Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Aus unendlichen Quellen aus Ost und West

OMAR RAHBANY: PASSPORT
OUVERTÜRE, UMBRELLA WOMAN, ZOOK: THE POWER STATION, PROGRAMMUSIK: BABEL, TANGO,  UNTITLED, MOUWASHAHAT, ANARKIA,  TRIP TO THE MOON

Nein, mit Klaus Doldingers „Passport“-Jazz-Ensemble hat diese CD nicht mehr als den Namen gemeinsam. Allerdings hat Omar Rahbany – geboren 1989 in Beirut – für dieses Meisterwerk sich nicht nur drei Jahre Zeit gelassen, sondern auch mit 180 MusikerInnen aus den verschiedensten Ländern zusammen gearbeitet. Und das Ergebnis ist wirklich international, die Anregungen für seine Kompositionen auf dieser CD kommen aus allen möglichen Ländern und Kulturen, da erinnert ein Stück an den argentinischen Tango nuevo des Astor Piazzolla, anderes an Fusion-Jazz, wieder anderes an englische Songs der Beatles.  Natürlich ist Musik inzwischen längst Weltmusik geworden. Doch davon legt die neue und bisher einzige CD des libanesischen Komponisten und Musikers Omar Rahbany nicht nur sehr beeindruckend und überzeugend Zeugnis ab, sie praktiziert mit einer kreativen Selbstverständlichkeit und Aufbruchstimmung, die ihresgleichen sucht.
Jedes der 10 Stücke ist ganz individuell in Komposition und Ausführung, allerdings ist zugleich die musikalische und auch die „pianistische“ Handschrift in jedem Stück zu hören und zu spüren. Ob ihm dafür ein Symphonie-Orchester, Sängerinnen und Sänger aus den verschiedensten Kulturen oder mit allen Wassern gewaschene Jazz-Koryphäen zur Verfügung stehen oder „nur“ die verschiedensten Mitspieler auf ihren akustischen oder elektronischen Instrumenten, immer ist es „seine“ Musik. Teils sehr meditativ, dann wieder voller Wildheit und klanglicher Ekstase: hier gibt ein Komponist und Musiker seine sehr eigene „Visitenkarte“ ab. Und wir dürfen gespannt sein, was der achtundzwanzigjährige Omar Rahbany aus diesen unendlichen Quellen aus Ost und West in Zukunft an Kompositionen, klanglichen Überraschungen und ausgefeilten Alben für uns bereit halten wird.
Denn nicht allein die musikalische Aufführung der Stücke ist überragend – sind doch in allen Bereichen Könner am Werk –, sondern auch die äußerliche Gestaltung des Albums, optisch und graphisch, ist eine überzeugende und aufwändig realisierte Ausnahme vom sonst meist so öden CD-„Gecovere“. Alles ist mit großer Liebe, Können und Geschmack verwirklicht. Dass die Aufnahme-Technik auch vom Feinsten ist, versteht sich dann von selbst.
Das einzige kleine Manko: Es ist weder ein Booklet noch ein Textblatt dabei, was Auskunft über den langen und sicher sehr spannenden Entstehungsprozess dieser CD gibt. Aber das ist eben der typische Einwand eines Hörers, der meist Einspielungen aus dem Fachgebiet der sogenannten Klassik vor sich hat, und hier, in diesem atemberaubenden ‚melting pot’, ist ja „nur“ auch Klassik mit dabei.

Mein Fazit: von Anfang bis Ende ein sehr aufregendes, überraschendes und vor allem künstlerisch anregendes Album!

   [Ulrich  Hermann  Juli 2017]

Schönheit und Expressivität jenseits aller Klischees

Arnold Rosner: Kammermusik
1. Sonate für Violine und Klavier op. 18, 2. Sonate für Cello und Klavier op. 89, Danses à la mode für Cello solo op. 101, Sonate für Fagott und Klavier op. 121
Curtis Macomber, Violine; Maxine Neuman, Cello; David Richmond, Fagott; Margaret Kampmeier, Carson Cooman, Klavier

Toccata Classics, TOCC 0408; EAN: 5060113444080

Arnold Rosner (1945-2013) geriet als junger Komponist mitten hinein in die Zeit der ästhetischen Diktatur des Serialismus, der man sich als Student mehr oder weniger zu unterwerfen hatte, was dazu führte, dass er das Kompositionsstudium nicht abschloss und stattdessen seinen Master als Musiktheoretiker mit der ersten Arbeit überhaupt über Alan Hovhaness erwarb. Von seinen einstigen Kompositionsprofessoren hat er, so seine Aussage, „nichts gelernt“. Hovhaness war neben Vaughan Williams und Carl Nielsen das Hauptvorbild seiner frühen Jahre, und er blieb seinen Idealen ein Leben lang treu und ließ sich durch keine Doktrin verbiegen. In seiner Musik fließen unterschiedlichste Elemente zu organischer Einheit von unterschiedlichster Ausdrucksform zusammen: mittelalterliche und Renaissance-Polyphonie, Musik Indiens, Kleinasien und Armeniens, konzertantes Barock und die Errungenschaften der romantischen und nachromantischen Instrumentalmusik. Sie ist zugleich unverkennbar zeitgenössisch und – in von aller Scholastik und Abhängigkeit von der reaktionären Funktionstheorie befreiter Form – tonal. Existenzielles Drama steht neben meditativer Versenkung. Nie wird es Klischee, weder postromantisches noch neosakrales, und auch das einst unverkennbare Idol Hovhaness hat er bald transformiert. Nun legt Toccata Classics, eines der verdienstvollsten Labels für unbekannte Musik, ein Album mit Kammermusik vor, das Rosner als einen der substanziellsten Meister der Gattung in seiner ausweist, und uns wieder einmal zeigt, das Popularität und Originalität bzw. Können nichts miteinander zu tun haben, selbst wenn die Musik – wie hier – eigentlich alles hat, um vielen Menschen zu gefallen und Wesentliches, Profundes zu sagen. Die hier vorgelegten Werke entstanden zwischen 1963 und 2006. Die 1. Violinsonate des damals 18jährigen besticht mit erstaunlicher Reife und Eigenart, wobei anzumerken ist, dass Rosner mehr als 40 Jahre später, 2004, subtile Revisionen daran vornahm. Besonders bezaubernd ist der langsame Satz mit seinen feinen Moll-Dur-Beleuchtungswechseln. Die 2. Cellosonate von 1990 zeigt Rosner auf der Höhe seiner Meisterschaft – ein gewaltiges Werk von solch teils abgründiger Aussage, dass er ihm den Dante-Titel ‚La Divina Commedia’ beifügte. Jeder Cellist sollte das kennen, wie auch jeder Fagottist die späte Fagottsonate von 2006 kennen sollte, die mit solch unorthodoxer, dabei aber innerlich vollkommen zusammenhängender Formung, solch wunderbarer kontrapunktischer Verschlingungskunst und mit einer so direkten Verschmelzung des kollektiv Feierlichen und des individuell Expressiven fesselt, dass mit spontan kein gelungeneres Werk für diese Kombination einfallen will. Nur bei diesem Werk übernimmt der beschlagene Rosner-Experte und ausgezeichnete Komponist Carson Cooman den Klavierpart, der bei den anderen zwei Sonaten auch sehr gediegen unter den Händen von Margaret Kampmeier aufblüht. Außerdem gibt es ein Werk für Solocello: die viersätzige Suite ‚Danses à la mode’ von 1994, mit einer griechischen Introduktion, einem Raga, einer Sarabande und einer Hommage an lebensbejahende nordische Volksmusik als Finale – sehr innig und feurig dargeboten von Maxine Neuman. Fagottist David Richmond zeigt auch sehr feine musikalische und instrumentale Klasse, und Geiger Curtis Macomber gibt sich einige Mühe, den spezifischen Stil zu finden und sich in die eigentümlichen harmonischen Wendungen hinein zu spüren, was den übrigen Beteiligten plausibler gelingt. Der exzellente, absolut makellose und umfassend informierende Einführungstext von Walter Simmons, der diese und viele andere Musik kennt wie kein anderer, setzt dieser wegweisenden Produktion die Krone auf.

[Christoph Schlüren, Oktober 2017]

[siehe auch: Rezension im Vergleich von Grete Catus]

Endlich ein Musiker….

DREAM WEAVING: New Zealand Guitar Music 2, Gunter Herbig

 Paine – Bartók – Farquhar – Elmsly – Rimmer

Naxos 8.573765 EAN 7  47313 37657 5

Schon nach den ersten Tönen: das ist Musik, da ist nicht bloß jemand, der gut Gitarre spielt, nein, da ist ein Musiker am Werk, der die Faszination dieses Instruments eben nicht nur durch virtuose Fingerspiele erlebbar macht oder durch ein unzusammenhängendes Gezupfe wie so oft bei klassischen Gitarristinnen und Gitarristen. Jemand, der weiß, was ein melodischer Zusammenhang ist, der sich Zeit lässt, die Musik sich entfalten zu lassen, der den Klängen nachspürt und nachhorcht, kurz, jemand, der Musik entstehen lässt.

Und dann kommt eben das ganz Besondere dieser neuseeländischen Musik, dieses „dream weaving“ zum Tragen, dem man mit großem Vergnügen lauscht.

Besonders zauberhaft sind die ersten drei Stücke von Bruce Paine (Jahrgang 1963), die traumhaft schön daherkommen, danach die Transkriptionen von Bartóks „For Children“ von David Farquhar (1928-2007), kleine Edelsteine, zumal wenn sie so gespielt werden wie von Gunter Herbig. Die Musette von 1951 von David Farquhar selbst ist ein apartes kleines Klangstück, der Gitarre recht auf den Leib geschneidert. Die Suite für Gitarre solo (1995) von John Elmsly (geb. 1952) bringt in vier Sätzen die ganze Palette der Möglichkeiten einer Gitarre zu Gehör, sehr oft rhythmisch vertrackt, aber ebenso kommen die sanften melodiösen Teile zu ihrem Recht. Auch da nimmt sich Gunter Herbig, dem das Stück gewidmet ist, genügend Zeit für die Zwischentöne  – ohne die ja Musik überhaupt nicht erfühlbar und „machbar“ ist. Was ein selten bei klassischen Gitarristen zu vernehmendes Phänomen ist, wo den meisten genügt, ihre Fingerfertigkeit zu zeigen und die Noten mehr oder weniger mechanisch zu „exekutieren“.

David Farquhar ist der Komponist  der „Five Scenes“ von 1971, eines Stücks, das sofort einen italienischen Verlag fand. Es bewegt sich auf allen möglichen Bahnen der freien Kreativität bis hin zur „Atonalität“ und zum Geräuschhaften. Den Abschluss dieser sehr spannenden und urmusikalischen CD bildet das Stück ‚Hauturu –Where the Winds Rest’ von John Rimmer (geb. 1939), der als Professor of Music von 1974 bis 1999 in Auckland lehrte. Bei diesem Stück verwendet Gunter Herbig eine E-Gitarre.  Mit diesem Instrument – auch wenn die Klänge fremdartiger erscheinen und natürlich sind als bei einer klassischen Gitarre – kommt die Meisterschaft dieses neuseeländischen Gitarristen zum Tragen. Im Ganzen ist diese zweite CD von Gunter Herbig ein Meisterwerk, wie es im unerschöpflichen – fast schon ausufernden – Repertoire der Gitarrenmusik auf solch hohem musikalischen und authentisch durchlebten Niveau doch sehr selten zu hören ist.

[Ulrich Hermann Oktober 2017]

So nah und doch so fern

Naxos, 8.573586; EAN: 7 47313 35867 0

Streichquartette von Frederick Delius und Edward Elgar sind auf der neuesten CD des Villiers Quartets zu hören, außerdem die Weltersteinspielung der Rekonstruktion Daniel Grimleys von zwei Sätzen der Erstfassung des Delius-Quartetts.

Zwei britische Komponisten, zwei Streichquartette, beide in e-Moll und zur Zeit des Ersten Weltkriegs komponiert – und doch zwei vollkommen unterschiedliche und nicht vergleichbare Stilwelten. Gleich auf doppelte Weise werden diese auf vorliegender CD mit dem Villiers Quartet hörbar, denn die Musiker gehen beide Quartette auf von Grund auf verschiedene Weisen an. Das Delius-Quartett ist recht homophon und schlicht gehalten, das Material auf ein Minimum reduziert. Entsprechend verschmelzen auch die Musiker zu einem einheitlichen Klangbild, aus dem die einzelnen Instrumente nur rudimentär herauszuhören sind. Der musikalische Ablauf wird in homophonem Mischklang ohne Aufspaltung in die quartetttypische Vierstimmigkeit organisiert. Ganz anders das Quartett von Edward Elgar, nur ein Jahr nach dem von Delius vollendet, das sich auf der Höhe der Polyphonie des frühen 20. Jahrhunderts befindet. Jede Stimme lebt für sich und nur kurzzeitig koppeln sich einmal zwei oder drei Stimmen aneinander, um durch diese Verstärkung neue Kontraste zu schaffen. Das Villiers Quartet passt sich an, spaltet den „Delius-Gesamtklang“ wieder auf in die einzelnen Instrumentenstimmen. So werden die vier Stimmen in ihrem Gegeneinander ausgelotet, treten in Wettstreit und bilden fortwährend neue Beziehungen, welche allerdings nur von kurzer Dauer sind, da auch die Musik sich schon wieder wandelt. Das Villiers Quartett fließt mit der Musik, geht feinfühlig auf ihre Änderungen ein.

Das Vorgehen, den Stil des Spiels dem der Musik anzupassen, um noch näher an sie heranzukommen, gelingt teilweise. Wo der vielstimmige Elgar farbenprächtig und frisch ertönt, hat die klangliche Verschmelzung bei Delius zur Folge, dass viele Schattierungen und kurzzeitige Aufspaltungen in polyphonere Behandlung komplett verloren gehen. Andererseits phrasiert das Quartett – und dies ist mir unerklärlich – bei Delius wesentlich weniger als im Elgar-Quartett. Die Linien sind nivelliert, flach und monoton, schnell entsteht die Gefahr der Langeweile durch scheinbare Überlänge, die bei hellwach gestaltendem und bewusstem Spiel jedoch nicht gegeben wäre. Lediglich im dritten Satz, „Late Swallows“, bringen die Musiker ein paar ansprechende Klangeffekte zur Entfaltung. Die Rekonstruktion der Erstfassung dieses Quartetts durch Daniel Grimley wird in gleichem Geist fortgesetzt. Aber die vier können es besser, und eben dies beweisen sie sogleich im anschließenden Quartett von Edward Elgar: Ungezwungen, lebendig und inspiriert, mit klarer Linienführung und wacher Interaktion zwischen den Musikern. Zumindest diese Hälfte des Stil-Experiments ist gelungen und beschert dem Hörer eine lohnenswerte halbe Stunde.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Eine außergewöhnliche Ausgrabung

Naxos, 8.573738; EAN: 7 47313 37387 1

Die große Ehre der Weltersteinspielung des Violinkonzerts Op. 28 von Johan Halvorsen (1907-8) gestattet sich Henning Kraggerud zusammen mit dem Malmö Symphony Orchestra unter Bjarte Engeset. Zudem spielt Kraggerud das Violinkonzert Op. 33 von Carl Nielsen und die Romanze von Johan Svendsen; die CD erschien bei Naxos.

Anhänger der nördlichen Musik warteten sehnlichst auf vorliegende Aufnahme, die ein Stück vergessen geglaubte Kultur Norwegens zu uns zurückbringt. 2015 wurde das scheinbar verlorene Musikwerk in Toronto wiederentdeckt: das Violinkonzert Op. 28 von Johan Halvorsen (1864-1935). Halvorsen ist heute lediglich durch seine Passacaglia über ein Thema von Händel berühmt, welche eine beliebte Zugabe darstellt, doch er ist auch Autor dreier überragenden Symphonien und anderer Orchesterwerke wie unter anderem zwei Norwegischen Rhapsodien sowie einer Vielzahl Klavier- und Violinkompositionen. Er galt zu seiner Zeit als einer der bedeutendsten Dirigenten Norwegens und auch als ausgezeichneter Violinist, so dass sein Violinkonzert zu Lebzeiten durchaus Furore machte, bevor es schließlich – vor allem mangels verschiedener aufführenden Solisten – verschwand.

Energetisch aufgeladen und von dramatischer Ader geprägt gibt sich das Konzert. Beeindruckend ist die enorme Ausdifferenzierung von dissonanter Spannung und leichter Lösung, verbunden mit überraschenden Modulationen und Sprüngen zwischen den Tongeschlechtern. Es hat, etwas an Grieg und Svendsen angelehnt, unverkennbare Bezüge zur Norwegischen Volksmusik, die deutlich stilisiert wird, so dass der dritte Satz gar ein Halling – ein beliebter Norwegischer Bauerntanz – ist. Schillernd sind die Orchesterfarben und die geschickten Einsätze einzelner Instrumente in Gegenüberstellung mit ganzen Gruppen.

Etwas ungeschickt war jedoch die Wahl des Solisten, der selbst mechanisch nicht immer sicher ist, schnelle Läufe und Sprünge gerne verschleift, durch übermäßiges Vibrato Detailarbeit nivelliert und sich in virtuosen Passagen orientierungslos abmüht. An mancher sanfteren Stelle vermag er auch auf das Orchester zu hören, solche wie auch die gemäßigten Abschnitte der Kadenzen bei Nielsen können dann etwas mehr aufblühen.

Das Orchester reißt durch große Plastizität der Gestaltung und Klangkultur mit, ist voluminös und flexibel, dabei adäquat abgestimmt. Engeset holt den Witz aus der nicht immer ganz ernst gemeinten Musik Nielsens, legt die subtilen Seitenhiebe mit sicherer Hand offen. Halvorsen erforschte er genau und vermittelt eine, besonders für eine Ersteinspielung, beachtliche Menge an Detailkenntnis und ein klares Bewusstsein, sowohl über den Zeitstil der Komposition als auch über die Individualität des Komponisten.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Wanderer zwischen den Welten

SANDRO BLUMENTHAL (1874-1919): Klavierquintette Opp. 2 und 4,  Lieder

Sophie Klussmann, Sopran, Oliver Triendl, Piano, Daniel Giglberger, Violine, Helene Marechaux, Violine, Corina Golomoz, Viola, Bridgetown MacRae, Violoncello

TYX Art, TXA1607; EAN 4 250702 800798

Der in Venedig als Sohn eines Deutschen Bankdirektors geborene Sandro Blumenthal erhielt seine musikalische Ausbildung in Venedig und ab 1896 in München bei Josef Rheinberger. Der ermutigte ihn zu klassischen Kompositionen, von denen seine zwei Klavierquintette auf dieser CD zu hören sind. Zusammen mit vier Liedern – leider fehlen die Texte im Booklet, denn die Textverständlichkeit der Sängerin lässt wieder einmal sehr zu wünschen übrig, schade – geben Sie einen schönen Eindruck von dieser Seite des Komponisten. Seine andere, die ihn dann auch sehr viel berühmter werden ließ, ist die Hinwendung zum Kabarerett. Blumenthal gehörte als „Henkersknecht“ dem  berühmten Münchner Emsemble „Die Zwölf Scharfrichter“ an. Er war zeitweise der musikalische Leiter, trat selbst mit eigenen Liedern zu Gitarre auf und galt als einer der besten Interpreten dieses Genres. Eine kurze Zeit half  seine Herkunft – sein Geld vor allem – das Ensemble trotz größter finanzieller Schwierigkeiten über Wasser zu halten. Nach der Auflösung der Scharfrichter verdingte er sich in verschiedensten Städten als beliebter und gefragter Sänger zur Gitarre, lebte mit seiner Familie in Berlin und starb schon mit 45 Jahren im Jahr 1919.

Zu seinen Kompositionen „ernster“ Musik, die zu den Semester-Abschlusskonzerten erklangen und durchaus auch von der Presse sehr wohlwollend aufgenommen wurden, ist zu bemerken, dass sie sich sowohl durch melodische, als auch harmonische und – vor allem in den Scherzo-Sätzen – rhythmische Finessen auszeichnen. Natürlich ist das alles Musik im Rahmen der Spätromantik, aber durchgehend im eigenem Ton und sehr gewandt komponiert, aber auch von den Ausführenden – die meist mit dem Münchner Kammerorchester verbunden sind – sehr engagiert und lebendig musiziert. Wenig begeistert bin ich dagegen von den vier Liedern, denn die hochdramatische Sopranstimme lässt dem Text und der Verbindung von Poesie und Musik sehr wenig Raum. (Sandro Blumenthal muss als Vortragender seiner Lieder zur Gitarre ein Phänomen an Aussage und Verständlichkeit gewesen sein!) Eine lohnenswerte Entdeckung ist diese CD allemal, lässt sie doch auch neben den Münchner Größen eines Thomas Mann oder eines Richard Strauss eine andere – für die Kultur der damaligen Stadt nicht weniger wichtige Figur -lebendig werden. Ganz persönlich für mich selbst, habe ich doch meine Ausbildung als Sänger und Gitarrist bei Kurt Weinhöppel in München erhalten, dessen Vater – Richard Weinhöppel – unter dem Namen Hannes Ruch ebenfalls einer der maßgeblichen Komponisten der „Zwölf Scharfrichter“ war.

[Ulrich Hermann, Oktober 2017]

Endlich! Endlich!

Anton Batagov: BACH

Melodiya, 10 02500; EAN: 4 600317  125005

 

Johann Sebastian Bachs Partita Nr 4 in D-Dur BWV 828, dazu „Jesus bleibet meine Freude“ aus der Kantate BWV 147 ‚Herz und Mund und Hand und Leben’ und auf der zweiten CD die Partita Nr. 6 in E-Moll BWV 830 – das soll alles sein auf dieser Doppel-CD?

Ja, doch, das ist alles, und wie! Wo andere Pianisten die gesamten 6 Partiten auf zwei Silberscheiben bannen, begnügt sich der russische Musiker Anton Batagov (Jahrgang 1965) mit diesen beiden, zuzüglich noch einer traumhaften Version eines sanften „Schlachtrosses“, des Choralvorspiels „Jesus bleibet meine Freude“, von dem es doch nun wirklich schon einige wunderbare Aufnahmen gibt, seien es die historischen von Dinu Lipatti, Mary Hess und Wilhelm Kempff oder die von Juan José Chuquisengo auf seiner fabelhaften „Transcendent Journey“ von 2003. Aber hier ist alles anders.

13 Minuten und 6 Sekunden braucht Batagov für seine Version, das ist ungefähr vier mal so lang wie üblich. Nun gut, üblich ist bei diesem Album sowieso nichts. Auch bei den übrigen Stücken  n i m m t  sich der Pianist und Komponist Anton Batagov diese Zeit, um damit einen völlig neuen Zugang zur Bach’schen Musik zu ermöglichen.

Endlich, endlich! möchte ich ausrufen, endlich kommt die Dame MUSICA wieder zu ihrem Recht. Schon als Kind erschien mir fast alles, was ich an Musik zu hören bekam, viel zu schnell und viel zu oberflächlich, gut und schnell technisch ausgeführt, aber sehr oft ohne den eigentlichen Grund dieser Kunst zu erreichen.

Was dann mit Musikern wie Sergiu Celibidache und anderen sich änderte. Da wurde auf einmal wieder Musik hör- und erlebbar, nicht nur Tempo und Technik. Wie Victor Wooten in seinem wunderbar erhellenden Buch „A Music Lesson“ schreibt, beklagt sich Frau Musica nämlich schon seit langem über seelenloses und inhaltsleeres Musizieren. Aber das könnte sich – auch durch Batagovs neuen Ansatz – in der nächsten Zeit ändern.

Jedenfalls erfährt man die Bach-Partiten in einem völlig neuen Licht, entdeckt Zusammenhänge und Verbindungen, sowohl melodischer als auch harmonischer Art, die so bisher nicht zutage traten. Dass er auch anders kann, zeigen oftmals die Wiederholungen der einzelnen Teile, in denen Batagov nebenbei vernehmen lässt, was für ein überragender Pianist er ist, auch dann, wenn es um Technik und Tempo geht, aber eben erst bei der „Wieder-Holung“.

Ein Musiker, dessen Bandbreite von William Byrd und Henry Purcell bis zu Olivier Messiaen und Philip Glass reicht, der sogar aus den Stücken der „Minimal Music“ Musik entstehen lassen kann, der zudem selbst ein hervorragender Komponist ist: wenn dieser Mann sich und seinen Hörern einen völlig neuen Zugang zur Musik des Altmeisters J. S. Bach erschließt, dann darf man gespannt sein, welche Wirkungen davon ausgehen.

Mein Klavierspiel jedenfalls hat sich nach dem Anhören dieser CD schon gewaltig geändert, ebenso gewaltig, wie nach der Lektüre des Buches von Heinrich Jacoby „Jenseits von Begabt und Unbegabt“  (4. Überarbeitete Auflage 1991

ISBN 3 – 7672-0711-7), wo ich den Satz fand:  „Der Name ‚Tasten’ sagt im Grunde alles aus, was zu geschehen hätte, wenn jemand mit dem Klavierspielen anfangen will!“ ( S. 329)

Schon damals begann ein völlig neues Kapitel meines Klavierspiels. Und jetzt:

„Wenn man langsam spielt, kann man alles spielen!“ heißt es, aber was heißt denn bitte

l a n g s a m? Wer erzählt einem denn, was für einen Menschen die Wiederentdeckung der Langsamkeit bedeutet, wo sie ansetzt, was sie einschließt, was sie bewirkt?

Wenn eine neue CD diese Fragen auslösen und intensivieren kann, wenn dadurch im Musizieren – und auch sonst im Leben – sich bedeutsame Änderungen ergeben können, dann ist das etwas, das diesem Medium eine völlig neue Präsenz und Zielrichtung verleiht.

Besonders deutlich wird der neue (?) Ansatz von Anton Batagov im direkten Vergleich der 4. Partita zwischen der Aufnahme von Murray Perahia und der seinen. Nun ist ja Herr Perahia ein Weltklasse-Pianist, dessen Einspielungen oft Referenz-Charakter haben. In diesem Fall allerdings ist der Unterschied wirklich weltbewegend: Wo in Perahias Aufnahme jede Note in „erschröcklichem“ Tempo vorbeirauscht – natürlich klar phrasiert und strukturiert –, lässt  Batagov die inneren Strukturen der Bach’schen Musik aufleuchten, lässt den Hörer mitatmen und mit“swingen“ in einer völlig anderen – ich möchte fast sagen: natürlicheren – Weise. Bei der folgenden  W i e d e r -holung spielt er den Teil zwar schneller, aber nicht weniger bezwingend. Damit bekommen die scheinbar so bekannten Strukturen eine völlig neue und erlebnisreichere Dimension. Vorher nie gehörte Zusammenhänge und Zusammenklänge werden fassbar und bewirken ein völlig neues Hör- und Daseins-Gefühl.

[Ulrich Hermann, September 2017]

Urgewalt aus Tschechien

Supraphon, SU 4221-2; EAN: 0 99925 42212 7

Streichquartette der Wiener Klassik sind vom Vlach Quartett (Josef Vlach, Václav Snítil, Josef Kod’ousek und Viktor Moučka) in historischen Aufnahmen für Supraphon zu hören. Neben Mozarts d-Moll-Quartett KV 421 spielen die vier Tschechen die Quartette Nummer eins bis sieben sowie vierzehn von Ludwig van Beethoven.

Nachdem Supraphon im vergangen Jahr mit den „Legendary Recordings“ des Tschechischen Kammerorchesters unter Josef Vlach eine wahrhaft „legendäre“ Wiederentdeckung gelungen ist, legen sie nun nach: Auf vier CDs sind Streichquartette von Mozart und Beethoven mit dem Vlach Quartett zu bewundern. Durch Aufnahmen aus drei Jahrzehnten wird die lange Blütezeit der vier Musiker umfangreich dokumentiert. Gerade der Blick auf diese bekannte Standardliteratur legt den enormen Unterschied zwischen dem tschechischen Quartett unter Josef Vlach und der großen Mehrheit routinierter und zumeist uninspirierter Darbietungen mittelprächtiger Musiker offen.

Die Quartette werden durch und durch mit Energie erfüllt, das spannungsgetragene Knistern wird förmlich spürbar. So voller Feuer und doch in höchstem Grade sensibel und feinfühlig! Jede noch so scheinbar beiläufige Wendung erhält Leben und Sinn, jede Wendung wird nachvollziehbar und souverän durchschritten. Schwerfälligkeit ist nicht im geringsten zu vernehmen, die Quartette erstrahlen in spielfreudiger Gelassenheit und vor allem in einem: in Natürlichkeit. Hier werden Urgewalten geweckt, die unartifizieller nicht ausgedrückt werden könnten. Geradezu scheint es, als würden die Werke erst im Spielen entstehen, wobei eine innere Logik alle Quartette von der ersten bis zur letzten Note zusammenhält.

Es gibt wenig hinzuzufügen zu diesen exzellenten Aufnahmen, angesichts deren überragender Qualität ich mir mehr Vergleichbares wünschen würde. Hier wird deutlich, was Intuition und Liebe zur Musik in Kombination mit intensivster Arbeit an musikalischen Belangen ausmacht. Es entsteht etwas, das über rein mechanische Perfektion und technische Aspekte wie auch über genauestes und bewusst durchstrukturiertes und ausgehörtes Zusammenspiel – was zweifelsohne hier gegeben ist – hinausgeht: Es entsteht wahrhaft Musik.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

 

 

 

 

Beschaulichkeit und Meisterschaft

TYX art, TXA17097; EAN: 4 250702 800972

Eingerahmt von Bachs Französischen Suiten Nr. 5 G-Dur BWV 816 und Nr. 3 h-Moll BWV 814 spielt Alexandra eine Auswahl an Mazurken von Frédéric Chopin: Op. 6 Nr. 1, Op. 7 Nr. 2, Op. 17 Nr. 4, Op. 24 Nr. 2 und 4, Op. 50 Nr. 3, Op. 63 Nr. 3, Op. 67 Nr. 4 sowie Op. 2 und 4. Die CD erschien bei TYX Art.

Klarheit, Schlichtheit und absolute Formbeherrschung charakterisieren sowohl die beschaulichen und nicht zu unterschätzenden Französischen Suiten von Johann Sebastian Bach als auch die das polnische Nationalgefühl mit französischer Note einfangenden Mazurken von Frédéric Chopin. Wo den Fingern kaum eine übermäßige Aufgabe gestellt wird, ist der Geist gefragt, die kurzen Sätze und Tänze mit Bewusstsein und Verständnis zu erfüllen.

Alexandra Sostmann hat eine klare Vorstellung über das Konzept der Französischen Suiten und weiß, dieses auch verständlich zu vermitteln, was den Sätzen jene Geschlossenheit und Logik gibt, die der Pianist in ihnen entdecken muss, um sie zu erfassen. So gelungen das allgemeine Verständnis dieser Suiten ist, spielen kleine Unaufmerksamkeiten doch immer wieder gewaltig gegen den Strich und somit gegen die zusammenhängende Gestaltung: Regelmäßig brechen die Finger kurz aus und stören den Kontext, sei es durch immer wieder zu bemerkendes, unkorreliertes Schnellerwerden oder durch ungewollte dynamische Hervorhebungen beispielsweise von Trillern oder Verzierungen. Insgesamt ist allerdings die innere Ruhe und Luzidität der Darstellung bemerkenswert.

Es scheint ein gängiges Phänomen zu sein, was sich auch in dieser Aufnahme der Mazurken Chopins abzeichnet: Immer mehr Pianisten versuchen, in diese Werke alles nur Erdenkliche hineinzudeuten und ihnen die Anmutung ehrfurchtgebietender Monumentalität zu verleihen. Rubati und freie Tempi, verschliffene Rhythmen, große dynamische Kontraste und Ähnliches sollen eine persönliche Note hineinbringen. Und doch sind Mazurken im Kern immer noch Volkstänze, leicht und schlicht, absolut unprätentiös und unkompliziert. Es würde reichen, ihnen nur das allernötigste an Individualismen aufzuprägen, um diesen kleinen Perlen den vollen Glanz zu verleihen. Zu viel „überfrachtet“ die Tänze: Vernehmbare, doch subtile Kontraste und lediglich formuntergliedernde Ritardandi reichen vollkommen aus, die Mazurken zur angemessen sublimierten Stilisierung echter Volkstänze werden zu lassen.

[Oliver Fraenzke, September 2017]

Polnischer Geist in französischer Aufbereitung

Chandos, Chan 10983; EAN: 0 95115 19832 2

Kammermusik von Szymon Laks spielt das ARC Ensemble (Joaquin Valdepeñas, Erika Raum, Marie Bérard, Steven Dann, Winona Zelenka, David Louie und Dianne Werner mit Sarah Jeffrey und Frank Morelli) für Chandos ein. Zu hören ist das Vierte Streichquartett, das Klavierquintett, das Divertimento für Violine, Klarinette, Fagott und Klavier, die Sonatine für Klavier, ein Concertino für Oboe, Klarinette und Fagott sowie die Passacaille in der Fassung für Klarinette und Klavier.

Nicht nur, dass ein Gigant wie der polnische Komponist Szymon Laks endlich vermehrt in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, nein, auch die Aufnahmen werden immer beglückender und geben fortwährend neue Facetten dieser faszinierenden Musik preis! Das ARC Ensemble präsentiert nun eine CD mit gemischtem Programm: Wie auf der kürzlich besprochenen Aufnahme des Messages Quartet (DUX 1286) findet sich auch hier das Vierte Streichquartett und ebenfalls das Dritte, wenngleich nun in der 1967 entstandenen Fassung als Klavierquintett, welches meines Erachtens durch die geschickte Gegenüberstellung von Tasteninstrument und Streichern dem Werk noch mehr Kontrast und Plastizität verleiht. Die Sonatine für Klavier gehört zu den wenigen erhaltenen Werken, die vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, sie ist in französischem Stil gehalten, wenngleich sie – nicht unähnlich Chopin 100 Jahre zuvor – ihren polnischen Geist und Ursprung nicht verleugnet. Die Dualität der Nationalitäten, Heimat und Wahlheimat, verbirgt sich auch nicht in späteren Kompositionen, wenngleich sie dort mehr als Randerscheinungen wahrgenommen wird, die einem unverkennbaren Personalstil weicht. Allgemein ist die Musik fließend, hat einen leicht melancholischen Unterton und eine nicht immer versöhnliche Ruhe. Sie ist „unzeitgemäß“, folgt eigenen Regeln und nicht Moden und Trends. Durchgehend ist sie inspiriert und originell, es gibt darin keinen Platz für Verbrauchtes oder Standardisiertes, wobei zugleich auf stringenten Sinn und harmonische Geschlossenheit geachtet wird. Das düsterste der zu hörenden Werke ist die Passacaille; kurz nach dem Krieg komponiert, gehört sie zu den ganz wenigen Schöpfungen, in denen Laks tatsächlich Erlebtes zu verarbeiten scheint und nicht allein die Kunst für sich sprechen lässt: Ursprünglich als Vokalise gedacht, setzt sie dort an, wo die Worte enden. Sowohl das technisch anspruchsvolle und doch nie auf Effekt, sondern auf Leichtigkeit und Witz setzende Concertino als auch das beinahe Blues-artige Divertimento entstanden – ebenso wie die Quintettbearbeitung des Dritten Quartetts (ursprünglich von 1945) und das Vierte Quartett – in den 1960er-Jahren.

Die Sensibilität des ARC Ensemble ist bemerkenswert, feinsinnig und aktiv lauschend gehen sie auf die Musik Laks‘ ein und achten auf ihren natürlich-freien Verlauf. Jede Konstellation der Musiker wirkt miteinander vertraut und gut aufeinander eingerichtet, die Mitwirkenden verschmelzen mit einem einzigen, klar definierten Ziel vor Augen: der Musik selbst. Oberflächlichkeit tritt vollständig in den Hintergrund, ebenso Effekthascherei. Das Verständnis ist spürbar und das Hören ein Genuss.

[Oliver Fraenzke, September 2017]

Musik als Sprachkonversation

TYX Art, TXA17094; EAN: 4 250702 800941

 

Cellowerke des 1951 geborenen Belgiers Robert Groslot bringt vorliegende CD. Das Programm beginnt mit Conundrum für Cello und Klavier, worauf die Unclouded Conversations für zwei Violoncelli folgen. Abgerundet wird die Aufnahme durch die Sonate für Cello Solo. Es spielen Ilia Yourivich Laporev am Cello, Ilia Laporev jr. als zweiter Cellist in Unclouded Conversations und Dasha Moroz am Klavier.

Konversation ist das Leitthema, das die drei Werke vorliegender Platte verbindet. Am deutlichsten wird dies in den zentral platzierten „Unclouded Conversations“ mit den Sätzen Fable, Debate, Pillow Talk, Questioning und Prophecy, doch auch die anderen Werke leugnen ihren Bezug zur Sprache nicht. Robert Groslot versteht musikalische Struktur wie eine gesprochene Konversationsstruktur, gegliedert in Sätzen, die ebenso aneinandergereiht werden können wie plötzlich abbrechen, sich überlagern und gegenseitig interagieren. Gleich einem unvorbereiteten Gespräch ist die Musik aus der Improvisation gedacht und legt Wert auf Verständlichkeit und Mitvollziehbarkeit für den Hörer.

Tatsächlich besitzt die Musik zwar eine durchhörbare Einfachheit und Klarheit des Aufbaus, doch fehlt in manchen längeren Sätzen ein übergeordneter Zusammenhang. So angenehm die Musik anzuhören ist, so schnell verliert man sich auch in den Weiten der sich auftuenden klingenden Welten. Nichtsdestoweniger gibt es hinreißende Passagen, die erfüllt sind von bezaubernden Ideen und innerlich erfühlten Klängen. Groslot weiß, mit den Instrumenten umzugehen und entlockt ihnen dankbare Effekte, die nie gegen instrumentenspezifische Natürlichkeiten verstoßen, wie man es eigentlich von der „Neuen Musik“, insbesondere der ab den frühen 1960er Jahren, gewohnt ist. Die Stücke bestehen aus aneinandergereihten und manchmal ineinander übergehenden Episoden, von denen viele sehr inspiriert sind. Für kommende Werke wäre noch zu hoffen, dass zwischen den Abschnitten stärkerer Zusammenhang herrschte, die Ideen untereinander metamorphisierten und in Beziehung zueinander träten.

Sehr beglückend ist die Leistung der agierenden Musiker, die sich spürbar mit dieser Musik auseinandergesetzt haben und ihren Teil zu einer gelungenen Einspielung beitragen. Höchst sensibel gehen sie auf die harmonischen Wendungen und melodischen Verläufe ein, versuchen auch, einen gewissen Zusammenhang herzustellen.

 [Oliver Fraenzke, September 2017]

Dänische Miniaturen im Energiesparmodus

Dacapo 8.226091; EAN: 6 36943 60912 5

Musik von Hans Abrahamsen ist auf der neuesten CD des dänischen Ensembles MidtVest zu hören: neben zwei Originalkompositionen, den 10 Preludes (String Quartett Nr. 1) und den Sechs Stücken für Violine, Horn und Klavier, auch Bearbeitungen von Erik Saties Trois Gymnopédies und Carl Nielsens Fantasiestücken op. 2.

Das bisherige Schaffen Hans Abrahamsens lässt sich klar in zwei Abschnitte untergliedern, die durch eine zehnjährige Schaffenspause voneinander getrennt sind. Der 1952 geborene Däne begann als äußerst inspirierter, vielseitiger und offener Komponist, der seinen eigenen Stil zwischen verschiedenen Einflüssen suchte und immer wieder auch fand. Er verschloss sich weder Formen und Ideen älterer Zeit, noch Einflüssen der „leichteren Muse“, und auch nicht neuen Techniken der Klangerzeugung. Vielleicht sind es gerade seine ersten großen Werke in den 1970er Jahren, die sein verblüffendes Talent am kraftvollsten bezeugen. So auch sein immer wieder gespieltes Erstes Streichquartett, das aus zehn vollkommen unterschiedlichen Präludien besteht, die in prägnanter Kürze kontrastierende Stile auskundschaften, bis das letzte beinahe Händel’sche Klangwelten aufstößt. In den 1980er Jahren hatte sich sein Stil gewissermaßen gefestigt, was ihn – wie in den Sechs Stücken für Violine, Horn und Klavier eindeutig zu vernehmen – aber auch die Spontaneität und nicht zuletzt die Originalität ein Stück weit verlieren lässt. In den 1990er Jahren schließlich kam der große Einschnitt, zehn Jahre lang gingen aus seiner Feder nur noch einige Arrangements hervor, wonach er zur Jahrtausendwende mit einem neuen, avantgardistischeren Stil wiederkehrte, der wenig von seiner ursprünglichen Energie und Aussagekraft weiterleben lässt. Aus der Zeit des Schweigens sind zwei Arrangements von Werken Saties und Nielsens zu hören, luzide im Klang und gar nicht überladen in der Instrumentation. Was alle zu hörenden Stücke eint, ist ihre miniaturistische Kürze, kein Satz überschreitet die vier-Minuten-Grenze.

Das Ensemble MidtVest gibt sich wenig Mühe, diese Stücke in ihrer janusköpfigen Schlichtheit zu verstehen. Die Noten werden buchstabiert und pflichtbewusst dargeboten, damit endet allerdings auch die Erarbeitung. Selbst die ganz kurzen Miniaturen bekommen keinen Zusammenhalt, Phrasierung ist ebenso Fehlanzeige wie empathisches Eingehen auf die anderen Stimmen. Am ehesten versucht noch Peter Kirstein an der Oboe, in Nielsen und noch mehr in Satie musikalisch etwas tiefer Enthaltenes zu finden, was jedoch sogleich von den Streichern nivelliert wird.

Nur weil ein Werk wenig bekannt ist, bedeutet das nicht, dass dem Hörer nicht auffallen könnte, wenn es leblos und „im Energiesparmodus“ dargeboten wird – leider wird derart jedoch viel zu häufig ein Werk fälschlicherweise als langweilig oder zusammenhangslos abgeurteilt, wenn es lediglich nicht adäquat gespielt wird. Als Beweis der Hochwertigkeit dieser Musik sei wärmstens die Aufnahme des Danish String Quartet des ersten Abrahamsen-Quartetts empfohlen (ECM 2453), die ganz andere Perspektiven eröffnet, als nach dieser Aufnahme auch nur erahnt werden könnte.

[Oliver Fraenzke, September 2017]

Historisch-gehaltvolles

Orfeo, C 916 172 A; EAN: 4 011790 916224

Hans Knappertsbuschs Konzert vom 14. Mai 1962 mit dem Kölner Rundfunkorchester in einem Programm bestehend aus Carl Maria von Webers Ouvertüre zur Oper Euryanthe op. 81, Ludwig van Beethovens Drittem Klavierkonzert c-Moll op. 37 und Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie F-Dur op. 90 ist auf vorliegender Doppel-CD von Orfeo zu hören. Der Klaviersolist ist Géza Anda. Ein weiterer Live-Mitschnitt, vom 10. Mai 1963 mit Brahms‘ Variationen über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a, ist beigegeben.

Die Reihe Orfeo d’Or rückt historische Liveaufnahmen ins Licht der heutigen Aufmerksamkeit. Einen ausgezeichneten Fang präsentiert sie mit der Entdeckung zweier Konzertaufnahmen aus den letzten Lebensjahren des Dirigenten Hans Knappertsbusch. In Mono gehalten, beleuchten sie seinen ausgereiften und gesetzten Dirigierstil zwar nicht in bester, doch ausreichender Audioqualität, um seine unglaubliche Intuition bezüglich der Musik zu offenbaren. Knappertsbusch war bekanntlich kein Freund des detaillierten Studiums und der langwierigen Arbeit an musikalischen Fragen. Umso erstaunlicher ist, wie viel er aus den Werken doch herausholte, wie genau er die Spannungsverhältnisse auszuloten und die Form zusammenzuhalten wusste.

Hervorgehoben sei allem voran eine Eigenheit, die Knappertsbusch ausmachte und die ich heute viel zu oft in Konzerten und Aufnahmen misse: Die Bewusstheit über Entspannung. Schließende Phrasenenden lösen Spannung auf, melodiöse Verläufe steigen nicht nur immer weiter bis zu einem finalen Schlag, sondern haben in den Regel eine Bogenform. Knappertsbusch weiß, diese auch entsprechend musikalisch zu realisieren, die Kraftpole in der Waage zu halten. Als einem der ganz wenigen gelingt ihm dies in den berüchtigten Tutti-Schlägen, wenn – typisch gerade bei einem Solokonzert – am Ende einer Phrase das gesamte Orchester einen mächtigen Akkord einwirft. Dieser wird von Knappertsbusch nicht unter den Teppich gekehrt, er behält seine Markanz, fügt sich jedoch in den Spannungskontext ein, ohne bezugslos herauszupoltern.

Auch die tiefen Stimmen erhalten unter Knappertsbusch besondere Beachtung, sie haben Eigenständigkeit und Luzidität, sind nicht bloße Stützen für den Glanz der Oberstimmen. Als drittes Charakteristikum sei die rhythmische Impulsivität zu nennen, besonders in der Konfliktrhythmik zwei-gegen-drei besticht vorliegende Aufnahme durch absolutes Gegeneinanderlaufen der Schichten ohne jede klangliche Mischung oder Verschleifung. Der Effekt ist enorm, innerliche Unruhe und Zerrissenheit fährt dazwischen und hebt besagte Passagen von der umgebenden homogenen Rhythmik ab. In der Brahms-Symphonie sorgt dies für die nötigen Kontraste, um die ausladende Form berechtigt erscheinen zu lassen.

Ebenso intuitiv und innerlich erspürt erklingt der Solopart des Dritten Klavierkonzerts von Beethoven unter den Fingern Géza Andas. Im ersten Satz nimmt er sich zwar einige oberflächliche Rubati heraus, um seine Virtuosität zu präsentieren, besticht dafür aber auch durch tiefe Aussage und natürliche Phrasierung, die einige versteckte Aspekte dieser Musik offenlegt. Beispielhaft hierfür sind die Gestaltung des Quartmotivs im ersten Satz oder die Hervorhebung anstatt Verschleierung enger gesetzter tiefer Akkordlagen mit all ihren dissonierenden Obertönen.

[Oliver Fraenzke, September 2017]

Mal wieder…

Mozart Klavierkonzerte 25 & 26 – Francesco Piemontesi, Klavier; Andrew Manze, Scottish Chamber Orchestra
Linn 544; EAN: 6 91062 05442 3

Warum es zum hunderttausendsten Mal eine Aufnahme mit den zwei Mozart-Klavierkonzerten Nr. 25 und 26 geben muss, ist mir nach Anhören dieser CD schleierhaft. Natürlich, Mozart ist und bleibt Mozart, aber bei einer neuen Ausnahme erwarte ich etwas mehr als nur das Buchstabieren der Noten. Das ist alles ganz schön realisiert, die Töne stimmen, das Orchester unter der Stabführung von Andrew Manze begleitet den jungen italienischen Solisten gekonnt, aber das ist auch schon alles. Gelingt es in den beiden langsamen Sätzen wenigstens teilweise, den Zauber der Mozart’schen Musik einzufangen, so laufen die schnellen Sätze einfach vorüber, die Bewegungen – d a s Charakteristikum seiner Musik – rauschen uninspiriert und teilweise auch unphrasiert hurtig dahin, das lässt keinen Höhepunkt erkennen, auf den diese Musik-Sprache sich zubewegt, auch das Orchester tut nicht mehr als notwendig ist, die Genialität dieser Konzerte wird nicht erlebbar. Und das genau ist eine Forderung, der jede – vor allem jede neue – Einspielung gerecht werden sollte. Denn der Referenz-Aufnahmen sind zahllose, von Horowitz über Gulda bis hin zu neueren von Chick Corea und Bobby McFerrin. Und wenn es um das Orchester und besonders um die Bläser geht – eine andere Spezialität in Mozarts Klangsprache, dann ist für mich die Aufnahme mit dem schönsten Orchesterspiel die von David Greilsamer und seinem Suedama Ensemble (naive V 5184).

Ganz zu schweigen von Glenn Gould’s Mozart, an dem sich alle Pianisten orientieren können, was melodiöse Phrasierung, Tempo und Musikalität angeht. Seit der neuen Aufnahme von Bachs Musik mit Anton Batagov ist allerdings ein neues Kapitel des Musizierens aufgeschlagen. Ob sich jedoch viele Musiker damit befassen und die Konsequenzen daraus ziehen können und wollen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber vielleicht ist die Tür geöffnet für einen ganz neuen Blick auch auf Mozarts Musik. Schon als Kind und Jugendlicher war für mich die „Exekution“ seiner Musik instinktiv viel zu schnell und viel zu oberflächlich. Und nicht erst seit Grete Wehmeyers Buch „Zu Hilfe, zu Hilfe!“ über die Tempowahl und alles Andere bei Mozart taucht ein anderes Verständnis für die „Klangrede“ (Nikolaus Harnoncourt) auf.

Zeit für eine große Veränderung der Frau Musica gegenüber wäre es längst. Auch im neuen Buch von Andrej Hoteev „Zwischen zwei Welten“ (hrsg. von G. Helbig) geht es bei seinen berühmten Kollegen Richter oder Gilels um das Tempo giusto. (Das es letztlich als absoluten Maßstab gar nicht geben kann!)

Und dagegen fällt diese CD ganz einfach ab. Da hilft auch der Hinweis im Booklet – das übrigens die Umgebung dieser zwei Konzerte recht gut und informativ beschreibt – auf berühmte Lehrer wenig bis gar nichts. Schade!

[Ulrich Hermann, August 2017]

Leicht bis unerfassbar

Dacapo 6.220656; EAN: 7 47313 16566 7

Zwei diametral entgegengesetzte Orgelkompositionen des Dänen Per Nørgård sind auf der neuesten CD von Jens E. Christensen für Dacapo zu hören. Zunächst spielt er Orgelbogen (Das Orgelbuch), eine Sammlung von 17 kurzen Präludien und Choralfantasien aus den Jahren 1955 bis 2014, und daraufhin den hochkomplexen Canon von 1970/71, eines der gewichtigsten Orgelwerke Nørgårds.

Sich selbst immer wieder neu zu erfinden, von jeder exklusiven Kompositionsschule abzusetzen und neue Klangwelten zu erschaffen, die abseits der Mainstream-Avantgarde verlaufen: das ist die Vorstellung hinter der Musik von Per Nørgård. Mit diesem Idealismus gewann der 1932 geborene Däne letztes Jahr den renommierten Ernst von Siemens Musikpreis als einer der ersten Komponisten, die nicht dem Darmstadt-Kreis angehörten, und als erster Preisträger überhaupt aus den nordischen Ländern (was ein Skandal ist!). Seine (bislang) acht Symphonien ergeben ein heterogenes Bild der ständigen Erneuerung; wie beispielsweise auch bei Sibelius grenzt jede Symphonie eine Schaffensphase ab, bringt wieder und wieder Unerhörtes zu Tage. Aber auch abseits der großen Form weiß Per Nørgård, nicht auf Erwartungen einzugehen, sondern seinem eigenen Weg zu folgen.

Zwei Orgelwerke offeriert die vorliegende Aufnahme von Jens E. Christensen, wie sie dem hier über die Symphonien Geschriebenen nicht besser entsprechen könnten. 2015 fasste Nørgård 17 kurze Stücke zu Orgelbogen (Das Orgelbuch) zusammen, wovon die Nummern 2-6 auch sein Opus 12 darstellen, während die anderen lose Stücke sind (7-12 fügt Nørgård als „Präludien und Choralpräludien für den Hymnus Året“ [Das Jahr] zusammen, wobei sich die Entstehungszeit von 1976-1987 erstreckt, das Titelstück wurde 2014 überarbeitet). Größtenteils handelt es sich um schlichte und unkomplizierte Sätze, die auch als a-cappella-Chorsätze denkbar wären. Selbst in dieser Simplizität gelingt es dem Komponisten, eine eigene Note beizugeben und das Ganze in verzaubernder Frische erblühen zu lassen. Keinerlei Eintönigkeit stellt sich ein, nicht eine „standardisierte“ musikalische Wendung enttarnt sich in diesen für den Gottesdienst gedachten Einzelstücken. Abgesehen von der launischen Toccata – „Libra“ herrscht rhythmisch wenig vernehmbare Aktivität, harmonisch allerdings wagt Nørgård auch in diesen Miniaturen so einiges.

Beinahe wie ein Gegenstück dazu erscheint der Canon für Orgel (1970/71), dessen sieben Teile attacca ineinander übergehen. Die Stimmenvielfalt des Instruments wird hier ebenso ausgelotet wie die Kontraste der Register und Klangtexturen. Nørgård arbeitet mit geradezu orchestralen Vorstellungen, die er auf einen einzigen Solisten projiziert. Der Booklettext zeigt ein Notenbeispiel aus dem sechsten Teil in der Fülle seiner metrischen Schichtungen und für das Gehör kaum erfassbaren Dichte zusammengesetzter Rhythmen. Canon geht über das hinaus, was der Mensch wahrnehmen und verarbeiten kann, und doch – was die grenzenlose Magie ausmacht – bleibt das Werk verfolg- und beziehbar. Auch wenn es aufgrund seiner Komplexität rein physikalisch nicht zu entschlüsseln ist, glaubt man zu erkennen: Dies löst einen Schwebezustand zwischen Schein und innerlich erspürter Wahrheit aus, welcher das rein Klangliche transzendiert.

Eine intensive Zusammenarbeit schweißt Jens E. Christensen und Per Nørgård zusammen – eine Vertrautheit, die hörbar ist. Christensen ist bestens mit der Orgel und ihren Registern vertraut, weiß, diese bewusst und sinnvoll einzusetzen, um ein bestmögliches Resultat zu erzielen. Die Stimmen fließen, jede für sich deutlich und belebt, in angemessenem Klangkontrast und luzide im Zusammenwirken. Die Tempi sind wohl reflektiert und gestatten Einsicht auch in die feinsten rhythmischen und melodischen Schattierungen, ohne den Spannungsbogen zu verlieren.

[Oliver Fraenzke, September 2017]