowns entstanden, verbindet er hier, im letzten, nächtlichen Stück eines Zyklus, der sich den fünf täglichen muslimischen Gebetszeiten widmet, Elemente von Gregorianik, Rak’ahs und eben jiddischer Melodik zu einer genialen Symbiose. Auch für den Solisten bietet das Werk emotional traumhaft differenzierte und klanglich bestechende Entfaltungsmöglichkeiten. Attahir war 2021 nach den ersten Proben nicht ganz mit der zu barocken Auffassung des Cellisten Jean-Guihen Queyras einverstanden und änderte den Solopart in einigen Details so, dass ein „postromantischer Klang“ erreicht wird. Attahirs Musik ist allerdings keinesfalls mit amerikanischer Neoromantik – Schwantner, Rouse etc. – zu verwechseln. Er benutzt hochkomplizierte Strukturen und Rhythmen, Mikrotonalität, beherrscht zugleich sensationell geschickt altbewährte Formen wie Fugati, ob deren Schönheit man durchaus in Verzückung geraten kann. Man sieht es an der bei dieser Darbietung gestalterisch viel mehr eingreifenden linken Hand des Dirigenten und an den Reaktionen des Orchesters, dass diese Musik unmittelbar lebendige Kommunikation bewirkt. Queyras hat das Stück – dies ist die vierte Aufführung – mittlerweile so verinnerlicht, dass bei ihm eine Freiheit und Tiefe des Ausdrucks entsteht, wie man sie sonst nur von Klassikern des Repertoires erwartet. Der Saal bejubelt die Musiker und den noch jungen Komponisten enthusiastisch wie selten.

Am Schluss gibt es dann nochmal eine halbstündige kalte Dusche: Karl Amadeus Hartmanns achte und letzte Symphonie entstand 1962. Der Nazi-Terror war in der BRD nicht ansatzweise aufgearbeitet und der Kalte Krieg hatte in der Kuba-Krise einen neuen Tiefpunkt erreicht. In der für ihn typisch zweisätzigen Form gelingt Hartmann ein Höhepunkt an orchestraler Expressivität, die hörbar eine Linie Mahler–Berg fortsetzt. Die Wucht, mit der Emotionen hier geradezu eruptiv aufwallen und doch gegen Wände zu rennen scheinen, kann zutiefst verstören, auch heute noch. Trotzdem muss so etwas schon damals – als die Gattung Symphonie fast verschwunden schien und der Serialismus sich für viele Komponisten als Irrweg erwies – etwas antiquiert, wenn nicht stur gewirkt haben. Letztlich hat Alban Berg in seinem dritten Orchesterstück aus Op. 6 schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs ähnlich dystopische Visionen fast bis an die Grenze ausgelotet. Hartmanns kompositorische Meisterschaft steht außer Frage, und das BRSO gibt wieder sein Bestes für den bedeutendsten Symphoniker der Stadt. Ward setzt die Mechanismen perfekt um, mit denen hier beängstigende Dramatik in immer neuen Wellen aufgebaut wird und hält die (An)-Spannung bis zum Schluss. Die wunderbare Ausgewogenheit seiner 6. Symphonie – Hans Werner Henze hat diese mit größter Empathie beschrieben – ist dafür weit weg, und man darf sich fragen, ob Hartmann, hätte er noch länger gelebt, diesen Weg weiter beschritten hätte. In ihrer humanistischen Warnung vor der Apokalypse muss man die Achte heutzutage leider wieder absolut ernstnehmen. Die Münchner wissen sowieso, was sie K. A. Hartmann zu verdanken haben und applaudieren anhaltend.

[Martin Blaumeiser, 25. Oktober 2025]

Das MKO mit Haydn, Ives und der deutschen Erstaufführung von Dieter Ammanns Violakonzert

Das Münchener Kammerorchester besteht 2025 seit nunmehr 75 Jahren. Im Prinzregententheater startete am 16. Oktober die unter dem Motto „Wonderland“ stehende Jubiläumssaison mit Joseph Haydns Symphonie Nr. 6 «Le Matin», Charles Ives‘ Symphonie Nr. 3 „The Camp Meeting“ sowie der deutschen Erstaufführung des neuen Bratschenkonzerts „No templates“ des Schweizer Komponisten Dieter Ammann mit Nils Mönkemeyer als Solist. Musikalisch geleitet wurde der Abend von Bas Wiegers.

Dieter Ammann und Nils Mönkemeyer / © Florian Ganslmeier

Im praktisch ausverkauften Münchner Prinzregententheater erwartete man am Donnerstag ein spannendes Konzert, das wohl gleich eindrucksvoll demonstrieren sollte, in welches musikalische „Wunderland“ das MKO in der Jubiläumssaison 2025/26 sein Publikum zu führen gedenkt.

Das Programm startet mit Joseph Haydns erster „Tageszeiten“-Symphonie: Nr. 6 D-Dur »Le matin« von 1761, die neben der damals noch unüblichen Viersätzigkeit – es gibt ein Menuett als 3. Satz – zudem für einige Orchestermitglieder, allen voran Violine und Flöte, dankbare kleine Soli bereithält. Wahrscheinlich absichtsvoll lässt der Niederländer Bas Wiegers, einer der drei Associated Conductors des MKO und nur in diesem Werk ohne Taktstock agierend, die Musik etwas schläfrig beginnen. Nach dem stets als Sonnenaufgang interpretierten Übergang zum Allegro wird umso frischer, fein strukturiert und mit hübscher Dynamik musiziert. Wiegers gibt gestaltende Impulse, kann aber schnell auf die größeren Einheiten gehen. Man gibt sich historisch informiert, benutzt etwa Naturhörner, verzichtet dabei zum Glück auf Manierismen mancher Barockensembles, wie etwa zu kurz gespielte abgesetzte Notenwerte. Der langsame Satz lebt von den teils skurrilen Soli und einigen fahlen Oktaven: Haydn gab seinem Humor schon im Antrittsjahr am Fürstenhof Esterhazy Raum, und besonders die Konzertmeisterin kann hier glänzen, so wie das Fagott später im Trio des 3. Satzes. Das Finale ist dann wirklich sehr energetisch und macht einfach Spaß. Natürlich bekommen danach auch alle Solisten innerhalb des MKO eine Extraportion Applaus.

Der Höhepunkt des Abends ist ganz klar das für Nils Mönkemeyer geschriebene und Anfang des Jahres von ihm in Basel uraufgeführte Violakonzert „No templates“. Daran hat der Schweizer Tüftler Dieter Ammann (*1962) wieder mehrere Jahre gearbeitet: Das Ergebnis ist dafür erneut grandios. Für ganz großes Orchester schreibt der Komponist sensationell, doch stets weit entfernt von oberflächlicher Effekthascherei; in München zuletzt mit dem Orchestre de la Suisse Romande zu hören (wir berichteten). Hinreißend, wie er ebenso aus einer viel kleineren Besetzung eine überraschend breite Farbpalette hervorzaubern kann. Dabei gibt es wohldosiert durchaus auch Geräuschhaftes, aber sogar fast tonale Erinnerungsmomente in der vertikalen Klangstruktur. Das Verhältnis zwischen Bratsche – die Partie verlangt nicht nur technisch dem Solisten alles ab – und Orchester folgt der altbewährten Dramaturgie: Individuum versus Kollektiv, mit zunächst klar abgegrenzten Stimmungen. Ammann spielt dabei ganz wunderbar mit den spezifischen Klangcharakteristika der Viola. So zwingt etwa nach dem ersten Drittel das Orchester den Solisten in eine sehr intensive Doppelgriffpassage in tiefer Lage, aus der sich der famose Nils Mönkemeyer quasi mit großer Mühe selbst wieder freischälen muss. Viel später gibt es dann eine echte, große Kadenz mit herrlich ausdrucksvollen, leisen Kantilenen. Mönkemeyer ist über das gesamte, gut halbstündige Werk emotional unglaublich vielschichtig präsent und ganz nah am Publikum. Und an ein paar Stellen hört man natürlich, dass Ammann zunächst vom Jazz und Funk zur Klassik gekommen ist: bei schnellen, rhythmisch pointierten Passagen immer spannungsvoll und mit vorwärtsstrebendem Drive. Wiegers leitet das Stück souverän, so dass das Orchester diesen Farbrausch überzeugend mitgestaltet. Wie durchdacht Ammanns Instrumentationskunst ist, zeigt sich ganz am Schluss, wo die Bratsche in allerhöchster Lage – Mönkemeyer braucht dazu nicht einmal Quart-Flageoletts – ein positives Ende herbeiträumt und vom exzellenten Schlagzeug mit gestrichenen Zimbeln unterstützt wird, die heutzutage die präzisesten Klangerzeuger für extremste Höhen darstellen. So kann garantiert nichts schiefgehen: faszinierend. Ammanns neues Meisterwerk wird vom Saal zu Recht bejubelt, Solist, Dirigent und das Orchester sowieso.

Immer recht schwierig ist es im einst erzkatholischen München, den Funken bei der Musik des ersten amerikanischen Avantgardisten Charles Ives wirklich überspringen zu lassen. Dabei gehört dessen 3. Symphonie, entstanden 1904–11, zu seinen eher harmlosen Kompositionen, in der er nicht kompromisslos collagiert. Der Titel The Camp Meeting verweist auf die in den USA des 19. Jahrhunderts verwurzelten großen religiös-sozialen Treffen nicht nur der Erweckungsbewegung. So bilden etliche protestantische Choräle, die bis vor 30 Jahren wohl noch jedes amerikanische Schulkind problemlos hätte mitsingen können, die Grundlage für eigenwillige, aber klare und harmonisch recht unbedenkliche symphonische Strukturen. Hierzulande kennt man – inklusive der Orchestermusiker – weder Text noch Musik dieser Gesänge, was deren Vermittlung innerhalb eines umfassenderen Kontexts fast unmöglich macht. Ohne bei den Proben anwesend gewesen zu sein: Auch Wiegers wird damit schon aus Zeitgründen nicht weit gekommen sein. Das MKO spielt klangschön, jedoch dynamisch ein wenig zu undifferenziert und gleichförmig. Trotzdem könnten die Streicher gerade im 1. Satz Old Folks Gathering noch dichter, gebundener klingen. Die momentweise bereits an Gospels anklingenden Rhythmen im 2. Satz wirken ziemlich steif; hier zeigt auch Wiegers nicht die nötige Flexibilität. Im Finale können die Bläser begeistern, jedoch die Streicher nutzen aus den genannten Gründen nie richtig die „geistlichen“ Energiebälle, die Ives ihnen dauernd vor die Füße wirft. So bleibt die Darbietung recht blutleer, „nett“ ohne wirklich ergreifend zu sein. In dieser Musik steckt eigentlich noch weitaus mehr drin. Das spürt das Publikum sehr wohl und der Beifall für dieses Schlüsselwerk der US-Symphonik erscheint lediglich höflich.

[Martin Blaumeiser, 18. Oktober 2025]

Sir Simon Rattles „Wozzeck“ in der Isarphilharmonie

Mit drei konzertanten Aufführungen von Alban Bergs bahnbrechendem Opernklassiker „Wozzeck“ in der Münchner Isarphilharmonie HP8 startete Sir Simon Rattle seine neue Saison mit dem Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks. Zudem hatte man den Kinderchor der Bayerischen Staatsoper eingeladen und konnte mit hochkarätigen Solisten aufwarten, allen voran Malin Byström als Marie und Christian Gerhaher in der Titelrolle. Unser Rezensent besuchte das Konzert am 3. Oktober 2025.

BRSO, Christian Gerhaher, Sir Simon Rattle, Malin Byström (Aufführung vom 2. 10. 2025) / © BR-Astrid Ackermann

Für die Einführung zu Alban Bergs Wozzeck – nach Georg Büchners Dramenfragment und vor 100 Jahren im Dezember 1925 uraufgeführt – hat Annekatrin Hentschel mit dem 82-jährigen Komponisten, Dirigenten und Chansonnier HK Gruber den idealen Gesprächspartner. Gruber, wie Berg ein echter Wiener, könnte wohl stundenlang mit Sachverstand und Witz von der Jahrhundertoper – in puncto Qualität – schwärmen. Leider merkt man ihm in der Sprechgesangsrolle des 1. Handwerksburschen nachher dann doch an, dass er an diesem Abend stimmlich leicht angeschlagen ist. Die Vorteile der konzertanten Opernaufführung einer solch komplexen Partitur wie der des Wozzeck macht sich Sir Simon Rattle mit seinem mal wieder bestens aufgelegten BRSO natürlich voll zu Nutze. Vieles erscheint so deutlich transparenter als aus einem Orchestergraben im Opernhaus heraus, und für die Zuhörer wird einmal optisch deutlich, wie viele verschiedene solistische Aufgaben es da im Orchester zu bestaunen gilt. Ob man mit den Gesangssolisten im Rücken diese auch besser führen kann, darf jedoch angezweifelt werden. Zudem verleitet eine solche Aufstellung in einem großen Konzertsaal durchaus dazu, die Sänger dynamisch zuzudecken. Selbst der eigentlich stimmgewaltige Christian Gerhaher hat an einigen Stellen damit zu kämpfen, etwa in der Fuge (II. Akt, 2. Szene) oder der ersten Wirtshausszene.

Die stimmliche und emotionale Ausdeutung einer der Paraderollen des Baritons ist nach wie vor grandios. Die Palette an unterschiedlichsten Klangfarben auf engstem Raum und differenziertester Textbehandlung berührt den Saal von der ersten Szene an. Gerhahers Wozzeck ist nur noch äußerlich ein Getriebener, eigentlich längst dem Schicksal als in seiner Wahrnehmung der Welt entrückter Geistesgestörter voll ergeben und ohne Hoffnung: eine Figur, die allenfalls Mitleid erwecken kann. Dies wird ihm allerdings nur durch die Musik und das Publikum zuteil, überhaupt nicht von den übrigen Protagonisten. Die meisten sind erstklassig: Malin Byström als Marie begeistert durch außerordentlich sichere und flexible Tongebung, wirkt aber nicht durchgehend glaubwürdig. Die heikle Bibelszene zu Beginn des dritten Akts, wo Berg gerade an den melodisch großartigsten Stellen reinen oder halben Sprechgesang fordert, bewältigt sie partiturgetreu und absolut überzeugend. Nicky Spences seit vielen Jahren verlässlicher Charaktertenor ist für den Hauptmann eine Idealbesetzung. Mit immer noch exzellenter Höhe zeichnet er eine brüchige Figur; im Grunde ein Weichei, das vom Doktor (Brindley Sheratt) beliebig in die Enge getrieben werden kann. Dessen phänomenaler Bass – dämonisch, edel, hier zugleich ekelhaft zynisch und am Rand des Größenwahns – ist die eigentliche Überraschung des Abends, ungemein faszinierend. Dagegen fallen der glanzlose Eric Cutler (Tambourmajor), der allzu distanzierte Edgaras Montvidas (Andres) und Rinat Shaham (Margret), die sich in der zweiten Wirtshausszene in falsches Verismo-Pathos verirrt, merklich ab. HK Gruber, dem sich Rattle nicht etwa besonders zuwendet, weil er vom Dirigenten deutlichere Führung benötigen würde, sondern um klarzumachen, dass hier nun quasi ein zweites Orchester (sonst Bühnenmusik) spielt, setzt seine genaue Vorstellung von der Partie präzise um – wie gesagt, mit stimmlichen Einschränkungen. Der Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung: Peter Dijkstra) und der Kinderchor der Bayerischen Staatsoper (Kamila Akhmedjanova) mit Felix Bellheim (Mariens Knabe) machen ihre Sache tadellos, ebenso Ludwig Mittelhammer (2. Handwerksbursch).

Rattle deutet mit dem Orchester die expressionistischen Qualitäten der Partitur stilistisch auf den Punkt genau aus. Die ja nur in wenigen Abschnitten bereits zwölftönige Komposition knüpft für ihn besonders an Gustav Mahler an: spürbar gerade bei den Tanzformen, deren ironische Behandlung Berg von dessen 9. Symphonie übernommen hat, aber gleichermaßen in Details der Orchestrierung. Auch Schönbergs Kammersymphonie op. 9 lässt bekanntlich grüßen, vieles erscheint als überdimensionale Ensemblemusik. Die teils komplizierten Klangschichtungen erscheinen beim BRSO mit der größten Selbstverständlichkeit, wirken natürlich bis vertraut, dienen allein dem dramatischen Fluss. Nie verfällt Rattle in Hektik, wählt sehr stimmige Tempi, die Berg eh‘ meist minutiös notiert, hat immer den nächsten Höhepunkt im Blick und gibt, wo es die Partitur ermöglicht, insbesondere Gerhaher genügend Freiraum für spontane Gestaltung. Insgesamt eine sehr solide, stets spannungsreiche Darbietung, hinter der sich freilich gute szenische Realisationen an großen Opernhäusern nicht verstecken müssen. Wer sich an dieses epochale Werk heranwagt, will es halt als Vorzeigestück für alle Mitwirkenden präsentieren; das gelingt an diesem Abend.

[Martin Blaumeiser, 4. Oktober 2025]

Tolle Gäste aus Korea zelebrieren Pagh-Paan, Messiaen und Sibelius

Das erste musica viva Konzert nach der Sommerpause am 25.9.2025 bestritten Gäste aus Korea: Das Busan Philharmonic Orchestra unter seinem künstlerischen Direktor Seokwon Hong spielte im Münchner Herkulessaal drei Werke der Komponistin Younghi Pagh-Paan anlässlich ihres 80. Geburtstags: „Sori“, „Der Glanz des Lichts“ mit den beiden Solisten Byol Kang und Nils Mönkemeyer sowie „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ Nach der Pause erklangen dann Olivier Messiaens «L’Ascension» und Jean Sibelius‘ 7. Symphonie.

Busan Philharmonic Orchestra, Byol Kang, Nils Mönkemeyer, Seokwon Hong
© Astrid Ackermann/BR

Erneut hatte man zum Auftakt der neuen musica viva Saison ein großes Orchester eingeladen, das noch nie in München gespielt hat, diesmal ermöglicht von koreanischen Förderern und in Zusammenarbeit mit den Berliner Festwochen: Das Busan Philharmonic Orchestra aus Koreas zweitgrößter Metropole schickt fast 100 Musikerinnen und Musiker auf die Bühne im leider beschämend schlecht besuchten Herkulessaal. Gewidmet ist der Abend vor allem der schon lange in Deutschland lebenden Komponistin Younghi Pagh-Paan, die Ende November ihren 80. Geburtstag feiert.

So erklingen drei Stücke der allerersten weiblichen Kompositionsprofessorin unseres Landes (von 1994 bis 2011 in Bremen). Trotz der über 40 Jahre, die hierbei umspannt werden, kann man daran gut einige Charakteristika der immer bescheiden auftretenden Künstlerin festmachen, die aus gesundheitlichen Gründen leider diesmal nicht anwesend ist. Mit Sori – was im Koreanischen für alles akustisch Wahrnehmbare steht – erlangte sie 1980 in Donaueschingen quasi den internationalen Durchbruch. Sie hatte mit dem Stück längst begonnen, als die damalige Militärdiktatur in ihrer Heimat das Massaker von Gwangju anrichtete. Wenn der ebenfalls bei uns tätige Isang Yun ein Jahr später über das Drama die quasi dreiteilige sinfonische Dichtung Exemplum in memoriam Kwangju (damalige westliche Schreibweise) mit klarer Teleologie schrieb, ist Pagh-Paans Stück für großes Orchester vielschichtiger: Mit einer fantastischen Farbenvielfalt, besonders beim Schlagzeug, wird indigenes musikalisches Material aus Korea in eine ganz moderne Faktur eingebunden. Der von Beginn an „in sich hineingeschluckte Groll“ entfaltet dabei eine Sogwirkung, die musikalisch zu großen Steigerungen, aber später unweigerlich zu Aus- bzw. Abbrüchen führt. Integrierte Trillerpfeifen und brutale Aleatorik, die den Rest des Orchesters fast niederzuwalzen scheint, sind gegen Schluss dann unzweideutige Hinweise auf die starke Verarbeitung auch eines nationalen Traumas: sehr beeindruckend. Der Dirigent Seokwon Hong agiert schon hier grandios. Seine Schlagtechnik ist hochdifferenziert bei meistens kleinem Bewegungsambitus; Hong kann aber, wo nötig, ebenso extrem animierende Impulse übertragen, sorgt in seinem Riesenorchester für dynamisch perfekte, immer durchhörbare Klangschichtungen. Unterstützt wird er in den Streichergruppen von bemerkenswert aufmerksamen und resoluten Konzertmeisterinnen und -meistern.

Die an Maria Magdalena gerichteten Jesus-Worte „Frau, warum weinst du? Wen suchst du?“ – so der Titel von Pagh-Paans bislang letzter Orchesterpartitur (2023) – zielen hier musikalisch auf den ganz großen Trost eines, wenn nicht aller Menschen. Dabei spielt natürlich auch der eigene Abschied von ihrem Ehemann, dem Komponisten Klaus Huber († 2017) eine Rolle. Das sehr effektiv instrumentierte 7-Minuten-Stück hält eine mystische, schimmernde Spannung, bis in die fast weihevollen Klangballungen der Bläser. Der Glanz des Lichts (2012) ist ein Doppelkonzert für Violine & Viola mit nun deutlich reduziertem Orchester – 32 Streicher, 2 bis 3-faches Holz usw. Hierbei geht es um die wiederum mystische Dimension des Lichts einerseits, der des Ausatmens andererseits. Die beiden Solisten – Nils Mönkemeyer anfangs deutlich präsenter und aktiver als seine Partnerin Byol Kang an der Violine – sind zunächst total ins Orchester integriert, wenn auch die eigentlichen Initiatoren klanglicher Veränderung. Die Demonstration unterschiedlicher Amplituden von Vibrato, ergreifend schön schließlich in einer Art Duo-Kadenz, löst im Orchester sensibelste, fein austarierte Reaktionen aus. Wieder typisch für Pagh-Paans Ästhetik, dass die Musik sich gleichermaßen nach außen wie nach innen richtet und selbst in Momenten beinahen Stillstands tragfähig bleibt: großer Applaus.

Nach der Pause dann zwei Klassiker, wieder mit voller Besetzung, in der das koreanische Orchester beweisen kann, dass es auf Weltklasse-Niveau musiziert. Olivier Messiaens vier Meditationen über die Himmelfahrt, L’Ascension von 1933, symbolisieren musikalisch ganz explizit den Aufstieg in andere Sphären. Hierbei lassen besonders die auch bei komplexesten Akkorden blitzsauber intonierenden Bläser im ersten Stück sowie die intensivst glänzenden Streicher mit der beinahe unerträglichen Süße schon des frühen Messiaen im letzten aufhorchen. Zum Höhepunkt des Abends wird jedoch Jean Sibelius‘ letzte Symphonie, die einsätzige Siebte von 1924, für viele seine beste. Neben wirklich überzeugender emotionaler Führung der völlig ungewöhnlichen formalen Dramaturgie, bei dessen zwischenzeitlichen Steigerungen er das Orchester stets noch im Zaum hält, gelingt Hong im gesamten, recht bläserlastigen Werk eine vollkommen stimmige Balance. Dies lässt die Streicher nicht nur nie untergehen, sondern deren Strahlkraft als völlig gleichberechtigtes Gegengewicht zum Blech ohne Abstriche zum Tragen kommen. Das ist absolut phänomenal und kann sich mühelos etwa mit der ausgezeichneten Darbietung des BRSO von 2017 im Gasteig unter Salonen messen. Im Herkulessaal kann man dieses Meisterwerk eigentlich nicht klarer und klanglich wirkungsvoller auskosten als an diesem Abend. Das Publikum gibt danach sein Bestes, den Koreanern gebührend Zustimmung zu signalisieren.

[Martin Blaumeiser, 28.9.2025]