Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Erstklassiges Orchester für Genzmer

Harald Genzmer: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 (1942); Konzert für Violoncello und Orchester (1950); Konzert für Posaune und Orchester (1999)

RSO Berlin, Leitung: Ariane Matiakh; Klavier: Oliver Triendl; Violoncello: Patrick Demenga; Posaune: Jörgen van Rijen

Label: Capriccio, Katalog-Nr.: C5330; EAN: 845221053301

Anlässlich des 10. Todestags des Komponisten Harald Genzmer gab es dieses Jahr viele Feierlichkeiten: Nicht nur gab es mehrere Neu-Aufnahmen seiner Werke, es wurden auch Konzert-Wochenenden, Wettbewerbe und Sonderveranstaltungen im Namen des Komponisten ausgerichtet, vor allem in München. In München lehrte Genzmer von 1957 bis 1974 Komposition an der Hochschule für Musik und blieb auch danach der Stadt verbunden.

Harald Genzmer ist der wohl bekannteste Schüler Paul Hindemiths, und seine Tonsprache ist der des späten Hindemith zum Teil so frappierend ähnlich, dass man sich wundern muss, warum Paul Hindemiths Musik von den Nazis als „entartet“ verfemt wurde, während Harald Genzmer es sogar in die sogenannte Gottbegnadeten-Liste schaffte, in der Goebbels und Hitler noch 1944 persönlich die ihrer Meinung nach „begnadetsten“ Kunstschaffenden des zu der Zeit schon dem Untergang geweihten „dritten Reichs“ auflisteten.

Unter den vielen Neuerscheinungen, die zu Genzmers 10. Todestag erschienen sind, ist die Einspielung dreier großer Instrumentalkonzerte des Komponisten durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wohl eine der ganz bedeutenden. Im Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 zeigt sich Genzmer ganz und gar seinem berühmten Mentor verpflichtet. Das ganze Stück wirkt wie eine Vorausschau auf Hindemiths eigenes spätes Klavierkonzert (1945). Dabei ist Genzmer stärker als Hindemith einer ganz lyrischen Moderne verpflichtet, wirkt insgesamt „zahmer“ als der Hindemith jener Jahre. Dabei darf man wohl nicht vergessen, dass Hindemith im US-Exil komponierte, während Genzmer im Kompositionsjahr des Klavierkonzerts zu den von der nationalsozialistischen Kulturpolitik tolerierten, gar geförderten Komponisten gehörte.

Das Cellokonzert aus dem Nachkriegsjahr 1950 zeigt einen moderneren, expressiveren Komponisten. Genzmer scheint hier auch dem Fahrwasser Hindemiths zunehmend zu entkommen, wenngleich vereinzelte harmonische Wendungen noch immer direkt „Mathis der Maler“ oder dem „Schwanendreher“ entsprungen sein könnten. Beeindruckend ist die Behandlung der tiefen Blechbläser in diesem Konzert, die immer wieder vollmundige Akzente im satt besetzten Orchester setzen. Der ganze Ensembleklang schwelgt in den mittleren und tiefen Registern und macht das Stück zu einem richtig fetten Sahnehappen.
Das abschließende Posaunenkonzert ist ein Spätwerk Genzmers, der im Kompositionsjahr 1999 seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Wie vieles aus Genzmers spätem Schaffen wirkt einiges an diesem Stück (…mit seinem ausgesprochen „Honneger’schen“ Finale…) wesentlich weniger organisch und auch weniger überzeugend als die Werke aus der Zeit von den 1930er-Jahren bis Ende der 1950er. Ich habe den Eindruck, dass in den späten Werken Genzmers zuweilen die kompositorische Technik über die musikalische Erfindung obsiegt. Oder anders ausgedrückt: Komponieren ist in diesen Werken bisweilen zum Handwerk geworden, das technisch zwar einwandfreie Stücke hervorbringt, die „auf dem Papier“ als geradezu mustergültig durchgehen, während sie an Geschmack verlieren und bisweilen mehr „gewollt“ als „empfunden“ klingen, wenn man sie hört.

Insgesamt wird Genzmer auch in der historischen Rückschau wohl nie zu den „A-Liga“-Komponisten gehören. Dazu ist sein Œuvre zu wenig eigenständig und auch qualitativ zu wenig ausgewogen. Aber Genzmer ist doch in vielerlei Hinsicht auch eine sehr interessante Stimme des 20. Jh., die immer wieder hörenswerte Musik geschrieben hat, die vor allem bei den Fans von Hindemith, Strawinsky, Martinů oder Honegger auf offene Ohren stoßen müsste. Es ist schön, dass das Genzmer-Jubiläumsjahr 2017 zu einigen klingenden Würdigungen seines Schaffens geführt hat, wenngleich beim Label Thorofon fast das gesamte Werk des Komponisten in durchaus empfehlenswerten Einspielungen bereits seit langem vorlag.

Diese Aufnahmen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter der Leitung der ausgesprochen interessanten Dirigentin Ariane Matiakh kann man indes loben: Sie haben in Oliver Triendl, Patrick Demenga und Jörgen van Rijen nicht nur bemerkenswerte Solisten zu bieten, die sich in diesen großen Instrumentalkonzerten allesamt von ihrer besten Seite zeigen, sondern es gehen hier auch viele Pluspunkte auf das Konto des Orchesters. Zwar hat Genzmer eigentlich immer sehr orchesterdienlich geschrieben (wohl auch, um die Aufführung seiner Stücke für möglichst viele Ensembles (auch die weniger professionellen) zu ermöglichen), aber es ist ein Unterschied, ob solche Werke einfach „gespielt“ werden oder wirklich interpretiert. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin schafft eine echte Interpretation der Musik, und dabei eine sehr geschmackvolle.
Die Ausgewogenheit der Stimmen, die feinen Klangfarben, der insgesamt (auch von der hervorragenden Klangtechnik der Deutschlandfunk-Tonmeister im 1 A-Sound eingefangene) Orchesterklang mit seinen seidigen Streichern und wunderbaren Bläsern ist sehr zu loben. Das ist sicher, neben dem absolut erstklassigen Orchester, auch Dirigentin Ariane Matiakh zu verdanken, die man beim Label Capriccio schon öfters positiv wahrnehmen konnte.

Wenn es einen Kritikpunkt gibt, den man dieser Aufnahme anlasten könnte (und der auf eine zu kurze, der Aufnahme vorangegangene Probenzeit hindeutet), so ist es das häufige Missachten der „großen Linien“, die Genzmer in seine Partituren hineingeschrieben hat.
Wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit denkt Genzmer in großen Zusammenhängen, die über das bloße Phrasieren zum Teil weit hinausgehen. Bei Genzmer kann eine „Phrase“ minutenlang dauern. Dass dies in der vorliegenden Aufnahme oft nicht erkannt wurde (während es beim Hören ebenso oft auffällt), ist der in meinen Augen einzige wirkliche Minuspunkt, der zwar sehr schade aber (zumal mangels Alternativen) verschmerzbar ist.

[Grete Catus, Dezember 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Abgründe für vier

TYX Art, TXA17090; EAN: 4 250702 800903

Streichquartette des 1945 geborenen Roland Leistner-Mayer spielte das Sojka Quartett für TYX Art ein. Neben dem unbetitelten Fünften Quartett Op. 147 stehen das Sechste Quartett op. 148 „7 untapfere Bagatellen“ und das Siebte Op. 151, das „Ariadne-Quartett“; sie entstammen alle den Jahren 2014-16.

Suchen und Finden eines eigenen Tons, einer individuellen Klangsprache, wurde gerade in der Stilpluralität des 20. Jahrhunderts zu einer zunehmend schwierigen Aufgabe, der sich zahllose Komponisten verweigerten und sich stattdessen herrschenden Strömungen anschlossen, oberflächliche Wirkung über musikalische Substanz stellten und Erfolg in einer Scheinwelt der vorgeblichen „Originalität“ suchten. Ein Widerläufer dieser Haltung ist der in Böhmen geborene Roland Leistner-Mayer, der sich stets fern hielt vom musikalischen Schubladendenken und nach Ursprünglichkeit und Eigenheit strebte. Leistner-Mayer setzte einen Schwerpunkt seines Schaffens auf die Gattung des Streichquartetts, drei in diesem Jahrzehnt entstandene Beiträge bietet vorliegende CD des Sojka Quartetts.

Schwermut durchzieht alle drei Werke, Dunkelheit und Abgründigkeit sind charakteristisch. Leistner-Mayer weiß, den Hörer in bestimmte Stimmungen zu versetzen, in die Tiefe zu ziehen und dort festzuhalten, wie besonders das über sechs Minuten andauernde, finale Presto precipitando aus dem Ariadne-Quartett beweist, welches immer unaufhaltsamer treibend und überwältigender aufbegehrt, ohne einen Moment der Ruhe. Unaufmerksamkeit oder Entspannung sind nicht mit dem Hören dieser Art eruptiver Musik zu vereinbaren. Der Komponist spielt mit Themen, die er lange Zeit auskosten kann und zwischen den Einsätzen der Musiker sich entwickeln lässt, und schroffen Kontrasten, die unvermittelt das Geschehen in neuem Licht erscheinen lassen. Dabei bleibt ein roter Faden durch das gesamte Werk hindurch erhalten und schweißt die Sätze zusammen, gibt eine unmissverständliche Richtung vor. Die Musik macht Sinn – ein heute viel zu selten beachtetes Qualitätskriterium, welches sich nur schwer verbal ergründen, aber sehr wohl erspüren lässt. Die Werke sind tonsprachlich eindeutig ihrem Komponisten zuzuordnen, wiederkehrende Ausdrucksmittel wie langes Tremolieren oder die treibenden rhythmischen Kontraste und Widersetzlichkeiten, die gegeneinander anspielenden Vierer- und Fünferrhythmen, lassen kein Zweifel daran, wer diese Musik geschrieben hat.

Das Sojka Quartett spielt mit großer Passion (im ursprünglichsten Sinn des Wortes) und entfaltet die aufrührende expressive und klangliche Dichte dieser Quartette in symphonischer Fülle. Kantabel und doch knackig fassen die vier Streicher die Musik an. Wünschenswert wäre lediglich noch eine größere Bandbreite an dynamischen Abstufungen, besonders im Pianissimo- und Fortissimobereich, sowie organischere Übergänge zwischen den Extremen, die so oft gefordert werden und in ihrer Gegensätzlichkeit ausgekostet werden sollen. Deutlich sind die einzelnen Stimmen voneinander abzuheben, die Verdopplungen könnten noch mehr als orchestral gesetzte Parallelität verwirklicht werden.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

[Rezensionen im Vergleich] Authentische Melancholie

Roland Leistner-Mayer: Streichquartette Nr. 5 op. 147, Nr. 6 ‚Untapfere Bagatellen’ op. 148 & Nr. 7 op. 151 – Sojka Quartet
TyxArt CD TXA 17090; EAN: 4250702800903

Roland Leistner-Mayer, geboren im Februar 1945 zweieinhalb Monate vor Kriegsende im heute tschechischen Grenzort Graslitz im Vogtland und aufgewachsen bei Ingolstadt, studierte ab 1968 in München Komposition bei den lokalen Antipoden Harald Genzmer und Günter Bialas (Genzmer war der Statthalter der neusachlich-freitonalen Hindemith’schen Handwerkstradition, der einstige Max Trapp-Schüler Bialas hingegen bezog auch die freie Zwölftönigkeit in sein Schaffen ein und fürchtete den vielbeschworenen „Beifall von der falschen Seite“ – also von den Reaktionären – bis ans Ende seiner Tage). Zunächst fasziniert von den sensationellen Klangwirkungen der Avantgarde, entdeckte er Mitte der siebziger Jahre seine Liebe zu Leos Janácek (sein erstes Streichquartett ist eine Hommage an den böhmischen Meister) und wandte sich vom blinden Fortschrittsglauben, dem bis heute die meisten etablierten Tonsetzer seiner Generation anhängen, ab. Dies, seinem Gewissen wie seinem innersten Bedürfnis geschuldet, ruinierte allerdings seine Karriere nachhaltig. Fast alle Kritiker und Programmmacher, und auch viele charakter- und urteilsschwache Musiker, die immer zuerst nach rechts und links schauen, ob eine Kunstäußerung auch den allgemeinen Beifall der autorisierten Meinungsbildner erheischt, schließen aus Angst vor dem potenziellen Vorwurf, sie seien altmodischen Ködern auf den Leim gegangen, sowohl Sympathie als auch jegliche objektivierend offene Haltung gegenüber Abtrünnigen bis heute aus. Man könnte ja als „Reaktionär“ gebrandmarkt werden, was zwar harmloser als etwa der unabhängigen Freidenkern allgegenwärtig auflauernde Vorwurf des „Antisemitismus“ ist, aber doch den unsicheren Konjunkturzeitgenossen die Knie zittern lässt. Also gehen sie auf ‚Nummer sicher’ und nehmen lieber ein süßstoffhaltiges Schaumbad im ausrichtungslosen Allerlei der umherirrenden Postmoderne auf der unerfüllbaren Suche nach einer geilen Aufmerksamkeitsspritze – denn welcher seelisch korrupte Töneschmied träumte nicht klammheimlich davon, mal ähnlich skandalös ins Rampenlicht zu geraten wie einst Strawinsky oder Varèse. Auch wenn das Neue heute so ganz woanders liegt als auf der Linie des einst die Bürger dissonanzgeladen Erschreckenden.

Roland Leistner-Mayers Streichquartette Nr. 5-7 entstanden in den Jahren 2014-2016. Sie bestechen vor allem durch die eindringliche Fantasie und den seelischen Reichtum der Harmonien und harmonischen Bezüge. Melodisch liebt Leistner-Mayer narrativ mäandernde Energie, die lange zusammenhängende Stimmungsgebilde ermöglicht. In metrischer Hinsicht verfährt er so einfach wie unmissverständlich und zieht fast immer den Taktwechsel der auch möglichen Verschiebung der Betonung innerhalb des Metrums vor. Dies sorgt für ausgesprochene Prägnanz des Moments und verleiht der Musik eine holzschnittartige Wirkung, zumal auch sein – durchaus handwerklich geschliffener – Kontrapunkt auch eher gemeinsame als gegeneinander versetzte Knotenpunkte des energetischen Verlaufs aufweist. Am schönsten ist seine Musik in jenen langsamen Sätzen, wo er eine maximale Einfachheit zulässt, also auch mit dem Kontrapunktieren sehr sparsam verfährt, wie vor allem im herrlichen ‚Ricordanza’-Larghetto des siebensätzig programmatischen 6. Quartetts. Hier vermag er in der gesanglichen Direktheit der Empfindungsübertragung, fern jeglichen Anflugs von Prätention, den Hörer ganz unmittelbar zu berühren und zu rühren, und erzählt ihm eine so persönlich authentische wie melancholisch hinreißende Geschichte. Leistner-Mayer ist zutiefst Melancholiker, seine Musik spricht eine überwiegend introvertierte, wehmütige Sprache, auch wenn der Gegenpol des ländlich Bukolischen, durchaus auch hemdsärmelig Zupackenden, immer wieder zum Zuge kommt und einen ursprünglichen Humor offenbart. Das ist keine Musik für gebildete Lackaffen, sondern für alle, insofern sie es zulassen können, sich auch intensiv schwermütig anrühren zu lassen. Und Leistner-Mayers Musik ist sehr dramatisch und arbeitet mit klar konturierten Kontrasten, hat ihr charakteristisches Pathos. Hier spricht einer von dem, was er erlebt, und niemals von etwas, das er sich und anderen vorgaukeln würde. Mangel an Ehrlichkeit wird man hier so wenig finden wie die kosmopolitisch glatte Eleganz mancher ganz im Trend liegenden jüngeren Kollegen, und so sehr seine Musik aus der Tradition gewachsen und unverbrüchlich in ihr verankert ist, so wenig lässt er sich auf selbstverliebte Recyclingspielchen mit der Musikgeschichte ein, weder im post-adornitisch gebrochenen noch im neopopulär naivistischen Sinne. Leistner-Mayer schreibt nur das, was ihm wesentlich erscheint, und das spürt man. Wer das mag und sich darauf einlässt, kann eine wohltuende Einfachheit hinter allem expressiven Drängen spüren, und eben – bei aller Abwendung vom modeschmuckträchtigen Glamour – eine Ausgerichtetheit, die ihr Maß aus dem ganz eigenen Bezug zu den Erscheinungen bezieht. Sehr schön sind insbesondere auch die lang gedehnten Entwicklungszüge der beiden anspruchsvollen langsamen Sätze des 7. Quartetts.

Das Sojka Quartet lässt sich ‚mit Leib, Seele und Verstand’ auf diese Musik ein und bezaubert mit angemessener Echtheit des Ausdrucks, agiert auch in sehr heiklen Passagen mit kerniger Kraft und Selbstbewusstsein. Bezüglich der Tempi, zumal der Tempowechsel und vieler agogischer Details bin ich zwar oftmals nicht so glücklich, doch das ist auch ein sehr diffiziles Feld. Auch wird immer wieder der Pianissimo-Bereich hin zu einem bequemeren ‚Mezzo’ nivelliert, was die gesangliche Phrasierung zwar für den Moment vereinfacht, jedoch die formbildenden Gegensätzlichkeiten abschwächt. Aufnahmeklang und der makellos wesentliche Booklettext sind durchaus zufriedenstellend, wenngleich die Graphik nicht gerade Bestnoten für die Leserlichkeit verdient.

[Christoph Schlüren, Dezember 2017]

Ein Komponist ohne Noten

Accelerando, ACC 03; EAN: 4 251383 400048

„The Silenced Voice of Vasyl Barvinsky“ heißt das neue Album der ukrainischen Pianistin Violina Petrychenko, auf dem sie sich ihrem vergessenen Landsmann widmet. Dessen Klavierzyklus „Love“, Acht Präludien und die Suite über ukrainische Themen sind hier zu hören.

Vasyl Barvinsky ist eine der tragischen Figuren des ukrainischen Musiklebens. Nach großen Erfolgen in seinen früheren Lebensjahren wurde er von der sowjetischen Staatsmacht abgeurteilt und ins Straflager verbannt, wo er zehn Jahre verbrachte. Seine Noten wurden öffentlich auf den Stufen jenes Konservatoriums verbrannt, welches er mehrere Jahrzehnte leitete. Als Komponist ohne Noten bezeichnete sich Barvinsky gegen Ende seines Lebens. Erst nach seinem Tod in den 1960er-Jahren wurde er öffentlich rehabilitiert und erhaltene Notendrucke wurden aus aller Welt zusammengetragen, so dass nun ungefähr zwei Drittel seines Schaffens gerettet werden konnten. Drei frühe Hauptwerke des Ukrainers sind auf „The Silenced Voice of Vasyl Barvinsky“ zu hören: Der Klavierzyklus „Love“, Acht Präludien und die Suite über ukrainische Themen.

Der Komponist kann als Spätromantiker bezeichnet werden, welcher dem tonalen Denken treu blieb und mit erweiterten Harmoniebildungen arbeitete. Einflüsse zog er vor allem aus ukrainischer Volksmusik, aber auch vom Impressionismus war er stark angeregt. Vasyl Barvinsky war zweifelsohne auf der Höhe seiner Zeit in seinem stilistischen Metier. Wir hören auf Violina Petrychenkos Album hauptsächlich Werke kleinen Formats; diese wusste Barvinsky mit farbenreichem musikalischem Inhalt und formalem Bewusstsein zu erfüllen. Es handelt sich um brillante Charakterstücke von unverkennbarem Wert, die in Suiten oder Zyklen zusammengefasst wurden. Abenteuerliche Neuerungen sind nicht zu erwarten, doch scheint dies auch nicht die Intention des Komponisten gewesen zu sein. Träumerische und schwärmerische Stimmungsbilder mit epischen Elementen waren eher seine Stärke. Der einzige längere Einzelsatz ist das Finale der Suite über ukrainische Themen, ein ausgeklügeltes und reiches Variationswerk mit abschließender Fuge, die ausgiebige Kenntnis der Barockmeister und früheren Romantiker bezeugt.

Violina Petrychenkos Spiel ist durch ihren weichen und runden Anschlag ausgezeichnet, dem eine Leichtigkeit und sanfte Sensitivität innewohnt. Große innere Ruhe charakterisiert ihre Darbietungen, die selbst in den aufbrausendsten Passagen ihre zusammenhangstiftende Konzentration behalten. Unprätentiös stellt sie sich in den Dienst der Musik, als Entdeckerin wie als ihre Entdeckungen präsentierende Musikerin.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2017]

Musik für triste Herbsttage

Genraut, CRC 3605; EAN: 0 44747-3605-2 2

Nach seinem erfolgreichen Debut in der Carnegie Hall lässt der in Deutschland lebende weißrussische Pianist und Komponist Leon Gurvitch nun eine Einspielung folgen: Poetic Whispers. Neben eigenen Werken, die auch in London erklangen, und Improvisationen stehen auf dem Programm die Pavane Gabriel Faurés, die Gymnopédie No. 1 von Erik Satie sowie Oblivion und Milonga del Ángel aus der Feder von Astor Piazzolla.

Es ist die Art Musik, die man wohl an stürmischen Herbsttagen hören möchte, wenn man unter einer warmen Decke im Bett liegt und eine warme Tasse Tees trinkt. Diese süßliche Melancholie, Zartheit, Schlichtheit, das einfache Gefühl. Man muss sich nicht anstrengen, die Musik zu verfolgen, sie treibt einfach dahin.

Leon Gurvitch bezieht die Schönheit seiner Musik aus der Einfachheit heraus, reflektiert sehr subjektiv die Zeit, in der sie entstand. Es sind klingende Stimmungsbilder, Charakterstücke, die irgendwie beinahe der Epoche der Romantik entstammen könnten. Sie haben einen simplen Aufbau und beziehen ihren Reiz aus melodiöser Erfindung und mancher harmonisch unerwarteten Wendung. Die Improvisationen sind den geschriebenen Stücken nicht allzu unähnlich, wenngleich Gurvitch hier teils auch andere Elemente einfließen lässt, jazzigere Akkorde und unvermitteltere Brüche. Inspiration holt sich Gurvitch auch von existierenden Werken, so ist seine Hommage à Stravinsky klar an dessen Petrouchka angelehnt und eines seiner Stücke heißt bereits Impressions after Adagio from Concierto de Aranjuez (by Joaquín Rodrigo).

Gurvitch besitzt einen warmen und runden Anschlag, dem ein intensives Gefühl innewohnt. Es handelt sich nicht um eine innerlich erspürte und vollständig dem innermusikalischen Kontext dienende, sondern eher eine sehr wirkungsvoll auf den Hörer ausgerichtete Emotion, die unglaublich mitreißend wirkt und sich durch Nachdruck auf der Taste ins Gedächtnis einprägt. Es liegt viel Persönlichkeit in der Spielweise Gurvitchs, sie überzeugt zumal in seinen eigenen Kompositionen mit schlagendem Effekt. Überragend ist sein Spiel auf der Melodica, die bei Piazzolla tatsächlich beinahe wie ein Bandoneon anmutet. Er phrasiert sanglich und spielerisch frei, überzeugt durch Natürlichkeit des Ausdrucks. Von den vier Kompositionen anderer Autoren gelingt ihm besonders Saties Gymnopédie No. 1, welche auch am ehesten dem Stil von Gurvitchs Werken nahesteht. Faurés Pavane klingt noch zu sehr nach ange-„schlagen“ und verliert so ihre schwebende Immaterialität; hier sollte der Hörer eigentlich vergessen dürfen, dass es nur ein Klavier und kein Orchester mit großem Chor ist, das diese wundervolle Miniatur vorträgt. Piazzolla swingt und groovt, Gurvitch lässt lebendige Kontraste entstehen und geht förmlich auf in der Musik.

Es ist ein vielseitiges Album ungeachtet eines übergeordneten Stimmungsbildes, das Gurvitch vorlegt. Die Einheit in der Vielfalt, wenn man diesen Begriff so für musikalische Zwecke verwenden darf…

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Ein noch Unentdeckter

Martin Scherber (1907-1974): Erste Symphonie – Goethelieder – Kinderlieder – 6 Lieder

Bratislava Symphony Orchestra, Adriano (conductor); Thomas Heyer, Tenor; Lars Jönsson und Hedayet Djeddikar (Klavier) Laura Cromm (Violine)

 

Sterling,  CDS 1113-2

Wer sich heute bzw. während seines Lebens auf Bruckner oder Goethe oder gar Rudolf Steiner beruft, muss schon ein komischer Vogel oder Zeitgenosse sein: altmodisch, unmodern und ähnliche Schimpfworte dürften Martin Scherber (1907-74) zeitlebens begegnet sein. Allerdings war er ziemlich früh auf seinen eigensten Weg gelangt, eben auch mit Unterstützung der besagten drei Vorbilder und ihrer verschiedensten Anregungen. Als Komponist – ähnlich wie Jahrzehnte später der Schwede Anders Eliassohn – enthielt er sich der willentlichen Steuerung des Schöpfungsprozess, empfand er sich nur als Medium für das, was durch ihn Musik werden wollte, ein sehr ungewöhnlicher Standpunkt in einer Zeit des „Machens“ und all der gewalttätigen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts. Allein sein immer intensiverer Rückzug in sein eigentliches Innenleben – ohne sich dadurch sektiererisch abzukapseln – ermöglichte es ihm, sich ganz dem Werden der Musik zur Verfügung zu stellen. Seine drei Symphonie bezeichnete er nicht als „von“, sondern als „durch“ Martin Scherber entstanden! Tatsächlich sind diese drei jeweils einsätzigen, großdimentionierten Symphonien sein Lebenswerk, neben den auch andere Kompositionen wie Klavierstücke und auch Lieder überliefert sind, von denen eine gelungene Auswahl auf dieser CD zu hören und zu erleben ist – gesungen und gespielt vom Tenor Thomas Heyer und den Pianisten Lars Jönsson bzw. Hedayet Djeddikar sowie der Geigerin Laura Cromm. Und das sind keine Allerweltslieder, nein, musikalische Kostbarkeiten werden da hörbar, bei denen das Staunen und die Nichtselbstverständlichkeit in jedem Ton zu erleben sind. Das ist auch kein Wunder bei einem Komponisten, der die Eigenarten der deutschen Sprache in einigen musikalischen Werken in eine Form bringen wollte, die das Typische daran „zum Klingen“ bringt.

Seine Erste Symphonie ist – wie alle seine drei – einsätzig. Die Idee, dass eine ganze Symphonie – alle Bewegtheiten vom ersten Allegro über das Adagio und das Scherzo bis zum Finale – aus einer Grundidee, einem „Thema“ entstehen kann und soll, ist zwar schon älter, aber dennoch ein, besser d e r  Ausgangspunkt für sogenannte „Metamorphosen-Symphonik“, die natürlich auch Bruckners Symphonien als Ausgangspunkt hat, aber – wie Christoph Schlüren im sehr ausführlichen Booklet ausführt – auch Verbindungen zu Sibelius oder auch zu Heinz Tiessen, einem ebenfalls vom heutigen Musikbetrieb völlig vernachlässigten Komponisten, nahelegt. Überhaupt ist es Schlürens Verdienst, Martin Scherber in schlüssig argumentierender Weise in Verbindung zu bringen mit seiner Zeit, seinen Zeitgenossen, der symphonischen Tradition und auch seinen Nachfahren. Das ist eben nur mit umfassender Kenntnis möglich und auch ein Verdienst dieser CD-Produktion. Die nur noch über den Freundeskreis von Scherbers Musik erhältliche Aufnahme der Zweiten Symphonie aus Russland ist mit Abstand am besten gelungen, während die Dritte unter Elmar Lampson (col legno) eine – ehrlich gesagt – nackte Katastrophe ist und dem Komponisten einen entsetzlichen Bärendienst erwiesen hat. Um so besser, dass nun diese Erste Symphonie-Einspielung aus Bratislava wieder etwas besser gelungen ist, man hat eben doch den Eindruck, dass da eine Musik ans Licht gelangt, deren Weite und Tiefe, deren Wirklichkeit erst noch zu entdecken und zu erleben ist.

   Ganz anders seine Lieder, die mich sofort gefangen nehmen in ihrer Unmittelbarkeit und dem ureigenen Klang. Mich, der ich normalerweise dem klassischen Liedgesang sehr skeptisch gegenüberstehe – vor allem, wenn es um die Textunverständlichkeit der meisten klassischen Sänger und Sängerinnen geht. Allerdings ist im Fall von Thomas Heyer und seinen Begleitern da überhaupt keine Befremdung aufgekommen. Auch wenn der Tenor  über alle Nuancen – auch des Dramatischen – verfügt, höre ich doch, wie sehr auch ihn diese Lieder dazu bringen, sich als „hohles Bambusrohr“ zu spüren, wie die für mich allerbeste Definition eines Künstlers heißt, nach dem Motto: „Sei wie ein hohles Bambusrohr, durch das der Wind geht.“

[Ulrich Hermann, November 2017]

Chopin bei Nacht

Alpha Classics, ALPHA 359; EAN: 3 760014 193590

Auf zwei CDs spielte Nelson Goerner alle 21 Nocturnes von Frédéric Chopin ein (Opp. 9, 15, 27, 32, 37, 48, 55, 62, Op. 72 Nr. 1 sowie cis-Moll und c-Moll Op. Post.). Die Doppel-CD erschien bei Alpha Classics.

Der Begriff der Nocturne evoziert sogleich ein ganz bestimmtes Bild von einer ruhigen, verträumten Landschaft, von Mondenschein und vom Blick auf die funkelnden Sterne; unangetastete Ruhe und Zartheit, frei von all den weltlichen Problemen, und dem Schlafe nahe. Wie viel mehr sich doch tatsächlich hinter diesem Begriff verbirgt, beweist Chopin in seiner knapp zweistündigen Sammlung von 21 Nocturnes: Innerliches Aufbegehren, Trübung, Haltlosigkeit, Melancholie und Suche nach etwas Übergeordneten. Jede Nocturne steht für sich, eröffnet eine eigene Welt und definiert die Gattung auf eigene Weise.

Nelson Goerner stellte es sich zur Aufgabe, den gesamten Zyklus einzuspielen mit all den Unterschieden dieser Werke. Das charakteristisch Träumerische findet hier ebenso seinen Platz wie das Aufwühlende, die Ruhe Durchbrechende. Goerner verliert sich nicht in Sentimentalität, sondern findet die Konturen, Ecken und Kanten. Die ausgiebigen Ornamente, die bei Chopin eine Kunst für sich darstellen und sich gelegentlich zu umfangreichen Läufen oder diffizilen Figurationen ausweiten, behalten bei Goerner – was selten zu hören ist – auch tatsächlich den Ausschmückungscharakter, wobei der übergeordnete Gesamtkontext nicht unterbrochen oder verfälscht wird. Der einzelne Ton erhält Bedeutung, der Anschlag hat nicht das oft zu vernehmende Immaterielle, sondern eine gewisse Prägnanz. Trotzdem achtet Goerner größtenteils auf kantablen Fluss der melodischen Linie (Ausnahme ist die Nocturne Op. 15, Nr. 3, bei welcher der Fokus der Linie nicht über die langen Noten hinüberreicht) und auf das entspannende Streben hin zu einer Zieltonart. Zu wünschen wäre vielleicht teils noch eine genauere Betrachtung des harmonischen Geflechts, das so facettenreich und ergiebig ist in diesen kleinen Juwelen: die Wertigkeit der linken Hand sollte trotz der eigentlichen Begleitfunktion zu der singenden Oberstimme nicht vergessen werden, denn erst die dort enthaltenen, teils auf mehrere Oktaven verstreuten Akkorde bringen die Musik voran und verleihen den Werken die fest verankerte Struktur. Goerner erlaubt sich einige Freiheiten, gerade auch im Tempo, ist dabei aber stets darauf bedacht, dass das klangliche Resultat als Ganzes „funktioniert“. Nie lässt er sich zu übermäßigen oder überflüssigen Rubati verleiten, er gibt die Kontrolle über das Geschehen nicht aus der Hand; und er greift aktiv ein, statt sich nur treiben zu lassen.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Was ist schöner als ein Cello? Natürlich Zwei davon…

GINZELDUELLO – Reiner Ginzel & Hans Henning Ginzel Violoncello

Von Romberg bis Ginzel – verschiedene Komponisten

Solo Musica, SM 272;  EAN 4 260123642723

Nicht nur zwölf Cellisten, es genügen auch deren zwei, um eine wohltönende Steigerung der natürlichen Vorzüge dieses Instrument zu bewerkstelligen. Noch dazu, wenn sich Vater und Sohn am gleichen Instrument treffen, jeder ein Könner: Dann kann fast nichts mehr schiefgehen. Wie denn auch die Stücke vom Altmeister Bernhard Romberg (1767-1841) über das altbewährte „Greensleeves  to a Ground“, Stücke von Bach, Kummer usw. beweisen, bis hin zu Debussy und einer eigenen Komposition von Ginzel jr., genannt „ Ein Haydn-Spaß. Duell für zwei Cellisten“, ist vieles vertreten, was Rang und Namen hat und Spaß beim Spielen macht, und dazwischen gibt es Neues zu entdecken wie Dotzauers bezaubernde Mozart-Variationen. Dass hier Harmonie und Freude im Spiel waren, das hört man auch sehr deutlich auf dieser im großen Konzertsaal in der Münchner Hochschule für Musik und Theater hervorragend aufgenommenen Scheibe. Auch das informative Booklet gehört dazu, so dass ein rundherum zufriedener Hörgenuss garantiert ist, vor allem, wenn man dem Klang des Cellos sowieso zugeneigt ist. Die Bandbreite ist jedenfalls immer wieder überraschend und beeindruckend, zu der dieses Instrument fähig ist, besonders unter den Händen und mit der Hingabe gespielt wie auf dieser CD von Vater und Sohn Ginzel.

[Ulrich Hermann November 2107]

Requiem-Rarität trifft Requiem-Promi

Herbert Howells: Requiem (1936)
Maurice Duruflé: Requiem, Op. 9 (Fassung für Chor, Solisten, Orgel und Solo-Cello)
Saint Thomas Choir of Men & Boys, Fifth Avenue, New York
Leitung: John Scott
Mezzosopran: Kirsten Sollek, Bariton: Richard Lippold
Orgel: Frederick Teardo, Cello: Myron Lutzke

Label: Resonus / Vertrieb: Naxos
EAN: 5060262791059 / Art.-Nr.: RES10200

Eine ausgezeichnete CD ist beim für stabile Qualität bekannten britischen Label Resonus erschienen. Im Mittelpunkt des Interesses steht Maurice Duruflés herrliches Requiem, das der Komponist, inspiriert von gegrorianischen Gesängen, uns als post-impressionistisches Meisterwerk der französischen Sakralmusik überliefert hat. Es wird auf diesem Album nicht nur in der im Vergleich zur üppigen Orchesterfassung eher selten gehörten, intimeren Version für Chor, Solisten, Cello und Orgel dargeboten, sondern es wird – Überraschung! – ausnahmsweise einmal NICHT mit Faurés berühmtem Requiem gekoppelt, was ja auch einmal ganz erfrischend ist. Stattdessen (…und da lässt vermutlich die britische Provenienz des Labels dieser Aufnahme grüßen…) kommt man in den sehr seltenen Genuss des Requiems von Herbert Howells.

Howells war einer der produktivsten Komponisten geistlicher Musik im 20. Jahrhundert, ein enger Freund von Ralph Vaughan Williams. Die kreative Korrespondenz zwischen Vaughan Williams und Howells ist musikgeschichtlich durchaus bedeutend, denn beide regten sich gegenseitig immer wieder zur Komposition neuer Werke an, tauschten Ideen aus und kritisierten einander freundlich, wenn auch bestimmt.

Leider ist das sehr interessante Œuvre Herbert Howells‘ hierzulande praktisch unbekannt. Und da man auch Duruflés vergleichsweise berühmtem Requiem doch immer noch ein paar mehr Hörer wünschen möchte, gerade auch in dieser wunderbaren Partitur-Version, die ein Solo-Cello im Pie Jesu (wie vom Komponisten vorgeschlagen) mit einbezieht (was in dieser Form meines Wissens noch nie auf CD zu hören war), ist dieses Album einfach eine sehr interessante Sache.

Der „Saint Thomas Choir of Men & Boys, Fifth Avenue, New York“ ist nicht nur ein Chor, der gute Chancen auf den Rekord für den weltlängsten Ensemblenamen im Chorsektor für sich reklamieren darf, sondern er erweist sich auch als ein professioneller Klangkörper mit wunderbarer Ensembleklangkultur, die in der tontechnisch ausgezeichneten Aufnahme der Resonus-Toningenieure wirklich makellos eingefangen wurde. Zwar sind die hohen Männerstimmen technisch nicht immer ganz astrein, doch die ausgesprochen emotionale Hinwendung der Sänger zum Werk macht diese leichten Abstriche im technischen Bereich wieder wett.

Es ist dies nämlich eine Einspielung, die tatsächlich berührt. Es gibt in dieser Aufnahme so viele Momente, die einem im besten Sinne nahegehen und die ich so auch in Aufnahmen mit weitaus namhafterer Besetzung kaum einmal überzeugender gehört habe. Mezzosopran-Solistin Kirsten Sollek besitzt genau die stimmliche Natürlichkeit und Zurückhaltung, die zu Duruflés Musik passt, während Bariton Richard Lippold wesentlich kraftvoller tönt und mit auffallend opernhaftem, dominantem Vibrato manchmal eher wie ein Fremdkörper in dieser ansonsten außergewöhnlich stimmigen Interpretation erscheint.
Ein Sonderlob verdient Organist Frederick Teardo, der auf der herrlich warm und „holzig“ klingenden Orgel der New Yorker Saint Thomas Church ausgesprochen kantabel und rhythmisch stimmig phrasiert. Die musikalische Leitung von John Scott ist gleichfalls souverän und behutsam. Er verordnet seinem Chor ein unwiderstehlich „sahniges“ Legato, an dem man sich  natürlich auch leicht reiben kann. Das ist Geschmackssache.

Das Howells-Requiem ist ein A-Cappella-Stück und geht mit zum Teil ziemlich fordernden Intervallsprüngen einher. Hier muss der Chor wirklich bis an seine Grenzen gehen, und das hört man leider manchmal auch, vor allem bei den hohen Knabenstimmen. Insgesamt wirkt der Vortrag beim Howells-Requiem auch in punkto Dynamik etwas komprimierter, sodass dieses selten gehörte Requiem leider die etwas weniger überzeugende Hälfte eines alles in allem aber sehr hörenswerten Albums darstellt.

[Grete Catus, November 2017]

Fortsetzungsoratorien

MusikMuseum, CD13013; EAN: 9 079700 069502

MusikMuseum, CD13028; EAN: 9 079700 700153

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Chor und Orchester der Akademie St. Blasius spielen auf zwei voneinander unabhängig erschienenen CDs die beiden großen Oratorien des tirolischen Komponisten Franz Baur, „Genesis“ und „Amartema – Der Sündenfall“. Andreas Mattersberger übernimmt die Rolle des Bassbariton-Solos, in barocker Manier Erzähler des Bibeltextes, Susanna Langbein singt Sopran und in ”Amartema” kommt Bernhard Landauer als Altus hinzu. Das Orchester wird von seinem Chefdirigenten Karlheinz Siessl geleitet.

Es sind Oratorien vom Beginn der Welt und Ursprung unseres heutigen Bewusstseins, Oratorien des Aufkeimens und schlussendlich des Falls in den Zustand, der unsere jetzige Realität darstellt. Entstehung und Verstoßung, der in Tirol geborene Komponist und Philosoph rollt die Bibel von ihren Anfängen her auf und erfüllt die ersten Kapitel mit seinen Klängen und Gedanken. Durch das aufeinander aufbauende Geschehen gehören die beiden Musikwerke letztlich zusammen, aber Franz Baur gestaltet sie auf vollkommen unterschiedliche Weise.

Das betrifft schon die Besetzung, denn während Genesis das Orchester stark zurücknimmt und nur Streicher, Schlagwerk sowie zum Höhepunkt hin zwei Hörner verwendet, spannt Amartema das gesamte Orchester ein, macht zudem ausgiebigen Gebrauch von drei Solisten, wo Genesis mit einer Bassbaritonrolle und einer kleineren Sopranpartie auskommt. Die Schöpfung hat eine ganz klare Aufteilung in die sieben Tage, welche durch kurze Sprechpartien unterteilt und doch musikalisch eben dadurch auch zusammengehalten werden, während der Sündenfall zwar in fünf Teile plus Epilog (erste drei Teile: Paradies; vierter und fünfter Teil: Sündenfall) gegliedert ist, diese jedoch bruchlos ineinander übergehen. So stellt sich Baur vor unterschiedliche Herausforderungen: in Genesis verwendet er für jeden Tag eine andere Kompositionstechnik, die er über diese Kontraste hinaus sinnvoll korrelieren muss, in Amartema hat er die gesamte „himmlische Länge“ eines Oratoriums musikalisch zu erfüllen, ohne dass Gleichförmigkeit entsteht. Genesis zieht viel klanglichen Reiz aus additiven Prinzipien, indem zu einem etablierten Ton neue Klänge hinzutreten und sich eine Kon- oder auch eben Dissonanz bildet, die der Hörer beim Entstehen mitverfolgen kann – wenn man so will, eine Weiterführung der Idee, die Ligeti zu Beginn seines Lux aeterna verfolgte. Amartema hat aufgrund der größeren Besetzung mehr Möglichkeiten, auf den Text einzugehen und diesen subtil zu illustrieren. Baur schafft es dabei, niemals plakativ zu werden, wobei die Stimme stets im Vordergrund steht. Oft haben die Instrumentalisten kleine Patterns, über denen sich Soli oder Chor aufbauen, gerne nutzt Baur eine zentrierende Orgelpunkt-Wirkung.

Von zentraler Bedeutung ist hier die sängerische Leistung der Solisten. Stimmlich können sie alle drei voll überzeugen und befriedigen mit voller Textverständlichkeit. Beim Bassbariton Andreas Mattersberger geschieht dies zwar um den Preis einiger Konsonant-Überakzentuierungen – was man allerdings durch die heute herrschende Mode so gewöhnt ist, dass man es kaum mehr wahrnimmt -, doch seine sonore Stimme und musikalische und zugleich parlierende Phrasengestaltung lassen leicht darüber hinwegsehen. Geschickt war die Wahl, Bernhard Landauer als Altus für die Schlange einzusetzen: Die Stimme ist lupenrein in der Höhe und verleugnet doch nicht, dass es sich um eine Männerstimme handelt, was der Schlange gewissermaßen die „gespaltene Zunge“ verleiht und damit einen besonders überzeugenden Effekt einbringt. Das Verhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten ist fein abgestimmt bei Susanne Langbein, deren golden schimmernder Stimmklang fast schon prädestiniert ist für die Partie als Gott.

Das Orchester agiert zwar größtenteils recht ruhig im Hintergrund, doch dabei weiß es um seine Wichtigkeit für die volle Entfaltung dieser Oratorien. Entsprechend ist jedes noch so unscheinbare Motiv und jede noch so hintergründige Stimme integriert und reflektiert. Es muss eine gewaltige Anzahl an Proben hinter diesen Aufnahmen stecken, um solch eine subtile und ausdrucksvolle Untermalung zu bieten, die vermutlich vielen nicht einmal bewusst auffallen dürfte. Karlheinz Siessl dirigiert mit Liebe zum Detail und überhaupt zur Musik, was sich unüberhörbar auf seine Musiker überträgt. Die Akademie St. Blasius setzt nicht auf profitable Programme oder raschen Erfolg, alle dienen der Musik und den Komponisten, die sie für unterstützenswert halten – und so wäre es wünschenswert, dass auch dieses Orchester einmal groß unterstützt und ihm der Platz in der heutigen Orchesterwelt gegeben werden würde, der ihm eigentlich rein qualitativ zusteht.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Was eben erwartet wird

TYX Art, TXA17096; EAN: 4 250702 800965

Der 1995 geborene Pianist Alexander Maria Wagner spielt für TYX Art das Erste Klavierkonzert b-Moll Op. 23 von Peter Ilyich Tschaikowsky ein, sekundiert vom RTV Symphony Orchestra Moscow unter Alexei Kornienko. Im Anschluss spielt das Orchester noch die Zweite Symphonie Alexander Maria Wagners, die nach einem Gedicht von Johanna Kapelari konzipiert wurde, welches inmitten der Symphonie auch von Bettina Schönenberg rezitiert wird.

Es ist ein Bild, das unsere heutigen Vorstellungen und Ansprüche an die „klassische Musik“ genauestens widerspiegelt. Ein Virtuose, Wunderkind, rauscht durch eines der gewaltigen und halsbrecherisch schwierigen Konzerte der romantischen Epoche, fingerfertig und brillant, ohne nur eine der Hürden schwierig oder widerhakig erscheinen zu lassen. Hiernach präsentiert sich der Pianist auch noch als Komponist und legt der Öffentlichkeit mit zweiundzwanzig Jahren bereits seine zweite Symphonie vor, auch ein Gigant wie Schostakowitsch war nicht früher dran mit der Komposition seines zweiten symphonischen Werks. Und am Ende bleibt das Publikum begeistert zurück angesichts solch eines jungen Talents.

Die Aufnahme präsentiert uns alles, was heute von einem Genie erwartet wird, eine glänzende Fassade. Und tatsächlich zeigt Alexander Maria Wagner brillante Fingermechanik, aufregende Emotionen und virtuose Fähigkeiten, die vielleicht erstaunen mögen. Doch leider bleibt es zum Großteil bei eben dieser Fassade, dahinter verbirgt sich sehr wenig, das auf musikalische Substanz hinweisen würde. Der Anschlag ist hart und rau, birgt weder Feinsinn noch Hintergründigkeit, ist auf bloßes Brillieren aus; die Lyrik wird nicht erspürt, sondern einfach konventionell ausgeführt; und die herrlichen Harmonien bleiben ziellos aneinandergereihte Akkordgebilde, die eben mehrere Finger zeitgleich erfordern. Dies ist bedauerlich gerade angesichts dessen, dass doch unverkennbar spürbar wird, dass ein Talent in dem jungen Pianisten steckt. Dieses sollte auf musikalischer Ebene gefördert werden und nicht noch weiter auf die Schiene eines rein oberflächlich agierenden „Notenfressers“ gebracht werden, der höchst komplexe Werke spielen, aber nicht verstehen kann.

Die Symphonie steht ganz im Zeichen der heute in Fachkreisen als alleingültig reklamierten Avantgarde, wilde Geräusche und durcheinandergeworfene Töne dominieren das Bild. Harsche Brüche und Kontraste legen manchen interessanten Moment frei, schneiden sich zugleich stets vom vorherigen ab. Doch der Avantgarde-gewohnte Hörer wird nicht mehr geschockt von derartigen Klängen, die seit nunmehr beinahe hundert Jahren in ähnlich brüsker und oft viel schrofferer Form existieren. Eine erneute Suche nach Struktur und Zusammenhang, nach musikalischem Sinn, wäre in jeder Hinsicht viel wertvoller. Und gerade dies ist in Wagners Zweiter Symphonie nicht einmal ansatzweise aufzuspüren, die einzelnen Ebenen überlagern und unterbrechen sich willkürlich, jeder eventuelle Aufbau einer vielversprechenden Entwicklung wird sogleich unterbrochen. Es gibt auch wenig Eigenes in dieser Musik, sie folgt vorhandenen Trends und sucht Halt in vertrauten Topoi unserer Zeit. Doch macht nicht gerade das „Eigene“ eine Symphonie aus? Man denke nur an Sibelius, an Schostakowitsch, Eliasson, Sæverud, Nørgård, Nordgren, Enescu, Lyatoshinsky oder auch den Tiroler Zeitgenossen Michael Franz Peter Huber, sie alle (und viele andere auch) haben sich in jeder Symphonie neu erfunden, haben Originäres geschaffen, sich von Strömungen nicht vereinnahmen lassen und nicht zuletzt die gesamte Form als bezwingenden Zusammenhang zu artikulieren verstanden. Das geräuschhafte, avantgardistische, findet bei den meisten der genannten Komponisten seinen festen Platz und wird doch schlüssig in den großen Kontext integriert.

Bei meinen Ausführungen geht es keineswegs darum, ein junges Talent an seinem Weg zu hindern, ihm einen Stein in den Weg zu legen oder es plump zu attackieren. Mein Anliegen ist vielmehr, Bewusstsein zu schaffen dafür, eigenständig in der Musik zu forschen und das Wissen um prinzipielle Zusammenhänge zu vertiefen – als Ausführender wie als schaffender Musiker. Wir haben reichlich hochbegabte Virtuosen, aber wir haben nicht genügend wirkliche „Musiker“, denen die Musik mehr bedeutet als der äußere Erfolg. Musik ist etwas so Unergründliches, jeder Zusammenhang ist einmalig, jede Konstellation unwiederholbar – wir sollten sie nicht als gegeben hinnehmen, sondern von Grund auf stetig neu zu erfahren suchen. Ich bin überzeugt, Alexander Maria Wagner hätte die Fähigkeit dazu, ein „Musiker“ zu werden, sofern er denn einen eigenen Weg gehen will und sich nicht leichtfertig der Oberflächlichkeit des Business und seiner Erwartungen unterwirft. So hoffe ich bei diesem Text vielleicht noch mehr als bei anderen, dass er von den richtigen Stellen gelesen und beachtet, nicht in kurzsichtigem Karrierewahn einfach nur als „negative Kritik“ beiseite gelegt wird.

[Oliver Fraenzke, November 2017]

Grandiose Klaviermusik aus dem Gulag

Hänssler Classic, 5CDs, LC 13287; EAN: 0881488170351

Nachdem letztes Jahr bereits die 24 Préludes sowie die 24 Präludien & Fugen gewissermaßen als Auskopplungen bei Hänssler veröffentlicht wurden, erscheint jetzt endlich auf 5 CDs eine größere Auswahl aus dem (erhaltenen) Klavierwerk des russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky (1891-1953), der einen Großteil seines Lebens unter politischer Verfolgung litt und sogar zwei Jahre im Gulag verbringen musste. Die Darbietung des als Spezialist für jüdische Musik geschätzten Jascha Nemtsov kann nur als phänomenal bezeichnet werden.

Diese Entdeckung ist eine echte musikalische Sensation! Nachdem die Fachwelt sich jahrzehntelang um eine erfolgreiche Rehabilitierung der im Dritten Reich verfolgten bzw. ermordeten Komponisten beispielsweise aus Theresienstadt (Krása, Ullmann, Haas…) bemüht hat, steckt eine entsprechende Aufarbeitung der unter den Sowjets bedrängten russischen Komponisten noch eher am Anfang.

Dem russischen Musikwissenschaftler und Pianisten Jascha Nemtsov ist es zu verdanken, dass im vergangenen Jahrzehnt das Klavierwerk des russischen Komponisten Vsevolod Zaderatsky, der zu Lebzeiten weder gedruckt noch aufgeführt wurde, ans Licht kam. Zaderatsky – gleichaltrig mit Prokofieff – studierte ab 1910 in Moskau erfolgreich bei Tanejew und Ippolitov-Ivanov. 1920 entging er nur knapp der Exekution durch die russische Geheimpolizei Felix Dserschinskis. Als Offizier der Weißen Armee und ehemaliger Musiklehrer der Zarenfamilie hatte Zaderatsky dabei ganz schlechte Karten. Bis auf vier Moskauer Jahre (1930-34) und die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, in der er jedoch weiter vom Sowjetischen Komponistenverband diskreditiert wurde, lebte er in der Verbannung, von 1937-39 sogar im Gulag. Seine Werke bis 1926 wurden komplett vernichtet.

Die im sibirischen Gulag 1937-38 entstandenen 24 Präludien & Fugen sind – ganz abgesehen von ihrer unglaublichen Entstehungsgeschichte – ein musikalisches Wunderwerk. Es fällt zeitlich nicht nur vor Hindemiths Ludus tonalis, sondern insbesondere auch weit vor Schostakowitschs entsprechenden Zyklus (op. 87, 1951). Natürlich ist auch für Zaderatsky Johann Sebastian Bach das große Vorbild, aber hier begegnet uns weit mehr als eine bloße Hommage. Die stilistische wie auch emotionale Spannweite übertrifft Schostakowitsch deutlich: Ein einzigartiger musikalischer Kosmos wird hier aufgespannt. Die Verbindung des Materials von den Präludien zu den Fugen ist überzeugend; meist wirkt das Paar wie aus einem Guss. Generell bleibt Zaderatsky zwar der Tonalität verpflichtet und die Stücke des Zyklus folgen in ihrer Anordnung dem Quintenzirkel. Dennoch arbeitet der Komponist sehr charakteristisch mit vielen Dissonanzen, vor allem Mini-Clustern aus einer oder mehreren kleinen Sekunden, die ein völlig anderes Klangbild ergeben als bei Schostakowitsch – in seiner Wirkung zudem noch konzertanter. Der Zyklus wurde erst 2015 von Jascha Nemtsov uraufgeführt, die Entdeckung auch in Russland bejubelt.

Näher an Schostakowitschs gleichnamigem Zyklus (op. 34, 1933) liegen Zaderatskys 24 Préludes (1934), die trotz einiger experimenteller Elemente andererseits mehr auf Chopin verweisen. Von den drei Klaviersonaten sind die ersten beiden (1928) die interessanteren. Nach der Vernichtung seiner Werke, zwei Jahren Haft und einem Selbstmordversuch orientieren sie sich an den großen, einsätzigen Sonaten Skrjabins, Roslavez‘ und Feinbergs, sind aber depressiver und zerrissener. Die vielgliedrige, gewaltige zweite Sonate muss man mehrfach hören, bis sich ihre Teleologie erschließt. Dagegen wirkt die dritte, tonale Sonate von 1939 deutlich konventioneller, ohne jedoch typische Eigenheiten Zaderatskys zu verleugnen: Kompromiss an die Machthaber nach der Freilassung aus dem Gulag?

Die beiden Klavierzyklen Die Front (1944) und Die Heimat (1946) weisen schon von ihren Satztiteln her auf den sozialistischen Realismus: ein Trugschluss! Nur oberflächlich geben sie sich konziliant. Die Front bedient sich nicht einmal als Maske propagandistischer Kriegsrhetorik, ganz im Gegensatz zu manchen musikalischen Äußerungen einiger Avantgardisten (vgl. Mossolows E-Dur-Sinfonie), die sich in den Kriegsjahren aus Angst vor Stalin zu Konformität gezwungen sahen. Vielmehr zeigt der Zyklus ungeschminkt die Schrecken des Krieges, ganz ohne Agitation, vergleichbar vielleicht nur mit Leo Ornsteins anklagendem Klavierzyklus Poems of 1917. Ziemlich ironisch gibt sich dann auch Die Heimat. Pianistisch ist dies alles höchst virtuos; Zaderatsky beherrscht die Klangpalette des Instruments souverän. Ganz erstaunlich etwa Die Fabrik: Die mechanistische Lautmalerei erinnert einerseits an Mossolows Eisengießerei, greift aber bereits auf Stücke wie Frederic Rzewskis Winnsboro Cotton Mill Blues vor. Die kürzeren Zyklen aus gefälligeren Miniaturen, meist um 1930 entstanden, erreichen zumindest das Niveau bekannterer zeitgenössischer Russen wie Kabalewski oder Alexander Tscherepnin.

Jascha Nemtsovs Interpretationen sind nicht nur pianistisch makellos. Er erfasst sowohl die teilweise – für einen Tanejew-Schüler wenig überraschend – komplizierte Polyphonie der Präludien & Fugen als auch die Ironie der nur scheinbar dem sozialistischen Realismus verpflichteten Klavierzyklen und die tiefe Depression der beiden ersten Klaviersonaten. Die Stimmführung bleibt immer transparent, die gewählten Tempi sind goldrichtig und die musikalischen Charaktere werden mit einer staunenswerten Plastizität getroffen. Von lyrischem Schönklang bis zu ausgefransten Dissonanzen wird der Klavierklang orchestral ausgelotet. Und bei den 24 Préludes erkennt der Hörer sofort die musikhistorischen Bezüge. Kurz: Mit dieser Darbietung, die zudem auch aufnahmetechnisch überzeugt, darf man wunschlos glücklich sein. Nemtsov verfasste überdies den hochinformativen Booklettext. Den Namen Zaderatsky sollte man jetzt in einem Atemzug mit längst bekannten russischen Klaviermeistern nennen dürfen, zumal die Werke nun wohl endlich im Druck erscheinen werden. Wunderbar, dass diese CD-Box dazu als höchst gelungener Vorreiter dienen kann.

[Martin Blaumeiser, Oktober 2017, korrigiert Februar 2018]

Was die Welt im inneren zusammenhält

Chandos, CHSA 5209; EAN: 0 95115 52092 5

Vladimir Ashkenazy dirigiert Orchesterwerke von Nimrod Borenstein. Das Violinkonzert mit der Solistin Irmina Trynkos steht neben dem groß angelegten „The Big Bang and Creation of the Universe“ und dem vergleichsweise eher kürzeren „If You Will It, It is No Dream“.

„The Three pieces featured on this CD differ in size and character, but my humble hope is that whilst you listen to them your first thought will be ‚Borenstein‘, just as when you hear an unfamiliar piece by a composer you already know you think ‚Beethoven‘, ‚Chopin‘, or ‚Prokofiev‘ – because you recognise something unique to its creator. […] When I started to write my Violin Concerto, I was determined to create a large-scale piece for the violin repertoire, to continue in the line of imposing, ‚big‘ concertos by Brahms, Sibelius, or Shoshakovich – a challange particularly dear to me as a violinist.“, schreibt der Komponist im Begleitwort zu vorliegender CD.

Ja, lieber Herr Borenstein, wie Recht Sie doch haben und wie es mir nach nur wenigen Takten schon kam: Hier haben wir einen neuen Beethoven, einen Fortführer der jahrhundertealten Tradition westlicher Kunstmusik, der sich seinen Thron inmitten all der Giganten auch och selbst setzt. Wie unvergleichlich Ihr ureigener Ton, wie hinreißend jeder melodische Einfall und wie famos doch Ihre Erfindungsgabe ist, die mir als Hörer sogleich alles in neuem Licht erstrahlen ließ. Welch eine Entdeckung, die ab sofort ausschließlich neben Mozart, Schubert, Sibelius und dergleichen gehört zu werden beanspruchen darf.

Nein, lieber Herr Borenstein, verzeihen Sie meinen Ausflug ins Ironische. Doch müssen Sie selbst zugeben, dass es etwas anmaßend erscheinen kann, sich selbst neben einigen der unbestritten größten Komponisten zu platzieren. Zumal alle von Ihnen angeführten Komponisten Meister der Kontraste sind, die in jeder Miniatur und in jedem noch so langen Einzelsatz alle entgegenwirkenden Kräfte in Beziehung halten und aus dieser Spannkraft heraus in die jeweiligen Extrema führen können, um große Zusammenhänge zu erschaffen, während Sie selbst eingestehen, dass Ihnen das Schaffen solcher in einem einzigen Satzjenseits der Alternative, unterschiedliche Sätze aneinanderzureihen, schwerfällt („this length [of ten minutes] poses a specific challenge. In longer works like concertos or symphonies the composer has the advantage of being able to create contrasts by having a succession of movements of different speeds and atmosphere. Ten minutes is too short a time for such a luxury and a way of creating variety must be found.“ Nimrod Borenstein zu “ If You Will It, It is No Dream“).

Keineswegs soll damit gesagt sein, dass die Musik des 1969 geborenen Nimrod Borenstein minderwertig sei, lediglich die überhebliche Attitüde, die sich nicht zuletzt in seiner Themenwahl – The Big Bang and Creation of the Universe – äußert, verfehlt ihre prätendierte Durchschlagskraft und bietet Angriffsfläche für Spott. Tatsächlich gibt es Spurenelemente einer individuellen Note in den drei Kompositionen, wenngleich diese recht platt von bestimmten Klangeffekten wie dem exzessiven Gebrauch des Vibraphons herrührt. Und dies alleine macht keinen großen Komponisten aus. Ansprechend sind die wiedererkennbaren thematischen Gebilde, die sich durch die Werke ziehen und diesen eine gewisse Anmutung von Struktur verleihen – wobei sie noch etwas zu willkürlich verstreut erscheinen. Die Musik ist farbenfroh und angenehm anzuhören, jedoch nicht wirklich aufregend oder sonderlich spannungsgeladen. Ein übergeordneter Spannungsbogen stellt sich noch nicht ein.

Die Musiker spielen allesamt hoch routiniert und mechanisch einwandfrei, geben sich keine Blöße, musizieren allerdings in entsprechender Weise uninspiriert und ohne bemerkenswerte Konzentration auf musikalische Aussage, sondern produzieren unter dem berühmten Ashkenazy letztlich lediglich hochprofessionell-stumpfe Perfektion.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Virtuosität am Violoncello

Naxos, 8.573737; EAN: 7 47313 37377 2

Camille Saint-Saëns‘ Werke für Cello und Orchester stehen auf dem Programm der neuen CD Gabriel Schwabes, diesmal zusammen mit dem Malmö Symphony Orchestra unter Marc Soustrot. Neben den beiden Cellokonzerten Op. 33 und Op. 119 sind dies die Suite d-Moll Op. 16bis – die ursprünglich für Klavier und Cello komponiert wurde, deren Scherzo allerdings gegen eine neukomponierte Gavotte und deren Finale gegen eine ebenfalls originale Tarantelle ausgetauscht wurden –, die Romanze F-Dur Op. 36, das Allegro appassionato h-Moll Op. 43 und der Schwan (Le Cygne) aus dem Karneval der Tiere in der Bearbeitung von Paul Vidal.

Wenn es etwas gibt, was man Camille Saint-Saëns unter keinen Umständen vorwerfen kann, so wäre dies, nicht virtuos für seine Solisten schreiben zu können. Werke für kleine Besetzungen oder mit einem im Mittelpunkt stehenden Solisten gestalten sich durchweg als virtuose Hürdenläufe und Gelegenheiten technischer Zurschaustellung. Für die ausführenden Musiker ist die Musik nicht immer dankbar, prägnante Themen und verträumte Lyrizität sind nicht unbedingt im Mittelpunkt der Kompositionen, doch ist es eine Art der olympionikische Verführung, die immer wieder dazu anreizt, Saint-Saëns zu hören und zu spielen.

So gehen auch Saint-Saëns’ Werke für Violoncello und Orchester an den Rand des Möglichen und verlangen dem Solisten alles ab. Für das Orchester besteht die Aufgabe entsprechend darin, dem Solisten Raum zur Entfaltung zu geben, auf ihn einzugehen und ihm einen schillernden Teppich aus Harmonie und Melodie zu bereiten. Dies wird hier allerdings nur mäßig umgesetzt, Marc Soustrot sieht seine Aufgabe eher als Taktgeber denn als musikalisch aktiver Widerpart zum Cellisten. Viele wichtige Stimmen gehen verloren, gerade im Zweiten Cellokonzert sind substanzielle Melodieelemente verdeckt, so dass Schwabes Stimme beinahe nackt erscheint. In der Sérénade aus der d-Moll-Suite bröckelt plötzlich der durchgehende 3/8-Rhythmus, der den Satz zusammenhält: Unmittelbar gehen die so wichtigen Streicher unter, die Partitur bietet jedoch keinen Grund dafür. Allgemein ist der Klang stumpf und wenig plastisch.

Klar und brillant ist die Stimme von Gabriel Schwabe, der die Musik von Saint-Saëns distanziert, aber nicht unemotional in Szene setzt. Der junge Cellist kommt spielend mit jeder Höchstleistungsforderung zurecht, die ihm der Komponist in den Weg legt. Er versucht weitestgehend auch, auf das Orchester zu hören. Im ersten Konzert nimmt Schwabe sich zwar einige übermäßige Rubato-Freiheiten und schlägt ein etwas zu schnelles Grundtempo an, was zu verschwimmenden und unpräzisen Triolen bei den Orchesterstreichern führt, doch legt sich dies in den anderen zu hörenden Kompositionen. Besonders reflektiert erklingen das Zweite Konzert sowie die langsamen Sätze aus der Suite, die innere Ruhe und Gesetztheit ausstrahlen.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]

Bunt schillernde Reisen jenseits der Konventionen

„Passport“ heißt Omar Rahbanys erstes großes Album, zu welchem er die Musik komponierte und in welchem er selbst als Pianist mitwirkt. Von orchestralen Besetzungen bis hin zu Werken für lediglich eine Hand voll Beteiligte findet sich alles auf dieser stimmigen Zusammenstellung von Musik mit international changierendem Kolorit.

Omar Rahbany nimmt den Hörer mit auf eine musikalische Weltreise, reale und fiktive Plätze werden klanglich erkundet: eine eigenwillige und einzigartige Kollektion an Musik in unverkennbar eigenem Stil.

Der Versuch, die Musik von Omar Rahbany in eine Schublade zu ordnen, ist zum Scheitern verurteilt. Die Vielzahl der Einflüsse ist alleine auf dieser CD schon nicht zu überblicken: Die Ouvertüre präsentiert einen individuellen klassisch-modernen Stil mit Anleihen aus der bunten Welt des Musicals, während in anderen Stücken teils eher Jazz-Elemente charakteristisch werden, Tango ist ebenso zu finden wie Authentisches aus den arabischen Ländern, aus Irland, und Rhythmen aus fernöstlichen Regionen. Rahbany versteht es, all dies zu verschmelzen und in seinem brodelnden Individualstil auszudrücken. Die Musik besitzt eine unfassbare Energie, rhythmischen Drive und eine emotional fesselnde Note, was ein wahrhaft einmaliges Hörerlebnis zur Folge hat. Jedes Stück ist anders besetzt und zeigt vollkommen eigene Nuancen auf, wiederkehrende Stimmungen oder potentiell monotone Tendenzen werden dadurch von vornherein ausgehebelt. Und das, obgleich Rahbany seine Themen nicht immer nur einer Komposition angedeihen, sondern sie zwischen den Werken dieses Albums wandern lässt. Dabei erscheinen sie stets neu, teils gut erkennbar und teils nur schwerlich zu rekonstruieren, immer mit unerwarteter Ausdrucksqualität. Erstaunlich ist, wie souverän der Komponist für jede der angeführten Konstellationen schreibt, sei es für Stimme, für klassische Orchesterinstrumente oder sogar für exotische Instrumente wie Ney oder Bezok, und dies in jeder Besetzungsgröße. Selbst mit wenigen Musikern entsteht ein orchestral anmutendes Klanggeflecht, rhythmische Dichte und Komplexität lassen jede Ensemlbekombination wesentlich größer erscheinen.

Das Album bildet trotz der weltenüberbrückenden Unterschiede zwischen den einzelnen Werken ein zusammengehöriges Ganzes, die Stücke formulieren einen großen Kontext aus und leiten teils auch ineinander über. Dazu verwendet Rahbany auch elektronische Mittel wie Aufnahmen von Regen oder Feuerwerkskörpern. Am Ende bedankt sich eine Flugbegleiter-Stimme fürs Anhören und die Musik verklingt – unfassbar, dass gerade einmal eine Stunde Musik vorbeigegangen ist! Wie kurz schien die Zeit! Hier liegt ein absolut gelungenes Konzeptalbum vor, das es Wert wäre, umfassend publik gemacht zu werden. Wie schade, dass die CD nicht einmal durch ein von einem Vertrieb gestütztes Label getragen wird, dass auch über die phänomenalen Musiker, die so einheitlich und konzentriert zusammenwirken, und den Komponisten nicht ein Wort verloren wird! Immerhin: online ist diese CD zu erwerben [Amazon / iTunes], und dies sei allen weltoffenen, neugierigen Hörern wärmstens empfohlen. Solch ein Ausnahmetalent!  Zu gerne leiste ich meinen bescheidenen kommentierenden Beitrag zur Verbreitung dieser Musik hierzulande und werde gespannt beobachten, was wir künftig von diesem jungen libanesischen Allround-Musiker und –Komponisten hören werden.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2017]