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Von Einem besonderen Jubilar

Am heutigen Tage wäre der österreichische Komponist Gottfried von Einem 100 Jahre alt geworden. Obgleich als einer der führenden Komponisten Österreichs aus der Nachkriegszeit geltend, stand er vor allem in späten Jahren auch stets im Kreuzfeuer der Kritik. Der Vorwurf des Traditionalimus wider das lineare Fortschrittsdenken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält sich mancherorts bis heute, und zuletzt wurden absurde Unterstellungen laut, er sei ein Nazi-Sympathisant gewesen. Er, der sein eigenes Leben riskierend einem jüdischen Musiker falsche Papiere verschaffte und damit dessen Leben rettete! Gestützt durch die aktuelle Biographie von Joachim Reiber (zu letzterem siehe die Rezension von Annabelle Leskov) wurden Tagebuchdetails aus der Jugend hochstilisiert und in beschämender Weise rufschädigend eingesetzt. Vergessen wird darüber dann nicht nur sein eleganter und tiefgründiger Stil, seine Reflexion alter wie neuer Musik und seine feurige Persönlichkeit, die durch die Zeugnisse langjähriger Freunde und Kollegen in vieler Hinsicht untermauert wird.

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Am 24. Januar 1918 ist Gottfried von Einem als Sohn von Gerta-Luise und (vermeintlich) General William von Einem in Bern zur Welt gekommen. Später erst sollte er erfahren, dass sein leiblicher Vater László Hunyady war, ein ungarischer Graf, welcher 1927 in Ägypten bei der Löwenjagd ums Leben kam. Anstelle seiner meist abwesenden Eltern wurde Gottfried von Einem vom Hauspersonal erzogen, mit seinen beiden Brüdern im Luxus eines gewaltigen Familienanwesens in Schleswig-Holstein unterwiesen, und erhielt dort auch ersten Klavierunterricht. Zur Ausbildung ging er nach Berlin, wo er bei der Aufnahmeprüfung von Heinz Tiessen als Dilettant abgelehnt wurde, doch schließlich privat bei Boris Blacher Anschluss fand. Blacher zählte wie Tiessen zu den angesehensten Lehrern der Zeit und verhalf zahlreichen Größen der kommenden zwei Generationen in all ihrer stilistischen und menschlichen Vielfalt zum Erblühen. Wie nur wenige andere Lehrer wussten sowohl Blacher als auch Tiessen, die Individualität ihrer Schüler zu wahren und aus dem Vorhandenen das Beste herauszumeißeln und zu -schleifen. Blacher urteilte über von Einem, er habe schon in seinen ersten Noten alles gehabt, was seinen späteren Individualstil ausmachen sollte. Nach den Privatstunden bei Blacher absolvierte von Einem noch ein kurzes Studium der Kontrapunktik bei Johann Nepomuk David. Zur Zeit seiner Ausbildung war die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland alles dominierend. Dass Gottfried von Einem sich nie aktiv gegen die Nazi-Herrschaft wandte und gewisse Kontakte für sich und andere nutzte, lässt sich natürlich von uns Heutigen leicht monieren, zumal wenn man ausblendet, was er im Verborgenen an Positivem bewirkte. Nach dem Kriege lebte Gottfried von Einem zunächst in Salzburg, dann in Wien und auf dem österreichischen Lande, und unterrichtete ab 1963 an der Wiener Musikhochschule, wovon er sich allerdings bereits 1972 zurückzog und seine letzten 24 Lebensjahre fast ausschließlich dem Komponieren widmete. Der internationale Erfolg setzte gleich nach dem Kriege ein, 1947 war seine Oper Dantons Tod op. 6 die erste – triumphal aufgenommene – Opernuraufführung der Salzburger Festspiele, und sie ist bis heute sein bekanntestes Werk geblieben. Das Libretto des nach Georg Büchner konzipierten Werks stammt von Boris Blacher. Im Nachhinein sollte von Einem durch diesen Erfolg zum Opernkomponisten abgestempelt werden, und sieben großteils sehr erfolgreiche Folgewerke bestätigen dies. Gegen diese einseitige Zuordnung spricht allerdings eine gewaltige Zahl groß angelegter Instrumentalwerke wie Solokonzerte, Kantaten, Streichquartette, Lieder und nicht zuletzt vier Symphonien und andere Orchesterwerke. Von Einem war nicht weniger Instrumentalkomponist als Schöpfer von Bühnenmusik.

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Der Stil Gottfried von Einems beruht auf tonalen Strukturen und liebt die sehr individuell abgewandelten klassischen Großformen. Dies heißt allerdings keineswegs, von Einem sei rückwärtsgewandt gewesen, sein ureigener Stil fesselt fortwährend mit überraschenden Wendungen und unerhörten Klängen. Die permanente Dissonanzbildung und Dodekaphonie hat er zwar studiert, verweigerte diesen ‚Qualen’ jedoch (stets zu integrierbaren Ausnahmen bereit) den Einzug in sein Schaffen. Bezeichnend ist von Einems subtiler Umgang mit Chromatik, welche im Gegensatz zu unzähligen Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts bei ihm ausnahmslos nicht die Gesetzmäßigkeiten der Spannung aufweicht und verschwimmen lässt, sondern stets überraschend bereichert und erweitert. Sein ausgereifter Kontrapunkt ist nicht weniger charakteristisch, besonders pur in seinen Streichquartetten zu bewundern. Jedes Instrument kann jederzeit die Führung übernehmen und sich ebenso schnell wieder in den Hintergrund zurückziehen, von Einem spielt mit Einsätzen und Führungspositionen so frei wie ungezwungen. Traditionelle „harmonische“ Klänge stehen dabei neben grellen Reibungen und effektvollem Ausbrechen, das jedoch nie die Grenzen des Korrelierbaren überschreitet, sondern immer in einem spannungsvoll mitverfolgbaren Kontext steht. Unerschöpfliche Varianten des Rhythmus, gepaart mit leichtfüßiger Eleganz, verleihen seinen Werken Schwung und treibende Kraft, bezaubernd ist sein Einsatz von Pausenelementen und der Ruhe als Gegenpol zur Bewegtheit. Gottfried von Einem ist ein stets unverkennbares und unabhängiges künstlerisches Individuum des 20. Jahrhunderts, das sich keinen ästhetischen Mehrheitsdoktrinen beugte und unbeirrt seinem unvorhersehbaren Weg folgte. Nicht nur als Opernkomponist, sondern auch – und vielleicht vor allem – als Instrumentalmusikschöpfer hinterlässt er uns nach seinem Tod 1996 ein substanzielles Œuvre, das zu studieren, zu spielen und zu hören für alle lohnt und dabei tiefe Einblicke jenseits rationaler Ergründbarkeit in eine wahrhaftige Persönlichkeit gewährt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Copyright der Fotoquellen: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Anlässlich dieses Artikel gehörte CDs der Musik Gottfried von Einems:
– Klavierkonzert, Medusa-Suite, Wandlungen, Nachtstück [Orfeo C 764 091 A]
– Streichquartette Nr. 1-5 [Orfeo C 098 101 A und C 098 201 A]
– Philadelphia Symphony, Geistliche Sonate, Stundenlied [Orfeo C 929 181 A]
– Dantons Tod

Das 19. Jahrhundert auf der Bratsche

Naxos, 8.573730; EAN: 7 47313 37307 9

„Romantic Viola Sonatas“ führt uns ein in das vielfältige Repertoire für Bratsche in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hiyoli Togawa und Lilit Grigoryan spielen die Sonate Op. 16/1 von George Onslow, ursprünglich für Klavier und Violoncello geschrieben, in der Viola-Fassung,sowie als Originalwerke die Sonate c-Moll von Felix Mendelssohn Bartholdy und die Sechs Nocturnes Op. 186 von Johann Wenzel Kalliwoda.

Bis ins 20. Jahrhundert hinein konnte sich die Bratsche, wie im Übrigen auch der Kontrabass, nicht als großes Soloinstrument durchsetzen. Neben der Gefahr, dieses vor allem in der Mittellage beheimatete Instrument allzu leicht durch andere Orchesterstimmen zu überdecken, ist es auch die abgerundete Weichheit der Bratsche, die für solistische Höhenflüge vielen ungeeigneter erschien als die kantigere, leuchtendere Geigenstimme oder das prägnant-sonore Violoncello. Wohl doch ein vorschnelles Fehlurteil, wie die vorliegende CD beweist. Drei grundverschiedene Werke der 1820er- und 1850er-Jahre zeigen, welch großes Spektrum an Möglichkeiten der Bratsche innewohnt und wie vielseitig sich ihr zarter Klang doch einsetzen lässt.

Der französische Komponist George Onslow, der neben Dusik (Dussek) und Cramer auch Anton Reicha zu seinen Lehrern zählen durfte, entwickelte sich auf den Bahnen Haydns und Beethovens weiter, spezialisierte sich als einer der wenigen Franzosen seiner Epoche auf die Kammermusik und schuf denkwürdige Werke, die als Anachronismus im Angesicht des Fortschrittsdenkens des 19. Jahrhunderts nach anfänglich großen Erfolgen schnell ins Hintertreffen gerieten. Die drei Sonaten Op. 16 waren ursprünglich für Klavier und Violoncello gesetzt, wobei die Reihenfolge maßgeblich ist, ist doch das Klavier – wie auch in etlichen Werken Beethovens und noch mehr Johann Nepomuk Hummels – zumindest gleichberechtigt, wenn nicht gar überwiegend führend, eingesetzt.

Felix Mendelssohn Bartholdys Violasonate ist wie zahlreiche seiner „Jugendwerke“ nahezu vergessen. Er komponierte sie 1824 mit gerade einmal 15 Jahren. Dabei ist sie bereits in ausgereiftem und geschliffenem Personalstil geschrieben und begeistert mit ihrer Inspiration, Anmut, Tiefe und Reife. Ebenso wie für seine Streichersymphonien und die frühen Instrumentalkonzerte ist ihre allgemeine Bekanntheit im Konzertsaal überfällig. Überragend gestaltet ist vor allem der finale Variationssatz, ganz im Zeichen Mozarts (vgl. z.B. dessen A-Dur-Sonate für Klavier), der das Thema subtil und mitverfolgbar entwickelt und dem Klavier über weite Strecken solistisch den Vortritt lässt. Mitreißend sind aber auch der brodelnd kompakte Kopfsatz mit kurzer, aber darum nicht minder intensiver Einleitung, und das Menuetto, ein Scherzocharakter von großem rhythmischen Reiz und treibender Energie.

Wie auch bei Onslow dörrte der zunächst blühende Erfolg Johann Wenzel Kalliwodas in der progressiveren Umgebung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich aus, lediglich einige leichte, salontaugliche Werke aus seinem über 250 Werke umfassenden Oeuvre blieben im Repertoire. Als überragender Violinist international gefragt, blieb Kalliwoda seinem Schirmherren und Fürsten Karl Egon II. in Donaueschingen treu und ließ die Stadt musikalisch aufblühen, veranlasste unter anderem die beiden Schumanns und Liszt zu längeren Besuchen. Die sechs Nocturnes sind mit durchschnittlich vier Minuten recht kurze, wunderbar ausbalancierte und feingliedrige Werke voll hinreißender Melodien auf einfachsten Formmustern und bezeugen, welche Meisterschaft aus Tonleiter- und Dreiklangsfiguren auch nach Beethoven gewonnen werden kann.

Einfühlsames Spüren macht die Darbietung von Hiyoli Togawa und Lilit Grigoryan vor allem aus. Die Musikerinnen lassen sich auf die grundverschiedenen Welten ein und erlauschen aufmerksam die spezifischen Gegebenheiten. Formal halten sie selbst das lange Mendelssohn-Finale trotz kleiner Temposchwankungen ordentlich zusammen, lassen den Zuhörer die kadenzierenden Kräfte mitempfinden und bezaubern mit feiner Abstimmung ihrer Instrumente. Hiyoli Togawa bringt ihre Bratsche förmlich zum Leuchten und entlockt ihr zarte, drängende und aufbrausende Töne in deren grundeigener Charakteristik. Lilit Grigoryan fliegt geschmeidig über die Tasten, bleibt glasklar in der Tongebung und hält sich vor allem in der Mittellage zurück, so dass Frau Togawa sich voll entfalten kann. Rundum ergiebig ist auch der ausgesprochen kenntnisreiche und effizient komprimierte Booklettext.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Anhaltende Kälte

Chandos, CHSA 5186; EAN: 0 95115 51862 5

Sir Andrew Davis dirigiert das Bergen Philharmonic Orchestra, den Bergen Philharmonic Choir und den Edvard Grieg Kor in einem Programm des Komponisten Ralph Vaughan Williams. Die Siebte Symphonie, Sinfonia Antartica, mit der Solistin Mari Eriksmoen eröffnet die CD. Darauf folgen die Vier letzten Lieder des Engländers in einer Orchestration von Anthony Payne mit dem Bariton Roderick Williams. Zuletzt ist das Klavierkonzert in der Version für zwei Klaviere und Orchester vom Komponisten und Joseph Cooper zu hören, Solisten sind Hélène Mercier und Louis Lortie.

Orchestermusik von Ralph Vaughan Willians ist oft kolossal und ausschweifend, pittoresk und effektvoll. So auch seine Sinfonia Antartica, nach langläufiger Zählung seine Siebte Symphonie. Ausgiebig hören wir antarktische Winde, sehen nicht enden wollende Weiten und fühlen uns geradezu in die Kälte hineingezogen. Es liegt viel Reiz in diesen umfangreichen Stimmungsbildern, wie sie Vaughan Williams in zahlreichen seiner großen Werke massiv instrumentiert präsentiert. Doch treten sie auch gerne einmal auf der Stelle, nur ungern löst sich der Komponist von den beschworenen Emotionen, sobald er sie einmal entfacht hat. Es scheint des öfteren, man müsse die Musik vorantragen, damit sich Neues tut – in konkretem Beispiel ja vielleicht sogar gewollt, denn wer friert schon gerne über 40 Minuten in eisigen Kälten und hofft dabei nicht zugleich, dass doch einmal die Wärme hervorkommt? Im früher entstandenen Klavierkonzert herrscht ebenfalls teils gewisses Auf-der-Stelle-Trappeln, bevor die Fuga chromatica con Finale alla Tedesca den Schmiss und Witz beweist, den Vaughan Williams eben auch haben kann, sofern er denn möchte. Es sind meist die kürzeren Werke, die mit Prägnanz und erlebend mitvollziehbarer Geschlossenheit bestechen, was besonders seinem Liedwerk Bedeutung verleiht. Die vier letzten Lieder, feinfühlig und Vaughan Williams’ Instrumentationskunst nahe stehend arrangiert von Anthony Payne, legen offen, wie viel Liebe zum Detail und unverfälschte Natürlichkeit dieser Komponist hervorbringt, wo er nicht im Pathos schwelgen will.

Die mitwirkenden Musiker agieren musikalisch und inspiriert. Sir Andrew Davis betont den für Vaughan Williams unentbehrlichen Effekt und Fokus auf den erregenden Moment, das Orchester folgt voluminös, präzise und stimmungsvoll. Die beiden Chöre strahlen eine herrliche innere Ruhe und Bodenständigkeit aus, bringen gemeinsam mit der Solistin Mari Eriksmoen den Klang aus der Tiefe heraus zum Entstehen. Roderick Williams erweist sich als feinfühliger und narrativer Bariton mit frischem Tonfall und abgeklärter Innigkeit. Nicht prätentiös hochtrabend, sondern zurückhaltend und gelassen gehen Hélène Mercier und Louis Lortie im Klavierkonzert ans Werk und verschmelzen mit dem Orchester zu einer geschmeidigen Einheit.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Aus dem Leben eines Bettlers – Masha Dimitrieva über Gordon Sherwood

 

Die russische Pianistin Masha Dimitrieva ist Pionierin der Erschließung der Werke von Gordon Sherwood, ihr ist auch sein Klavierkonzert gewidmet. Oliver Fraenzke traf sie zum Interview.

 

Gordon Sherwood ist nach wie vor ein vollkommen unbekannter Komponist, der nie nach Ruhm suchte und dessen Musik meist nur seinen Freunden bekannt war. Sie gelten als Entdeckerin seiner Musik, Frau Dimitrieva, und sind die Erste, die sie im großen Rahmen aufgeführt und auf CD eingespielt hat. Aber wie wurden Sie auf ihn aufmerksam und lernten ihn kennen? In einem kurzen Videoausschnitt auf der Homepage www.gordonsherwood.de heißt es während der Arbeit an seinem Klavierkonzert, dass auch Sie zu dem Zeitpunkt des Kennenlernens erst seit kurzem in Deutschland waren. Wo standen Sie zu dieser Zeit, wie gelangten Sie nach Deutschland und wie weit waren Sie damals auf Ihrem Weg zur Musik?

Nach dem Abschluss am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium im Jahr 1991 kam ich Anfang 1992 nach Hannover für ein weiteres Studium an der Hochschule für Musik und Theater, wo ich bei Prof. David Wild die Meisterklasse besuchte. Als großartiger englischer Pianist und Komponist war er derjenige, der mich mit modernen, zeitgenössischen westlichen  Werken wie etwa von György Ligeti, Hans Werner Henze oder Helmut Lachenmann vertraut machte und dadurch auch meinen musikalischen Horizont erweiterte.

Während meiner Studienzeit am Tschaikowsky-Konservatorium in der damaligen Sowjetunion waren in der Sparte der modernen Musik meistens nur russische Komponisten vertreten, so zum Beispiel: Georgi Swiridow, Mieczyslaw Weinberg, Galina Ustwolskaja oder auch Sofia Gubaidulina, um einige Namen zu nennen.

Noch am Konservatorium hatte ich das Glück, der großen Sofia Gubaidulina ihre ‚Chaconne’ für Klavier vorzuspielen und daraufhin ihre Bemerkungen und Korrekturen zu bekommen. Dies machte mich neugierig auf weitere Begegnungen mit Komponisten und die Möglichkeit, gemeinsam an ihren Werken zu arbeiten. Ich habe mich mit Begeisterung auf das moderne und teilweise unbekannte musikalischen Terrain „gestürzt“, um mich dann später meinem künstlerischen Credo, „Unbekanntes bekannt zu machen“, zu widmen…

Erst ungefähr vier Jahre war ich in Deutschland, als ich zufällig auf Arte den Film „Bettler in Paris“ (von Heiner Sylvester und Erdmann Wingert) über den amerikanischen Komponisten Gordon Sherwood gesehen habe. Die Geschichte und die Musik dieses ungewöhnlichen Mannes haben mich sehr beeindruckt. Ich wollte und musste ihn unbedingt kennenlernen. Also habe ich bei der Fernsehstation angerufen und nach Sherwoods Adresse gefragt. Sherwood hatte keine Adresse hinterlassen, dafür aber viele Telefonnummern von seinen Freunden, die über die ganze Welt verteilt waren. So konnte man ihn ausfindig machen. Über einen Freund, der Musiker in Paris war, habe ich Gordon Sherwood gefunden, der sich zur dieser Zeit in Frankreich befand. Telefonisch habe ich mich Sherwood vorgestellt und ihn zu mir nach Bremen eingeladen. Nach einiger Zeit kam er mich tatsächlich besuchen …

Unsere Begegnung war von Anfang an sehr intensiv. Als er zu mir nach Hause kam, bat er mich gleich nach der kurzen Begrüßung, ihm etwas vorzuspielen; es war etwa 10:30 Uhr morgens. Nach dem ersten Stück wollte er immer weitere Stücke aus meinem Repertoire hören, angefangen mit Sonaten von Domenico Scarlatti bis hin zu den späteren Werken von Alexander Scriabin. Wenn Gordon ein Werk nicht kannte, verlangte er nach den Noten, um das Werk zu studieren und um die kompositorischen Einfälle des Komponisten zu verinnerlichen. Nach diesem ‚Vorspielen’ kam es zu Diskussionen über die Entwicklung der Musik und seine Zielsetzung, in allen Stilen und Formen komponieren zu wollen. Um etwa 21:00 Uhr beendeten wir diesen außergewöhnlichen ‚Musikmarathon’. Damals schon 67 Jahre alt, kannte dieser Mann scheinbar keine Müdigkeit und Zeit, wenn es um Musik ging.

„Das Leben ist viel zu kurz und man kann und sollte in dieser Zeit so viel lernen wie möglich“, ist Gordon Sherwoods Motto gewesen.

Und noch etwas anderes war ihm wichtig – es war Gordons besondere Art, den Musiker und den Menschen, der dahinter steckt, kennen zu lernen. Er war immer neugierig: auf die Musik, auf die Menschen, die Länder und verschiedenen musikalischen Traditionen; er war offen für Neues, immer bereit, zu lernen, um schließlich all diese Eindrücke in sein Werk zu integrieren.

Als ein Mensch der Extrema wird Sherwood ja gerne bezeichnet, der feste Anstellungen trotz guter Bezahlung ausschlug, der sich zeitweise gar als Bettler verdingte und nachts komponierte, der als Buddhist und Veganer (noch bevor es wie heute zum regelrechten Trend wurde) die Welt bereiste und bei all dem an seiner Kunst feilte. So etwas prägt einen Menschen ja grundsätzlich in seinen menschlichen Intentionen und Ansichten, es erhöht den Fokus auf bestimmte Aspekte. Wie war Sherwood als Mensch? Was waren seine Ziele, musikalisch wie außermusikalisch? Was war ihm wichtig und was zeichnete ihn aus?

Gordon Sherwood war ein umtriebiger, umhertreibender Freigeist, der die Neugierde fürs Leben bis in seine letzten Jahre nicht verlor. Sein fast unstillbarer Wissens- und Erkenntnisdurst haben ihn als Wanderer über ganzen den Globus und durch unterschiedlichste Kulturen geführt. Diese Erfahrung diente einer stetigen musikalischen Weiterentwicklung, was sich spürbar in seiner stilistisch so unterschiedlichen Musik erkennen lässt. Man kann sagen, dass Sherwood musikalisch die Welt „umarmte“,  die Welt mit ihrem gesamten Reichtum an Klängen und Eindrücken. Sein Herz und Geist, seine kompositorischen Gefühle und Gedanken waren immer auf der Suche nach neuen Impulsen, um diese dann mit den klassischen Formen zu vereinen. „Die neuen Gedanken und Einfälle muss ich sofort notieren. Deshalb sind viele meiner Stücke noch unvollendet. Das macht mich ganz nervös. Wenn ich 200 Jahre leben könnte, dann könnte ich vielleicht alle meine Ideen verwirklichen“, sagte Gordon Sherwood oft. Tatsächlich liegen manchmal einige Jahre zwischen der ersten Idee und der Ausführung einer Komposition. Viele seine Gedanken ruhten Jahre, bis sie irgendwann wieder von ihm aufgenommen wurden. So war es auch mit dem Klavierkonzert op. 107, welches Gordon Sherwood mir gewidmet hat. Die Entwürfe für das Klavierkonzert entstanden in den späten 1950er Jahren. Erst in den 1990ern – kurz nach unserer ersten Begegnung – vollendete er das Konzert. Die klassische Form in drei Sätzen ist voll von harmonischem Reichtum und technischen Schwierigkeiten, für den Solisten wie auch für das Orchester. Gordon pflegte über das Konzert zu sagen, es sei eine „Schlacht“ zwischen Solist und Orchester. Die Arbeit an dem Klavierkonzert mit dem Komponisten und Menschen Sherwood war für mich extrem interessant und lehrreich. Gordon begann jeden Morgen um 7 Uhr zu komponieren, später ging er mit mir durch das Komponierte. Die Musik und die Sätze hatte er schon vollständig im Kopf, worauf er sie mit seiner kalligrafischen Handschrift rein niederschrieb. Nach dem Vorspielen hat er die nötigen Korrekturen in die Partitur eingetragen. Das Klavierkonzert ist reich an großen dramatischen Spannungen, Höhepunkten und düsteren Momenten, die dann schließlich durch eine Steigerung aufgelöst werden. Höchste Priorität hatte für Gordon beim Komponieren dieses Stückes die Schönheit der Musik.

Er hatte viele Freunde und Förderer, verteilt über die ganze Welt, die nicht nur seine Musik, sondern auch den Menschen Gordon Sherwood sehr geschätzt haben. Selber habe ich ihn als sehr umgänglichen, höflichen, aber auch zielstrebigen Mann erlebt, der an den langen Abenden bei mir zu Hause bei veganem Essen und einem Gläschen gutem Wein von seinen hochinteressanten Reisen erzählte oder über die Musik diskutierte. Sein Leben war voll von Abenteuern, die manchmal auch sehr brutal waren. Jedoch hat er den Optimismus bis zu seinem Tod nicht verloren, die Liebe zur Musik hat ihm immer die nötige Kraft gegeben. „Musik war für mich seit jeher ein Elixier für meinen Geist. Ich kann daran am besten meine Sehnsucht nach Schönheit und meine Abscheu vor Krankheit und Krieg ausdrücken. Aber Musik ist das eine, das andere ist Sprache, und es gibt eigentlich keine Worte, um die Wirkung, die Musik auf mich hat, zu beschreiben“…

Es existiert eine Biografie, die Sherwood selber verfasst hat und die ca. 1000 Seiten zählt, wo er sein – nicht immer leichtes – Leben an den verschiedensten Orten dieser Erde beschreibt. Die Kriterien seines Lebens und Werkes standen stets in einem Gegensatz zur ‚normalen’ bürgerlichen Welt. Unabhängigkeit und Freiheit, Flucht aus allen sozialen Bindungen und Verpflichtungen waren neben der Musik die wichtigsten Merkmale seines Handelns.

Als junger Mann gewann er den Gershwin-Wettbewerb, den renommiertesten Komponistenwettbewerb in den USA. Am Anfang einer großen Karriere stehend, kehrte er plötzlich dem verhassten Kulturbetrieb den Rücken und entschied sich für ein Nomadenleben. Er lebte im Libanon, in Ägypten, Israel, Griechenland, Kenia, Costa Rica, China – um einige seine Stationen zu nennen. Wenn das Geld ausging, ging er nach Paris, um ein paar Jahre als Bettler Geld für die Reisen zu sammeln. Das nannte er „Self-Sponsoring“. Und dann verreiste er wieder… Überall auf der Welt fand er die Freunde und Förderer, die ihm eine Unterkunft und Unterstützung boten, damit er seine musikalischen Ideen auf das Papier bringen konnte…

Zentrales Thema für Sherwood war die Zeit. Seine Zeit war zu beschränkt, um die Neugier auf das Leben zu stillen.

„Ich hatte nie die Zeit, anderen Menschen nachzulaufen, Dirigenten zu suchen, um meine Werke aufführen zu lassen. Ich hatte nie die Zeit dafür, weil ich immer mit neuen Ideen beschäftigt war“, so Sherwood.

Seine Ausbildung genoss Gordon Sherwood bei zutiefst unterschiedlichen großen Lehrern: Aaron Copland, einer der Väter der modernen amerikanischen Musik; Philipp Jarnach – zwischen den beiden Weltkriegen einer der führenden Komponisten Deutschlands und als Mitglied der Novembergruppe mit einigen Größen der Zeit wie Kurt Weill, George Antheil, Max Butting, Hanns Eisler, Stefan Wolpe oder Heinz Tiessen (dem heute vergessenen Lehrer Celibidaches, der Tiessen nach eigenen Aussagen alles zu verdanken hatte) assoziiert; sowie Goffredo Petrassi, der nach Auseinandersetzungen mit dem Neoklassizismus und dem Serialismus einen vollkommen eigenen Stil schuf. Wie schlugen sich diese musikalischen Kontraste seiner Lehrjahre in seinem Werk nieder? Konnte er sie vereinen, und wenn ja, wie? Als weitere Einflüsse nannte Sherwood auch Schostakovitsch, Bartók sowie auch den Jazz und Blues – findet auch dies alles seinen Platz in Sherwoods Personalstil, und gilt gleiches für die Musik all der Länder, die Sherwood bereiste und erforschte?

Nach Nennung solch eines Stilpluralismus sei noch allgemein gefragt: Wie ist die Musik von Sherwood eigentlich, wie lässt sie sich beschreiben, was macht sie aus?

Das Œuvre Gordon Sherwoods ist sehr umfangreich. Sein Werkverzeichnis zählt ca. 143 Einträge. Sie umfassen Orchesterwerke, Opern, Kantaten, Chorwerke, sehr umfangreiche Kammermusik (Klaviermusik, Werke für verschiedene Streich- und  Blasinstrumente), Ballettmusik, religiöse Werke, Vokalmusik (über acht Zyklen mit eigenen Texten), Filmmusik und anderes.

Stilistisch sind die Kompositionen von seinen amerikanischen Vorbildern – Gershwin, Copland, aber auch Strawinsky, Bartók, Hindemith – beeinflusst. Einen charakteristischen Stil seiner Musik erwirkt die Verschmelzung des Klassischen mit indischen und arabischen Elementen, aber auch mit Elementen des Jazz.

Dies ergibt den äußerst charakteristischen Musikstil von Sherwood. Trotz komplexen Strukturen und dichter Stimmführungen, wie z. B. in seinen Orchesterwerken, hat seine Musik eine persönliche, unverkennbare Sprache, was auch dem ungeschulten Zuhörer den Zugang erleichtert. Seine Musik ist kraftvoll, sehr rhythmisch, polyphon, öfter aber gesanglich und melancholisch. Tiefsinn, Klang- und Ausdrucksvielfalt, Gefühlsstärke, Ideenreichtum und originelle Einfälle sind charakteristische Merkmale seiner Musik.

Sie sprachen von langen musikerfüllten Tagen voll spannender Konversationen über sein Schaffen, über den Einfluss von Musik anderer Komponisten sowie über seine Reisen – ebenso über die intensive Zusammenarbeit an seinem Klavierkonzert. Wie hat Sie Gordon Sherwood beeinflusst und inspiriert? Hat der Kontakt zu ihm Sie verändert, als Mensch wie als Musikerin?

Sicherlich hat mir die Freundschaft mit Gordon, sowohl im musikalischen als auch im menschlichen Sinne, viel gegeben.

Es mag vielleicht pathetisch klingen, aber seine große, fanatische und sehr ehrliche Liebe zur Musik hat mich in höchstem Maße beeindruckt und inspiriert.

Er war für mich wie ein brennendes, unglaublich ehrliches Energiebündel, das niemals müde wurde, wenn es um Musik ging. Er konnte die Leute, die ihm nahe standen, mit diesem Feuer regelrecht infizieren.

Wir Musiker lieben Musik, üben unseren Beruf mit Hingabe aus, aber wir machen auch Pausen, beschäftigen uns mit anderen, alltäglicheren und manchmal vergleichsweise regelrecht profanen Dingen. Gordon kannte das nicht. Er war sozusagen ein „absoluter Musikpriester“; sein Gott war die Musik, der er leidenschaftlich jede Minute seines ganzen Lebens widmete. Diese unendliche, brennende und mitreißende Kraft seiner Kreativität, ungeachtet all den Gegebenheiten, in denen er lebte, diese unstillbare Neugier auf das Neue, Unbekannte erloschen erst mit seinem Tod.

Ebenso hat mich sein Blick auf die Welt und auf die Menschen beeindruckt. Gordon mochte keine Kompromisse. Er war sehr sensibel und tiefgründig, was die verschiedenen menschlichen Charaktere anging. Er wäre niemals, auch nicht für ein besseres Engagement oder einen Vorteil für sich, auf einen Kompromiss mit jemandem eingegangen, den er nicht mochte oder respektierte. Die Menschen, die ihm begegneten, liebte oder hasste er; und die Freunde, die er hatte, waren ehrliche, ihn liebende Menschen.

  

Sherwood war wie bereits erwähnt Buddhist, aber dennoch schrieb er unzählige Werke mit dezidiert christlichem Bezug wie die Three Sacred Pieces Op. 35 oder die Bettlerkantate. Wie ist es zu erklären, dass Gordon Sherwood geistliche Musik für eine bestimmte Religion schreibt und doch einer anderen zugehört? Gibt es auch Werke für andere Religionen in seinem Schaffen? Und wie zeichnet sich das Sakrale in seiner Musik ab?

Gordon Sherwoods Verhältnis zu Gott war schwierig. Es gab in Gordons jungen Jahren eine christliche Phase, später bekannte er sich zum Buddhismus. Als ich ihn vor fast 20 Jahren kennenlernte, war er Atheist geworden.

Gordons Glaube war mehr ein Glaube an das Leben, an die Natur – wie beispielsweise zu erfahren in den „Five Pieces Depicting the Beauty of the Jaranda Trees“ Op. 63, in denen er die Schönheit der Natur, der Bäume und Blüten preist.

Seine Anschauung vom Buddhismus spiegelt sich in „Hare Krishna Finca Hare Krishna“ op. 95 wieder. Jedoch sollte man dieses Werk nicht als das Werk eines fromm Gläubigen betrachten, sondern mehr als ein Werk des Suchenden, Experimentierfreudigen, der neugierig auf die neuen Klangfarben war.

In der „Bettlerkantate“ op.99 gibt es nichts, was als sakral bezeichnet werdn könnte. Die Kantate ist eher eine „Dokumentation“ einer Periode seines Lebens, als er das benötigte Geld als Bettler in Paris beschaffte.

Den Text für die „Bettlerkantate“, wie auch die Texte für die vielen verschiedenen anderen Vokalwerke und Vokalzyklen, hat er übrigens selbst geschrieben.

Alle diese Werke wurden bis jetzt leider noch nicht uraufgeführt.

Was die Three Sacred Pieces op.35 betrifft – die waren sicherlich beeinflusst durch seine große Liebe zu Bach – man könnte sie als ein sakrales „Experiment“, ein unglaublich gelungenes und auch ehrliches „Experiment“ mit einer Musik, die eine Gänsehaut hinterlässt, bezeichnen.

Bis jetzt wurde aus diesem Zyklus nur das „Ave Maria“ aufgeführt.

Sehr bezeichnend erschien mir ein Zitat unter seinem Op. 50, „Boogie Canonicus. Nine Boogie-Woogie and Blues Pieces in Canon Form for Piano Solo“. Dort steht: „There are nine canons in Bach’s ‚Goldberg Variations‘. Beethoven wrote nine symphonies. There are nine known planets in the solar system so I’ve stopped here“. Zwei musikalische Bezüge werden hier einem physikalisch-astronomischen gegenübergestellt, um die Neunzahl zu begründen. Gibt es solche Assoziationen häufiger in Sherwoods Schaffen, und bezog er vielleicht gar auch im Alltag grundverschiedene Elemente aufeinander und kombinierte sie?

Gordon hatte einen Hang zu Zahlenmystik, wie übrigens einige andere Komponisten auch. Es existieren circa 20 Notizbücher, wo er die verschiedensten Zahlen und deren Bezüge zueinander erforscht hat. Da sind z. B. die Entfernungen von einer Stadt in die andere in Kilometern, Zeit und Geschwindigkeit aufgeführt; oder auch Taktzahlen seiner Werke, Geldbeträge, imaginäre Zeitausrechnungen etc. Gordon liebte die Welt der Zahlen, sie beschäftigte ihn. Die Zahlen bedeuten Ordnung, sie gaben ihm ein Gefühl von Ordnung in dem chaotischen, unsteten Leben, das er führte…

 

Sie sagten, Sherwood habe auf der ganzen Welt Freunde und Förderer gewonnen. Zum einen kommt mir da die Frage, wie hat er so etwas gemacht, wie konnte er als unbekannter ‚Bettler’ wichtige Freunde und Förderer gewinnen, was machte diese Begabung aus? Und zum anderen, wie konnte er trotz internationaler Anhängerschaft bis heute so komplett unetabliert bleiben?

Gordon Sherwood hat sich als „weltweit berühmtester aller unbekannten Komponisten“ bezeichnet.

Ein wichtiger Grund für seinen geringen Bekanntheitsgrad als Komponist lag in ihm selbst. Er hatte die besten Voraussetzungen für eine Karriere. Als junger Mann gewann er mehrere bedeutende Kompositionspreise und Förderungen, u. a. 1957 den erwähnten Ersten Preis des renommierten George Gershwin-Komponistenwettbewerbs, ein Fulbright-Stipendium für ein weiteres Studium in Deutschland. Sein damaliger Lehrer an der Hamburger Musikhochschule – Philipp Jarnach – bezeichnete ihn als talentiertesten und vielversprechendsten Komponisten, der seit 20 Jahren an der Musikhochschule ausgebildet wurde.

Gordon suchte keine Vorteile für sich, er wusste das alles für sich monetär und reputationsmäßig nicht zu nutzen und verweigerte all die Positionen, die ihm sein Talent eröffnet hatte. Gordon verachtete den Musikbetrieb; er passte in keinen ‚normalen’ Rahmen, weder als Komponist noch als Mensch, und wollte sich auch um nichts auf der Welt in einen solchen hinein fügen.

Und die Tatsache, keinen mächtigen Manager oder Impressario zu haben, der aus ihm einen großen Namen machen würde, hat ihm ein ganz anderes Leben bereitet. Anstatt des geregelten Musikbetriebs entschied er sich für ein abenteuerliches und unglaublich bewegtes Leben.

Seine kompromisslose Persönlichkeit war sehr eindrucksvoll, ja faszinierend. Diejenigen Menschen, die ihn getroffen haben, konnten ihn nicht so leicht vergessen.

Viele Musikerfreunde, die ihn und seine Musik unglaublich schätzten, haben versucht, nach ihren Möglichkeiten seinen Kompositionen ein öffentliches ‚Leben’ zu geben. Jedoch: ohne entsprechendes Management und PR-Vermarktung ist das gewiss eine eminent schwere Aufgabe.

Eine Aufgabe, die vielleicht nun nach seinem Ableben 2013 nachgeholt werden kann. Es ist wunderbar, zu sehen, dass sich exzellente Musiker wie Sie solch einem Meister widmen, der sich wohl auch für die Künstler weniger vermarkten lässt als beispielsweise eine Neueinspielung von Beethovensonaten. Es bleibt zu hoffen, dass der „Bekannteste der unbekannten Komponisten“ bald vielleicht schon der „unbekannteste der bekannten Komponisten“ sein wird. In diesem Sinne danke ich für das Gespräch und für Ihre Zeit.

 [Interview geführt von: Oliver Fraenzke, 2017]

Kommende Konzerttermine mit Musik Gordon Sherwoods und Masha Dimitrieva:
13.1.2018: München, Freies Musikzentrum
07.3.2018: München, Steinwayhaus

Eine Jahrhundertstimme

The Gift of Music, CCL CDG1291; EAN: 6 58592 12912 0

Auf der Anthologie „Anything Goes“ hören wir zwanzig Aufnahmen von Ella Fitzgerald aus dem 1950er-Jahren. Von Gershwin über Rodgers and Hart bis zu Porter und Ellington ist dies eine bunte Sammlung geläufiger Jazz-Hits. Die CD erschien bei The Gift of Music.

Sie ist und bleibt eine der unverkennbaren und ergreifendsten Stimmen des letzten Jahrhunderts: Ella Fitzgerald. ’The First Lady of Song’ war einer der großen Ehrentitel, die sich die 1917 geborene US-Amerikanerin im Laufe ihrer 59-jährigen Karriere verdiente.

Alles begann mehr oder weniger durch einen Zufall: Ella Jane Fitzgerald, nach dem Tod ihrer Mutter auf sich allein gestellt, trat im Alter von 17 Jahren bei einer der Amateur Nights im Apollo Theater in Harlem, New York, auf. Sie plante, dort zu tanzen, doch entschied sie sich aufgrund der Konkurrenz und ihrer Nervosität spontan, im Stil von Connee Coswell vorzusingen, und gewann. Nur wenige Monate nach diesem Debüt wurde sie Chick Webb vorgestellt und tourte fortan mit seiner Band. Nach seinem Tod 1939 übernahm sie das Ensemble als „Ella and Her Famous Orchestra“, trat aber parallel auch mit dem Benny Goodman Orchestra auf und leitete eigene kleiner besetzte Projekte. 1942 verließ sie das Jazzorchester und startete eine Solokarriere bei Decca. Später gründete Norman Granz um sie als Leitfigur das Label Verve Records, dem sie bis zu dessen Verkauf 1963 treu blieb. Bis 1993, drei Jahre vor ihrem Tod, trat Ella Fitzgerald aktiv auf, machte 1991 ihre letzte Plattenproduktion und war in zahlreiche Film- und Fernsehproduktionen involviert.

Leichtigkeit und Klarheit sind Merkmale ihrer Stimme, deren Schönheit und empathischer Ausdruck bis heute berühren. Sie ist warm und emotional, lupenrein und absolut natürlich. Ihr Vibrato setzt sie nuanciert und kontextbezogen individuell ein, dekoriert damit nicht die ganze melodische Linie. Ella Fitzgerald vereint Zartheit mit Selbstbewusstsein und weiß, den Hörer mit ihrer Stimme „um den Finger zu wickeln“. Es gibt wohl nichts, was nicht „schön“ und angenehm klingt, wenn Ella es singt – treffliches Beispiel sind die Verse „I’ve been sitting on a fence and it doesn’t make much sense“ aus Sydney Robins und Charles Stavers‘ Standard Undecided, die bei vielen Sängern schlichtweg befremdlich wirken. So mag nicht verwundern, dass es Ella Fitzgerald war, die nach Aufkommen des Bebop wesentlich an der Entwicklung des ’Scat’ beteiligt war, worin sie mit ihrer drei Oktaven umfassenden Stimme instrumentengleich improvisieren konnte, ohne dazu sinnhafte Worte oder gar zusammenhängende Texte zu benötigen.

„Anything Goes“ ist eine Sammlung von 20 ikonischen Jazzsongs von 1950 bis 1959, viele in bekannten Aufnahmen. Sie sind allesamt tadellos remastered und klingen lebendig und frisch. Die Beschränkung auf die 1950er Jahre ergibt ein umfassendes Bild auf eine besondere Ära des Wandels. Weitere empfehlenswerte Sammlungen, die einen umfassenderen Überblick über Ellas gewaltiges Schaffen geben, sind „Ella Fitzgerald. Summertime. 40 Greatest Hits“ (2012, COIL Records) und „Ella Fitzgerald. Rhythm and Romance“ (2001, Black Box).

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Ferne Liebe, sehnsüchtige Lieder

Spektral, SRL4-16153; EAN: 4 260130 381530

Der Tenor Georg Poplutz singt Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann und Ludwig van Beethoven, am Klavier begleitet von Hilko Dumno. Von Beethoven erklingt „An die ferne Geliebte“ op. 98, von Schumann hören wir die „Dichterliebe“ op. 48. Zusammengehalten werden diese Zyklen durch ausgewählte Lieder Schuberts.

Zwei dieser drei Komponisten zählen zu den führenden Liedersetzern ihrer Epoche und zudem bis heute zu den namhaftesten und für dieses Genre exemplarischsten. Von Beethoven sind natürlich weniger Lieder überliefert. Lange bevor die auf der Höhe der Romantik wirkenden Liedschaffenden wie Hugo Wolf, Edvard Grieg, Gustav Mahler oder der junge Richard Strauss das Licht der Welt erblickten, fesselten diese drei wie auch Mendelssohn mit wahrer, verinnerlichter, romantischer Empfindung, Vollendung der Textumsetzung und Beherrschung der Miniaturform. Und dies, obgleich keiner von ihnen auf die Kurzform beschränkt war, sie alle drei waren epochale Symphoniker sowie Meister großformatiger Klavier- und Kammermusikwerke. Selbst über 200 Jahre nach ihrer Geburt halte ich es für bezeichnend, die kurze Form gleichberechtigt neben der „himmlische Länge“ zu betrachten und sie gleichermaßen zu beherrschen.

Aus einer großen Masse an Einspielungen dieser Lieder hervorzustechen, ist eine Herausforderung, aufgrund der sich nur zu viele durch Extravaganz und Ignoranz der musikalischen Substanz gegenüber profilieren. Nicht so Georg Poplutz und Hilko Dumno: Dieses eingespielte Duo fällt eben dadurch auf, nicht auffällig sein zu wollen. Sie stellen sich rein in den Dienst der Noten, denen sie neues Leben einhauchen. Besonderes Augenmerk legen sie auf Natürlichkeit und Schlichtheit, jedes prätentiöse oder wichtigtuerische Verhalten haben sie abgelegt. Aufrichtigkeit ist es, was ihre Darbietungen charakterisiert, und man kauft ihnen die musikalisch entfesselten Emotionen dieser Lieder als wahrhafte Empfindungen ab. Poplutz und Dumno überakzentuieren nicht und versuchen auch nicht krampfhaft, etwas Besonderes rüberzubringen, lassen die Musik einfach entstehen und wirken. Und diese Wirkung erreicht den Hörer!

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Das Wiederaufblühen einer Größe

EDA, 042; EAN: 8 40387 10042 5

Eine Hommage an den polnisch-ukrainischen Komponisten Józef Koffler bringt das Label EDA heraus, das für die Reihe „Poland Abroad“ bereits Kammermusik Kofflers aufnahm. Erstmalig ist symphonisches Schaffen des Komponisten auf CD erhältlich, und zwar Livemitschnitte des Klavierkonzerts op. 13 und der Zweiten Symphonie op. 17. Von diesen Kolossen eingerahmt werden Zwei Lieder op. 1, Quatre poèmes op. 22 und das Zweite Streichquartett op. 27 „Ukrainische Skizzen“. Es spielt das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra unter Christoph Slowinski, im Klavierkonzert mit Daniel Wnukowski als Solisten, das Polish String Quartet Berlin, und es singt Frederika Brillembourg, am Klavier begleitet vom Dirigenten.

Wenn man die großartigen Künstler aufzählen würde, die von den Nazis aus dem öffentlichen Bewusstsein gefegt wurden, so wäre die Liste endlos. Immer wieder treten größere oder kleinere Namen auf die Bildfläche, die Opfer der Verfolgungen wurden. Viele davon sind es wert, wieder entdeckt zu werden, und einige davon stechen ganz besonders hervor. Zu diesen gehört, woran ich keinen Zweifel offen lassen möchte, Józef Koffler, der nach jahrelanger Unterbringung im Ghetto 1944 mit seiner ganzen Familie ermordet wurde. Sein Schaffen ist von geringem Umfang, doch von hoher Substanz. Sein Lebenslauf war durchwachsen: 1896 im galizischen Stryj geboren, musste er sich erst gegen den Wunsch der Familie, Jura zu studiere, durchsetzen, und ließ sich zunächst in Lemberg (Lwiw), später in Wien von Egon Wellesz, Robert Lach und Guido Adler ausbilden und promovierte bei letzterem über Felix Mendelssohn Bartholdy. Während seines Studiums wurde er im Ersten Weltkrieg in die Armee eingezogen. 1924 kehrte er nach Lemberg zurück Dort erhielt er eine Professur für Harmonielehre und atonale Komposition, eine absolute Neuerung in Polen. Neben vielfältigem Lob zog er als „Erster polnischer Dodekaphoniker“ auch regelmäßig Spott auf sich. Als Jude wurden Koffler bereits in den 1930er-Jahren Anfeindungen zu Teil, die sich nach dem Überfall auf Polen drastisch verschärften und schließlich auch seinen Tod in einer öffentlichen Massenexekution zur Folge haben sollten.

So sehr Koffler die Musik der Zweiten Wiener Schule inhaliert hatte, machte sie doch nur einen Teil seines Stil aus. Charakterisiert wird dieser hauptsächlich durch eine durchgehende und ausgeklügelte Kontrapunktik, durch dissonant angereicherte und bis an die Grenzen der Verständlichkeit geführte Harmonien, polnisches und ukrainisches Kolorit und durch ausgewogene thematische Arbeit, die zu festen und strikt eingehaltenen Formkonstrukten führte, welche aber nicht rein akademisch erdacht, sondern innerlich erspürt klingen. In den Kurzformen wagte sich Koffler auch an neuartige Strukturen, im symphonisch ausgedehnten Format hingegen hielt er sich an bewährte Formen wie dem Rondo oder einer bogenartigen Struktur. Kofflers Musik wirkt teils befremdlich und eigenwillig, gelegentlich gar sperrig, und besitzt doch immer wieder geradezu Ohrwurmcharakter. Diese Werke lassen den Hörer nicht so schnell wieder los und klingen noch lange nach.

Das Polish Sinfonia Iuventus Orchestra unter Christoph Slowinski hebt die Kontrapunktik deutlich und verständlich hervor und lässt, wenngleich teils gehetzt wirkend, viel von der musikalischen Struktur durchscheinen, geht gefühlvoll auf die Thematik ein und all dies mit eine adäquaten Dichte von Klang und Ausdruck. Mit virtuoser Sicherheit und Glanz fesselt Daniel Wnukowski als Solist im Klavierkonzert, sichtlich Spaß hat er vor allem im dritten Satz, der freudig leicht und doch mit unterschwelligem Ernst erklingt. Wohl artikuliert, mit wuchtiger Kraft begleitet Slowinski die opernhaft schmetternde Frederika Brillembourg in den Liedern op. 1 und 27. Lyrisch durchzogen und von zarter Sehnsucht erfüllt betören die Ukrainischen Skizzen in der musikalisch ausgewogenen Darbietung des Polish String Quartet Berlin. Ausgezeichnet auch der vorbildlich informierende Booklettext.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Das Geheimnis hinter drei Saxophonen

Arthaus Musik, 109252; EAN: 4 058407 092520

0130

Adam Kahan beleuchtet Leben und Wirken von einer herausragenden Jazzgröße in seinem Film „Rahsaan Roland Kirk. The Case of the Three Sided Dream“.

Er war ein Träumer, ein Überzeugter, ein Rebell, ein Individualist: Rahsaan Roland Kirk. Sein ganzes Leben widmete er mit Hingabe der Musik, ohne Rast und Halt. Bis zum Tage vor seinem allzu frühen Tod 1977 mit lediglich 41 Jahren konzertierte er regelmäßig, ließ sich auch von einem Schlaganfall 1975 nicht daran hindern, der ihm die Funktionstüchtigkeit seiner rechten Hand raubte. Solche Hindernisse ließen ihn nur wachsen, beginnend mit seiner Erblindung im Alter von zwei Jahren waren sie schließlich stetige Begleiter, und so spielte er fortan eben mit einer Hand auf einem extra hierfür angefertigten Saxophon.

Von dieser Lebensgeschichte berichtet Adam Kahan in „Rahsaan Roland Kirk. The Case of the Three Sided Dream“ aus der Perspektive von Kirks Familie, seiner Freunde und Bandkollegen, sowie von Kirk selbst. Ohne kommentierende Stimme aus dem Off hat sich der Betrachter selbst das theoretische Grundgerüst aus verschiedenen Erzählungen zusammenzupuzzeln, dafür kann Kahan den Fokus auf das Wesentliche legen, was nicht durch einen Lexikoneintrag vermittelt werden kann. Er legt Gewicht auf die wichtigsten Aspekte im musikalischen Schaffen Kirks, seine Lebensumstände werden nebenher tangiert. Der Film thematisiert das Phänomen Multiinstrumentalismus und besonders das Spiel auf bis zu drei Saxophonen zeitgleich, Kirks auf nie dagewesenes Niveau gehobene Fähigkeit der Zirkuläratmung, seinen Glauben an den Traum und auch sein Rebellentum, Fernsehshows durch Pfeifen zu sabotieren, um auf den Jazz – die „Klassik der Schwarzen“, wie er ihn nannte – aufmerksam zu machen, der noch immer zu wenig beachtet und geschätzt war. Rahsaan Roland Kirk, den ersten Namen gab er sich nach einer Eingebung im Traum, war ein Freigeist und vertrat unerschütterlich seine Vision, dafür nutzte er alle Mittel. So stieg er weit auf, war nicht zuletzt aufgrund seiner rebellischen Haltung einer der ersten Jazzmusiker in Fernsehshows, und ließ sich auch dort nicht auf „gefälligen Geschmack“ ein, sondern trumpfte mit eigenwilligen Harmonien und Instrumentalkonstellationen und mit geräuschhaften Effekten auf. Dabei missbrauchte er keines seiner Gadgets für Show-Zwecke, ebenso wenig die Vielfalt seiner (oft zeitgleich) gespielten Instrumente. Dies alles diente ausschließlich dazu, seiner inneren Vorstellung gerecht zu werden und seinen Horizont immer weiter zu dehnen. Wir werden leider nie erfahren, zu was Rahsaan Roland Kirk noch allem fähig gewesen wäre, hätte er noch ein paar Jahrzehnte mehr auf dieser Erde verbracht.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Abgründe für vier

TYX Art, TXA17090; EAN: 4 250702 800903

Streichquartette des 1945 geborenen Roland Leistner-Mayer spielte das Sojka Quartett für TYX Art ein. Neben dem unbetitelten Fünften Quartett Op. 147 stehen das Sechste Quartett op. 148 „7 untapfere Bagatellen“ und das Siebte Op. 151, das „Ariadne-Quartett“; sie entstammen alle den Jahren 2014-16.

Suchen und Finden eines eigenen Tons, einer individuellen Klangsprache, wurde gerade in der Stilpluralität des 20. Jahrhunderts zu einer zunehmend schwierigen Aufgabe, der sich zahllose Komponisten verweigerten und sich stattdessen herrschenden Strömungen anschlossen, oberflächliche Wirkung über musikalische Substanz stellten und Erfolg in einer Scheinwelt der vorgeblichen „Originalität“ suchten. Ein Widerläufer dieser Haltung ist der in Böhmen geborene Roland Leistner-Mayer, der sich stets fern hielt vom musikalischen Schubladendenken und nach Ursprünglichkeit und Eigenheit strebte. Leistner-Mayer setzte einen Schwerpunkt seines Schaffens auf die Gattung des Streichquartetts, drei in diesem Jahrzehnt entstandene Beiträge bietet vorliegende CD des Sojka Quartetts.

Schwermut durchzieht alle drei Werke, Dunkelheit und Abgründigkeit sind charakteristisch. Leistner-Mayer weiß, den Hörer in bestimmte Stimmungen zu versetzen, in die Tiefe zu ziehen und dort festzuhalten, wie besonders das über sechs Minuten andauernde, finale Presto precipitando aus dem Ariadne-Quartett beweist, welches immer unaufhaltsamer treibend und überwältigender aufbegehrt, ohne einen Moment der Ruhe. Unaufmerksamkeit oder Entspannung sind nicht mit dem Hören dieser Art eruptiver Musik zu vereinbaren. Der Komponist spielt mit Themen, die er lange Zeit auskosten kann und zwischen den Einsätzen der Musiker sich entwickeln lässt, und schroffen Kontrasten, die unvermittelt das Geschehen in neuem Licht erscheinen lassen. Dabei bleibt ein roter Faden durch das gesamte Werk hindurch erhalten und schweißt die Sätze zusammen, gibt eine unmissverständliche Richtung vor. Die Musik macht Sinn – ein heute viel zu selten beachtetes Qualitätskriterium, welches sich nur schwer verbal ergründen, aber sehr wohl erspüren lässt. Die Werke sind tonsprachlich eindeutig ihrem Komponisten zuzuordnen, wiederkehrende Ausdrucksmittel wie langes Tremolieren oder die treibenden rhythmischen Kontraste und Widersetzlichkeiten, die gegeneinander anspielenden Vierer- und Fünferrhythmen, lassen kein Zweifel daran, wer diese Musik geschrieben hat.

Das Sojka Quartett spielt mit großer Passion (im ursprünglichsten Sinn des Wortes) und entfaltet die aufrührende expressive und klangliche Dichte dieser Quartette in symphonischer Fülle. Kantabel und doch knackig fassen die vier Streicher die Musik an. Wünschenswert wäre lediglich noch eine größere Bandbreite an dynamischen Abstufungen, besonders im Pianissimo- und Fortissimobereich, sowie organischere Übergänge zwischen den Extremen, die so oft gefordert werden und in ihrer Gegensätzlichkeit ausgekostet werden sollen. Deutlich sind die einzelnen Stimmen voneinander abzuheben, die Verdopplungen könnten noch mehr als orchestral gesetzte Parallelität verwirklicht werden.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Konzert wie Komponist

Am Nachmittag des 9. Dezember 2017 stellt Violina Petrychenko im Steinwayhaus München ihre CD „The Silent Voice of Vasyl Barvinsky“ vor. Abgesehen von drei Präludien ist es exakt das Programm ihrer CD inklusive des Klavierzyklus‘ ‚Liebe’ und der Ukrainischen Suite, außer den fünf Präludien spielt sie noch fünf Weihnachtsliederbearbeitungen als Zugabe.

Wie sich Vasyl Barvinsky als „Komponist als Noten“ bezeichnete, so lässt sich auch dieser Klaviernachmittag als „Konzert ohne Werbung“ betiteln. Dass zu Recitals oder Kammermusikveranstaltungen, die nicht durch die großen Veranstalter angeboten werden, nach wie vor nur eine Handvoll Zuhörer kommen – wovon sicherlich die Hälfte in persönlichem Kontakt zu den Musikern stehen –,wird mir immer schleierhaft bleiben. Hohe Qualität und bessere Sitzplätze zu vergleichsweise geringem Preis sind doch eigentlich mehr als verlockend! Vielleicht würde es ausreichen, genügend zu werben und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen, dass überhaupt solche Veranstaltungen stattfinden. Denn davon war nichts zu sehen für dieses Konzert, und so musizierte Violina Petrychenko zu unrecht vor dem nicht einmal halb gefülltem kleinen Rubinsteinsaal des Steinwayhauses in München-Laim.

Konzerte sind intensivere Erlebnisse als CD-Aufnahmen, und so erfahre ich auch heute noch mehr als zuvor über die Musik des Ukrainers Vasyl Barvinsky, der bis Mitte der 1940er-Jahre hoch geschätzt und durch Auszeichnungen wie frühe Fernsehaufzeichnungen seines Schaffens geehrt, später allerdings durch Stalin geächtet und eingesperrt, dessen Werk verbrannt wurde. In der Musik wird seine Verwurzelung in der ukrainischen Tradition deutlich, doch auch das Böhmisch-Tschechische, der Einfluss durch seinen Lehrer Vítězslav Novák und dessen zu Antonín Dvořák zurückreichende Traditionslinie. Vielleicht lässt sich auch – wenngleich man es angesichts von Barvinskys Geschichte vielleicht nicht zu laut sagen sollte – eine dezent polnische und russische Färbung vernehmen, die mit der Musik Chopins  und Rachmaninoffs in Verbindung steht. Das Melancholische, Traurig-Süßliche ist charakteristisch für die heute zu hörenden Werke, wenngleich vor allem im Klavierzyklus „Liebe“ immer wieder auch Hoffnung durchschimmert und sogar ein „Triumph der Liebe“ nach den Stationen  „Einsamkeit“, „Leid“ und „Schmerz“ Einzug hält.

Petrychenkos Musizieren ist leidenschaftlich, aber doch gezügelt. Ein voluminöses Forte und eine nuancierte Pedaltechnik sind charakteristisch. Ihr Anschlag ist durch Präsenz und Kern gekennzeichnet, der Klang entsteht förmlich greifbar im Raum. Wo im Pianobereich größere Dynamikabstufungen gefordert sind, beweist sie ein breites Spektrum an Schattierungen im Mezzo und Forte, wobei sie nie blind drauf losprescht, selbst wenn die Musik durchaus dazu verleiten würde. Diese Mäßigung und Ruhe wirft einen angemessen edlen Glanz auf die Musik. Als Zugabe hören wir nach den Weihnachtsliedern noch die Karpatische Fantasie von Jurii Schamo, dessen raue Prägnanz einen angenehmen Kontrast zu der sanften Lieblichkeit Barvinskys schafft und den Hörer noch einmal besonders aufhorchen lässt. Schnell verstehen die Hörer, wie vielseitig doch die ukrainische Musiklandschaft ist, die uns, trotz Glière, Liatoschinsky und Stankowitsch heute beinahe vollkommen unbekannt ist – was, wenn nicht dieses Konzert, diente als vernehmbarer Appell, sie intensiver zu erkunden?

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Ein Komponist ohne Noten

Accelerando, ACC 03; EAN: 4 251383 400048

„The Silenced Voice of Vasyl Barvinsky“ heißt das neue Album der ukrainischen Pianistin Violina Petrychenko, auf dem sie sich ihrem vergessenen Landsmann widmet. Dessen Klavierzyklus „Love“, Acht Präludien und die Suite über ukrainische Themen sind hier zu hören.

Vasyl Barvinsky ist eine der tragischen Figuren des ukrainischen Musiklebens. Nach großen Erfolgen in seinen früheren Lebensjahren wurde er von der sowjetischen Staatsmacht abgeurteilt und ins Straflager verbannt, wo er zehn Jahre verbrachte. Seine Noten wurden öffentlich auf den Stufen jenes Konservatoriums verbrannt, welches er mehrere Jahrzehnte leitete. Als Komponist ohne Noten bezeichnete sich Barvinsky gegen Ende seines Lebens. Erst nach seinem Tod in den 1960er-Jahren wurde er öffentlich rehabilitiert und erhaltene Notendrucke wurden aus aller Welt zusammengetragen, so dass nun ungefähr zwei Drittel seines Schaffens gerettet werden konnten. Drei frühe Hauptwerke des Ukrainers sind auf „The Silenced Voice of Vasyl Barvinsky“ zu hören: Der Klavierzyklus „Love“, Acht Präludien und die Suite über ukrainische Themen.

Der Komponist kann als Spätromantiker bezeichnet werden, welcher dem tonalen Denken treu blieb und mit erweiterten Harmoniebildungen arbeitete. Einflüsse zog er vor allem aus ukrainischer Volksmusik, aber auch vom Impressionismus war er stark angeregt. Vasyl Barvinsky war zweifelsohne auf der Höhe seiner Zeit in seinem stilistischen Metier. Wir hören auf Violina Petrychenkos Album hauptsächlich Werke kleinen Formats; diese wusste Barvinsky mit farbenreichem musikalischem Inhalt und formalem Bewusstsein zu erfüllen. Es handelt sich um brillante Charakterstücke von unverkennbarem Wert, die in Suiten oder Zyklen zusammengefasst wurden. Abenteuerliche Neuerungen sind nicht zu erwarten, doch scheint dies auch nicht die Intention des Komponisten gewesen zu sein. Träumerische und schwärmerische Stimmungsbilder mit epischen Elementen waren eher seine Stärke. Der einzige längere Einzelsatz ist das Finale der Suite über ukrainische Themen, ein ausgeklügeltes und reiches Variationswerk mit abschließender Fuge, die ausgiebige Kenntnis der Barockmeister und früheren Romantiker bezeugt.

Violina Petrychenkos Spiel ist durch ihren weichen und runden Anschlag ausgezeichnet, dem eine Leichtigkeit und sanfte Sensitivität innewohnt. Große innere Ruhe charakterisiert ihre Darbietungen, die selbst in den aufbrausendsten Passagen ihre zusammenhangstiftende Konzentration behalten. Unprätentiös stellt sie sich in den Dienst der Musik, als Entdeckerin wie als ihre Entdeckungen präsentierende Musikerin.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Geteilte Intimitäten

Der norwegische Pianist Leif Ove Andsnes tritt am 3. Dezember 2017 im Münchner Prinzregententheater auf. Auf dem Programm seines Rezitals stehen Klavierwerke von Jean Sibelius (Op. 75/4, Op. 97/5; Op. 68/2; Op. 58/4; Op. 24/9), „Idyll und Abgrund – Sechs Schubert-Reminiszenzen“ für Klavier von Jörg Widmann, die späten Drei Klavierstücke D 946 von Franz Schubert, die „Sturm“-Sonate Nr. 17 d-Moll op. 31/2 Ludwig van Beethovens sowie Nocturne H-Dur op. 62/1 und Ballade Nr. 4 f-Moll op. 52 von Frédéric Chopin.

Ein Pianist bringt die Zeit zum Stillstehen: Schon bei den ersten Tönen von Leif Ove Andsnes kommt eine ganz eigene Atmosphäre auf, eine fokussierte Ruhe und vom Rezensenten ersehnte Freiheit. Es scheint, als würde der Norweger nur für sich alleine spielen, unbekümmert und rein. Was Andsnes spielt, das meint er auch, er ist absolut ehrlich und aufrichtig in seinem Ausdruck. Er stellt sich selbst nicht in den Vordergrund, bleibt stets unprätentiös. Die Musik alleine steht im Fokus. Andsnes teilt sein Innerstes mit dem Hörer, man wird hineingelassen in die phantastische Welt dieses Pianisten und möchte auch nicht so schnell wieder heraus.

Ein seltenes Merkmal Andsnes‘ ist, dass er nie aufhört, in der Musik zu suchen: Auch wenn er die meisten der heute erklingenden Werke sicherlich dutzende Male öffentlich vortrug, scheinen sie vollkommen frisch zu sein trotz aller Gesetztheit. Dies manifestiert sich nicht alleine auf innermusikalischer Ebene, sondern ebenso in der Werkauswahl, die stets auch unbekannte oder neue Werke beinhaltet und ganz selbstverständlich neben die Klassiker des Konzertprogramms stellt. Vor vielen Jahren hörte ich Andsnes mit Klavierkonzerten von Kurtág und Beethoven – und ich weiß bis heute nicht, von welchem ich ergriffener war.

Den Symphoniker Sibelius lernen wir heute als Miniaturisten kennen, sein umfangreiches Klaviermusik-Œuvre wird von der Öffentlichkeit nach wie vor nicht adäquat wahrgenommen (nicht einmal die frühe große Klaviersonate!), was ein echtes Versäumnis ist. Fünf kurze Stücke bietet Andsnes dar, kehrt die nordische Rauhheit, säuselnde und flirrende Figuren und Prägnanz der Kürze hervor, die ihnen innewohnt. Jedes Stück für sich ist ein abgeschlossener Kosmos und Andsnes vermittelt diesen durch größtmögliche Beherrschung der Form, die keinen Ton mehr oder weniger zulassen würde. Selbst den recht belanglosen, wenngleich – nicht zu ernst genommen – äußerst unterhaltsamen, Schubert-Reminiszenzen des gehypten Komponisten, Dirigenten und Klarinettisten Jörg Widmann verleiht der Norweger einen ansprechenden Flair und bündelt die fragmentarischen Formteile zu einem Ausdrucksbogen. Am meisten „beweisen“ (was niemals seine Intention sein dürfte, so ungezwungen wie er musiziert) als wahrer Musiker kann Andsnes sich in Schuberts Drei Klavierstücken D 946, die neben technischen Raffinessen vor allem harmonisches Verständnis fordern. Wie urplötzlich kann Andsnes die Stimmung kippen lassen, durch Bewusstheit und subtile Umsetzung der harmonischen Kontraste den Boden wegreißen oder den Hörer in überirdische Höhen katapultieren. Er weiß um natürliche Spannung und Entspannung, um wohl gesetzte Unterstreichungen und um Deutlichmachen mancher unorthodoxen Passage. Rund und voll klingen die Akkorde, jeder Ton findet darin seine Funktion und seinen Platz. Dabei weist Leif Ove Andsnes’ Spiel ein enormes Spektrum an Dynamikstufen auf, zwischen denen er organisch changieren kann.

Nach der Pause bricht der Sturm los, Beethovens berühmte Klaviersonate d-Moll op. 31/2. Doch ist es kein äußerlicher Sturm, kein oberflächlich polterndes Aufbegehren, sondern innerliches Rumoren und Bangen. Leif Ove Andsnes bringt Beethovens Spiel mit Erwartungen so unverbraucht zum Ausdruck und überträgt dieses Gefühl auch auf den Hörer, dass selbst das tausendmal gehörte wiederkehrende Innehalten im Kopfsatz noch überraschend erscheint. Mit Chopins H-Dur Nocturne op. 62/1 kehrt wieder Ruhe ein, selbst in der unerhört kantabel vorgetragenen Trillerpassage, und dies wird zu Beginn der f-Moll-Ballade op. 52 fortgesetzt. So leicht beginnt sie, langsam erst bahnt sich der Sturz an, bis die Katastrophe über die Köpfe der Hörer hereinbricht und unglaubliche Beherrschung und Emotionskraft vom Pianisten fordert – was mit größter Brillanz und Musikalität auch eingelöst wird.

Als Zugabe gibt es die ursprünglich im Programm vorgesehene g-Moll-Ballade Chopins, die Andsnes recht rasch, aber nicht weniger bewusst gestaltet. Überwältigt war ich vor allem vom più mosso-Mittelteil, der unter seinen Fingern noch losgelöster und scherzandohafter wirkt als üblich. Eine zweite Zugabe führt zurück zum Beginn des Programms, eine weitere Miniatur Sibelius‘, ein Impromptu. Und siehe da, es eint sich fantastisch mit der Musik Chopins, eine mir bislang nicht bekannte Verbindung wird deutlich – wenngleich natürlich die nordische Rauhheit mehr herausschlägt als bei seinem französischen Vorgänger.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Musik für triste Herbsttage

Genraut, CRC 3605; EAN: 0 44747-3605-2 2

Nach seinem erfolgreichen Debut in der Carnegie Hall lässt der in Deutschland lebende weißrussische Pianist und Komponist Leon Gurvitch nun eine Einspielung folgen: Poetic Whispers. Neben eigenen Werken, die auch in London erklangen, und Improvisationen stehen auf dem Programm die Pavane Gabriel Faurés, die Gymnopédie No. 1 von Erik Satie sowie Oblivion und Milonga del Ángel aus der Feder von Astor Piazzolla.

Es ist die Art Musik, die man wohl an stürmischen Herbsttagen hören möchte, wenn man unter einer warmen Decke im Bett liegt und eine warme Tasse Tees trinkt. Diese süßliche Melancholie, Zartheit, Schlichtheit, das einfache Gefühl. Man muss sich nicht anstrengen, die Musik zu verfolgen, sie treibt einfach dahin.

Leon Gurvitch bezieht die Schönheit seiner Musik aus der Einfachheit heraus, reflektiert sehr subjektiv die Zeit, in der sie entstand. Es sind klingende Stimmungsbilder, Charakterstücke, die irgendwie beinahe der Epoche der Romantik entstammen könnten. Sie haben einen simplen Aufbau und beziehen ihren Reiz aus melodiöser Erfindung und mancher harmonisch unerwarteten Wendung. Die Improvisationen sind den geschriebenen Stücken nicht allzu unähnlich, wenngleich Gurvitch hier teils auch andere Elemente einfließen lässt, jazzigere Akkorde und unvermitteltere Brüche. Inspiration holt sich Gurvitch auch von existierenden Werken, so ist seine Hommage à Stravinsky klar an dessen Petrouchka angelehnt und eines seiner Stücke heißt bereits Impressions after Adagio from Concierto de Aranjuez (by Joaquín Rodrigo).

Gurvitch besitzt einen warmen und runden Anschlag, dem ein intensives Gefühl innewohnt. Es handelt sich nicht um eine innerlich erspürte und vollständig dem innermusikalischen Kontext dienende, sondern eher eine sehr wirkungsvoll auf den Hörer ausgerichtete Emotion, die unglaublich mitreißend wirkt und sich durch Nachdruck auf der Taste ins Gedächtnis einprägt. Es liegt viel Persönlichkeit in der Spielweise Gurvitchs, sie überzeugt zumal in seinen eigenen Kompositionen mit schlagendem Effekt. Überragend ist sein Spiel auf der Melodica, die bei Piazzolla tatsächlich beinahe wie ein Bandoneon anmutet. Er phrasiert sanglich und spielerisch frei, überzeugt durch Natürlichkeit des Ausdrucks. Von den vier Kompositionen anderer Autoren gelingt ihm besonders Saties Gymnopédie No. 1, welche auch am ehesten dem Stil von Gurvitchs Werken nahesteht. Faurés Pavane klingt noch zu sehr nach ange-„schlagen“ und verliert so ihre schwebende Immaterialität; hier sollte der Hörer eigentlich vergessen dürfen, dass es nur ein Klavier und kein Orchester mit großem Chor ist, das diese wundervolle Miniatur vorträgt. Piazzolla swingt und groovt, Gurvitch lässt lebendige Kontraste entstehen und geht förmlich auf in der Musik.

Es ist ein vielseitiges Album ungeachtet eines übergeordneten Stimmungsbildes, das Gurvitch vorlegt. Die Einheit in der Vielfalt, wenn man diesen Begriff so für musikalische Zwecke verwenden darf…

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Chopin bei Nacht

Alpha Classics, ALPHA 359; EAN: 3 760014 193590

Auf zwei CDs spielte Nelson Goerner alle 21 Nocturnes von Frédéric Chopin ein (Opp. 9, 15, 27, 32, 37, 48, 55, 62, Op. 72 Nr. 1 sowie cis-Moll und c-Moll Op. Post.). Die Doppel-CD erschien bei Alpha Classics.

Der Begriff der Nocturne evoziert sogleich ein ganz bestimmtes Bild von einer ruhigen, verträumten Landschaft, von Mondenschein und vom Blick auf die funkelnden Sterne; unangetastete Ruhe und Zartheit, frei von all den weltlichen Problemen, und dem Schlafe nahe. Wie viel mehr sich doch tatsächlich hinter diesem Begriff verbirgt, beweist Chopin in seiner knapp zweistündigen Sammlung von 21 Nocturnes: Innerliches Aufbegehren, Trübung, Haltlosigkeit, Melancholie und Suche nach etwas Übergeordneten. Jede Nocturne steht für sich, eröffnet eine eigene Welt und definiert die Gattung auf eigene Weise.

Nelson Goerner stellte es sich zur Aufgabe, den gesamten Zyklus einzuspielen mit all den Unterschieden dieser Werke. Das charakteristisch Träumerische findet hier ebenso seinen Platz wie das Aufwühlende, die Ruhe Durchbrechende. Goerner verliert sich nicht in Sentimentalität, sondern findet die Konturen, Ecken und Kanten. Die ausgiebigen Ornamente, die bei Chopin eine Kunst für sich darstellen und sich gelegentlich zu umfangreichen Läufen oder diffizilen Figurationen ausweiten, behalten bei Goerner – was selten zu hören ist – auch tatsächlich den Ausschmückungscharakter, wobei der übergeordnete Gesamtkontext nicht unterbrochen oder verfälscht wird. Der einzelne Ton erhält Bedeutung, der Anschlag hat nicht das oft zu vernehmende Immaterielle, sondern eine gewisse Prägnanz. Trotzdem achtet Goerner größtenteils auf kantablen Fluss der melodischen Linie (Ausnahme ist die Nocturne Op. 15, Nr. 3, bei welcher der Fokus der Linie nicht über die langen Noten hinüberreicht) und auf das entspannende Streben hin zu einer Zieltonart. Zu wünschen wäre vielleicht teils noch eine genauere Betrachtung des harmonischen Geflechts, das so facettenreich und ergiebig ist in diesen kleinen Juwelen: die Wertigkeit der linken Hand sollte trotz der eigentlichen Begleitfunktion zu der singenden Oberstimme nicht vergessen werden, denn erst die dort enthaltenen, teils auf mehrere Oktaven verstreuten Akkorde bringen die Musik voran und verleihen den Werken die fest verankerte Struktur. Goerner erlaubt sich einige Freiheiten, gerade auch im Tempo, ist dabei aber stets darauf bedacht, dass das klangliche Resultat als Ganzes „funktioniert“. Nie lässt er sich zu übermäßigen oder überflüssigen Rubati verleiten, er gibt die Kontrolle über das Geschehen nicht aus der Hand; und er greift aktiv ein, statt sich nur treiben zu lassen.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Fortsetzungsoratorien

MusikMuseum, CD13013; EAN: 9 079700 069502

MusikMuseum, CD13028; EAN: 9 079700 700153

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Chor und Orchester der Akademie St. Blasius spielen auf zwei voneinander unabhängig erschienenen CDs die beiden großen Oratorien des tirolischen Komponisten Franz Baur, „Genesis“ und „Amartema – Der Sündenfall“. Andreas Mattersberger übernimmt die Rolle des Bassbariton-Solos, in barocker Manier Erzähler des Bibeltextes, Susanna Langbein singt Sopran und in ”Amartema” kommt Bernhard Landauer als Altus hinzu. Das Orchester wird von seinem Chefdirigenten Karlheinz Siessl geleitet.

Es sind Oratorien vom Beginn der Welt und Ursprung unseres heutigen Bewusstseins, Oratorien des Aufkeimens und schlussendlich des Falls in den Zustand, der unsere jetzige Realität darstellt. Entstehung und Verstoßung, der in Tirol geborene Komponist und Philosoph rollt die Bibel von ihren Anfängen her auf und erfüllt die ersten Kapitel mit seinen Klängen und Gedanken. Durch das aufeinander aufbauende Geschehen gehören die beiden Musikwerke letztlich zusammen, aber Franz Baur gestaltet sie auf vollkommen unterschiedliche Weise.

Das betrifft schon die Besetzung, denn während Genesis das Orchester stark zurücknimmt und nur Streicher, Schlagwerk sowie zum Höhepunkt hin zwei Hörner verwendet, spannt Amartema das gesamte Orchester ein, macht zudem ausgiebigen Gebrauch von drei Solisten, wo Genesis mit einer Bassbaritonrolle und einer kleineren Sopranpartie auskommt. Die Schöpfung hat eine ganz klare Aufteilung in die sieben Tage, welche durch kurze Sprechpartien unterteilt und doch musikalisch eben dadurch auch zusammengehalten werden, während der Sündenfall zwar in fünf Teile plus Epilog (erste drei Teile: Paradies; vierter und fünfter Teil: Sündenfall) gegliedert ist, diese jedoch bruchlos ineinander übergehen. So stellt sich Baur vor unterschiedliche Herausforderungen: in Genesis verwendet er für jeden Tag eine andere Kompositionstechnik, die er über diese Kontraste hinaus sinnvoll korrelieren muss, in Amartema hat er die gesamte „himmlische Länge“ eines Oratoriums musikalisch zu erfüllen, ohne dass Gleichförmigkeit entsteht. Genesis zieht viel klanglichen Reiz aus additiven Prinzipien, indem zu einem etablierten Ton neue Klänge hinzutreten und sich eine Kon- oder auch eben Dissonanz bildet, die der Hörer beim Entstehen mitverfolgen kann – wenn man so will, eine Weiterführung der Idee, die Ligeti zu Beginn seines Lux aeterna verfolgte. Amartema hat aufgrund der größeren Besetzung mehr Möglichkeiten, auf den Text einzugehen und diesen subtil zu illustrieren. Baur schafft es dabei, niemals plakativ zu werden, wobei die Stimme stets im Vordergrund steht. Oft haben die Instrumentalisten kleine Patterns, über denen sich Soli oder Chor aufbauen, gerne nutzt Baur eine zentrierende Orgelpunkt-Wirkung.

Von zentraler Bedeutung ist hier die sängerische Leistung der Solisten. Stimmlich können sie alle drei voll überzeugen und befriedigen mit voller Textverständlichkeit. Beim Bassbariton Andreas Mattersberger geschieht dies zwar um den Preis einiger Konsonant-Überakzentuierungen – was man allerdings durch die heute herrschende Mode so gewöhnt ist, dass man es kaum mehr wahrnimmt -, doch seine sonore Stimme und musikalische und zugleich parlierende Phrasengestaltung lassen leicht darüber hinwegsehen. Geschickt war die Wahl, Bernhard Landauer als Altus für die Schlange einzusetzen: Die Stimme ist lupenrein in der Höhe und verleugnet doch nicht, dass es sich um eine Männerstimme handelt, was der Schlange gewissermaßen die „gespaltene Zunge“ verleiht und damit einen besonders überzeugenden Effekt einbringt. Das Verhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten ist fein abgestimmt bei Susanne Langbein, deren golden schimmernder Stimmklang fast schon prädestiniert ist für die Partie als Gott.

Das Orchester agiert zwar größtenteils recht ruhig im Hintergrund, doch dabei weiß es um seine Wichtigkeit für die volle Entfaltung dieser Oratorien. Entsprechend ist jedes noch so unscheinbare Motiv und jede noch so hintergründige Stimme integriert und reflektiert. Es muss eine gewaltige Anzahl an Proben hinter diesen Aufnahmen stecken, um solch eine subtile und ausdrucksvolle Untermalung zu bieten, die vermutlich vielen nicht einmal bewusst auffallen dürfte. Karlheinz Siessl dirigiert mit Liebe zum Detail und überhaupt zur Musik, was sich unüberhörbar auf seine Musiker überträgt. Die Akademie St. Blasius setzt nicht auf profitable Programme oder raschen Erfolg, alle dienen der Musik und den Komponisten, die sie für unterstützenswert halten – und so wäre es wünschenswert, dass auch dieses Orchester einmal groß unterstützt und ihm der Platz in der heutigen Orchesterwelt gegeben werden würde, der ihm eigentlich rein qualitativ zusteht.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]