Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Spiel der Gegensätze

conditura records, conre005; EAN: 4 260401 710014

Unter dem Titel „Lachen und Weinen“ vereinen Katja Stuber und Boris Kusnezow Lieder von Franz Schubert, Kurt Weill und Paul Hindemith.

Es ist ein Spiel der Gegensätze, zwischen Lachen und Weinen – betitelt nach dem gleichnamigen Klavierlied Schuberts -, das sich in den für diese Einspielung ausgewählten Liedern auftut. Romanzen, Träume, ernüchternde Erkenntnisse, Wahnsinn, Verlust, Unentschlossenheit – all das steckt in den Vokalwerken der drei stilistisch geradezu diametral entgegengesetzten Komponisten, die hier vertreten sind: Schuberts zwischen Freude und Trauer changierende frühe Romantik, Hindemiths eigenwillige Finesse und Weills französischsprachiges Schmachten.

Ein sehr eigenes, aber durchaus angenehmes Timbre charakterisiert die Stimme von Katja Stuber. Sie singt auf locker spielerische Art gerade heraus, verbindet aufrechtes Selbstbewusstsein mit beinahe kindlicher Unbekümmertheit und Frohsinn. Dabei verliert sie nie die Kontrolle über ihren Gesang und gibt einer natürlichen Gestaltung Raum, die vollkommen organisch wirkt. Bei Schubert und bei Weill kann sie mit dieser Art trumpfen und die Lieder auf vielschichtige Weise darstellen. Bei Hindemiths Liedern op. 18 haucht Stuber die Töne mehr, verschleiert den direkten Ton zugunsten einer mysteriösen Verhangenheit, die den höchst gespannten Miniaturen ein magisch eigenes Flair verleiht. Frau Stuber singt meist recht gut verständlich, nicht zuletzt aufgrund ihres unmittelbar direkten Ausdrucks frei von Verkrampfung und mit nur sparsamem Vibrato.

Den gleichwertigen Widerpart bietet Boris Kusnezow am Klavier, der zu einer unzertrennlichen Einheit mit Katja Stuber verschmilzt. Er spielt in schlichter Manier, ohne sich zu sehr in Details zu verlieren, hat dafür ein spürbares Bewusstsein über den Fluss der Musik und den harmonischen Bau. Er lässt die Sopranistin in der Höhe glänzen und bildet dabei stets eine gute Basis für ihre Höhenflüge. In den mit dem Gesang gedoppelten Passagen wird besonders deutlich, wie gut die Musiker aufeinander abgestimmt sind, wie sie gemeinsam atmen und wie sanglich auch Kusnezow spielt.

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Grandiose Kammermusik

Lawo, LW 1066 & 1081; EAN: 7 090020 180694 & 7 090020 180939

Das gesamte Kammermusikwerk des norwegischen Komponisten Ketil Hvoslef wird derzeit für Lawo eingespielt. Die ersten beiden CDs sind mittlerweile erschienen, auf ihnen sind zu hören: Erkejubel, Duo Due, Frammenti Di Roma (I-XI), Scheherazade Forteller Videre, Canis Lagopus, Duodu, Ludium for 7 flutes, Oktett für Flöten, Dano Tiore, Duo for accordions, Quartetto Percussivo.

Obgleich unbestreitbar einer der substanziellsten und eigenständigsten Komponisten unserer Zeit, ist der Name Ketil Hvoslef bisher fast nie in Konzerten oder Einspielungen außerhalb seines Heimatlandes zu hören. Der Norweger wurde 1939 als Sohn des großen Symphonikers Harald Sæverud (bekannt u.a. durch Kjempeviseslåtter oder seine neue Schauspielmusik zu Ibsens Peer Gynt, durch neun Symphonien, seine Instrumentalkonzerte oder brillanten Miniaturen für Klavier) geboren, nutzt als Künstler seit seinem 40. Lebensjahr den Nachnamen seiner Mutter, um nicht mit dem berühmten Vater verwechselt zu werden. Nicht eine einzige Symphonie komponierte Hvoslef bisher, dafür eine große Auswahl an verschiedenartigsten Instrumentalkonzerten (zum Teil für spannende Besetzung wie Violine und Pop-Band oder Flöte, Gitarre und Streicher) und noch weit mehr Kammermusik für die abenteuerlichsten Konstellationen. Diese soll nun für Lawo komplett erscheinen, die ersten beiden CDs sind bereits auf dem Markt.

Der Stil von Ketil Hvoslef ist unverkennbar sein eigener, er gehört keiner Schule an und auch von der Musik seines Vaters setzt er sich klar ab. Die Musik Hvoslefs zeichnet sich aus durch improvisatorisch freie Formen, die stets grenzenlose Inspiration versprühen und dabei trotz aller Freiheit bezwingend stringent sind, immer eine fesselnde Klangmagie entfalten, die schlichtes Material mit scharfen Dissonanzen und rhythmischen Finessen zu unerhörtem Zusammenwirken verbindet, sowie durch eine rücksichtslose Obsessivität, die restlos ausgereizt wird, ohne je ihre Spannung und ihren Zauber zu verlieren oder gar ins Monotone, Redundante umzuschlagen. Dabei hat jedes Stück seinen unverwechselbar persönlichen Charakter, nicht zuletzt indem Hvoslef nur selten die gleiche Instrumentation in zwei Stücken verwendet, und er kann mit absolut jeder nur erdenklichen Besetzung spielerisch umgehen, ohne an Gewandtheit einzubüßen oder nur ein einziges Mal banal zu werden.

Vier Duette finden sich auf den beiden CDs, darunter die beiden hinreißenden Streicherduette Duodu (Geige und Bratsche), welches eines seiner meistaufgeführten Werke ist und dessen Name sich von „du og du!“ (soviel wie „Oh mein Gott!“) ableitet, und Duo Due (zweites Duo) für Geige und Cello. Obwohl die Werke so unterschiedlichen Charakter haben, weisen sie doch beide die oben genannten Charakteristika auf und halten die Spannung von der ersten bis zur letzten Sekunde, ohne jemals abzufallen. Neben einem Duo für Akkordeons gibt es auch ein Duo für Geige und Harfe mit dem Titel Scheherazade forteller videre (Scheherazade weitererzählt), ein besonders interessantes Werk, das dort anknüpft, wo Rimsky-Korsakovs Scheherazade aufhört, und mit orientalischem Flair eine geradezu orchestrale Wirkung entfaltet, dabei immer wieder um kleine Motive kreisend, um die herum sich neue Geschichten entspinnen. Sehr bemerkenswert ist das Flöten-Oktett, welches (wie das Cover zeigt) ein achtbeiniges Wesen – wie einen Octopus – darstellt. Es ist faszinierend, welche Klänge der Besetzung für acht Flöten entlockt werden können, die einen dichten, beinahe an Ligeti gemahnenden Ton bis hin zur fast elektronisch wirkenden Clusterbildung erzeugen können, und wie sich die Flöten tatsächlich zu einem großen Lebewesen einen, das sich fühlend und windend vorwärts bewegt. Nicht weniger ein Highlight zeitgenössischer Kammermusik ist Dano Tiore für Sopran, Violine, Viola, Cello und Cembalo. Anstelle eines sinnigen Textes trägt die Sopranistin Fantasiewörter vor, die lediglich dem Ausdruck der Musik dienen und deren Wirkung intensivieren sollen – eine Rechnung, die frappant aufgeht. Schnelle rezitativische Passagen und geheimnisvolle Kantilenen wechseln sich ab, dem entsprechend stehen klangvolle Streichtrio-Passagen oder trockene Cembalo-Flächen als Begleitung zur Verfügung, die kontrastieren, aber auch sich mischen können. Jedes Werk – auch die hier nicht besonders gewürdigten – besitzt jedenfalls eine vollkommen eigene Persönlichkeit und gibt eine weitere Facette des unbändig kreativen Geists Hvoslefs preis.

Alle Musiker einzeln zu loben würde jeden Rahmen sprengen, so gern ich es tatsächlich machen würde. Doch agieren kurzum alle auf allerhöchstem Niveau und es gibt absolut nichts auszusetzen. Die Werke sind auf kongeniale Weise dargeboten – alles wurde unter Anwesenheit des Komponisten geprobt und eingespielt. Durchgehend ist die Essenz erfasst, die unmöglichsten Schwierigkeiten sind spielerisch gemeistert und alles befindet sich im kontinuierlichen Fluss, der die improvisatorische Leichtigkeit der Form trägt. Die Musiker wirken als Gemeinschaft zusammen und sind in jeder Besetzung in makelloser Synchronizität, in gemeinsamem musikalischen Atem aufeinander eingespielt. Die Musiker sind: Gary Peterson, Britt Pernille Lindvik, John-Arild Suther, Kjell Erik Husom, Einar Røttingen, Alexander Ulriksen, Ricardo Odriozola, John Ehde, Steinar Hannevold, Christian Stene, Per Hannevold, Marija Kadovič, Măra Šmiukše, Ilze Klava, Peter Palotai, Moa Bromander, Sofya Dudaeva, Cecilia Lind, Rebecca Lambrecht, Ingrid Søfteland Neset, Knut Magnus Bøen, Juana Gundersen, Gro Sandvik, Hilde Haraldsen Sveen, Jostein Stalheim, Kai Andre Hansen, Torleif Torgersen, Peter Kates und Manuel Hofstätter.

Die beiden vorliegenden CDs gehören zu den besten Kammermusikeinspielungen der letzten Jahre, sowohl von der künstlerischer Qualität her als auch hinsichtlich der Inspiration und handwerklichen Vollendung der Werke. Gespannt erwarten wir nun sieben weitere CDs!

[Oliver Fraenzke, November 2016]

Musik für die Zukunft

Henri Dutilleux (1916-2013): Sur le même accord; Les citations; Mystère de l’instant; Timbres, espace, mouvement (ou „La nuit etoilée“)

Seattle Symphony; Ludovic Morlot, Dirigent; Augustin Hadelich, Violine; Mahan Esfahani, Cembalo; Chester Englander, Cimbalom; Mary Lynch, Oboe; Jordan Anderson, Kontrabass; Michael A. Wernern, Perkussion

SSM1012; EAN: 8 55404 00 6512

Ein großer Einzelgänger, das war er, der französische Komponist Henri Dutilleux. Er lebte zurückgezogen auf einer kleinen Seine-Insel mitten in Paris. Moden, Mainstream, die Haute volée, all das interessierte ihn wenig. Seine Kompositionen sind häufig von Themen aus der Malerei angeregt, wie z. B. „Timbres, espace, mouvement“ vom entsprechenden Bild des Sternenhimmels von Vincent van Gogh.

Das erste Stück auf dieser faszinierenden CD ist ein Nocturne, für dessen Ausarbeitung  Dutilleux 15 Jahre von der Idee bis zur fertigen Fassung benötigte – er war ein von Selbstzweifeln geplagter Schöpfer, der viele seiner frühen Kompositionen radikal vernichtete. Augustin Hadelich ist der exzellente Solist, und ich erinnere mich mit großem Vergnügen an die Einspielung der beiden Violinkonzerte von Sibelius und Thomas Adès vor einiger Zeit mit dem Dirigenten Hannu Lintu. Auch bei diesem Stück von Dutilleux – es ist Ann- Sophie  Mutter gewidmet –  ist die Solopartie bei Hadelich in besten (musikalischen) Händen. Die Intensität der Dutilleux’schen Klangsprache ist bezwingend, die Eigenständigkeit seiner Musik – weitab von jeder Mode wie „seriell“ oder „atonal“ zeigt einmal mehr, warum ihn z. B. Sergiu Celibidache für einen der drei besten Komponisten des späten 20. Jahrhunderts hielt.

Dem Booklet ist zu entnehmen, dass das Orchester aus Seattle unter seinem Dirigenten  Ludovic Morlot sich sehr ausführlich in seinen Programmen mit Neuer Musik befasst und es auch als seine Aufgabe ansieht, sie dem Konzertpublikum – ob jung oder alt – nahezubringen. Dass es dabei von vielen Gönnerinnen und Gönnern unterstützt wird, ist ein Tradition in der amerikanischen Kulturszene.

Das Quartett „Les citations“ ( die Zitate) für Oboe, Cembalo, Kontrabass und Perkussion ist nicht nur wegen seiner ausgefallenen Besetzung hörenswert. Als „composer in residence“  im Sommer 1985 in  Aldeburgh (dem Festival, das Benjamin Britten zusammen mit Peters Pears ins Leben gerufen hatte) schrieb Dutilleux den Beginn, aber erst fünf Jahre später war das Stück seinen Ansprüchen entsprechend fertig. Es zitiert nicht nur den jungverstorbenen Jehan Alain (1911-1940) – in der Art des Renaisssance-Komponisten Clement Janequin (1485-1558) –, sondern auch Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“. Von langsamen und zarten Tönen bis hin zu jazzmäßigen, rhythmisch vertrackten Passagen ist das fast 14 Minuten lange Kammermusikwerk ein avanciertes Meisterstück. Und in den Händen der im Orchester mitspielenden vier Solisten bestens aufgehoben. Mit jedem Anhören gewinnt es an Tiefe und Bedeutung. „Gut Ding will Weile haben“, könnte einer von Dutilleux’s Wahlsprüchen gewesen zu sein. „Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist  dazu nötig: eine Art Mystik“, beschrieb er seinen Arbeitsprozess.

Auch Paul Sacher, Anreger und Nestor der Neuen Musik, dem viele Meisterwerke der Moderne ihre Entstehung verdanken, gehörte zu Dutilleux’s „Auftraggebern“ Seine Komposition „Mystère de l’instant“ (Das Geheimnis des Augenblicks) von 1989 war eine der letzten, von Paul Sacher angeregten Kompositionen. Über die Einzelheiten dieses für  Streicher, Perkussion und Cimbalom geschriebenen Werkes gibt das Booklet informativ Auskunft, wenn auch nur auf Englisch. Das Werk verwendet Noten des Namens „Sacher“ und besteht aus 10 aufeinanderfolgenden kurzen, quasi improvisatorischen Stücken.

Die Anregung zur vierten Komposition auf dieser CD geht auf den Cellisten Mstislav Rostropovich zurück und natürlich auf das berühmte Bild von Vincent van Gogh „Die Sternennacht“ mit den bewegten Sternen und den Zypressen vor dem tiefblauen Firmament. Der erste und dritte Teil entstanden 1978, bevor Dutilleux 1991 ein Zwischenspiel einfügte.

Nébuleuse, Interlude und Constellations heißen die drei Sätze. Vom tiefsten bis zum höchsten Ton des Orchesters, durch alle möglichen melodischen, arabeskengleichen , rhythmischen und klanglichen Kombinationen, ist das Werk ein ganz eigenes Faszinosum in der Geschichte der Neuen Musik. Und lässt hörbar werden, wie weit sich Henri Dutilleux von allen „Strömungen“ – denen er stets aufgeschlossen gegenüber stand – frei machte und sich mit seiner ureigenen, unvergleichlichen Musiksprache in seiner Art und immer wieder  von Zweifeln und Umarbeitungen geprägten Weise als einer der spannendsten und wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts weiterentwickelte.

Der Aufnahme, teils konzertant, teils in Studio-Sessions entstanden, ist die Begeisterung der Musiker, des Dirigenten, aller Beteiligten deutlich anzuhören. Auch bei leisesten oder lautesten, volltönendsten  Klängen ist die instrumentale Perspektive jeder einzelnen Stimme klar und deutlich eingefangen. Obwohl es keineswegs „easy listening“ ist, wenn es um die Musik von Henri Dutilleux geht: der Gewinn, der von diesen „Klängen“ ausgeht, wirkt nachhaltig und ist eine grandiose Bereicherung des eigenen Hörens.

[Ulrich Hermann, November 2016]

Und wieder ein neuer Komponist

Paul Le Flem (1881-1984): Complete Piano Works; Giorgio Koukl

Grand Piano GP 695; EAN: 7 47313 96952 4

Weder seinen Name je gehört, noch je etwas von seiner Musik! Aber das ist ja eine der allerschönsten Möglichkeiten des Mediums CD, dass sie zu immer neuen Entdeckungen Anlass bietet.

In diesem Fall Musik eines französischen Komponisten, der, in der Bretagne geboren, trotz seines biblischen Alters relativ wenige Werke hinterlassen hat. Dazu zählt seine wunderschöne Klaviermusik, die auf dieser CD vom tschechischen Pianisten, Cembalisten und Komponisten Giorgio Koukl hervorragend eingespielt wurde.

Das Booklet  gibt Auskunft über Le Flem, der zum Pariser Kreis  von Martinu, Alexander Tscherepnin, Tansman und Lourié gehörte, aber seine bretonischen Wurzeln in seiner Musik nie verleugnete und daraus viele seiner Melodien herleitete. Die frühesten Stücke stammen aus den Jahren 1896/97 und beziehen sich auf zwei bretonische Sagengestalten, die zu einer „Valse brétonne“ und zu einem „ Poème symphonique pour piano“ wurden.

Le Flems Tonsprache reicht von bretonischen Volksmelodien bis zu einem Stück für die rechte Hand alleine, das bis in fast atonale Bereiche vorstößt und 1961 geschrieben wurde.
Natürlich lässt sich der Einfluss seiner Zeitgenossen und Mitkomponisten Claude Debussy, Maurice Ravel und anderer nicht verleugnen, aber die Tonsprache von Paul Le Flem ist dennoch erstaunlich eigenständig und eine zauberhafte Bereicherung des Repertoires für Klavier.

Seine Komposition „Avril“ von 1910 lässt natürlich sofort an eine Komposition des Zeitgenossen John Foulds denken, der ein Jahr früher 1880 in England geboren wurde, dessen fulminant improvisatorisch überbordendes Stück „April- England“ allerdings 16 Jahre später entstand. Ob sich beide Komponisten später während Foulds’ Pariser Zeit kennengelernt haben? Jedenfalls klingt das Stück von Paul Le Flem mit seinen schwirrenden Bewegungen sehr viel impressionistischer als das Stück von Foulds, aber beide nehmen den Hörer unmittelbar gefangen. Wie die Klaviermusik des bretonischen Musikers mich unmittelbar anspricht, sehr bewegt ist und die Möglichkeiten der ganzen Klaviatur bravourös ausnützt. Was herauskommt, ist Klaviermusik vom Feinsten, die zu Hören enormes Vergnügen bereitet und mich neugierig macht auf sein symphonisches Werk oder auf seine Lieder. Sein kompositorisches Schaffen erlebte mehrere Unterbrechungen, auch durch den ersten Weltkrieg und dadurch, dass er jüngeren Komponisten wie etwa André Jolivet (1905-1974) Platz machte und ihnen sogar generös den Weg ebnete. Dass einer seiner Mitstudenten Edgard Varèse (1883-1965) war, sei am Rande erwähnt.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Dichte und Frische

Im Kubiz Unterhaching spielt das Bruckner Akademie Orchester am 6. November 2016 das Erste Cellokonzert von Camille Saint-Saëns und die Dritte Symphonie, die „Eroica“, Ludwig van Beethovens. Dirigent ist Jordi Mora, Solistin im Cellokonzert Mariona Camats.

Mit wallend rotem Kleid erscheint die erst neunzehnjährige Mariona Camats auf der Bühne, positioniert sich und startet direkt in die heiklen Solopassagen des hochvirtuosen ersten Cellokonzerts a-Moll op. 33 von Camille Saint-Saëns. Es ist bemerkenswert, mit welcher Sicherheit und Leichtigkeit die aus Barcelona stammende Cellistin ihre Stimme meistert, wie gewandt sie selbst in den höchsten Lagen agiert und wie spielerisch sie zwischen virtuoser Bravour und innig erfühltem Instrumentalgesang wechselt. Zwar hat die junge Cellistin vielleicht noch nicht ihren grundeigenen Ton gefunden, doch ist es ein langer Weg zur Erforschung dessen, der in Camats Alter noch nicht zurückgelegt worden sein kann, und ich bin überzeugt, Camats ist auf dem besten Wege und wird sehr bald damit verzaubern. Es wäre noch zu wünschen, sie würde (gerade in der berühmten Zugabe, Casals’ El canto dels ocells) das Vibrato etwas spärlicher und funktioneller einsetzen. Doch allgemein beherrscht Camats bereits jetzt ihr Instrument auf vorzügliche Weise und wird hoffentlich bald mit ihrer brillanten Musikalität zu großer Bekanntheit erblühen. Die Abstimmung zwischen Solistin und Orchester funktioniert fantastisch, das Cello ist beständig deutlich zu hören, und doch wird ihr vielköpfiger Begleitapparat nicht konturschwach.

Jordi Moras Bewegungen sind Musik. Er verzichtet vollkommen auf Prätentiösität und ausladende Gesten, lässt sich zu einhundert Prozent auf die Musik ein und folgt ihrem Fluss, den er mit seinen Gesten in maximaler Dichte auffängt und an seine Musiker weitergibt. Vor allem für diejenigen, die am Vorabend in der Selbstdarstellungs-Show mit Ljubka Biagioni zu Guttenberg und den Sofia Symphonics waren, ist dieses Konzert eine wahre Heilkur. Die intensive musikalische Arbeit, die Mora mit dem Bruckner Akademie Orchester verrichtete, ist nicht zu überhören, die Werke entstehen wie aus einem Guss und entstehen ohne Zerstückelung in kleine Teile als Gesamtes vom Beginn bis zum Schluss in unwiderstehlichem Fluss. Das Orchester besteht aus Profimusikern wie auch aus ambitionierten Liebhabern, und so sind kleine Unsauberkeiten oder ein allgemein etwas zu aufdringliches Piano der Preis für ein umso lebendigeres und engagierteres Musizieren. Klarheit und Transparenz sind oberstes Gebot, nicht eine einzige Stimme geht in dem gerade bei Beethoven teils dichten und komplexen Geflecht unter. Dabei gelingen organische Übergänge und intensive Steigerungen, Beethoven erstrahlt in selten gehörtem Glanz, in Natürlichkeit und Frische. Und der langsame Satz – an dem so viele musikalisch scheitern – fesselt mit verhangen düsterem Marschcharakter, der keinen der Zuhörer unbetroffen lässt. Die vertrackte Form des Kopfsatzes bleibt unmittelbar und der gewollt „falsche“ Horneinsatz zu Beginn der Reprise überrascht, als hätte man ihn noch nie gehört. Heiter und locker perlen die beiden letzten Sätze, wobei das Finale durchbrochen wird von einem plötzlichen dunklen Teil, der wieder an die Marcia funebre gemahnt. Es ist selten, diese berühmte Symphonie so lebendig und unverstaubt zu hören, wie hier in vorbildhafter Weise geschehen.

[Oliver Fraenzke, November 2016]   

Sakrale russische Musik

Metropolit Hilarion Alfeyev (geb. 1966)
Stabat Mater; Gesang der Aufstiege; Weihnachtsoratorium

Hibla Gerzmava, Sopran; Nikolai Didenko, Bass; Protodeacon Viktor Shilovsky, Bariton; The Choir of the Popov Academy of Choral Art; The Boy’s Choir of the Moscow Sveshnikov Choral College; The National Philharmonic Orchestra of Russia; Vladimir Spivakov

Melodia, CD10 024 19; EAN: 4 600317 124190

Hilarion Alfeyev begann zwar schon mit drei Jahren mit dem Klavierspiel, spielte mit sechs Jahren Violine und komponierte mit zwölf Jahren seine ersten Stücke, aber nach einer Ausbildung in Moskau in Violine, Klavier und Komposition widmete er sich doch eine lange Zeit über ausschließlich seinen theologischen und geistlichen Ausbildungen. Er wurde ein bedeutender Repräsentant der russisch-orthodoxen Kirche, bekleidete und bekleidet bis heute hohe kirchliche Ämter, promovierte und erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen, auch auf musikalischem Gebiet. Nach langer Pause begann er – für ihn selbst überraschend –  mit fast 40 Jahren wieder zu komponieren.

Die Stücke auf diesen beiden CDs entstanden in der Zeit zwischen 2007 bis 2011 und wurden sofort sehr beifällig aufgenommen, sodass die Werke von Metropolit Hilarion Alfeyev heute zu den meistaufgeführten in Russland gehören. Wenn man diese Musik hört, kommen einem jede Menge Assoziationen in den Sinn, angefangen von Pergolesis „Stabat Mater“  über Bach bis zu Arvo Pärt und anderen neuen Sakralkomponisten des Ostens. Alfeyev will die Grenzen zwischen geistlicher und weltlicher Musik überwinden, so bedient er sich natürlich der Musiksprache aller ihm zur Verfügung stehenden Zeiten und Stile. Es entstehen sehr bewegende, aussagekräftige, mitreißende Passagen, die mich in ihrer Dramatik und Klangfülle auf intensive Musikerfahrungen mitnehmen.

Besonders angesprochen hat mich sein Weihnachtsoratorium, in dem er die Weihnachtsgeschichte mit großem Chor, Knabenchor, Solisten und großem Orchester erzählt und darstellt. Die herrliche russische Sprache tut ihr Übriges, um diese Komposition zu einer echten Neuentdeckung für die Weihnachtszeit zu machen.

Doch auch die beiden „kleineren“ Werke sind faszinierend, wobei mich besonders die Passacaglia im Stabat Mater und der vierte Satz „Paradisi Gloria“ mit seinem ergreifenden – einen nicht mehr loslassenden – Rhythmus begeistern. (Diesmal bedient sich Alfeyev der lateinischen Sprache – einer der vielen Sprachen, die er laut seiner Biographie  beherrscht, unter ihnen auch italienisch, deutsch und finnisch.) Auch die Psalmen-Vertonungen „Gesang derAufstiege“ (ebenfalls in russischer Sprache) sind ein sehr hörenswerter Beitrag lebendigster neuerer geistlicher Musik. Erfreulicherweise ist die Ausführung bei den Solisten, den Chören und ebenso dem Orchester unter Spivakov in besten Händen, das Klangbild – so es dieser gewaltige „Apparat“ erfordert – üppig und dennoch durchhörbar und verständlich.

Dass in Alfeyevs Musik die Polyphonie eine Hauptrolle spielt – es gibt vor allem im Oratorium eine Reihe herausragender Fugen –, ist seiner Liebe zur Musik von Johann Sebastian Bach geschuldet, was ja mitnichten ein schlechtes Vorbild ist für einen traditionsbewussten Komponisten, der sogar eine russische Matthäus-Passion zu seinen Werken zählt.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Eine Violine für alle Zeiten

Antonio Vivaldi (1678-1741): Concertos op. 8 Nr. 1-4  „Le quattro stagioni“ 1725; Roxanna Panufnik (*1968): Four World Seasons 2007-2011
BBC Symphony Orchestra; Graham Bradshaw, Tibetian Singing Bowl; Bradley Creswick, Leader; David Wright, Harpsichord; TASMIN LITTLE, Violin & Conductor

Chandos, CHSA 5175; EAN: 0 95115 51752 9

„Oh, je! Schon wieder eine CD mit Vivaldis Jahreszeiten“, seufzt der befangene Rezensent, allerdings gekoppelt mit einer Komposition von Roxanna Panufnik, der 1968 geborenen Tochter des polnisch-englischen Komponisten Andrzej Panufnik (1914-91), das ist natürlich etwas anderes, oder? Und in der Tat, dies ist nicht die x-te Runterspielung des Violinvirtuosen-Stücks par excellence, da hat sich die Geigerin – und Dirigentin – Tasmin Little eine ganze Menge Gedanken gemacht, die sie im sehr gut produzierten Booklet auch ausführlich zum Besten gibt.

Und herausgekommen ist: Eine Neueinspielung, die einen sofort mitnimmt, die überzeugt und begeistert. Natürlich ist das alles bekannt bis in die…. eben nicht! Denn das ist ja ein Verdienst der CD, dass sie es ermöglicht, verschiedenste Aufnahmen miteinander zu vergleichen und sich die subjektiv ansprechendste auszuwählen. Und diese neue gehört auf jeden Fall in die Kategorie „Lieblings-Aufnahmen“.

Das liegt sicher am Beitrag des Cembalisten David Wright, der seinen Part eben auch dazu verwendet, eigene Ideen in die sonst so langweilige Partie zu bringen.

Ein wenig anders sieht es allerdings beim zweiten Stück der CD aus: bei der Komposition „Four World Seasons“ von Roxanna Panufnik. Die Idee, verschiedene Jahreszeiten und ihr musikalisches Korrelat vier verschiedenen Ländern zuzuordnen, ist sehr schlüssig. Die Reihenfolge der Jahreszeiten folgt eben nicht der üblichen, auch von Vivaldi verwendeten, sondern beginnt im Herbst und in Albanien. Der erste Satz – „Autumn in Albania“ ist ihrem Vater gewidmet, der, wie sie schreibt: „… geboren, geliebt und gestorben im Herbst“. Er verwendet als Grundlage zwei albanische Melodien, einen Tanz und ein Liebeslied, und ergibt eine Komposition, die Orchester und Solistin wunderbar realisieren.

Dann die Winterzeit – es wird eine alte tibetanische Melodie auf zweifache Weise herangezogen, einmal in einer kunstvollen, dann in einer Nomaden-Version. Als Grundklang wird eine tibetische Klangschale verwendet. Das Stück fasziniert und nimmt gefangen.

Die beiden weiteren Stücke „Spring in Japan“ und  „Indian Summer“ sind zwar durchaus spannende Kompositionen, die mich persönlich allerdings nur teilweise begeistern, denn die Strukturen sind – verglichen mit den beiden ersten Stücken – zu zerfahren oder „beliebig“, was vielleicht aber auch an den tonalen Vorlieben des Rezensenten liegen mag.

Im Ganzen offeriert diese CD ein Hörerlebnis, das neue Wege zu scheinbar altbekannten Stücken und zu Unbekanntem öffnet.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Französische Spezialitäten, nivelliert auf hohem instrumentalen Niveau

Albert Roussel: Bacchus et Ariane-Suiten op. 43 Nr. 1 & 2; Claude Debussy/orchestr. Ernest Ansermet: Six Épigraphes antiques; Francis Poulenc: Les Biches-Suite
Orchestre de la Suisse Romande, Kazuki Yamada
Pentatone SACD PTC 5186558 (EAN: 827949055867)

Ein grandioses französisches Programm mit einem der Traditionsorchester, die sich seit jeher dafür zuständig sehen, auf einem Label, das für herausragende Klangqualität bekannt ist: Da ist die Vorfreude groß.

Das Genfer Orchestre de la Suisse Romande, einst unter seinem legendären Leiter Ernest Ansermet für Decca zuständig für Strawinsky-Aufnahmen und vieles andere, tritt mit seinem mittlerweile weltweit erfolgreichen japanischen, 1979 in Kanagawa geborenen Gastdirigenten Kazuki Yamada an, um eher selten, jedenfalls in Konzerten hierzulande kaum je zu hörende Meisterwerke französischer Musik der klassischen Moderne darzubieten. Roussels Suiten aus seinem erfolgreichen Ballett ‚Bacchus et Ariane’ gehören zum bekanntesten von diesem auch in seiner Heimat sträflich vernachlässigten Großmeister. André Cluytens, Charles Münch, Georges Prêtre, Charles Dutoit gehören zu den Dirigenten, die diese herrlich üppige und zugleich so charakteristisch querständige, eigenwillige Musik auch immer wieder im Konzertsaal präsentierten, und die Referenz dürfte bis heute Cluytens (für EMI, heute Warner Classics) zuzuschreiben sein, auch wenn bei ihm wie bei den anderen das Harsche, Ruppige dieser für französische Verhältnisse sehr bodenständig kraftvollen Musik besser umgesetzt, als das gleichfalls vorhandene zart Verästelte, klanglich fein Abzustimmende. Roussel ist auf jeden Fall der nächste Meister seiner Generation, gleich nach Debussy und Roussel, und allenfalls Paul Dukas und Florent Schmitt können ihm gleichwertig zur Seite gestellt werden. Unter diesen ist er jedenfalls in seinem reifen Schaffen der Unverwechselbarste. Sehr schade, dass ein Celibidache, der das besser konnte als irgendein anderer, von Roussel nur die Petite Suite und die Suite en fa (beide mit den Münchner Philharmonikern, bei Warner Classics) sowie die Dritte Symphonie (mit dem Orchestre National de France, beim japanischen Label Altus, nur Export) aufs Programm setzte.

Technisch spielt das Orchestre de la Suisse Romande unter Yamada vorzüglich, allerdings ohne besondere Finesse, es ist einfach nur tadellos solide, aber wo bleibt von Seiten des Dirigenten die Feinabstimmung der Akkorde, das Ausschöpfen der orchestral mischenden Farbpalette, das für die organische Verbidnung so unentbehrliche subtile Rubato? Nein, über korrekt – und vorzüglich aufgenommen – geht das nicht hinaus. Was natürlich in den späten Six Épigraphes antiques von Debussy, in der nicht genialen, aber sehr gekonnten Orchestration Ansermets, mit ihrer heikleren Faktur noch deutlicher zu spüren ist. In dieser Musik ist so viel mehr drin, als hier rauskommt, und das kann die beste Tontechnik nicht kompensieren! Am ehesten gelingt der frivole Schwung von Francis Poulencs neoklassizistisch unterhaltender Ballett-Suite ‚Les Biches’, wenn auch hier alles Hintergründige, Verfeinertere fehlt, und gewiss kein Sinn für den größeren Zusammenhang – der eben einer gewissen weitschauenden Bündelung der Energien von Seiten Yamadas bedürfte – zu finden ist. Fazit: toll zusammengestellt, exzellent aufgenommen, technisch tadellos und musikalisch mit Powerplay, aber relativ nichtssagend umgesetzt. Übrigens war auch schon Ansermet, wenngleich viel mehr auf die Aussage individueller Details bedacht, kein großer Klangalchimist und auch kein Meister durchgehend tragfähiger Spannungsentwicklung, sondern stets immer recht schulmeisterlich… Aber heute sollten wir doch eine gewisse Entwicklung erhoffen dürfen, auch wenn das kaum vorkommt, und vorliegende Einspielung durchaus auf der Höhe der Zeit ist.

Zum nicht sehr tiefgehenden Booklettext sei erwähnt, dass der Autor, der offenkundig erstmals mit der Musik Roussels zu tun hatte, fälschlich behauptet, Vincent d’Indy sei ein Schüler Roussels gewesen – es war natürlich umgekehrt. So etwas kann passieren, wenn man sich bei Wikipedia in der Eile verliest, doch dass auch die Übersetzer und die Redaktion es nicht bemerken, ist schon bemerkenswert. Schauen wir mal, wer das dann wieder abschreibt…

[Annabelle Leskov, Oktober 2016]

Letzte Dinge…

Horst Lohse (*1943) – Letzte Dinge. Hieronymus Bosch Triptychon
Christoph Maria Moosmann, Orgel; Bamberger Symphoniker; Aldo Brizzi, Dirigent; Robert Hunger-Bühler, Stimme

NEOS 11604
4 260063 116049

Wenn sich ein Komponist 23 Jahre lang mit einem Thema beschäftigt – in diesem Fall angeregt durch das Bild des Malers Hieronymus Bosch (1450-1516) „Die sieben Todsünden“ -, dann kann man gespannt sein, wie sich dieses Bild in ein „Klangbild“ wandelt, oder auch in mehrere, wie im vorliegenden Fall.

In Horst Lohses Werkverzeichnis findet sich neben Pädgogischem auch  Mannigfaches, sein Œuvre ist sehr reichhaltig. Aber die CD mit der Orgel als „rotem Faden“ ist eben auch wegen der langen Zeit des Entstehens etwas Besonderes.

Das Triptychon hat drei verschiedene Ebenen, die auch musikalisch durch drei verschiedene  Kompositionen dargestellt werden: Die erste „Die sieben Todsünden“ ist die früheste und entstand 1989 für Orgel allein. Sie entspricht dem mittleren Rundbild. Die nächste Komposition, für Orgel und Orchester, entstand 1996/97 und  bezieht sich auf die vier kleinen Rundbilder in den Ecken der Gemäldetafel.

Die mittlere Darstellung, in der Jesus selbst abgebildet wird unter dem  Vermerk „Cave, cave Dominus videt“, bildet den Abschluss als Werk für Orgel und Sprecher/Stimme von 2011/12.

Im Booklet gibt es zu den einzelnen „Todsünden“ und ihrer Vertonung Hinweise, die in die Struktur der Stücke leiten. Die ‚Letzten Dinge’ sind ein Dialog zwischen Orgel und Orchester, in welchem es zu spannenden und packenden Klangballungen kommt. Für mich am überzeugendsten gelungen ist der dritte und letzte Teil, der einen Text von Michael Herrschel (geb. 1971) mit einbezieht – er ist im Booklet abgedruckt.

Der Sprecher und Sänger Robert Hunger-Bühler ist für die Realisation dieser Komposition eine ideale Besetzung, auch wenn man zu Beginn die Lautstärke-Regler halsbrecherisch hoch aufdrehen muss, um überhaut etwas zu vernehmen, so pianissississississimo fängt das Ganze an. Umso überraschender und „brüllender“ ist dann der Fortgang, der eben ins Zentrum des Bildes und der Komposition führt.

Horst Lohse kam – wie er mir in einem Telefongespräch mitteilte – über die Malerei und eine Begegnung mit Hans Werner Henze zum Komponieren. Er war eine Zeitlang auch als Grundschullehrer tätig, wovon einige seiner Bühnenwerke zeugen.

Dass ihn der phantastische Realismus der Bilder von Hieronymus Bosch schon früh faszinierte, hatte sicher auch mit dem bildenden Schaffen seines Schwiegervaters Caspar Walther Rauh (1912-1983) zu tun, das ebenfalls dem phantastischen Realismus zugeordnet wird.

Das zweite Stück auf der CD ist eine Koproduktion mit dem BR, die beiden anderen Stücke spielte der Organist Christoph Maria Moosmann an der Orgel des Rottenburger Doms ein.  (Allerdings brauchte es dazu sogar einen zweiten Organisten und „nicht unerheblichen technischen Aufwand“, wie Moosmann im Booklet schreibt, um alle Anforderungen der Partitur erfüllen zu können.)

Die Wandlung eines Gemäldes in ein „Klangbild“ ist jedenfalls ein spannender Prozess, den ich auf vielen Vernissagen selbst schon  – zum Erstaunen der Malerinnen und Maler – improvisatorisch mit Stimme und/oder Instrumenten gestaltet habe.

[Ulrich Hermann; Oktober 2016]

Das beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music

Philip Glass – ‚Prophecies’: Music from ‚Einstein on the Beach’ and ‚Koyanisquatsi’, arranged for piano solo by Anton Batagov
Anton Batagov, Klavier

Orange Mountain Music CD 0110 (EAN: 801837011029)

Anton Batagov, geboren 1965 in Moskau, ist seit Anfang der 1990er Jahre Kennern bekannt als einer der interessantesten Musiker seiner Generation. Er ist nicht nur ein hochorigineller und phänomenaler Pianist, sondern auch ein singulärer Komponist sogenannter Minimal Music, der auch plakativ als „russischer Terry Riley’ angepriesen wurde. Alben wie das bei Arbiter Records in New York erschienene ‚The New Ravel’ oder seine auf einer Art präpariertem Klavier gespielte ‚Kunst der Fuge’ sind längst zeitlose Klassiker. Mehr über ihn ist hier zu erfahren: en.wikipedia.org/wiki/Anton_Batagov.

Nun präsentiert er uns seine eigenen Klavierfassungen von Musik aus Philip Glass’ New Age-Heiligtümern ‚Einstein on the Beach’ und ‚Koyanisquatsi’, und so sehr viel ist gar nicht darüber zu sagen. Es ist eine Minimal-Darbietung in schlichter Vollendung, von einem Pianisten gespielt, der ebenso mit späten Beethoven-Sonaten, Scriabin oder Debussy begeistern könnte, mit einer unglaublich feinen Durchformung und Abschattierung der Monochromie vorgetragen, nie ins rhythmisch Mechanische oder melodisch Plätschernde abgleitend, auch nie oberflächlich gefällig, sondern mit einer stoischen Spontaneität der Empfindung vorgetragen, die jenseits auch nur der geringsten Willkürlichkeiten jeden Moment aus dem großen Fluss heraus gestaltet. Das ist schlicht das musikalisch beste Glass-Album seit der Erfindung der Minimal Music. So funktioniert es und erfreut sowohl den anspruchsvollen Hörer als auch den, der einfach nur etwas zum Träumen haben möchte.

Batagov trägt im spartanischen Booklet einen lesenswerten Essay ‚On the Term Minimalism’ bei, wo er unter anderem schreibt: „Nichts ist absolut tragisch, nichts ist absolut fröhlich. Alles ist fröhlich und tragisch zur gleichen Zeit. Alles existiert in immerzu unteilbarer Einheit.

Minimalismus ist nicht ein Stil oder eine Technik, die in den 1960ern erfunden wurde und vorüber ging. Tatsächlich können wir uns kaum vorstellen, vor wie vielen tausend Jahren der ‚Minimalismus’ entstanden ist.“

Wer also wissen will, was Minimalismus im besten Fall sein kann, sollte nicht zögern, sich Glass in Batagovs Fassung anzuhören.

[Annabelle Leskov, September 2016]

Großmeister der Kirchenmusik der klassischen Moderne

Edmund Rubbra
Tenebrae Nocturns op. 72; Missa Cantuariensis op. 59; Drei Motetten op. 76; Fünf Motetten op. 37
The Sixteen, Harry Christophers
Coro CD COR 16144; EAN: 828021614422

Kirchenmusik im 20. Jahrhundert – das ist ein problematisches Kapitel. Für die Chefideologen des Fortschritts ohnehin, da die Komplexität bei in der Regel mehrstimmiger Chormusik nicht so hoch sein kann wie im Instrumentalen, und die Dimensionen des Absurden nicht so ergiebig sind wie im Musiktheater. Die Kirche als potenter Geldgeber will ja auch ihren geldwerten Vorteil, und der heißt nicht Atonalität und Geräuschlaboratorium, sondern irgendwie dann doch – Verständlichkeit, eine gewisse Schönheit und Erhabenheit, und ganz allgemein Angemessenheit an den liturgischen Bedarf… Es ist aber auch von anderer Seite problematisch, denn der Glaube ist eben auch nicht mehr, was er mal war. Von Ernst Pepping, diesem führenden Vertreter von deutscher Seite, wissen wir beispielsweise, dass er gar nicht gläubig war und trotzdem Musik komponierte, die mehr Anklang fand als solche „moralisch kompatiblerer“ Zeitgenossen – na ja, er konnte eben mehr, und er verstand zu ergreifen. Da kann es doch nun wirklich egal sein, was er darüber dachte.

All dies soll nicht schmälern, welch großartige Beiträge existieren, so in Deutschland von Heinrich Kaminski, Reinhard Schwarz-Schilling, besagtem Meister Pepping, Hugo Distler und sogar Paul Hindemith, in Frankreich von Maurice Duruflé, Francis Poulenc oder Jean-Louis Florentz, in Italien von Giorgio Federico Ghedini, in der Schweiz von Frank Martin, in Polen von Krzysztof Penderecki, in Estland von Arvo Pärt, in Lettland von Peteris Vasks, in den USA von Vittorio Giannini, und natürlich in England: von Ralph Vaughan Williams, John Foulds und Benjamin Britten (mit zwei großen, überkonfessionellen Requiem-Vertonungen), Bernard Stevens, Herbert Howells oder eben Edmund Rubbra.

Edmund Rubbra (1901-86) war ein großer Meister im zeitlosen Sinne. Sieht man davon ab, dass er auch ein hervorragender Pianist und überhaupt Musiker war und obendrein ein höchst differenziert reflektierender Theoretiker, so sind es vor allem seine elf Symphonien, die manchem Leser ein Begriff sein dürften. Seine Kammermusik (darunter vier Streichquartette) ist auf keinem geringeren Niveau. Es ist freitonale Musik, die einen Löwenanteil ihrer Qualität lebenslangem intensiven Studium vorbarocker Polyphonie verdankt und diese in eine moderne harmonische Sprache mit fein ausbalanciertem Dissonanzengehalt, kühner Modulatorik und subtil lebendiger Rhythmik überführt. Rubbra, der von der anglikanischen Kirche zum Katholizismus übertrat, hat ja auch eine ‚Symphonia Sacra’ geschrieben, in welcher er das symphonische und das ekstatisch religiöse Element in unsentimental hymnischer Weise fusionierte. Hier nun tragen die vielfach preisgekrönten ‚The Sixteen’ unter Harry Christophers ein wunderbar vielseitiges Spektrum seiner geistlichen a-cappella-Chormusik vor, mit einer Ausnahme: das Credo der ‚Missa Cantuariensis’ wird von einer Orgel begleitet, was dem Ganzen eine willkommene Abwechslung beschert. Diese Chorwerke sind hier selbstverständlich minimal (16!) besetzt, was das Klangbild dem entscheidend annähert, was wir heute von alter Musik erwarten, und somit den archaischen Aspekt betont. Die Aufführungen sind von einer frappierenden Reinheit und Durchhörbarkeit der eminent kunstreichen kontrapunktischen Verschlingungen, obwohl wirklich nicht behauptet werden kann, die Phrasierung sei bewusst im Dienste der melodischen Energetik bzw. der übergeordneten harmonischen Spannungsverhältnisse verstanden. Aber es klingt fantastisch und ist ein großer ästhetischer Genuss, und je nachdem, wie der Hörer in der Lage ist, hinter das offenkundig Erscheinende zu hören, kann er sich vielleicht vorstellen, welche Wirkung diese in einer auch musikalisch idealen Aufführung entfalten könnte. So bleibt es eben beim Staunen, und dafür ist durchgehend Anlass, denn Rubbra ist ein inspirierter und gelassen tiefschürfender Meister des Fachs, der mindestens auf einer Höhe mit hierzulande viel bekannteren Gestalten wie Martin, Pepping oder Distler steht. Er hat übrigens auch ein sehr wertvolles kleines Büchlein über den Kontrapunkt, aus einer mehr freigeistig historisch bilanzierenden als analytischen Warte, geschrieben.

Hauptwerk vorliegender Aufnahme ist aus neun in drei Abteilungen zusammengefassten Motetten gegliederte ‚Tenebrae Nocturns’, von denen die ersten drei 1951, die weiteren sechs 1961 entstanden sind. Innerlich freier und zugleich als Gesamtzusammenhang bezwingender kann man in einem gebundenen Kontrapunkt nicht für Chor schreiben. Diese Musik ist voll Trauer und Verzweiflung, doch sie bleibt bei sich und führt den Hörer mitten in sein Selbst – was wohl auch die hehre Aufgabe liturgischer Musik sein sollte. Ein zeitloses Meisterwerk. Äußerlich am beeindruckendsten ist die doppelchörige ‚Missa Cantuariensis’ von 1945 (eine von fünf Messen Rubbras), und auch ist das Gesamtbild der sieben Sätze von höchster dramaturgischer Vollendung. Eine würdige Lobpreisung der göttlichen Intelligenz. Dass es nicht erst der Entwicklung des Reifestils bedurfte, um den Hörer ganz in den Bann zu schlagen, beweisen die fünf Motetten op. 37 von 1934, und hier ist der Kontrast zwischen den drei ruhigeren und den zwei dramatischeren dazwischenliegenden Sätzen mit souveräner Hand gesetzt. Nichts an dieser Musik ist ermüdend, sie geht immerzu ohne unnötiges Spektakel unbeirrbar ihren ganz eigenen Weg, der vielfach Unerwartetes enthält. Natürlich sind auch die drei Motetten op. 76 von 1952 ein wunderbar zusammenhängend empfundenes und ausgestaltetes Opus, das zugleich zeigt, wie Rubbra immer weniger äußerlich aufreizender Mittel bedurfte , um die seinem Schaffen innewohnende Dramatik zum Ausdruck zu bringen. Und doch wirkt nichts berechnend, routiniert oder überhaupt gemacht an dieser Musik. Sie fließt aus sich selbst, aus den Kräften, die ihre Keimzellen freisetzen im Dienste der substanziellen Texte, die an ihrer Wurzel ergriffen sind und keinerlei konfessionelle Einengung atmen.

Das Klangbild ist für eine Kirchenakustik (Church of St. Alban the Martyr, London) außergewöhnlich klar und durchsichtig, und der ausführliche Begleittext von Alexandra Coghlan sowohl den Komponisten als auch die Werke betreffend sehr informativ, einfühlsam und präzise. Über die Abfolge, die die Tenebrae Nocturns zweimal mit einer Packung Motetten unterbricht und mit der Messe abschließt, kann man geteilter Ansicht sein, doch misslungen ist es nicht. Eine exzellente Produktion, die auch hierzulande Chorleiter anregen sollte, es endlich mal mit Rubbra zu probieren. Eure Chöre werden es Euch danken, und das Publikum sowieso.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, September 2016]

Zauber des Moments

Les Dissonances, LD 009; EAN: 3 149028 105421

Es sind zwei der meistgespielten Werke Schostakowitschs, die der Geiger und Dirigent David Grimal für die neueste Live-Aufnahme mit seinem Orchester Les Dissonances auswählte: die fünfte Symphonie d-Moll op. 47 sowie das Es-Dur-Cellokonzert Nr. 1 op. 107 mit dem Solisten Xavier Phillips. Seit jeher sorgt gerade diese Symphonie bei den Besserwissern für ein leichtes Grinsen, wenn am Ende das strahlendste und starrsinnigste nur vorstellbare D-Dur durchbricht und ein so übermäßig feierliches Ende ergibt, dass es anscheinend überhaupt nicht erst ernst genommen werden kann nach all den Abgründen dieser Musik. Für die Musiker und vor allem den Dirigenten bietet die Symphonie eine harte Nuss, die es zu knacken gilt, so gewaltig sind die Formen und so schwierig gestaltet es sich, all die feinen Übergänge fließend zu gestalten und sich nicht in Details oder Momentaufnahmen zu verlieren, worüber hinaus der Kontext und somit auch der Hörer verloren geht in uferlos sich ausbreitenden Flächen. Mrawinsky, Celibidache und Kondraschin haben allerdings bewiesen, dass die Form sehr wohl bewältigbar ist und ein gewaltiger durchgehender Sog entstehen kann, der mitreißt und alles ausschöpft bis zum Letzten, doch viel zu oft ist auch zu erleben, wie die Zuhörer maßlos überfordert werden durch den Mangel an Bewusstsein über das große Ganze, und spätestens im dritten Satz sind fast immer einige Köpfe niedergesunken. Mit Schostakowitsch über große Strecken zu begeistern ist leicht, dies macht alleine schon die genial gesetzte Partitur mit herrlicher Orchestration und einer Unzahl an tiefgreifenden Effekten, doch sich der Musik voll bewusst zu werden und dies umzusetzen, gelingt den Wenigsten.

David Grimal setzt mit seinem Orchester Les Dissonances auch auf die Magie des Moments. Dadurch entstehen überwältigende Gegenwartsaufnahmen, die mit viel Hingabe und spürbarer Übertragung an glühendem Gefühl dargeboten werden. Düstere Passagen brodeln direkt voll von Feuer und Energie, die großen Steigerungen begehren in höchstem Maße auf und schießen förmlich nach oben, um sich zu entladen. Die düsteren Passagen sind hingegen neblig verhangen, geheimnisvoll und von einer unheimlichen Aura eingesäumt. Klar und transparent gibt sich zudem der Orchesterklang, so dass alle Stimmen hervortreten können und die dichte Polyphonie ihre volle Wirkung entfalten kann. Doch auch bei Grimal zerbricht die Form oft in einzelne Episoden, die zwar jede für sich herausgearbeitet wurden, doch keine zusammenhängende Korrelation spüren lassen. Woran liegt dies? Hauptsächlich spaltet es sich an den subtilen Übergängen auf, die Tempowechsel geraten stockend und werden äußerlich bemerkbar, der Fluss somit unterbrochen. Des Weiteren schwankt auch innerhalb der Abschnitte das Tempo teilweise sehr, drängt gerne einmal nach vorne, die punktierte Rhythmik verstolpert als Folge dessen. Ebenfalls zu nennen ist die Phrasierung, die nicht den umfassenden Bogen spannt, den sie benötigt, um über lange knapp besetzte Passagen zu tragen, sondern sich zu sehr momentverliebt gibt. Hinzu käme das Verständnis über die harmonischen Modulationen – bei Schostakowitsch selbstredend eine an die Grenzen des Korrelierbaren reichende Aufgabe -, mit welchem bezwingend über weit verzweigte Strecken disponiert werden kann (von Celibidache unnachahmbar verwirklicht), was aber auch hemmend wirken kann, sofern die Harmoniechangierungen nicht verstanden werden. Im zweiten Satz neigt Grimal zudem dazu, die Dissonanzen zu verharmlosen, und nimmt somit dem ersten Teil die düstere Doppelbödigkeit, mithin auch den Kontrast zum verspielt scherzenden zweiten Teil.

Der Solopart in dem ersten, Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch gewidmeten Cellokonzert wird von Xavier Phillips übernommen, einem ehemaligen Schüler des Widmungsträgers. Er geht mit klarem und erstaunlich unprätentiösem Spiel die hochvirtuose Stimme an und überzeugt mit Feingefühl und einem angenehmen Cantabile, doch auch mit einer großen Obsession, wenn es an die von Wildheit geprägten Passagen geht. Schade, dass hier das Orchester etwas in den Hintergrund gedrängt ist und in der Abmischung dem Solisten nicht als gleichwertiger Widerpart zur Seite steht.

Zwar mag diese Aufnahme nicht durch vollendetes Formgefühl zu bestechen, doch weiß Grimal sehr wohl, den Zuhörer im Moment zu verzaubern und ihn in seinen Bann zu reißen. Viele Stellen meißelt er vorzüglich heraus und lässt eine atemberaubende Wirkung zu Tage treten, die die vorliegende von der Mehrzahl der unzähligen Aufnahmen dieser Stücke abhebt.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Eine ungarische Hochzeit

Nico Dostal – „Eine Ungarische Hochzeit“
Franz-Lehár-Orchester; Leitung: Marius Burkert
Aufnahme: 17-19.08. 2015, Bad Ischl

dieklangschmiede
cpo 77 974-2; EAN: 7 61203 79742 4

Nico Dostals Operette fiel aus der Zeit. Komponiert in den 1930ern, uraufgeführt 1939 in Stuttgart, blieb sie der Vergangenheit verhaftet – nein, versuchte die entschwundene Zeit vergeblich wiederzubeleben. Der damaligen Gegenwart entkoppelt.

Operette, einst ein Medium subversiver Gesellschafts- und Sozialkritik in ihrer Hoch-Zeit, die mit großzügigem Augenzwinkern viele Heucheleien und Verwerfungen der ausgehenden, dann ausgegangenen Kaiserzeit unter die (versöhnlich gefärbte) Lupe nahm – hier ist davon nichts mehr vorhanden.

Die Handlung kurzgefasst: Graf tauscht mit Lakai die Identität. Einfaches Mädel verliebt sich in den scheinbaren Grafen – falscher Lakai verliebt sich in standesgemäß adäquates Fräulein, die hadert, nun einen vermeintlichen Diener anzuschmachten, aber ihn gegen die Widrigkeiten aller Standesdünkel dennoch liebt. Am Ende – wen wundert es – geht es gut aus. Das klingt nach Operette, ist es aber nur bedingt. Denn, wie oben angedeutet, war dereinst Operette nicht nur ulkiges Amüsement, sondern auch subtil formulierte Gesellschafts-, ja fast auch: Systemkritik. Das Libretto der „Ungarischen Hochzeit“ bietet hierzu nichts an. Sie stellt ein sinnfreies Abspulen von harmlosen Verwechslungen, Missverständnissen und gutem Ausgang dar. Am Ende behauptet sich das Ideal eines ständisch geordneten, monogamen Glückes – und sogar von der Kaiserin Maria Theresia (Frau Dolores Schmidinger – als Sprechstimme eindrucksvoll und launig dargeboten) als göttlicher Stimme in aller Güte verordnet und abgesegnet.

So flach wie die Handlung – auch die Dramaturgie und Musik. Dostal vermag durchaus gefällige Linien zu schreiben. Kehlengerecht und schmiegsam. Wie aber der lässliche Text, so auch die Musik: kein einziger Schritt über das geziemende Maß hinaus – keine burlesken, geschweige: grotesken Momente. Kein Versuch, aus den vorhandenen erotischen Spannungen leidenschaftliche oder abgründige Momente zu gestalten, Situationen, die das Wohlgefühl gefährden könnten. Dostal riskiert und gewinnt auch nichts. Das eckt nicht an, reißt nicht mit – plätschert.

Er nützt das Kolorit des Ungarischen nur als Würze aus dem Streuer. Eine ernsthafte Beschäftigung mit den Klängen und musikalischen Valeurs Ungarns klänge anders. Im Gegenteil – streckenweise vergisst er den Anspruch, auf überall „Paprika“ zu rieseln – und dann sind wir plötzlich bei einer beliebigen Gefälligkeit, die so viel – zu viel in den von oben gewollten Nichtigkeiten späterer Ufa-Filme erklingen sollte.

Dieses Stück Musiktheater hatte damals keinen Bezug zu seiner Zeit – somit noch weniger heute zu unserer. Kein Verbrechen, es zu inszenieren und einzuspielen. Bei letzterem Vorhaben sei allerdings die Frage gestattet, weshalb?

Die Musik enträt fesselnder Momente – eines Ohrwurms, eines Schlagers – Momente, wo Musik und Handlung sich fügen zu einer (wenn auch nur angedeuteten) Entgrenzung.

Die vorliegende Aufnahme stellt dahingehend zufrieden, dass Handlung, Musik und deren Darstellung gut zusammenpassen. Hervorzuheben ist die sehr gute Textverständlichkeit, auch in den gesprochenen Partien.

Das Orchester macht alles richtig – allein die Leitung unter Marius Burkert verschenkt fast alles. Mit mehr Rubato, Gas-geben, Nachlassen, Wieder-anziehen, so wie man es von (meistens schlechten) „alla zingarese“-Darbietungen kennt, wäre doch etliches mehr an Attraktivität gewonnen gewesen. Auch das „Wenige“ gilt es ernst zu nehmen und mit Leidenschaft anzupacken. Take it for serious or leave it!

Blutleer – als ob das Ganze den Bohei eh‘ nicht wert gewesen sei. – also: con passione: Fehlanzeige, Herr Kapellmeister! Schade!

Die sängerischen Leistungen – achtbar.

Herausragend zu erwähnen: Frau Regina Riel als Janka, die in der Nummer 14, der Romanze, mit Leichtigkeit und schlankem, klarem Ton den einzigen Moment des Werkes, der etwas tiefer schürft, so tief, wie es die flache Musik erlaubt, sehr schön auszuloten weiß.

[Stefan Reik, Oktober 2016]

Kopf in den Wolken? Die Klaviermusik des Sergei Bortkievicz

Russian Piano Music Series – Volume 12: Sergei Bortkievicz – Klavier: Alfonso Soldano
Klaviersonate Nr. 2, Esquisses de Crimée, Lyrica Nova, Nocturne, Étude Op. 15, Drei Präludien
Label: divine art; Art.-Nr.: dda25142 / EAN: 0809730514227

In der Serie „Russian Piano Music“ veröffentlicht das Label „divine art“ nun ein Album mit Musik des Komponisten Sergei Bortkievicz. Dass Bortkievicz Ukrainer war und zudem ein äußerst untypischer Vertreter der Musikszene während der Sowjetzeit, verwirrt im Zusammenhang mit dem Erscheinen in der genannten Reihe. Interpretatorisch hat das Album dank des beherzten Einsatzes des Pianisten Alfonso Soldano für diese nicht unproblematische Musik jedoch sehr viel zu bieten.

Der Grat zwischen „Oh, das gefällt mir aber gut“ und „Ui, das gefällt mir aber gar nicht“ ist oft schmaler als man denkt. So geschehen bei mir hinsichtlich der Musik des hierzulande nur wenig bekannten Komponisten Sergei Bortkiewicz, der von 1877 bis 1952 lebte. Obwohl er den größten Teil seines schöpferischen Lebens im 20. Jahrhundert verbrachte, schrieb er Musik, die man vordergründig am Ehesten mit Komponisten wie Frédéric Chopin, John Field oder Mili Balakirev vergleichen könnte.

Bortkievicz studierte bei Anatoli Liadov, der (bei allem Respekt für Liadovs Musik, die ich sehr schätze) ein ebenfalls eher rückwärts gewandter Komponist war. Trotzdem mag man Bortkievicz, der überiegend Klaviermusik komponierte, kaum als Fortführung von Liadovs Stil einstufen, eher ging der Schüler noch einen Schritt weiter zurück als der Lehrer, und so gehen Bortkievicz zum Beispiel auch so ziemlich alle „Impressionismen“ ab, die immerhin Liadov (der 20 Jahre früher geboren wurde) auf seine späten Tage noch reichlich auslebte.
Bortkieviczs Musik ist deshalb durchaus heikles Terrain: Spielt man ihn wie Chopin wäre es einfach falsch, denn Bortkievicz ist bei aller Rückwärtsgewandtheit doch ein Komponist, der einen anderen Rückblick auf die Musikgeschichte hatte. Er ist, was die Mittel des Komponierens für das Klavier angeht, zweifellos auf der Höhe seiner Zeit und bedient sich immer wieder Effekten, die etwa auch bei Rachmaninov oder Prokofiev zu hören sind. Spielt man ihn aber wie Rachmaninov, so würde man die bemerkenswerte Historizität von Bortkieviczs Musik unter den Tisch kehren, denn auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Rachmaninov war ein moderner Komponist, in seinen Ansätzen viel moderner, als man auf den ersten „Blick“ hört.

Nun ist eine CD erschienen, die einen quasi idealen Mittelweg findet und eine Interpretation vorlegt, bei der Bortkieviczs Musik auf optimale Art und Weise zum Zuge kommt. Zu verdanken ist dies dem Pianisten Alfonso Soldano, der diese Musik mit so viel Hingabe und Herzblut spielt, dass man gar nicht anders kann, als bezaubert zu sein. Soldano ist zudem ein Pianist, der spieltechnisch völlig souverän agiert und überhaupt gar keine Probleme bei der Ausführung dieser über weite Strecken hoch virtuosen Musik hat. Die geradezu herzerwärmende Emotionalität, die Soldano in seine Interpretation legt, ist einfach entwaffnend. Zudem stellt Soldano Bortkievicz genau als den dar, der er ist: Als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der aber womöglich gern 80 Jahre früher geboren worden wäre. Ein bemerkenswert schöner Klavierklang in einer makellosen Aufnahmetechnik tut sein Übriges dazu, dass diese CD als eine Referenz in Sachen Bortkievicz durchgehen kann. Ich würde sagen, sie schlägt so ziemlich alles andere, was ich von diesem Komponisten bislang von anderen Pianistinnen und Pianisten auf anderen Labels gehört habe (denn live hört man Bortkieviczs Musik ja praktisch überhaupt nicht).

Ein Satz zum Schluss: Leicht irritierend ist es, dass diese CD in der Reihe „Russian Piano Music“ des Labels „divine art“ erscheint. Ist Bortkievicz nicht in der Ukraine geboren? Hört man sich seine Musik an, so ist der Einfluss Liadovs zwar spürbar, aber ansonsten sind kaum Rückgriffe auf die große russische Schule zu hören. Teilweise nimmt der Komponist sogar klipp und klar Bezug auf die deutsche Tradition: Bach, Beethoven, Schumann, Brahms. Vor allem aber scheint er Chopin- und Field-Bewunderer gewesen zu sein. Deshalb ist es zumindest irreführend, ihn in dieser Serie zu bringen, zumal er nicht einmal besonders typisch für die sowjetische Klaviermusik ist. Sein Stil wirkt hingegen eher wie ein Eskapismus aus dem sowjetisch-russischen Musikzwang. Bortkieviczs Musik ist schwelgerisch, verträumt, ganz und gar überirdisch und überhaupt nicht lebensnah.

[Grete Catus, September 2016]

Singe, wem Gesang gegeben…

Hans Koessler (1853-1926): Chorwerke
Cantabile Regensburg; Matthias Beckert

Helbling HI-C7937CD
9 783990 355251

Schon oft erwähnt: Einer der großen Vorzüge des Mediums CD ist die überaus große Bereicherung des Repertoires seit Jahrzehnten. Von Musikern bekommen wir zu hören, die oft der Vergessenheit oder der Ignoranz zum Opfer fielen, gäbe es nicht immer wieder neue Entdeckungen, für die man den Firmen stets aufs Neue Dank sagen muss.

So auch für diese CD mit Werken eines mir bis dato unbekannten Komponisten namens Hans Koessler (1853-1926), des Begründers der großen ungarischen Schule, aus welcher in nächster Generation Dohnányi, Bartók, Kodály, Leo Weiner, Fritz Reiner und Lajtha hervorgehen sollten, und aus deren Budapester Schule wiederum die prägenden Dirigenten Szell, Dorati, Fricsay, Solti, Kertesz usw. Die große ungarische Schule, geboren aus der Tätigkeit eines einzigen Mannes. Auch wenn ich selber jahrelang in verschiedensten Chören gesungen habe, selber Chorleiter bin, war mir dieser Herr bisher nicht geläufig. Was ein Fehler ist, wie diese CD mit dem Regensburger Chor Cantabile unter seinem Dirigenten Matthias Beckert beweist. Denn die Werke, die wir zu hören bekommen, sind Chormusik vom Feinsten.  Dazu gibt das sehr umfassende Booklet Auskunft über einen Musiker, der – entfernter Cousin von Max Reger und wie dieser in der Oberpfalz geboren – sein Glück machte, als ihn Franz Liszt 1882 nach Budapest an die ungarische  Landesmusik-Akademie berief. Dort wurde er der prägende Lehrer in der Nachfolge seines sächsischen Vorgängers Robert Volkmann (1815-1883).

Koessler selbst hielt sich und seine Kompositionen möglichst im Hintergrund, bis die Musikverlage auf ihn aufmerksam wurden und er den durchaus verdienten Ruhm empfangen konnte. Wenn er auch alles andere als ein Neutöner war – Brahms beehrte ihn mit seiner Freundschaft –, so zeugt seine Musik von absoluter Meisterschaft und ist eine wunderbare Bereicherung des Chor-Repertoires in der Nachfolge Brahms’. Seien es  seine neun Lieder nach Texten von Goethe und anderen, seien es seine drei ernsten Chöre oder seine geistlichen Chorwerke und auch die altdeutschen Minnelieder, alles ist meisterlich komponiert und ebenso meisterlich vom Chor Cantabile gesungen. Die Palette reicht dabei vom durchaus kraftvollen Fortissimo bis zum kaum hörbaren – aber eben umso intensiver erlebten – Pianissimo, das Matthias Beckert – seines Zeichens Professor in Würzburg und Hannover – „seinem“ Chor ermöglicht. Der Klang bleibt immer offen, was für mich ein Zeichen ist, dass eben nicht gesungen wird „wie ein Mann“, sondern das Erleben und Gestalten der Musik im Vordergrund steht.

Dass im Booklet alles Informative samt den Liedtexten auf Deutsch, Englisch oder auch auf Lateinisch abgedruckt ist, zeigt, wie wohl durchdacht und überlegt diese CD gestaltet wurde. Der Helbling-Verlag im schwäbischen Esslingen hat übrigens einiges davon auch in Noten neu herausgegeben und veröffentlicht seine CDs in Zusammenhang mit diesen sehr empfehlenswerten Notendrucken.

Eine bedingungslose Empfehlung ist die verdiente Folge solcher Aktivitäten!

[Ulrich Hermann, September 2016]