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Wider das Vergessen – Musik im Exil

Im heutigen Beitrag widmet sich Karin Coper vier Veröffentlichungen, die thematisch eng miteinander verknüpft sind und einander als gegenseitige Ergänzungen dienen können. Im Mittelpunkt der zwei Bücher und zwei Platteneditionen stehen Musiker, meist jüdischer Herkunft, die Repressionen und Verfolgungen ausgesetzt waren. Michael Haas zeichnet in seinem Buch Die Musik der Fremde Lebenswege verschiedener Komponisten nach, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland flohen oder sich in die „innere Emigration“ zurückzogen. Äneas Humm und Renate Rohlfing widmen sich in ihrem Album Sehnsucht Kunstliedern jüdischer Komponisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwischen Wien und Amsterdam. Die 5 CDs umfassende Sammlung From Jewish Life vereint Kammermusikwerke und Lieder von Komponisten der Neuen Jüdischen Schule. Schließlich macht der von Dieter Koller und Sebastian Wogenstein herausgegebene Band Dos gezang fun vilner geto mit originaler jüdischer Volksmusik bekannt, die unter schwierigsten Bedingungen während des Zweiten Weltkriegs im Wilnaer Ghetto gepflegt wurde. Er basiert auf Sammlungen des Schriftstellers Shmerke Kaczerginski, dem 1943 die Flucht vor den Nationalsozialisten gelang. (D. Red.)

Michael Haas: Die Musik der Fremde

Reclam-Verlag, ISBN 973-3-15-011501-5

„Wenn ich komponiere, bin ich wieder in Wien“. So beantwortete der 1920 geborene Robert Fürstenthal die Frage, warum seine Werke stilistisch von Hugo Wolf, Gustav Mahler und anderen österreichischen Spätromantikern geprägt waren. Fürstenthal, der ursprünglich Musik studieren wollte, war 1938 aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach Amerika geflohen und arbeitete dort als Rechnungsprüfer. Seinem Traum aber blieb er treu. Mitte der 1970er Jahre entstanden die ersten Werke des Autodidakten, der bis ins hohe Alter produktiv blieb und rund 200 Kammermusiken und Lieder schuf. In ihnen imaginierte er sich zurück in eine „heile Heimat“, die es real so nicht gegeben hatte. Fürstenthal ist einer jener Tonschöpfer, denen sich Michael Haas in seiner neuesten Publikation Die Musik der Fremde widmet. Damit knüpft der Exilforscher und Musikhistoriker an sein 2013 veröffentlichtes Buch Forbidden Music – The Jewish Composers Banned by the Nazis an. Auch die Neuerscheinung beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit jüdischen Komponisten, doch der Fokus liegt darauf, wie das „Exil“ deren musikalische Entwicklung beeinflusste. Dabei schöpft Haas, der als Plattenproduzent und Aufnahmeleiter die Reihe Entartete Musik bei Decca initiierte und Mitbegründer des Wiener Exilarte Zentrums ist, aus einem enormen Wissensfundus. Er untersucht in neun Kapiteln verschiedene Formen des künstlerischen Exils und stützt sich dabei auf eine beeindruckende Anzahl von Biographien und Analysen vieler Werke im Kontext zum politischen Hintergrund.

„Musik der Integration“ heißt ein Abschnitt, in dessen Zentrum Kurt Weill steht. Er arrangierte sich mit seinem Zufluchtsort New York und eignete sich den amerikanischen Stil an. Seine für den Broadway komponierten Musicals, wie Lady in the dark oder Love Life, von Weill selbst als Studie über eine Durchschnittsfamilie in den USA bezeichnet, sind wirklichkeitsnahe Abbilder des „American way of Life“. Ähnlich flexibel reagierte Erich Wolfgang Korngold auf die neuen Herausforderungen, etablierte sich im Filmgeschäft. Von ihm stammt die Aussage: „Hitler hat uns zu Juden gemacht.“ Sie bezieht sich auf jene teilweise konvertierten Musiker, die sich nicht mit dem Judentum und dessen Traditionen identifizierten. Auf die als erzwungen erlebte Identität reagierten etliche von ihnen mit Vertonungen religiöser Stoffe oder liturgischer Musik. Beispielsweise Schönberg, der sich in der Emigration zum jüdischen Glauben bekannte und nach dem Krieg so radikale Werke wie Ein Überlebender aus Warschau oder Moses und Aron schuf. Weitere Kapitel befassen sich mit „Musik des Widerstands“, etwa von Hanns Eisler und dem im Untergrund schöpferisch tätigen Wilhelm Rettich und mit Künstlern, die in fernste Orte, nach Shanghai (Wolfgang Fraenkel), Japan (Manfred Gurlitt) oder Argentinien (Wilhelm Graetzer) emigrierten – Haas bezeichnet sie als „Die Missionare“.

Doch es gab auch die „Innere Emigration“ – das „Exil in Deutschland“. Sie betrifft eine sehr diverse Gruppe nichtjüdischer Komponisten: jene, die das Regime ablehnten, trotzdem aber in der Heimat blieben; Avantgardisten, die für die Schublade komponierten, weil ihre Musik nicht den nationalsozialistischen Vorstellungen entsprach; und auch Opportunisten, die sich dem Regime andienten, künstlerisch aber andere Ambitionen hatten. So wie Hermann Heiß, der Auftragsmusiken für die NSDAP lieferte, sich aber nach 1945 als Pionier für elektronische Musik hervortat.

Kritisch sieht Haas Karl Amadeus Hartmann, der wie kein anderer den Mythos des aktiven Widerständlers besitzt. Haas hingegen bezweifelt diese Haltung, erkennt darin auch Eigennutz des jungen Komponisten.

„Die Musik in der Fremde“ ist ein ungemein vielschichtiges und trotz der Komplexität gut lesbares Buch, auch dank der flüssigen Übersetzung von Susanne Held. Einziges Manko: es fehlt ein Personenregister.

Äneas Humm, Renate Rohlfing: Sehnsucht

Rondeau, ROP6276; EAN: 4037408062763

Kurz vor seiner Emigration vertonte Erich Zeisl 1938 unter dem Titel Dieselbe das Goethe-Gedicht Nur wer die Sehnsucht kennt. Es drückt aus, was viele Vertriebene damals und heute verbindet: das Gefühl von Verlassenheit, der Wunsch nach Sicherheit und eine bessere Zukunft. Mit Dieselbe eröffnet der aufstrebende Bariton Äneas Humm sein neues Album Sehnsucht. Es enthält Lieder von Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg, Erich Zeisl und Henriëtte Bosmans und ist gewissermaßen eine akustische Ergänzung zu Michael Haas’ Buch. Die drei Wiener Komponisten flüchteten wegen ihrer jüdischen Herkunft nach Amerika, nur die Niederländerin Bosmans blieb in der Heimat, hatte jedoch Berufsverbot. Die Stücke der Österreicher, die Humm auswählte, entstanden allerdings noch in der Heimat, die von Bosmans nach dem Krieg. Zemlinsky, der 1942 verbittert in New York starb, und Zeisl, der sich dort als Lehrer durchschlagen musste, blieben in ihren Liedern der deutsch-romantischen Tradition verhaftet. Und auch Schönberg, Schüler und später Schwager von Zemlinsky, orientierte sich am Anfang seiner Karriere – die er als Einziger in der Fremde fortsetzen konnte – an diesem Stil, wie in den hochdramatisch übersteigerten zwei Gesängen op. 1. Äneas Humm singt die fast opernhaften Szenen stimmgewaltig, er scheut weder Pathos noch expressive, bis an vokale Grenzen gehende Höhenausbrüche. Doch er verfügt auch über Pianokultur, wie in Zemlinskys Empfängnis. Besonders eindringlich gerät der vierteilige französische Zyklus von Henriëtte Bosmans, den sie 1949 als Reaktion auf den Tod der Mutter komponierte. Humm wechselt zwischen Aufschrei und Tonlosigkeit, darunter setzt seine Klavierpartnerin Renate Rohlfing wuchtige Akkorde. Sie ist mehr als eine einfühlsame Begleiterin. Mit ihrem differenzierten wie pointierten Anschlag sorgt sie im Dialog mit dem Sänger für eigene Akzente.

From Jewish Life

SWRmusic, SWR19434; EAN: 747313943487 (5 CDs)

Die späte Rehabilitation jüdischer Komponisten, die durch den Nationalsozialismus in Vergessenheit gerieten, gilt vorwiegend für jene aus dem westlichen Europa. Vom Schicksal ihrer Kollegen aus Russland und der frühen Sowjetunion und deren Wirken ist hingegen weit weniger bekannt. Dies zu ändern ist ein Anliegen des Pianisten und Musikwissenschaftlers Jascha Nemtsov. Seit vielen Jahren forscht er zu dem Thema, speziell zur „Neuen Jüdischen Schule“. Diese Vereinigung von russischen Komponisten kreierte Anfang des 20. Jahrhunderts eine nationale Kunstmusik, die auf traditioneller Musik basierte und Elemente aus jiddischer Folklore und synagogaler Liturgie integrierte. Daraus resultierte 1908 die Gründung der St. Petersburger Gesellschaft für Jüdische Volksmusik. Als Stalin an die Macht kam, wurde sie aufgelöst, manche Mitglieder emigrierten wegen antisemitischer Ressentiments, andere passten sich an. Ein Resultat von Nemtsovs Recherchen ist die schon vor längerem erschienene, wärmstens zu empfehlende fünfteilige Box From Jewish Life. Sie bietet einen breit gefächerten Querschnitt durch die Musik der Bewegung und erinnert an ihre Protagonisten. Nur drei Beispiel: die Totenlieder für Klavier und Bratsche von Alexander Veprik, der als Nationalist im Gulag inhaftiert war; die Hebräische Melodie für Violine und Klavier von Joseph Achron, eines der wenigen ins Repertoire eingegangenen Stücke. Achron emigrierte in die USA, konnte dort aber nicht Fuß fassen. Schönberg nannte ihn „einen der am meisten unterschätzten modernen Komponisten“; die Jüdischen Tänze für Klavier von Alexander Krein, der sich dem Stalin-Regime andiente. Nemtsov hat sich für die Einspielungen mit Spitzenkräften zusammengetan: der Geiger Ingolf Turban, die Bratschistin Tabea Zimmermann, der Klarinettist Wolfgang Meyer und die Mezzosopranistin Helene Schneiderman nehmen sich den Kammermusiken mit ihrer ganzen Kompetenz und Hingabe an.

Dieter Koller, Sebastian Wogenstein: Dos gezang fun vilner geto

Hentrich & Hentrich, ISBN 978-3-95565-664-5

Um jüdische Musik, doch in einem ganz anderen Zusammenhang, geht es auch in dem herausragenden Band Dos gezang fun vilner geto mit Liedern aus dem Wilnaer Ghetto. Er basiert auf Sammlungen des Schriftstellers Shmerke Kaczerginski, der dort eine Zeitlang lebte und zur Stärkung der Bewohner musische Veranstaltungen organisierte. 1943 konnte er fliehen, schloss sich Partisanen an und bemühte sich nach dem Krieg um die Rettung jüdischer Kulturgüter. 1947 veröffentlichte er ein erstes Lieder-Konvolut in Paris, ein zweites folgte 1948 in New York. Nun ist Dos gezang fun vilner geto im Hentrich & Hentrich Verlag veröffentlicht worden, von den Herausgebern Dieter Koller und Sebastian Wogenstein mustergültig ediert und vom jiddischen Original ins Deutsche übertragen. Die Gesänge zu populären Melodien beschreiben die brutalen Zustände und den Alltag im Ghetto. Wie das folgende kurze Wiegenlied von Leah Rudnicki, einer Widerstandskämpferin, die in Treblinka ermordet wurde. Es beginnt so: „Vögel schlummern in den Zweigen, schlaf mein liebes Kind… An der Wiege, deinem Bettchen, sitz ich Fremde und sing: Lju-lju, lju-lju, lju.“ Die Musik ist schlicht, der Text erschütternd. Denn die Fremde sitzt dort anstelle der Eltern, die ermordet wurden. Aufrüttelnd gibt sich dagegen der als Hymne der Partisanen berühmt gewordene Marsch Zog nit keyn mol („Sage niemals, dies sei nun dein letzter Gang….wir sind da!“). Der Verfasser Hirsh Glik kam selbst bei Gefechten mit deutschen Soldaten um.

Alle Lieder sind mit Noten abgedruckt, die Texte in zwei Sprachen und zusätzlich noch in hebräischer Schrift. Zu fast jedem Stück gibt es Erklärungen, einen QR-Code und Links zu historischen und aktuellen Einspielungen. Den musikalischen Teil ergänzen Fotos, Illustrationen und Biographien. Eine von ihnen erinnert an die Partisanin Rikle Glezer. Sie schrieb über Massenerschießungen das Gedicht Ponar und nach ihrer Einwanderung nach Israel einen Bericht über ihre Flucht aus einem Deportationszug, dem sie den Titel Ich springe vom Zug gab. Beide Schilderungen stehen am Ende dieses ergreifenden und einzigartigen künstlerischen Dokuments. Es leistet einen wichtigen Beitrag im Gedenken an Opfer der Shoah. Ihre Lieder aus dem Ghetto machen sie sichtbar.

[Karin Coper, Dezember 2025]

80 Jahre musica viva: K. A. Hartmann, Alberto Posadas und ein hinreißendes Cellokonzert von Benjamin Attahir

Anlässlich des 80. Geburtstags der Münchner musica viva bewältigte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 24. Oktober 2025 im Herkulessaal unter Duncan Ward ein beachtliches Programm: Zu Ehren des Begründers der Konzertreihe erklang Karl Amadeus Hartmanns späte 8. Symphonie. Zuvor gab es zwei neuere Instrumentalkonzerte: Das „Königsberger Klavierkonzert“ von Alberto Posadas (*1967) mit dem Pianisten Florian Hölscher sowie das Cellokonzert „Al Icha“ von Benjamin Attahir (*1989) mit Jean-Guihen Queyras.

Jean-Guihen Queyras, Christopher Ward, BRSO / © Astrid Ackermann-BR

Kaum zu glauben: Die Münchner Konzertreihe für moderne Musik, musica viva, wurde nun 80 Jahre alt. Die Verteilung des Programms quer über die gesamte Spielzeit eines Spitzenorchesters sucht wohl weltweit ihresgleichen und hält das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, oft einschließlich des Chores, in stetem Kontakt zu aktuellen Kompositionen. Als der Münchner Komponist Karl Amadeus Hartmann (1905–1963) am 7. Oktober 1945 im Prinzregententheater das erste Konzert veranstaltete – mit Musik von Mahler, Debussy und Busoni – war der anhaltende Erfolg der Reihe noch nicht absehbar. Längst zählt die musica viva zu den absoluten Aushängeschildern Münchner Kultur und das Konzert am Freitag war nicht nur wegen des Jubiläums wieder gut besucht – mit einem heterogenen und ungewöhnlich langen Programm.

Der Spanier Alberto Posadas hat kurz zuvor in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste den Happy New Ears-Preis 2025 für Komposition der Hans und Gertrud Zender-Stiftung entgegengenommen. Der Preis für Publizistik zur Neuen Musik ging diesmal an Christian Utz. Posadas richtet sich häufig an mathematischen Modellen aus – z. B. im Streichquartett-Zyklus Liturgia fractal an komplexen Fraktalen. Derlei Konzepte mögen bei Kammermusik noch aufgehen. In seinem Königsberger Klavierkonzert (2023) ist es der Eulerkreis, den der Mathematiker im Umfeld des berühmten Königsberger Brückenproblems entwickelt hatte, eine der Grundlagen der Graphentheorie. Dass sich dies musikalisch auf klangliche „Brücken“ zwischen Klavier und Orchester übertragen lässt, zeigt Posadas mit einer völlig hypertrophen Orchestrierung, die zwar erstaunliche und interessante Einzelereignisse hervorbringt, jedoch mangels wahrnehmbarer motivischer Arbeit auf den Hörer ziellos, fast beliebig wirkt: ein mit zudem 40 Minuten Länge völlig unverdaulicher Klops. Florian Hölscher, der Posadas bereits den Klavierzyklus Erinnerungsspuren abgerungen hatte, muss einen exorbitant schwierigen Part bewältigen: auf der Tastatur Cluster und schnellste Bewegungsmuster in ständigem Wechsel, im langsamen Mittelsatz unkonventionelles, sonores Spiel im Innern des Flügels. Der Brite Duncan Ward steuert die Klangmassen erneut souverän, kann aber bei dieser Musik keinen Funken überspringen lassen, weder aufs Orchester noch das Publikum: wohlwollender Applaus allenfalls für den Solisten.

Völlig andere musikalische Qualitäten zeigt dann das Cellokonzert Al Icha des französischen Komponisten Benjamin Attahir. Kulturell gleichermaßen in der westlichen wie der arabischen Musik verwurzelt, hat sich Attahir sogar mit Klezmer beschäftigt. In der Zeit des Corona-Lockdowns entstanden, verbindet er hier, im letzten, nächtlichen Stück eines Zyklus, der sich den fünf täglichen muslimischen Gebetszeiten widmet, Elemente von Gregorianik, Rak’ahs und eben jiddischer Melodik zu einer genialen Symbiose. Auch für den Solisten bietet das Werk emotional traumhaft differenzierte und klanglich bestechende Entfaltungsmöglichkeiten. Attahir war 2021 nach den ersten Proben nicht ganz mit der zu barocken Auffassung des Cellisten Jean-Guihen Queyras einverstanden und änderte den Solopart in einigen Details so, dass ein „postromantischer Klang“ erreicht wird. Attahirs Musik ist allerdings keinesfalls mit amerikanischer Neoromantik – Schwantner, Rouse etc. – zu verwechseln. Er benutzt hochkomplizierte Strukturen und Rhythmen, Mikrotonalität, beherrscht zugleich sensationell geschickt altbewährte Formen wie Fugati, ob deren Schönheit man durchaus in Verzückung geraten kann. Man sieht es an der bei dieser Darbietung gestalterisch viel mehr eingreifenden linken Hand des Dirigenten und an den Reaktionen des Orchesters, dass diese Musik unmittelbar lebendige Kommunikation bewirkt. Queyras hat das Stück – dies ist die vierte Aufführung – mittlerweile so verinnerlicht, dass bei ihm eine Freiheit und Tiefe des Ausdrucks entsteht, wie man sie sonst nur von Klassikern des Repertoires erwartet. Der Saal bejubelt die Musiker und den noch jungen Komponisten enthusiastisch wie selten.

Am Schluss gibt es dann nochmal eine halbstündige kalte Dusche: Karl Amadeus Hartmanns achte und letzte Symphonie entstand 1962. Der Nazi-Terror war in der BRD nicht ansatzweise aufgearbeitet und der Kalte Krieg hatte in der Kuba-Krise einen neuen Tiefpunkt erreicht. In der für ihn typisch zweisätzigen Form gelingt Hartmann ein Höhepunkt an orchestraler Expressivität, die hörbar eine Linie Mahler–Berg fortsetzt. Die Wucht, mit der Emotionen hier geradezu eruptiv aufwallen und doch gegen Wände zu rennen scheinen, kann zutiefst verstören, auch heute noch. Trotzdem muss so etwas schon damals – als die Gattung Symphonie fast verschwunden schien und der Serialismus sich für viele Komponisten als Irrweg erwies – etwas antiquiert, wenn nicht stur gewirkt haben. Letztlich hat Alban Berg in seinem dritten Orchesterstück aus Op. 6 schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs ähnlich dystopische Visionen fast bis an die Grenze ausgelotet. Hartmanns kompositorische Meisterschaft steht außer Frage, und das BRSO gibt wieder sein Bestes für den bedeutendsten Symphoniker der Stadt. Ward setzt die Mechanismen perfekt um, mit denen hier beängstigende Dramatik in immer neuen Wellen aufgebaut wird und hält die (An)-Spannung bis zum Schluss. Die wunderbare Ausgewogenheit seiner 6. Symphonie – Hans Werner Henze hat diese mit größter Empathie beschrieben – ist dafür weit weg, und man darf sich fragen, ob Hartmann, hätte er noch länger gelebt, diesen Weg weiter beschritten hätte. In ihrer humanistischen Warnung vor der Apokalypse muss man die Achte heutzutage leider wieder absolut ernstnehmen. Die Münchner wissen sowieso, was sie K. A. Hartmann zu verdanken haben und applaudieren anhaltend.

[Martin Blaumeiser, 25. Oktober 2025]

50-jähriges Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung mit den Berliner Philharmonikern

Mit dem diesjährigen räsonanz Stifterkonzert feierte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 17. September 2023 zugleich ihr 50-jähriges Bestehen. Zur Veranstaltung im Rahmen der musica viva des BR in der Münchner Isarphilharmonie hatte man keine Geringeren als die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko eingeladen. Zu erleben gab es vier großbesetzte Werke: Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“, Márton Illés‘ „Lég-szín-tér“, Karl Amadeus Hartmanns „Gesangsszene“ (mit dem Bariton Christian Gerhaher) und György Kurtágs „Stele“.

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko © BR, Astrid Ackermann

Seit dem ersten räsonanz Stifterkonzert 2016 hat man es stets geschafft, in München sonst selten zu hörende, hochrangige Klangkörper einzuladen. Zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens ließ sich die Ernst von Siemens Musikstiftung nun erst recht nicht lumpen. Da durften dann die kürzlich erneut zum weltbesten Orchester gekürten Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko erstmals in der ausverkauften Isarphilharmonie spielen. Erwartbar, aber angesichts des immens anspruchsvollen Programmes durchaus eine Herausforderung auch an die Zuhörer.

Angesetzt waren – man hatte dies die drei Tage zuvor bereits so in Berlin gespielt – neben einer Uraufführungskomposition wieder aufwändig zu realisierende und daher selten zu hörende Werke – ausdrückliches Anliegen der Stifterkonzerte. Die Berliner Philharmoniker beginnen mit Iannis Xenakis (1922–2001): Jonchaies (1977) ist mit in der Partitur explizit geforderten 109 Spielern das größtbesetzte seiner reinen Orchesterwerke – und vielleicht sein bestes. Zwar hat Xenakis immer betont, dass er von gänzlich außermusikalischen – offenkundig stark durch Mathematik und moderne Architekturprinzipien geprägten – Ideen ausgeht, gleichzeitig strahlt seine Musik nicht nur eine eindringliche formale Konsistenz aus: Sie wirkt immens körperlich, verfügt schon rein klanglich über eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, und erzeugt beim Publikum durchaus Assoziationen, die sich dann emotional entladen können. So wird der Rezensent in den ersten zwei Minuten des Stücks unweigerlich sowohl an die Filmmusiken von Hitchcocks Psycho (Bernard Herrmann) als auch von Spielbergs Der weiße Hai („Jaws“, John Williams) erinnert. Jonchaies wird über Strecken tatsächlich wirklich sehr laut: Völlig faszinierend, wie Petrenko, der höchst sachlich die konstruktiven Facetten des Werkes modelliert, sogar in einem dreifachen Forte nochmals etwas draufzusetzen vermag; Ergebnis sorgfältigster Probenarbeit. Alles ist sehr differenziert bis ins Detail austariert; lediglich die Paukenbatterien dröhnen an ein, zwei Stellen selbst den komplett geteilten, riesigen Streicherapparat weg, was aber den akustischen Unzulänglichkeiten des HP8 geschuldet ist. Eine höchst beeindruckende, dionysische Klangorgie, die allerdings keine Minute länger sein dürfte, in absolut perfekter Darbietung.

Das Auftragswerk für dieses Konzert, Lég-szín-tér, zu übersetzen mit „Luft-Farbe-Raum“, stammt vom Ungarn Márton Illés (Jahrgang 1975) – schon 2008 Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung. Illés verfügt über ein enormes Instrumentationsgeschick: Das gegenüber Xenakis etwas kleinere Orchester wird noch konsequenter bis auf den einzelnen Spieler hin ausdifferenziert, mit einem – heutzutage üblichen – dichteren Spektrum vielfältigster Spieltechniken, das im Gegensatz zu anderen Tonsetzern seiner Generation hier zum Glück nie zum Selbstzweck gerät. Schon toll, wie manche Klangrezepturen zum fantastischen Vexierspiel oder gar zur Camouflage werden: Sehr helle Klänge ziemlich zu Anfang stammen so etwa nicht von den hohen Streichern oder Bläsern, sondern von Akkordeon und mit Kontrabassbogen gestrichenen Zimbeln. Das wirkt immer sehr farbig, und die Dynamik ist ebenso zwingend. Die Streicher etablieren schnell mit kaum hörbaren Tupfern quasi ihren „Raum“. Sehr konzentriert und doch überraschend, wie sich im zweiten Abschnitt des dreisätzigen Werks quasi aus dem Nichts eine gewaltige Steigerung entwickelt. Der dritte Satz imitiert mit rein instrumentalen Mitteln gekonnt elektronische Klänge. Was dieser Musik leider – zumindest beim ersten Hören – fehlt, ist eine nachvollziehbare Form oder Teleologie. Dennoch erhalten das Stück und seine Wiedergabe fast ungeteilte Zustimmung.

Nach der Pause verneigt man sich vor dem Begründer der Münchner musica viva, Karl Amadeus Hartmann, mit einer grandiosen Aufführung seiner letzten größeren Komposition, der Gesangsszene nach Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux (1963). Der eine erschreckende Weltuntergangsstimmung beschwörende Text passte für Hartmann auf die Zeit des Kalten Krieges und erscheint angesichts der derzeitigen Katastrophen aktueller denn je. Der wie immer famose Bariton Christian Gerhaher gestaltet die teils gesungene, stellenweise gesprochene Partie mit überwältigender Ausdruckskraft. Hartmann lässt die Stimme zwar oft dann einsetzen, wenn das Orchester gerade nicht spielt. Gerhaher füllt so mühelos den großen Saal, bleibt mit klarster Diktion und Textverständlichkeit selbst dann präsent, wenn er gegen das Orchester im Forte beinahe anbrüllen muss. Dies ist freilich kompositorisch genauestens einkalkuliert, wird auch emotional von Gerhaher exakt richtig dosiert. Wieder gelingt den Berlinern und ihrem Chef eine Glanzleistung: Vom beginnenden Flötensolo – mit dem sich später der Kreis wieder schließen wird – über die zunächst zärtlich gebändigten, zugleich intensiven Streicherklänge bis zu manch irrsinniger Steigerung wird hier Hartmanns zwölftönige Polyphonie minutiös aufs Schönste realisiert. Der apokalyptische Textschluss („Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen…“) lässt das Publikum zunächst sprachlos, bis verdient tosender Beifall losbricht.

Jetzt noch die 1994 für Claudio Abbado und seine Philharmoniker geschriebene Trauermusik Stele des ungarischen Altmeisters für Miniaturen, György Kurtág (*1926), zu bringen, passt zwar in den Kontext, ist jedoch fast schon zu viel des Guten. Für Kurtágs Verhältnisse war dieses Stück – von der Besetzung (u. a. mit Wagnertuben, 2 Klavieren und natürlich dem ungarischen Identifikationsinstrument, dem Cimbalom) wie von der Länge her – immerhin knapp 13 Minuten – eine ungewöhnliche Herausforderung. Ganz zum Schluss scheint diese dreisätzige symphonie funèbre, in der sich Minimalistisches zwischendurch erfolglos gegen den Tod aufzubäumen scheint, mit ihren matten Impulsen – an die gefrorenen Tränen in Bartóks Herzog Blaubarts Burg erinnernd – sogar irgendwie tröstlich. Kirill Petrenko erzeugt zuletzt eine geradezu erhabene Stille. Danach nicht enden wollende Ovationen; selbst Orchester und Dirigent beglückwünschen sich gegenseitig aufs Herzlichste. Wen wundert’s nach diesem anstrengenden Programm vier Tage hintereinander? Den Münchnern wird ein beglückender Konzertabend sicherlich noch lange in bester Erinnerung bleiben.

[Martin Blaumeiser, 18. 9.2023]

Drei Konzerte einer geladenen Zeit

Solo Musica, SM 308; EAN: 4 260123 643089

Auf ihrer Debut-CD mit dem Titel „1939“ präsentiert Fabiola Kim drei Violinkonzerte einer politisch zum Bersten geladenen Zeit, die alle die Lage ganz eigen darstellen. Zunächst hören wir Sir William Waltons politisch distanziertes Violinkonzert h-Moll, dann das Concerto funèbre für Geige und Streicher von Karl Amadeus Hartmann und zuletzt Bartóks endzeitmäßiges zweites Violinkonzert. Unterstützt wird Kim von den Münchner Symphonikern unter Kevin John Edusei.

Als Karl Amadeus Hartmann sein Concerto funèbre schrieb, stand er vor einer aussichtslosen Situation, die er in Töne bannte. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten blieb er in seinem Heimatland – trotz aller Einschränkungen durch die Partei – und kehrte sich in ein inneres Exil zurück. In den Randsätzen seines Violinkonzerts schimmert etwas Hoffnung durch, die beiden finsteren Mittelsätze machen allerdings unmissverständlich, wie schlimm die Umstände sind. Die Aufführung des Concerto funèbres 1940 in der Schweiz blieb die letzte des Komponisten bis 1946.

Anders als Hartmann verließ Bartók seine Heimat, als die Lage zu dringlich wurde. Den Plan dazu fasste er bereits einige Zeit zuvor, doch haderte lange mit dem Vorhaben. In diese Zeit des Abwägens, der Unschlüssigkeit und Unsicherheit fällt die Entstehungszeit seines zweiten Violinkonzerts, das für diese CD eigentlich um einen Tag „zu früh“, am 31. Dezember 1938, fertiggestellt wurde.

William Walton blieb vergleichsweise unbehelligt von der politischen Anspannung, als er an seinem h-Moll-Konzert arbeitete. Erst als es uraufgeführt wurde, bekam er die Zuspitzung zu spüren: denn er konnte England nicht verlassen, um der Aufführung beizuwohnen. Statt politischer Umstände verarbeitete Walton ein ganz anderes Thema, nämlich den Biss einer Tarantel, den er im Mittelsatz als wahnwitzige Tarantella umsetzte.

Fabiola Kim taucht in diese drei gänzlich unterschiedlichen Welten ein und zieht aus ihnen je den Kern der Stimmung, aus der heraus sie entstanden sind. Besonders beklemmend gelingt dies bei Hartmanns Concerto funébre, wo sie jeden Ton für sich auflädt und so die Linienführung elektrisiert. In Bartóks Konzert holt sie besonders schwebende Zustände zum Vorschein, bleibt zugleich präzise und virtuos. Die teils gewaltigen Brüche nutzt sie für unvermittelte und doch zugleich organische Wandel der Situation. Einzig verstehe ich nicht, warum sie in der Kadenz des ersten Satzes so stark aus der Partitur heraustritt, wo doch die Rhythmik so dezidiert vorgezeichnet wurde und zwischen Sechzehntel, Triolen und Punktierungen unterscheidet. Walton erklingt deutlich freundlicher als die beiden anderen Konzerte, Kim findet einen gänzlich verschiedenen Zugang zu dieser Musik. In der Tarantella blüht sie auf und genießt die Verrücktheit und die subtilen Brüche z.B. zum Walzer-Mittelteil.

Die Aufnahmetechnik stellt die Violine deutlich in den Vordergrund, worüber das Orchester oftmals zurückbleibt. Gerade bei Bartók vermisse ich orchestrale Nebenstimmen, die hier von der Geige überdeckt werden. Bei Hartmann kommen sie Streicher besser zum Vorschein als in den anderen Konzerten; hier blühen die Symphoniker auch am meisten auf, wallen dynamisch mehr auf und kommen aus ihrem oftmals eher flachen und flächigen Spiel heraus hin zu einer Plastizität.

[Oliver Fraenzke, August 2019]