Alle Beiträge von Oliver Fraenzke

Stellungnahme der Redaktion

Liebe Leserinnen und Leser,

mit großer Freude und Genugtuung haben wir den Sturm der Entrüstung über die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert am 22. April im Freien Musikzentrum München zur Kenntnis genommen. Die Forderung, den Artikel doch bitte von der Seite zu nehmen, können wir sehr gut verstehen, und wir stimmen Ihnen zu, dass der persönlich beleidigende, tendenziöse Tonfall auch dem Image von the-new-listener.de in der Öffentlichkeit Schaden zufügen kann.

Auch wir wollten diese Kritik zunächst nicht veröffentlichen. Doch dann haben wir uns nach eingehender Beratung – auch angesichts jüngst vorgekommener Vorfälle, die sehr bedenklich sind und sich zur Staatsaffäre ausweiteten – entschieden, keine Zensur auszuüben, also auch keine Unterdrückung selbst in einem so gravierenden Fall von ehrverletzender Attacke, sondern auch diese Ansichten, so subjektiv sie sein mögen, öffentlich zur Diskussion zu stellen. Wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass der Autor (in seinem Debüt-Artikel für the-new-listener.de!) seine Angriffe unter der Gürtellinie ausgeführt hat (oder auch, wie einige schrieben, hinterrücks und feige). Das Gute daran ist, dass der Autor daran unmittelbar erfahren kann, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung unmittelbar mit dem Recht auf öffentliche Hinterfragung und Entlarvung der Motive verbunden ist, und wir hoffen, dass er daraus seine Lehren zieht. Er wurde darüber belehrt, dass dies keine angemessene Haltung für eine Kritik ist, und wir werden sehen, ob er in Zukunft zu unterscheiden lernt zwischen sachlicher Polemik und unsachlichem Austoben von wie auch immer begründeten Abneigungen. Wir bitten Sie jedoch auch um ein gewisses Verständnis, dass hier eben manches öffentlich stattfindet, was sonst vielleicht nur hinter verschlossenen Türen gesprochen würde. Umso größer eventuell die Chance, dass daraus gelernt wird.

Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von Teilen des Inhalts der Kritik von Josef Rottweiler, und jeder Leser kann sich seine eigene Meinung darüber bilden, warum das so ist, indem der Artikel auch weiterhin in dieser Form verfügbar bleibt. Wir sind in diesem Fall sogar so weit gegangen, den hauptsächlich kritisierten Künstler zu fragen, ob er ein Problem damit hat. Er ließ uns wissen, dass er grundsätzlich keine Zensur wünscht und sich freut, wenn die daraus entstehende Dynamik zu einer grundlegenden Debatte über die Werte der Kritik und die Frage konstruktiv beiträgt, inwieweit diese sich darauf berufen kann, subjektive Meinungsäußerung zu sein. (Vielleicht machen wir demnächst ein Interview mit ihm darüber.) Er ließ uns aber auch wissen, dass er sich anders verhalten hätte, wären die am Konzert direkt beteiligten Musiker unter derartigen Beschuss gekommen, und dass er kein Verständnis für die pauschal vernichtende Beurteilung der von uns allen sehr geschätzten Musik von Douglas Lilburn hat. Er hätte es mutiger gefunden, wenn der Autor sich derart an Beethoven vergangen hätte, und dem dürften sicher einige von Ihnen zustimmen.

Sie sind also alle eingeladen, hier vorbehaltlos zum Ausdruck zu bringen, wie Sie zu den Inhalten unserer Seite stehen.

Einen schönen Sonntag noch und herzliche Grüße an alle Leserinnen und Leser,

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley & Oliver Fraenzke]

Viva la Salsa

Naxos 8.559817; EAN: 6 36943 98172 6

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„La Salsa“ lautet der Titel der Sinfonía No. 3 von 2005 des 1953 geborenen Roberto Sierra. Zusammen mit Borikén (2005), El Baile (2012) und dem Orchesterliederzyklus Beyond the Silence of Sorrow (2002) wurden sie von Maximiliano Valdés und dem Puerto Rico Symphony Orchestra für die Reihe American Classics bei Naxos eingespielt. Sopransolistin in den Liedern ist Martha Guth.

Es gibt so manche großartigen Komponisten, an denen man unerklärlicherweise jahrelang komplett vorbeigeht. Doch in glücklichen Fällen wird man dann doch auf eines seiner Werke aufmerksam, legt eine CD ein und ist gebannt vom ersten Ton an. So erging es mir mit der Musik des 1953 geborenen Komponisten Roberto Sierra aus Puerto Rico. Der Titel der dritten Symphonie macht gespannt. „La Salsa“: Dies als Symphoniename evoziert sogleich eine Kombination aus lateinamerikanischer und europäischer klassischer Musik. Jeder, der einmal ein Konzert mit Musik Lateinamerikas besucht hat, kann bestätigen, wie fesselnd die Rhythmik ist, welch ein Schwung und welch unvergleichliche Atmosphäre aufkommen und wie doch jedes Land seine spezifischen Eigenheiten kann, die ganz klar zu differenzieren sind – ein Potpourri der Stile, zeitgleich divergierend und einheitlich verbunden. Die Versuche, solche Musik mit der europäischen Tradition zu verschmelzen, brachten bereits manch ein großes Meisterwerk hervor, wobei Namen wie Villa-Lobos, Ginastera, Serebrier, Hamel, Chuquisengo oder Iturriaga, Carpio oder León repräsentativ zu nennen sind.

Ein weiterer Name ist nun zweifelsohne in eine solche Favoritenliste aufzunehmen: Roberto Sierra. Seine Musik umfängt mit belebtem Schwung und tänzerisch-leichtfüßigem Elan, die lateinamerikanischen Tanzrhythmen und Charakteristika verschmelzen auf elegante Weise mit klassischen oder barocken Formen und schaffen eine einzigartige Mixtur, in welcher die grundverschiedenen Welten in Einklang zusammenleben. Der erste Satz der Symphonie entreißt den Hörer der vertrauten Welt und schmeißt ihn bereits in den ersten dreißig Sekunden in den Süden Amerikas dank seiner prägnanten Rhythmik und des gekonnten Einsatzes der Instrumente. Sowohl in der Symphonie als auch in den anderen Werken belässt Sierra es nicht bei einem einzigen Salsa-Stil, sondern mischt ältere und neuere Rhythmen. In Borikén herrscht zentral auch die spanische Musik und über lange Zeit eine gewisse dissonante Reibung vor, die nach dem spektakulären Höhepunkt nahtlos in einen bewegten Tanz ausmündet, dessen Thematik trotz des großen melodischen Ambitus lange Zeit im Kopf bleibt. Die Motivzelle von El Baile birgt zeitlos deutschen Kontext, denn hier findet sich unverkennbar die Notenfolge B-A-C-H, die wie die Chaconneform von Borikén auf das Barockzeitalter verweist – wenngleich dies nicht wirklich auf Anhieb herauszuhören ist. Sierra schafft kontinuierliche Entwicklungen, einen vollkommen eigenen Stil in der Kombination der unterschiedlichsten Einflüsse, und demonstriert eine unvergleichliche Gabe der Orchestration, die Instrumente eines klassischen Symphonieorchesters wie auch lateinamerikanische Rhythmusinstrumente einbezieht.

Das Puerto Rico Symphony Orchestra spielt makellos und klar durchhörbar, Dirigent Maximiliano Valdés sorgt für eine merkliche Strukturierung der Stimmpolyphonie und auch der Dynamik. Er achtet auf authentisch vermittelten Spannungsaufbau und lässt die Abschnitte organisch ineinander übergehen, ohne dass Lücken entstehen. Ihm gelingt es, die grundverschiedenen Elemente der Musik einzeln ans Licht zu rücken, einander abwechseln zu lassen und doch zugleich als zu einheitlicher Wirkung zu bringen. Alle Werke entstehen somit in einer spielerischen Leichtigkeit, die den Tanzcharakter unterstreicht, die Rhythmik ist dabei penibel genau eingehalten und überträgt unwiderstehlich den markanten Ausdruck der Musik. Eindrucksvoll ist die Plastizität, mit der alles so natürlich geschieht, der volle und gleichzeitig durchsichtige Klang, die schnelle Wandlungsfähigkeit zwischen Dissonanz und Tanz sowie im Bezug auf die Stimmwechsel. Teils etwas gekünstelt wirkt der Sopran von Martha Guth mit divenhafter Opernprätention und statisch-monotonem Vibrato. Dennoch passt sich die Stimme erstaunlich gut in das Orchestergeschehen ein und vermag, die enormen Kräfte zu lenken. Dabei beweist Guth frappierende Brillanz in abenteuerlichen Sprüngen und in sämtlichen Lagen ihrer Stimme.

Zusammenfassend eine restlos empfehlenswerte Einspielung aus dem Hause Naxos von einem grandiosen Komponisten, von dem hoffentlich noch mehr Musik auf CD erscheinen wird oder vielleicht sogar bald einmal im Konzertsaal zu erleben ist!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Die Tradition auf neue Wege weiterführen

Die Uraufführung des bereits fünften Solokonzerts (ein Concertino mit einberechnet) von Michael F. P. Huber spielt das Orchester der Akademie St. Blasius Tirol unter Karlheinz Siessl im VIER und EINZIG in der Haller Str. 41 in Innsbruck. In der Matinée am 17. April 2016 wird außerdem das Concertino für Klavier und Orchester von Jean Françaix dargeboten sowie die Symphonie Nr. 38 KV 504, die „Prager“, von Wolfgang Amadeus Mozart.

Ein Klavierkonzert zu schreiben ist eine der schwierigsten Aufgabe für einen Komponisten. Nicht nur, dass neben dem eigentlichen Orchester auch das Klavier eine Art zweites Orchester mit umfangreichen Möglichkeiten darstellt, auch lasten unzählige große Meisterwerke auf den Schultern des Komponisten, mit denen viele Hörer das neue Werk unweigerlich mehr oder weniger unterschwellig vergleichen. Eine aufsehenerregend neue und kreative Art, mit diesen bestehenden Werken umzugehen, gelingt dem Innsbrucker Michael F. P. Huber. Der erst im vergangenen November mit dem Landespreis für zeitgenössische Musik Tirol ausgezeichnete Komponist beginnt sein Konzert mit vier Tönen, die einem überraschend bekannt vorkommen und einen geradezu verdutzen dreinschauen lassen: Doch, tatsächlich, direkt zu Beginn erklingt das eröffnende Viertonmotiv aus Tschaikowskys b-Moll-Konzert. Damit nicht genug der Anspielungen – Beethovens c-Moll-Konzert wird wie auch das zweite von Rachmaninoff in derselben Tonart zitiert, und ein Hornmotiv aus Schumanns a-Moll-Konzert. Und dies sind alleine die Werke, die ich beim ersten Hören ausmachen konnte, wie viele weitere für mich noch im Verborgenen geblieben sind, darf sich bei weiterem Hören offenbaren. „Hommage“ nennt Huber treffend diesen ersten Satz und zeigt damit, dass er einer Tradition entspringt, derer er sich gerne bewusst ist und die er eben fortführt anstatt mit ihr brechen zu wollen.

Das Klavierkonzert von Michael F. P. Huber (Autor von derzeit drei Symphonien, nunmehr fünf Solokonzerten, Vokal- und Kammermusik) bleibt seinem bisherigen Stil treu und ist trotzdem eine Weiterentwicklung dessen. Die Musik ist zweifelsohne modern, jedoch fern aller Beliebigkeiten und avantgardistischen Moden, stets erfrischt sie mit einem ansprechenden Ton ohne maßlos aufgehäuft schmerzende Dissonanzen. Formale Struktur und Entwicklung sind zentral für Hubers Werkschaffen – und so wird auch besagtes Viertonmotiv wiederkehrendes Kernelement des Kopfsatzes. Die Musik changiert zwischen polyphonem Beinahe-Chaos und klar gegliederter Ordnung, in beiden Extremata ist die bei Huber ohnehin faszinierend beherrschte Instrumentation spürbar weiter ausgereift. Das Klavier, bisher noch wenig bedacht von Michael F. P. Huber, ist virtuos und vielseitig eingesetzt mit vollgriffigen Akkorden, rasenden Läufen, Glissandi und komplexer Polyphonie. Im Mittelsatz, einem „Nocturne“, ist ihm ein selten zu hörender Partner, das Lupophon, beigeordnet – eine Bassoboe, eine Neuerfindung, welche 2011 erstmals öffentlich präsentiert wurde, und es ist eine sehr gelungene Ergänzung der Oboenfamilie, die nun mit Oboe, Englischhorn, Heckelphon und besagtem Lupophon zum vierstimmigen Satz ergänzt ist wie ein gemischter Chor. Nach dem zweiten Satz folgt ein „Capriccio“ als Finale mit schwunghaften Rhythmen, in eine sonderbare „quasi Cadenza“ einmündend, von wo aus der Satz ein offenes Ende findet.

Mit klarem und durchsichtigem Ton glänzt der Pianist und Organist Michael Schöch am Soloinstrument. In flexibler Wendigkeit stellt er sich schlagartig auf neue Situationen ein, wobei sein Spiel stets locker bleibt. Auffallend ist sein orchestrales Denken: Übernimmt er thematisches Material aus dem Orchester, so bietet er es auch mit den klanglichen Charakteristika des jeweiligen Instruments an. Fein ist entsprechend auch sein Gespür für Phrasierung und dynamische Schattierungen.

Dem Concertino von Jean Françaix belässt er einen frischen und knackig-markanten Ton, der einen Hauch von ins Chansonmilieu abgedrifteter Wiener Klassik mitschwingen lässt: Eine klangliche Wohltat für das meist viel zu romantisch und pedallastig gespielte Werk des Franzosen. Im Übrigen ist das Concertino ein hinreißend charmantes Stück, aus vier miniaturhaften Sätzen mit ansprechend-lockerer Muse zusammengefügt, wie flüchtig hingeworfen und doch merklich ausgearbeitet und fein ziseliert. Als Zugabe gibt es Ligeti, und der Hörer staunt über die rasche linke Hand, über der sich eine sangliche Oberstimme erhebt.

Eine beeindruckende Leistung ist auch wieder einmal vom Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl zu würdigen, das sich mit keinem der Stücke leichtes Repertoire ausgesucht hat. Bis hin in die undurchdringlichste Polyphonie bei Hubers Konzert bewahrt man kultivierten Klang und technische Reinheit, bleibt bei Jean Françaix klar und strukturiert und brilliert bei Mozart vor allem im gefürchteten Bläsersatz. Siessl gelingt es gar, beide Wiederholungen des Finales von Mozarts Prager Symphonie derart entstehen zu lassen, dass sie als Potenzierung der jeweils ersten Wiedergabe zu funktionieren scheinen. Insbesondere in Hubers Konzert blühen die Musiker voll auf und stellen ihr hohes Können und ihre musikalische Gestaltungskraft als Resultat ihrer langjährigen gemeinsamen Schaffenszeit mit Karlheinz Siessl eindrücklich unter Beweis.

Michael F. P. Huber wird noch eine blühende Zukunft vor sich haben. Schon bei meiner Besprechung über die Dritte Symphonie und zwei seiner bisherigen Konzerte nannte ich ihn einen der größten Symphoniker des beginnenden Jahrtausends, und auch nun in diesem Konzert bestätigt sich diese vielleicht gewagt erscheinende Aussage. An alle Orchester lässt sich nur appellieren: Spielt Huber und verbreitet seine Musik auch jenseits der Landesgrenzen Österreichs, denn sie hat es verdient, ihr habt es verdient, und wir haben es verdient!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Pēteris Vasks zum 70.

vox amoris: wergo WER 6750 2; EAN: 4 010228 675023

Quartette 2 & 5: wergo WER 7329 2; EAN: 4 010228 732924

Quartette 1, 3 & 4: wergo WER 7330 2; EAN: 4 010228 733020

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Ein Special zum 70. Geburtstag des großen lettische Komponisten Pēteris Vasks am heutigen Datum, den 16. April: anlässlich dessen werden hier gleich drei CD-Publikationen des großen Zeitgenossen vorgestellt, nämlich „vox amoris. works for violin and string orchestra“ mit Alina Pogostkina, der Sinfonietta Rīga und Juha Kangas, auf welcher vox amoris, tālā gaisma (Fernes Licht) und vientuļais eņģelis (Einsamer Engel) zu hören sind, sowie zwei CDs mit Vasks’ derzeit gesamten fünf Streichquartetten, gespielt vom spīķeru string quartet. Alle Aufnahmen erschienen bei wergo.

Diese Musik ist von einer einzigartigen meditativen Ruhe und sagenhafter Klangschönkeit, erfüllt von nicht enden wollender Melodik und betörender Harmonie – eine wahre Quelle, um neue Kraft zu schöpfen und sich zu entspannen, um neue Inspiration zu finden und sich auf seine Natur und Umwelt einzulassen. Die Rede kann hier nur von Pēteris Vasks sein, dem bedeutendsten lettischen und einem der substanziellsten zeitgenössischen Komponisten. Heute vor genau 70 Jahren wurde er in Aizpute im Westen Lettlands geboren. An Deutschland fast vollständig vorbeigegangen ist die diffizile und noch immer mit Schrecken verbundene jüngere Vergangenheit dieses Landes, die Unterdrückung in der Sowjetunion – sowohl von Land wie auch von Volk und ganz besonders von Sprache. Entsprechend war es Vasks nicht gestattet, das örtliche Konservatorium zu besuchen, und er, der sich bereits als Kind an der Geige versuchte, zog nach Litauen, wo er Kontrabass studierte. Zurück in Lettland, schloss er später ein Studium der Komposition in Riga an. Ständig schliff er an seinem kompositorischen Stil, der wohl so etwa ab 1980 seine vollendete Reifung erfuhr und eine durchwegs einzigartige und unverkennbare Tonsprache kundtut. Zentrum seines Schaffens ist nach wie vor der Streicherkörper, der ihn von Kindheit an prägte und der heute ausgereift das klingende Herz seines Schaffens ist. Größtenteils ist die Musik von Pēteris Vasks schlicht und leicht verständlich, sie ist überwiegend konsonant gesetzt in klarer, diatonisch fasslicher Tonalität. Auch andere Elemente finden ihren Platz, so anarchischere Verfahren wie freie Atonalität und Aleatorik, doch geschieht dies stets aus außermusikalischen Gründen als Chaosinsel innerhalb des musikalischen Kontinuums. An sich vermittelt die Musik Vasks‘ zu einem großen Teil außermusikalische Visionen, wobei oft die Geschichte seines Volkes thematisiert wird, stets schwankend zwischen Hoffnung und Angst um Land und Zukunft. So wird das Volkslied elementarer Bestandteil für ihn und findet sich immer wieder in seinen langgezogenen und gediegenen Melodiebögen, die wie ein endloser Faden das gesamte Werk durchweben, ohne je aufhören zu wollen. Dies alles wirkt ganz unmittelbar auf den Hörer, für den seine Musik auch in solcher Absicht geschrieben ist, sie bleibt verständlich und durchdringbar, mitempfindbar. Vasks sieht seine Arbeit als Fortführung der Predigerarbeit seines Vaters, weshalb er dem häufig zu hörenden Titel „Prediger in Tönen“ nicht ablehnend gegenübersteht. Spiritualität, Mystik und Religiosität stellen die geistigen Grundpfeiler seines Künstlertums dar.

Auf die Frage, wer denn sein favorisierter Dirigent sei, gibt Vasks stets die selbe Antwort: Juha Kangas. So mag nicht verwundern, dass er die Werke für Violine und Streichorchester ihm anvertraute, der schon für so viele Referenzaufnahmen nordischer Musik wie insbesondere der beiden Genies Pehr Henrik Nordgren und Anders Eliasson verantwortlich zeichnete. Solistin dieser Aufnahme ist die junge Violinistin Alina Pogostkina, die die Sinfonietta Rīga anführt. Die Fantasie vox amoris und die Meditation vientuļais eņģelis – lonely angel umrahmen das große Violinkonzert tālā gaisma – distant light. Sowohl vox amoris als auch vientuļais eņģelis bezaubern durch ihr sanftes Aufblühen aus der Stille heraus und umfangen mit meditativem und in sich gekehrtem Charakter. Das in über dreißig Minuten groß angelegte Violinkonzert entsteht ebenso aus diesem Urzustand, doch entfesselt es wesentlich mehr Kontraste und wild ausfallende Passagen bis hin zu einem ohrenbetäubenden Höhepunkt im absoluten Chaos, einer Groteske gleich, der in plötzliches Verstummen umkippt und die nun andersartig wirkende Ruhe erneut aufkeimen lässt.

Orchester und Solistin sind bestens aufeinander abgestimmt und harmonieren miteinander auf Augenhöhe. Der Satz ist trotz homophonen Anscheins recht komplex gebildet und gibt durch vielseitige Instrumentierungsarten im reinen Streichersatz unzählige Klangfacetten frei, die dem Melodieteppich ein stetig sich wandelndes Eigenleben einhauchen. Juha Kangas steuert unbeirrbar durch diesen kontinuierlichen Fluss, lässt die Musiker dem folgen und somit die Musik in aller Unbelassenheit und frei von jeglicher Verkünsteltheit entstehen. Die Sinfonietta wirkt wie ein einziges Instrument, das als Gesamtheit funktioniert und wo alles untrennbar miteinander verknüpft ist. Die Musiker spüren den gleichen Atem und setzen minutiös präzise synchron ein. Über all dem erhebt sich Alina Pogostkina als hörende wie einfühlsame Solistin, sie entringt ihrem Instrument herzzerreißende Kantilenen, mit gänzlich unprätentiöser Phrasierung. Auch im Wildwerden behält sie den Bezug zum Ausgangspunkt und vermittelt immer das Raumgefühl, wo im Stück man sich gerade befindet. Die Musik lädt gleichsam zum Träumen ein wie zum wachen und aufmerksamen Mitempfinden der groß angelegten Struktur – genau die scheinbar unverbindbaren Paradoxe, die ja auch die Meditation definieren.

Im Gegensatz zu den Streichorchesterwerken mit Solovioline sind alle fünf Streichquartette mehrsätzig angelegt; sie bestehen aus zwei bis fünf Teilen, die abgesehen von denen des dritten Quartetts alle betitelt sind. Das mit insgesamt gut 17 Minuten kürzeste erste Quartett ist das geräuschlastigste von allen, die ersten beiden Sätze sind durchzogen von Chaos und Missklang, erst das Finale bietet die bei Vasks so befreienden Melodielinien von erlesener Güte. Das zweite Quartett, Sommerweisen betitelt, ist durch besonders volksmusikalische Durchsetzung mit häufiger Quint in den tiefen Lagen gezeichnet, was sogleich Erinnerungen an bäuerliche Fideln evoziert. In Nummer Drei gestalten sich die Pause und die Stille als strukturgebende Elemente, die Ruhe ist Ausgangspunkt allen musikalischen Geschehens. Das längste, fünfsätzige vierte Quartett kontrastiert drei lange meditative Sätze mit zwei die Gelassenheit jäh unterbrechenden miteinander verwandten Toccaten, die mit einem fast an Schostakowitsch gemahnenden düsteren Jähzorn hereinbrechen. Melancholisch, volksliednah und doch auch irgendwie in sich widersprüchlich, bei aller Introversion aufbegehrend gibt sich das bisher letzte Streichquartett, dessen beiden Sätze mit „Gegenwart“ und „so fern … und doch nah“ symbolkräftige Namen tragen.

Naturhaft und sich selbst als reines Medium für die Musik sehend agiert das spīķeru string quartet auf diesen zwei Einspielungen, 2015 und 2016 bei wergo erschienen. Man lässt sich auf all die verschiedenartigen Elemente der Musik Vasks vorbehaltlos ein und es klingt immer der ganz eigene Personalstil des Jubilars durch. Das Quartett besticht durch beeindruckende Klarheit und Gefühl für die langsame Metamorphose des Geschehens, die nie gewollt gemacht scheint. Vom wispernden Naturlaut bis zur aggressiven Revolution reicht die Palette des spīķeru string quartet mit unzählige Feinheiten der Tonerzeugung. Alles wirkt wie eine einzige Einheit.

Bei wergo sind also spannende und mit überzeugender Qualität gespielte Aufnahmen des 70jährigen ‚Geburtstagskinds’ Pēteris Vasks erschienen, dessen Musik so vielseitig und doch so unverkennbar ist. Es ist schön, zu sehen, dass solch ein begabter Komponist die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhält und von herausragenden Musikern auf CD vorgestellt wird. Herzlichen Dank und alles Gute, Pēteris Vasks!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Auf das Leben!

Solo Musica SM 235; EAN: 4 260123 642358

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Ein vielgespieltes Programm lässt die Violinistin Liv Migdal auf ihrer nunmehr dritten CD-Aufnahme mit frischer Lebendigkeit erstehen: Die vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi (Le Quattro Stagioni Op. 8 No. 1-4) und die Einrichtung derjenigen von Astor Piazzolla (Las Cuatro Estaciones Porteñas). Nach zwei Duettaufnahmen mit ihrem Vater Marian Migdal ist es ihr CD-Debüt als Solistin mit Orchester, es spielt das Deutsche Kammerorchester Berlin.

Die Kraft dieser jungen talentierten Künstlerin ist beeindruckend! Die Stärke zu besitzen, so kurze Zeit nach dem Tod ihres Vaters eine CD mit lebensbejahender, freudiger und funkelnder Musik aufzunehmen, sollte allen Mut machen, welche so eine schwierige Situation am eigenen Leib verspürten oder noch verspüren. Marian Migdal war nicht nur ihr Vater, er war auch ihr langjähriger Kammermusikpartner und Hauptquelle für ihre musikalische Entfaltung – seine Aufnahmen von bekannter wie von unbekannter Musik dienen bis heute als unbestechliche Referenz, seine Natürlichkeit, sein langer Atem in der Phrasierung und sein Gespür für das richtige Maß bezaubern über seinen Tod hinweg. Und die Musik ist es, die immer über Leben und Tod zu erzählen vermag, wie Liv Migdal in ihrem Booklettext schrieb, und so übertitelte sie denn auch trefflich mit „Auf das Leben!“

Le quattre stagioni des Italieners Antonio Vivaldi und das Tango-Gegenstück Las Cuatro Estaciones Porteñas des Argentiniers Astor Piazzolla wählte sie für dieses Album mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin; zwei Werke, die so stark verbunden sind in ihrem außermusikalischen Bezug und dabei so grundverschieden in Stil, Instrumentenbehandlung, Aufbau und Charakter. In beiden Werken zentral ist das ständige Mit- und Gegeneinander, Annäherung und Distanzierung der beiden elementaren Kräfte, des Solisten und des Ensembles. Eben dies bildet auch den Kern der Darbietung von Liv Migdal und des Kammerorchesters Berlin, was sich alleine schon an der Abmischung zeigt, die die Sologeige nicht ungebührlich in den Vordergrund stellt, sondern im Einklang mit den Ensemblemusikern agieren lässt.

Wie bereits in ihren vorherigen Alben besticht Liv Migdal durch reinen, sanften und absolut „gehörten“ Ton, der sich neben makelloser technischer Perfektion auch durch musikalisch-inhaltliche Abgestimmtheit auszeichnet. Migdals Horizont reicht vom zart empfundenen Pianissimo bis zur aufbrausenden Expressivität, die jedoch niemals ihre Fülle und Klangschönheit einbüßt. Sie beweist eine enorme Wandelfähigkeit je nach den Forderungen der Musik, eine chamäleonhafte Flexibilität, und kann sich auf jede neue Situation nahtlos einstellen. Wie schon ihr Vater hat sie eine wohltuende Natürlichkeit sowie eine unprätentiöse musikalische Auffassungsgabe und versteht es, lange und intensive Bögen von fein abgestimmter Phrasierung zu gestalten. Besonders bemerkenswert ist Migdals Vibrato, welches von erlesen weiter Ausdrucksvielfalt geprägt ist: Ihr gelingt es, dieses Mittel spontan und entsprechend der musikalischen Sinnhaftigkeit einzubringen, oft über große Strecken überhaupt nicht, dann wieder ganz spärlich, auf ausdrucksvollen Tönen stärker, manchmal auf einen Ton erst anschwellend oder gegen Ende verklingend, immer den Gegebenheiten entsprechend.

Auch als musikalische Leiterin des Deutschen Kammerorchesters Berlin versteht es Liv Migdal – neben der überzeugenden solistischen Darbietung -, die Musiker zu einer ausgewogenen Linienführung anzuregen und dynamische Feinheiten zu erreichen. Lediglich in den Passagen, wo Migdal solistische Höhenflüge hat und das Orchester auf sich allein gestellt ist, gerät die Begleitung tendenziell etwas fahl, vor allem in den langsamen Sätzen von Vivaldi. Doch kaum ist Liv Migdal wieder im Tutti dabei, wird die Gestaltung schon wieder lebendiger, der Klang fokussierter. Das Wechselspiel zwischen Solistin und Ensemble ist genauestens aufeinander abgehört und lässt sie auf ganz natürliche Weise aus dem Tuttiklang hervortreten und wieder in diesen zurückkehren.

Piazzolla gerät schwungvoll und mit großem Elan, auch mit einer stimmigen Prise Melancholie und Verträumtheit. Natürlich hat das hier nicht den ausgelassenen Schwung und die vehemente rhythmische Prägnanz, welche lateinamerikanische Künstler dem Werk angedeihen lassen können, aber dies ist auch nicht zu fordern. Beachtlich ist, wie deutlich die Bezüge und Anspielungen auf Vivaldis Werk hervortreten, von denen die meisten in zahlreichen Einspielungen im Verborgenen bleiben.

Ein gutes, nicht zu üppiges Maß an historisierend barocker Spielweise wird Le Quattro Stagioni von Antonio Vivaldi zuteil. Es wird mit durchaus markantem Ton genommen, doch gleichermaßen lyrisch, ohne dass es je zu trocken steril oder zu romantisch verträumt wäre. Die in der Partitur vermerkten Programmhinweise werden ohne Überakzentuierung befolgt und zum Ausdruck gebracht.

Der musikalische Stern ihres Vaters ist viel zu schnell hinter dem Horizont entschwunden, doch steigt derjenige von Liv Migdal immer weiter empor und lässt sie zweifelsohne als eine würdige Nachfolgerin dieses großartigen Musikers, dessen Verlust zugleich ein unersetzlicher Verlust für die Musikwelt ist, erscheinen. Schließen wir uns ihrem Motto an und rufen: Auf das Leben!

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Rund um die Drei

Drei Jahrzehnte Bühnenjubiläum feiert Ingolf Turban mit den drei Violinsonaten von Johannes Brahms auf drei großartigen Geigen aus drei Jahrhunderten. Im großen Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater München findet am 13. April um 19:00 das Jubiläumskonzert statt, am Klavier dabei seine langjährige Kammermusikpartnerin Gabriele Seidel-Hell.

Wenn Ingolf Turban sagt, er habe sein 30-jähriges Jubiläum auf der Konzertbühne, so ist dem nicht ganz richtig. Schließlich spielte er bereits mit fünf Jahren seinem Gemeindepfarrer vor und stand mit sieben auf dem Podium des großen Konzertsaals der Hochschule für Musik und Theater München, dem Ort des heutigen Konzertabends. Vielmehr bezieht sich diese Zahl auf einen denkwürdigen Auftritt kurz nach seiner Ernennung zum Konzertmeister der Münchner Philharmoniker. Als Einspringer für eine erkrankte Solistin übernahm Turban damals den Solopart von Sibelius‘ grandiosem Konzert d-Moll Op. 47 unter Sergiu Celibidache, was ihm entscheidend zum Durchbruch verhalf, vor allem jedoch eine zutiefst prägende Erfahrung war.

Später wurde Ingolf Turban vor allem bekannt durch seine Darbietungen und Einspielungen unbekannterer Musik und holte teils komplett verloren geglaubte Schätze ans Licht. Umso glücklicher schätzt sich der Virtuose, wie er selbst bekundet, heute einmal drei Werke der Standardliteratur vorzutragen. Die drei großen Violinsonaten von Johannes Brahms sind drei grundverschiedene Werke: die zart-vernebelt scheinende G-Dur-Sonate Op. 78 – welche ja auch Regen-Sonate genannt wird, was auf den Titel des dort zitierten „Regenlieds“ aus Op. 59 zurückgeht -, dann die klare und brillante ‚Meistersinger’-Sonate in A-Dur Op. 100 sowie die dunkel-herbe in d-Moll Op. 108. So entscheidet sich Turban, jedem der Werke eine eigene Stimme zu verleihen und folglich ein französisches, ein italienisches und ein deutsches Instrument, je aus einem anderen Jahrhundert und von jeweils einem äußerst namhaften Geigenbauer, zu spielen.

Den drei hochkarätigen Instrumenten entlockt Ingolf Turban immer neue, scheinbar nicht enden wollende Nuancen der Tongestaltung. Bei all dem vermeidet er allerdings dennoch die Extreme und kann die Musik vor effekthascherischen Oberflächlichkeiten bewahren, zu denen viele Virtuosen etwa in der dritten Sonate neigen. Die bewegten Sätze geraten zu keiner Zeit hastig oder überstürzt, das Tempo wirkt kontrolliert und bodenständig, und auch die ruhigeren Sätze driften nicht in überzogene Träumereien aus, was auch ganz untypisch für die robust-männliche Musik Brahms‘ wäre. Gerade bei der Phrasierung zeigt sich, dass Turban aus der Schule von Sergiu Celibidache stammt, denn er behält stets eine Natürlichkeit darin, was ausschließlich über genaueste Auslotung der Spannungs- und Intervallverhältnisse bewusst geschehen kann, wie es Celibidaches Phänomenologie lehrt. Höchst bemerkenswert ist das Vibrato Turbans, welches einmal nicht als bloße Verstärkung jedes einzelnen Tons dient, sondern in verschiedenen Schattierungen besondere und ansprechende Effekte aus bestimmten Passagen hervorlockt, während manche Stellen auch komplett ohne dieses Hilfsmittel auskommen können.

Spürbar ist die langjährige kammermusikalische Verbindung mit Gabriele Seidel-Hell, welche die anspruchsvollen Klavierparts souverän gestaltet. Beide Musiker empfinden genau denselben Tempoimpuls und lassen Tempoänderungen vollkommen synchron gefühlt entstehen. Nur an wenigen Stellen könnte Seidel-Hell ein wenig mehr in den Vordergrund treten und als gleichwertige Duettstimme agieren, anstatt im Hintergrund zu bleiben. Auch manchen Kontrast könnte sie noch etwas stärker hervorheben, gerade die rastlose Konfliktrhythmik oder plötzliche Wechsel von thematischem Material oder Harmonik könnten das fahl abschattierte Licht der Verhaltenheit verlassen. Abgesehen davon strotzt ihr Spiel von Energie und Vitalität, bleibt dennoch zart und eher hintergründig. Alles erhält eine enorme Lockerheit und Leichtigkeit, wobei auch sie nie ins impressionistische Extrem abgleitet und somit dem Geiste Brahms’ ziemlich gerecht wird.

Wie Turban richtig vermutet, erwartet jeder im Publikum als Zugabe das Scherzo der F.A.E.-Sonate als einzigen weiteren Satz für diese Besetzung von Johannes Brahms. Doch genau deshalb spielen er und Seidel-Hell es nicht, sondern lassen den Abend gemütlicher auslaufen, und zwar mit einem innig-empfundenen und genießerisch-wachen langsamen Satz von Robert Schumann.

Das Publikum liebt und dankt es sehr. Bleibt nur, den Jubilar zu beglückwünschen und auf die nächsten dreißig Jahre gespannt zu sein.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Arabesken, Fantasien, Andenkrieger

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Am Montag, den 9. April spielte die italienische Pianistin Ottavia Maceratini in der ‚série jeunes’ des Tonhalle-Orchesters Zürich ihr Debütkonzert im Kammermusiksaal der Zürcher Tonhalle. Nach der ersten Hälfte mit Schumanns Arabesque, Mozarts Rondo in a-moll und Schumanns Fantasie folgten Ravels Sonatine, zwei ‚Essays in the Modes’ von John Foulds, Kaikhosru Shapurji Sorabjis Pastiche über das Lied des Hindu-Händlers aus Rimsky-Korsakovs Oper ‚Sadko’ und die Uraufführung der großen, hochvirtuosen Fantasie ‚Guerrero Andino’ des peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo.

Die ‚série jeunes’ des Zürcher Tonhalle-Orchesters ist eine Beobachtungsstätte für aufstrebende junge Künstler und wird von einem entsprechend fachkundigen, hochinteressierten, natürlich auch kritischen Publikum besucht. Und der Zuspruch zu diesen Konzerten ist ausgezeichnet, wie auch an diesem Abend zu spüren, der durchaus furios und denkwürdig war. Ottavia Maria Maceratini ist eine Musikerin, die nicht um jeden Preis Karriere machen möchte. Es geht ihr um die Musik und um die Begegnung mit dem Publikum, und eben nicht um den demonstrativen Ego-Trip, was ihrem Spiel anzumerken ist. Eine phänomenale Technik ist natürlich die Voraussetzung, um ‚ganz oben’ mitzuspielen, und ein kultivierter Klang und Stilbewusstsein sollten dazugehören, sind aber keine Selbstverständlichkeit. Bei ihr ist das alles in schönster Weise gegeben. Vor einem Jahr gab sie ihr Debüt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin in der deutschen Erstaufführung von John Foulds’ einzigem, großartigem Klavierkonzert ‚Dynamic Triptych’, davor war sie unter anderem mehrfach mit Lavard Skou Larsen, einem der feinsten Dirigenten unserer Zeit, aufgetreten, hatte mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica beim Schleswig Holstein Musik Festival debütiert, mit dem Nowosibirsk Philharmonic und dem Münchener Kammerorchester konzertiert, und vieles weitere. Nun also ihr erster Zürcher Auftritt, der von großem Erfolg beim Publikum bekrönt wurde.

Sie begann mit Robert Schumanns Arabeske op. 18, vielleicht etwas flüchtig im Entwurf, dabei mit bezauberndem Feinsinn dargeboten. Es ist nicht einfach, über die zwei lyrisch kontrastierenden Zwischenspiele hinweg den großen Bogen entstehen zu lassen, doch die erwärmende Intimität des Ausdrucks nahm sofort gefangen. Es folgte Mozarts Rondo in a-moll, in der organischen Entfaltung über die weite Strecke und den vertrackten dynamischen Vorschriften durchaus ein besonders anspruchsvolles Werk von 1787, und es waren außergewöhnliche Klarheit und feinnervige Phrasierungskunst zu bestaunen. Ottavia Maria Maceratini ist hier schon einen weiten Weg der Bewusstwerdung gegangen, sehr ungewöhnlich in der die Strukturen auffächernden Ernsthaftigkeit für einen jungen Menschen. Auch klanglich fesselt ihr perlendes, niemals verwaschenes Spiel, das der Spur einer kontinuierlichen Durchdringung folgt, die keine nichtssagenden Formelhaftigkeiten kennt. Es ist sehr nahe dran an einem idealen Mozart, auch hinsichtlich des graziös gemessenen Tempos. Was noch fehlt, ist in entscheidenden Momenten eine gewisse Ruhe, das Auskosten des atmenden Gesangs. Und zugleich ist so erfreulich, dass bei ihr nicht die geringste Gefahr sentimentalen, sich selbst zelebrierenden Stillstands besteht. Diese Musik bewegt sich fortwährend auf einem schmalen Grat, und wir dürfen hoffen, dass es ihr gelingt, einen vollendeten Ausgleich zwischen Vorwärtsdrängen und subtilem Innehalten im Dienste der Gesamtform zu finden. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht, und dem sich die wenigsten Musiker stellen.

Gleiches gilt auch für Robert Schumanns gewaltige dreisätzige Fantasie C-Dur op. 17 von 1835-36. Hier ist vorauszuschicken, dass Frau Maceratini eine Darbietung gelang, die nicht nur zum Besten gehört, was heute in Sachen Schumann zu vernehmen ist, sondern auch, dass sie dieses komplexe und gefürchtete, so viel gespielte Meisterwerk mit einer technischen Vollendung spielte, wie das kaum je geschieht. Auch die extremsten Schwierigkeiten gelangen ihr, ohne Verzerrungen des Tempos, mit phänomenaler Leichtigkeit. Nie knallt ihr äußerst kraftvolles Forte, alles ist klar und rund, legt die Polyphonie offen, folgt den harmonischen Impulsen, lässt die Musik mit unwiderstehlichem Charakter sprechen. Da fehlt nicht viel! Einzig möchte ich anmerken, dass der Mittelteil des Kopfsatzes zwischendurch zu sehr beschleunigt, dass auch im Mittelsatz einige Male in der Hitze des Gefechts das Tempo etwas davonzulaufen tendiert, dass im Finale die letzte Beruhigung etwas spät kommt. So ist auch hier der einzige kardinale Kritikpunkt, mehr Raum für die Ruhe zu lassen, die natürlich nichts mit Ermattung zu tun hat, sondern mit Innigkeit, die potentiell ohnehin da ist, jedoch noch nicht wirklich zu ihrem Recht kommt.

Ravels Sonatine erklang mit der pantomimischen Zerbrechlichkeit, die so bezeichnend für diese Musik ist, wunderbar stilisiert und natürlich zugleich in den Details – auch den formbildenden Tempokontrasten, und dort, wo es angesagt ist, den Blick in die Abgründe offenbarend. Auch hier: gelegentlich noch mehr Ausatmen lassen, der lyrischen Gegenwelt mehr Raum geben, und die schnelleren Tempi nicht davoneilen lassen.

Zwei der sieben 1926 in Paris komponierten ‚Essays in the Modes’ op. 78 von John Foulds (1880-1939) schlossen sich an, was programmatisch passender nicht hätte gewählt werden können: das Passacaglia-artig lyrisch kontrapunktierende ‚Ingenuous’ und das herrlich verinnerlichte, in vier ‚Strophen’ auf archaischen Pfaden feierlich dahinschreitende ‚Strophic’. Es ist unglaublich, welchen Reichtum Foulds einer niemals modulierenden Musik in jeweils einem einzigen Modus entlockt. In solchen Werken erweist er sich als der substantiellste und transzendenteste englische Komponist seiner Zeit, durchaus mit Ravel und Bartók auf Augenhöhe, und hier kann sich die lyrisch-introvertierte, klangsensitive Begabung der Pianistin wunderbar entfalten.

Dann Sorabji, mit seinem ‚Pastiche on the Hindu Merchant’s Song from Sadko by Rimsky-Korsakov’ – wie eine Edelstein-glitzernde Episode aus Tausendundein Nächten, von der Pianistin herrlich abschattiert in der immer vernehmlichen, reich ornamentierend umkleideten einfachen Gesangsmelodie.

Mit Spannung wurde die abschließende Uraufführung des Peruaners Juan José Chuquisengo erwartet. Er schrieb nicht den ursprünglich angekündigten Tango, sondern eine Gedächtnismusik für einen verstorbenen Freund aus den Anden, dessen Andenken das Werk gewidmet ist: ‚Guerrero Andino’. Diese große Fantasie ist nicht nur eine zugleich höchst dankbare gigantische pianistische Herausforderung, sondern besticht bei ihrem immensen harmonischen Reichtum, ihrer melodischen Schönheit, abwechslungsreichen rhythmischen Vitalität und unkonventionellen kontrapunktischen Eleganz vor allem dadurch, dass die eigentlich rhapsodische Anlage auf organisch kunstreichste Weise ineinander verwoben ist. Es ist keine ‚moderne Musik’ in dem Sinne, in welchem sie in unserer subventionierten Kulturlandschaft nach wie vor hartnäckig verstanden wird, dafür ist sie nicht nur viel zu schön, sondern auch in der Subtilität viel zu neuartig. Eine unglaublich kraft- und prachtvolle, farbenreiche, lebendige, innerlich reiche Musik, die endlos scheinende Räume eröffnet und das Gefühl einer unerschöpflichen Freiheit atmet. Es kann gut sein und ist zu wünschen, dass dieses Werk ein Klassiker der Soloklaviermusik in unserer Zeit wird. Juan José Chuquisengo beweist darin auch sozusagen ganz nebenbei, dass er nicht nur einer der feinsten Pianisten unserer Tage ist, sondern auch ein wahrhaft großartiger Komponist (am 22. April wird im Freien Musikzentrum in München seine symphonisch angelegte Piazzolla-Hommage ‚Tango-Metamorphosen’ für Streichquintett uraufgeführt, die bald darauf in Augsburg durch die Bayerische Kammerphilharmonie auch in der Streichorchesterfassung erstmals erklingen wird). Ottavia Maria Maceratini hat mit ‚Guerrero Andino’ ein gewaltiges Werk an den Schluss ihres Programms gesetzt, das ihrer Ausnahmebegabung in schönster Weise entspricht und das Publikum in Begeisterung versetzt. Sie dankt für den Applaus mit einer so wundervollen wie hochoriginellen Zugabe, dem ‚Persian Love Song’ von John Foulds, in verfeinertster Wiedergabe. Möge sie bald wieder in Zürich zu hören sein.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]

Perlen des Nordens

audite 92.651, 92. 579, 92.669, 92.670, 92.671

EAN: 4 022143 926517, 4 022143 925794, 4 022143 926692, 4 022143 926708, 4 022143 926715

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Für audite spielt Eivind Aadland mit dem WDR Sinfonieorchester Köln das gesamte symphonische Werk des großen norwegischen Nationalkomponisten Edvard Hagerup Grieg ein. Auf 5 CDs finden sich die Symphonischen Tänze Op. 64, die Peer Gynt-Suiten Op. 46 und 55, der Trauermarsch für Richard Nordraak, Zwei Elegische Melodien Op. 34, Aus Holbergs Zeit Op. 40, Zwei Melodien Op. 53 für Streichorchester, Zwei Nordische Melodien Op. 63, die Konzertouvertüre Im Herbst Op. 11, die Lyrische Suite Op. 54, Klokkeklang Op. 54 No. 6 (nicht in die viersätzige Suite aufgenommen), Altnorwegische Romanze mit Variationen Op. 51, Drei Orchesterstücke aus „Sigurd Jorsalfar“ Op. 56, die frühe Symphonie c-Moll, das Klavierkonzert a-Moll Op. 16, Musik zu Henrik Ibsens Peer Gynt Op. 23, sechs Orchesterlieder, zwei Lyrische Stücke, Der Einsame (Den Bergtekne) Op. 32 und die von Hans Sitt orchestrierten Norwegische Tänze Op. 35 (von Grieg autorisiert). Nicht dabei sind die symphonischen Werke mit Chorbesetzung wie Landerkennung und Olav Trygvason sowie die Bühnenmusik zu Peer Gynt in ihrer vollständigen Form.

Kaum ein anderer Komponist mag uns heute so unmittelbar zu verzaubern wie der große Norweger Edvard Hagerup Grieg. Er trifft genau den Nerv unserer Zeit. Seine Schlichtheit, seine Natürlichkeit und seine Naturverbundenheit, unzertrennlich mit dem Gefühl von Freiheit und Sehnsucht geeint, sprechen den heutigen Hörer direkt an, und so gehören nicht zu Unrecht die Peer Gynt Suiten (vor allem die erste), das Klavierkonzert oder die Lyrischen Stücke für Klavier zu den meistgespielten Stücken überhaupt. Zwar gab es eine Zeit, in der Grieg nur wenig rezipiert wurde, und es schrieb beispielsweise Klaus Wolters 1967 in seinem Handbuch der Klavierliteratur, Grieg sei von der alten Generation noch geliebt worden und nun als „Eintagsfliege“ verschwunden, da seine Musik schlicht nicht mehr anspreche, doch: er kehrte wieder und das mit aller Macht. Immer mehr neue Einspielungen gibt es von seinem breiten Œuvre, Gesamtaufnahmen von Klavier-, Kammermusik-, Lied- oder Orchesterwerk, und in den Konzertsälen sind manche Werke absolute Dauerbrenner – und das, obwohl Grieg von sich selber sagte, er werde in 100 Jahren vollkommen vergessen sein.

Doch gibt es noch immer Vorurteile, die Grieg falsch interpretieren. So stellt man sich den Norweger heute meist nur als alten Mann mit Schnauzer und Hirtenstock vor, wie er glücklich auf seinem Fjord sitzt und so schöne wie harmlose Miniaturen verfasst. Wahr ist an diesem Bild eigentlich nur der Schnauzbart, und der Komponist war ein Leben lang von schwerer Krankheit gezeichnet – früh schon verlor er einen Lungenflügel und hatte bis zu seinem Tod ständige Atemnöte -, war geprägt von familiären Krisen (das lange Verbot der Eltern einer Heirat mit seiner Cousine Nina Hagerup, der Tod seiner Tochter Alexandra, kurz darauf der Tod beider Eltern, Probleme mit Nina und Gerüchte um Ehebruch von beiden Seiten aus bis hin zu einer längeren Trennung des Paares, der Suizid seines Bruders etc.) und kämpfte mit ständigen Selbstzweifeln und einem geradezu destruktiven Perfektionismus. Seine Werke überarbeitete er teils unzählige Male, im Falle der Orchestration seines Klavierkonzerts sogar bis zu seinem Tod immer wieder aufs Neue, seine Symphonie zog er vor der Uraufführung als Gesamtwerk zurück und verbot jegliche Aufführung, zu welcher es erst 1980 in Russland durch einen klassischen „Kulturraub“ kam. Und auch das Klischee eines Kleinmeisters ist letztlich nicht ausreichend, denn obgleich Grieg unzählige Klavierminiaturen und eine mit Schubert zu vergleichende Anzahl an Liedern schuf, gingen auch viele große und bedeutende Werke aus seiner Feder hervor: Fünf grandiose Sonaten schuf er, besonders die drei für Violine und Klavier sind bemerkenswert, eine Ballade, die denen von Chopin in nichts nachsteht und diese gar hinsichtlich innerer Bezüge, Länge, pianistischer Schwierigkeiten, Gesamtwirkung und Stringenz zu überbieten versucht, die hier vorliegende Symphonie und das Klavierkonzert sowie ein überwältigendes Streichquartett in g-Moll, quasi Schwesterwerk zur Ballade, um nur einige dieser Werke zu nennen. Nicht zuletzt wird Grieg vorgeworfen, zu abhängig den Traditionen verbunden geblieben zu sein ohne Sinn für Moderne und Fortschritt. Grieg war tatsächlich einigen Neuerern abgeneigt und sagte gar nach einer Aufführung von Strauss‘ Salome, er habe zu lange gelebt und die Musik habe ihn überholt, doch als Reaktionär kann er deshalb keinesfalls bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil, gerade in Bezug auf die Harmonik war er fortschrittlicher als die meisten wissen, so beginnt beispielsweise die „Illusion“ mit einem übermäßigen Dreiklang-Akkord und in der Ballade wird ein Durseptakkord in zweiter Umkehrung gegen alle Regeln zehn Mal chromatisch nach oben gerückt, ähnliches findet sich in der Flucht vor den Trollen in der Schauspielmusik zu Peer Gynt. So mag es nicht verwundern, dass Debussy immer wieder Griegbezüge aufweist (teils ganz deutliche wie zu Beginn seines Doktor Gradus Ad Parnassum, wo er unverkennbar auf den Beginn der Holberg-Suite anspielt) und Ravel gar sagte, in jedem seiner Werke stecke der Einfluss von Grieg.

Eivind Aadland geht dem Orchesterwerk dieses grandiosen Komponisten auf den Grund, gemeinsam mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln spielte er es auf fünf CDs für audite ein. Das Orchester spielt klar und durchhörbar, der Dirigent verzichtet auf alle unnötigen Romantizismen und überdehnte Tempi rubati. Man fasziniert mit äußerst wandelhaften Charakteren, so agiert man in der Barockgesten aufgreifenden und diese romantisierenden Suite Aus Holbergs Zeit Op. 40 recht nachdrücklich und mit angenehm bleibender Härte, wogegen beispielsweise die Symphonischen Tänzen durchaus lyrisch und weich gestaltet sind. Es entstehen vielfarbige Schattierungen und das Ganze wird nicht wie viel zu häufig zu hören in einem einzigen monochromen „Grieg-Klang“ verschmolzen. Bemerkenswert ist die Lebendigkeit aller Stimmen, also auch derer, die nicht im Vordergrund stehen, was besonders bei den Klavierstücktranskriptionen von Vorteil ist, aber auch in Symphonie und Klavierkonzert eine ungewöhnliche Plastizität und Vielschichtigkeit erwirkt. Alles in Allem entsteht so eine gewisse Sachlichkeit, die jedoch nicht ins Sterile abgleitet, sondern nur die Reflexion und das Bewusstsein über das Werk zeigt anstelle von Überrumpelung durch klischeehafte Gefühlsausbrüche. Auch wird die Dynamik zu keiner Zeit kopflos ausgereizt in übermäßig krachendes Fortissimo oder unhörbares Pianissimo, wodurch das Zuhören sich sehr angenehm gestaltet und nicht in ständiges Lautstärke-Nachpegeln ausartet. Die Aufnahmen sind von höchster Qualität und können den ganzen Farbenreichtum Griegs dem Hörer authentisch vermitteln.

Herbert Schuch ist Solist im Klavierkonzert a-Moll, dem einzigen fertiggestellten Solokonzert Griegs, der zumindest noch drei weitere für Geige, Cello und erneut für Klavier geplant hatte. Ebenso objektiv wie das Orchester versteht er seinen Solopart und passt sich auf natürliche Weise in den Orchesterklang ein. Er spielt feingliedrig und lyrisch ohne Hektik oder Überstürzung, präsentiert gediegene Sanftheit gleichermaßen wie anspringende Scherzhaftigkeit. Außergewöhnlich ist sein Gefühl für große Crescendi und Decrescendi, die in einer kaum erreichten Kontinuität anwachsen beziehungsweise ausblenden.

Eine der wohl schönsten Inspirationen darf Camilla Tilling mit ihrer vielseitigen Sopranstimme vortragen: Solveigs Lied – und fünf weitere Orchesterlieder. Gerade in diesem Lied umfängt sie mit zwei offenkundig divergierenden Seiten ihrer Stimme, einer betrübt zurückgehaltenen im Textteil und einer hell strahlenden im Vokalisenteil. Und auch in den weiteren Liedern gelingt ihr die ganze Bandbreite vom großen Operngesang bis hin zur schubertischen Verinnerlichung. Ihr Vibrato ist durchaus vielseitig, dabei recht kontinuierlich eingesetzt, und nimmt verschiedenste Färbungen ein, so dass auch hier einige Abwechslung entsteht. Auch sie setzt auf innere Gelassenheit und wohltuende Reflexion des Inhalts. Ebenso eine farbenreiche Stimme hat Ton Erik Lie, wenngleich er teilweise etwas im Orchester verloren zu sein scheint. Im Op. 32 vermittelt er ein starkes und glaubhaftes Gefühl von Einsamkeit. Das Vibrato ist ein wenig statisch, doch gleicht er dies durch dynamische Vielfalt aus.

Ohne jeden Zweifel liegt hier eine wahrlich hörenswerte Gesamteinspielung des symphonischen Werkes von Edvard Grieg vor. Aadlands Ökonomie der Gestaltung merkt man die lange Beschäftigung mit dem Komponisten an, er weiß, worauf es ankommt in Griegs Musik. Jedem, der nur die „Hits“ wie die Peer Gynt-Suiten, Holberg-Suite oder das Klavierkonzert kennt und mag, sei wärmstens empfohlen, sich auch mit dem restlichen Orchesterwerk auseinanderzusetzen. Hier (wie auch im Klavier- und Kammermusikbereich) warten bei Grieg phantastische Schätze, wahre Perlen des Nordens!

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Maeckel auf der Probe

„Liszt plus“ lautet der Titel des Konzerts von Professor Gregor Weichert am Nachmittag des 3. April 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München. Das Konzert der Reihe „Klavierspielkunst – Stationen der Musikgeschichte“, veranstaltet von Jürgen Plich, enthält Werke von Liszt, nämlich zwei Legenden, Die Zelle in Nonnenwerth und die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium, sowie von Louis Vierne Le glas und von César Franck Prélude, Choral et Fugue. Zwei Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Todestag begangen wird, bilden die Zugabe.

Vor einiger Zeit besprach ich für The New Listener das Buch „Das organische Klavierspiel“ von O. V. Maeckel, eine in Vergessenheit geratene Methode eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden und damals hoch angesehenen Klavierpädagogen, der versuchte, die noch nie in Worte gefasste Methode der großen Klaviervirtuosen wie Franz Liszt zu entschlüsseln und authentisch zu unterrichten. Herausgeber des im Staccato-Verlag erschienenen Reprint ist Gregor Weichert, emeritierter Professor in Münster, der selber nach Maeckels Methode spielt und lehrt. So lasse ich mir natürlich die Chance nicht nehmen, seinem Konzert im Münchner Schloss Nymphenburg beizuwohnen und die praktische Umsetzung von Maeckels Methode unter die Lupe zu nehmen.

Wie auch der Pädagoge des frühen 20. Jahrhunderts ist Weichert ein großer Anhänger von Franz Liszt und Erforscher auch von dessen geistig-spiritueller Seite. Da verwundert nicht, dass sowohl Liszt als auch das Religiöse das Konzertprogramm einem roten Faden gleich durchziehen. Zwei Legenden von großen Heiligen, die Zelle in Nonnenwerth, und eine Polonaise aus dem lediglich als Klavierparticell vorliegenden Stanislaus-Oratorium des Chopin-Freundes machen den ersten Teil des Recitals aus, Francks Prélude, Choral et Fugue sowie das Totengeläut, Le glas, des für seine Orgelsymphonien berühmten Franck- und Widor-Schülers Louis Vierne den zweiten. Kurze Moderationen Weicherts vermitteln leger und gekonnt sein fundiertes Wissen und tiefes Verständnis der gespielten Werke.

Der Klang verzaubert und erstaunt gleichermaßen von der ersten Sekunde an: Professor Gregor Weichert entlockt dem Broadwook & Sons Full Concert Grand von 1896 einmalige Schattierungen und einen sauberen, klaren und vollendet abgerundeten Ton. Tatsächlich manifestiert sein Spiel nach der Klaviermethode von O. V. Maeckel eine ganz eigene Art des Anschlags, der ein unerwartetes Hörerlebnis hervorruft. Besonders auffällig sind hierbei die weittragenden Gesangslinien (die 3. Spielart nach Maeckel) sowie die genauestens durchbalancierten Akkorde (wovon Maeckels zweites Kapitel handelt). Zu keiner Zeit scheint sich Weichert sonderlich anzustrengen, er geht nur mit dem nötigen Druck in die Tasten hinein, wodurch niemals Härte entsteht, alles geschieht aus der Entspanntheit der Muskeln und aus der natürlichen Schwerkraftenergie heraus.

Darüber hinaus ist für das Spiel von Gregor Weichert innere Ruhe und Gelassenheit bezeichnend, aus welcher heraus die Musik entstehen kann. Locker und entspannt nimmt Weichert selbst die virtuosesten Passagen und lässt sie in aller Einfachheit entstehen, ohne isolierte, nachdrückliche Effekte nötig zu haben.

Ein Stück, das noch besonders hervorgehoben werden sollte, ist die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium von Franz Liszt. Welch eine fortschrittliche harmonische Kraft in diesem Stück liegt, das ist wirklich faszinierend – niemals hätte man bei solch einer Musik an Franz Liszt gedacht, viel eher an einen späteren Neuerer. Besonders manche scheinbar falschen Noten stechen hervor, die im Gesamtkontext jedoch einen Sinn ergeben und nur punktuell fast wie „Blue Notes“ wirken. Nicht weniger beachtlich sind aber auch die restlichen Werke: die beiden programmbeladenen Legenden, Viernes düsteres und stimmungsgeschwängertes Le glas, welches wohl niemanden kalt lassen kann – vor allem nicht in solch einer reflektierten Darbietung -, und die chromatisch schillernde Virtuosität der Musik von César Franck, die rein musikalischen Zwecken dient. Unfassbar fesselnd geraten insbesondere die beiden Intermezzi von Johannes Brahms, welche es als Zugabe gibt, wie gewohnt in innerer Lockerheit und meditativer Ruhe – und umso stärker mit echt empfundenem Gefühl und Reife der Gestaltung.

So leitet Weichert direkt über in den nächsten Klaviernachmittag, der am 8. Mai mit seinem ehemaligen Schüler und nunmehr Kollegen sowie Veranstalter Jürgen Plich stattfinden wird. Bei „Brahms plus“ gibt es dessen dritte Sonate sowie die 3 Phantasiestücke Op. 111 von Robert Schumann. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Trier blickt gen Norden

Die Manfred-Ouvertüre Op. 115 von Robert Schumann, das Klavierkonzert a-Moll Op. 16 Edvard Griegs sowie die dritte Symphonie Op. 44 (ebenfalls in a-Moll) von Sergej Wassilijewitsch Rachmaninoff stehen auf dem Programm des sechsten Sinfoniekonzerts des Philharmonischen Orchesters der Stadt Trier unter Leitung von Generalmusikdirektor Victor Puhl am 31. März 2016. Solist des im Theater Trier stattfindenden Konzerts ist der aus Moldawien stammende Alexander Paley.

Ein anspruchs- und gehaltvolles Programm wählt das Philharmonische Orchester der Stadt Trier für sein 6. Sinfoniekonzert am 31. März. Schon die eröffnende Manfred-Ouvertüre Op. 115 ist ein tiefgreifendes Seelengemälde und erfüllt von Hintergründigkeit. Die düstere Geschichte von Manfred, der sich durch Inzest mit Astarte – vermutlich, doch nicht im Text von Lord Byron wörtlich zu finden, seiner Halbschwester – schuldig machte und so ihren Tod verursachte, läuft durch Magie, Geister und Dämonen unweigerlich auf seinen Tod zu und birgt unermesslichen Stoff zur musikalischen Umsetzung. Schumann schuf daraus ein epochales Melodram-Meisterwerk, das in der Ouvertüre eine gedrängte psychologische Zusammenfassung erfährt. Trotz des vorgezeichneten Es-Dur steht sie eigentlich in es-Moll, todnah und von innerer Zerrissenheit. Nicht weniger ein Meisterwerk ist das einzig vollendete der mindestens vier geplanten Solokonzerte des Schumannverehrers Edvard Hagerup Grieg. Nicht zu Unrecht ist der Geniestreich des in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts stehenden Norwegers eines der meistgespielten Klavierkonzerte aller Zeiten, und dies trotz der erheblichen Selbstzweifel Griegs an seiner Musik, die ihn dazu brachten, auch dieses Werk mehrfach zu revidieren. Seit der Uraufführung nicht gleichermaßen beliebt ist die dritte Symphonie a-Moll Op. 44 von Sergej Rachmaninoff, fast 30 Jahre nach seiner zweiten Symphonie entstanden. Tatsächlich weist sie wohl doch ein paar Längen auf und besitzt nicht ganz die Stringenz seiner Klavierkonzerte oder der Symphonischen Tänze Op. 45, die sein letztes Werk werden sollten.

Die erste Konzerthälfte ist vor allem durchzogen von Temposchwankungen, die zum Teil äußerst irritierend wirken. Grund dessen sind hauptsächlich die ausladenden und nicht ausschließlich zu musikalischen Zwecken eingesetzten Gesten von Generalmusikdirektor Victor Puhl, die ihm teilweise wörtlich genommen über den Kopf zu wachsen scheinen. So wird es schwierig, die wie magisch miteinander verschweißten Übergänge mitzuverfolgen oder den unweigerlich aufs Ende hin verlaufenden Fluss zu verspüren. Einige klanglich ansprechende Momente gibt es schon, etwa das Versterben vor dem letzten kurzen Aufbegehren gerät recht stimmungsvoll. Insgesamt gelingt es Victor Puhl auch recht gut, den Unterstimmen zur Geltung zu verhelfen und eine stetige polyphone Wirkung zu erreichen, die in allen der dargebotenen Werke durchaus vernehmlich ist, doch von vielen Dirigenten als reine Begleitwirkung vernachlässigt wird.

Eine absolute Premiere findet beim Klavierkonzert a-Moll Op. 16 Edvard Griegs statt: Alexander Paley übernimmt erstmals in diesem Werk öffentlich den Solopart nach jahrzehntelanger Konzerttätigkeit. Rückblickend ist es unvermeidlich, zu sagen: Hätte er es doch mal lieber sein lassen. Der durchaus informative Einführungsvortrag vor dem Konzert warnt bereits, Paley habe einige Eigenheiten und bringe seine persönliche Note in die vorgetragenen Werke. Dass sich diese „Eigenheiten“ in komplett unmusikalischen Freiheiten, vollkommen unpassenden ständigen Rubati und an den Haaren herbeigezogenen Akzentuierungen ausdrücken, war dann doch ernüchternd. Es ist dem Dirigenten unmöglich, den wirren Temposchwankungen zu folgen und der brutalen und gehackten Lautstärke etwas nur halbwegs Passendes entgegenzubringen. Lediglich am Ende des zweiten Satzes scheint Paley zu merken, wie sinnlos und stupide er an der Musik vorbeigeht, und lässt sich einmal von den Noten tragen, statt sie frappierend grotesk zu entstellen. Zu Beginn des Finales ist dies jedoch schon wieder vergessen und er schmettert statt dem schwungvollen Halling einen tosenden Säbeltanz – ein lauter „Hayja“-Schrei seinerseits verstärkt dieses Zerrbild überdies. Von mir unerklärlichen Bravo-Ausrufen angespornt, rattert er noch eine kurze Zugabe herunter, die allerhöchstens als erträglich bezeichnet werden kann. Das Orchester bemüht sich wirklich, etwas Musikalität einzubringen – Paley unterbindet dies resolut und mit Erfolg.

Ein vollkommen anderes Bild bietet sich nach der Pause, Rachmaninoff scheint wesentlich mehr geprobt zu sein als Schumann, und dies ist hörbar! Durch lebendige Hervorbringung der Nebenstimmengeflechts glänzt das umstrittene Werk in Plastizität und Vielseitigkeit, wodurch auch einige der bekannten Längen gar nicht so lang erscheinen. Auch ist der Klang nun wesentlich ausgewogener als zuvor. Zwar bleiben noch immer einige eher blässliche Stellen und die bereits beanstandeten unfunktionellen Temposchwankungen, doch ist alles in allem eine enorme Steigerung gegenüber der ersten Konzerthälfte offenkundig.

Gab es zwar in der ersten Hälfte doch einige Komplikationen, zumal vom Pianisten ausgehend, so kann doch das Schlussstück einigermaßen überzeugen, nicht zuletzt einiger Musiker wegen, die mit ihrem Können und ihrer Einfühlung in teils glänzenden Soli das Publikum in innere Bewegung bringen.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Lieder der Hoffnung

Linn Records, AKD 530; EAN: 6 91062 05302 0

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„Shelter From The Storm. Songs Of Hope For Troubled Times” lautet der Titel des neuen Albums von Barb Jungr. Zusammen mit dem Jazzpianisten Laurence Hobgood, dem Kontrabassisten Michael Olatuja und dem Perkussionisten Wilson Torres performt sie Songs von Richard Rodgers, Oscar Hammerstein II, Bob Dylan, Leonard Cohen, Stephen Sondheim, Leonard Bernstein, Joni Mitchell, Peter Gabriel und David Bowie sowie Eigenkompositionen in Kollaboration mit Hobgood.

Die Stimme von Barb Jungr ist wie ein Chamäleon in der Musik und schmiegt sich jedem nur erdenklichen Stil an, so macht die als Chanson-Sängerin bekannte Musikerin Cabaret ebenso wie Blues und Soul und ist geschätzt für ihre Coverversionen von Popgrößen wie Bob Dylan oder Leonard Cohen. Auch mit ihren mittlerweile immerhin schon über 60 Jahren hat sie nichts von ihrer vollen, kräftigen und geschmeidigen Stimmkraft, an voluminösem Klang eingebüßt. Und auf „Shelter From The Storm“ beweist sie einmal wieder, welch ungeheuere Anpassungsfähigkeit ihre Stimme hat, sowohl was die verschiedensten Stile in den aufgenommenen Songs betrifft als auch in Bezug auf die Musiker – dieses Mal spielt sie ausschließlich mit in Amerika lebenden Jazzmusikern. Erstaunlich ist jedes Mal aufs Neue ihre nuancenreiche Gestaltung des Vibratos, das zu keiner Zeit mechanisch eingesetzt wird – mal tritt es nur ganz spärlich in Erscheinung, mal trägt es den Ton mit großem Ambitus direkt zum Hörer. Durch genaueste Abstimmung zur zu erzielenden Wirkung wirkt es hier als ausgesprochen mächtiges und sinnvolles Stilmittel.

Bereits im Titel als Feature angegeben ist der vielseitig begabte Jazzpianist Laurence Hobgood, ein preisgekrönter Virtuose mit äußerst differenziertem Spiel und einem progressiven, nicht in Routine verfallen wollenden Touch, der seinen Klavierstimmen immer wieder eine neue Frische verleiht. Hier am Klavier und am elektronischen Keyboard (sowie beim Pfeifen) zu hören, verleiht er den Songs einen harmonisch interessanten und vielschichtigen Instrumentalpart, der den melodischen Höhenflügen Jungrs zu folgen weiß, selber eigenständig aktiv bleibt und sich weder zu sehr in den Vordergrund drängt noch im Hintergrund verschwindet. Die erst seit kurzer Zeit bestehende Zusammenarbeit der beiden trägt jetzt schon erstaunliche Früchte und es klingt, als würden sie bereits wesentlich länger gemeinsam wirken.

Leider nur auf der CD-Innenseite genannt, aber dennoch nicht weniger bedeutsam sind Michael Olatuja am Bass und Wilson Torres am Schlagwerk. Olatuja ist zwar in der Gesamtwirkung eher im Hintergrund zu hören, doch ist sein präzises Pizzicato eine unerlässliche Stütze für die Liedkonstrukte und agiert auch in der tiefen Lage als abwechslungsreiche Stimme. Torres hat einen gewaltigen Apparat an Schlagwerk aufgetischt und kann bereits mit wenigen Klängen eine ganz eigene Atmosphäre schaffen, über der sich die übrigen Instrumente sowie die Stimme erst entfalten können. Er hat einen rhythmisch extrem genauen Groove und beherrscht auch ein zurückgehaltenes Entstehenlassen des Fundaments.

Die Songs sind allesamt in einem mittleren Tempo genommen und von fein zurückhaltendem Charakter. Kein Lied treibt sonderlich in Überschwang nach vorne, ebenso ist keines von übermäßiger Melancholie oder Niedergeschlagenheit. So versucht Barb Jungr, die Hoffnung – For Troubled Times – durch eine edle und gemessene Musik zu erreichen. Ob dieses Konzept nun auf jeden Hörer individuell wirken mag, zumindest mit ihrer Stimme kann sie doch Hoffnung und Freude verbreiten, ihr Klang schützt auch vor dem stärksten Sturm.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Neue Welten

Warner Classics, LC 02822; EAN: 8 25646 13201 0

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Das gesamte Symphonieschaffen Antonín Leopold Dvořáks, seine Legenden und andere Orchesterwerke wie Auszüge aus den Slawischen Tänzen spielte der in Uruguay geborene und in New York lebende Komponist und Dirigent José Serebrier mit dem Bournemouth Symphony Orchestra auf sieben CDs ein. Die Box erschien bei Warner Classics.

Eines der meistgespielten und bekanntesten Werke der klassischen Musik ist die „Symphonie aus der neuen Welt“, die 9. Symphonie des böhmischen Komponisten Antonín Dvořák, ein jeder wird zumindest eine Auswahl ihrer Themen im Kopf haben und sie sofort wieder erkennen. Umso eigenartiger eigentlich, dass nur sie so zu Weltruhm kam. Neben dem überragenden Cellokonzert und dem Violinkonzert werden die Symphonien Nummer sieben und acht auch noch recht häufig gespielt, doch was ist mit deren sechs fantastischen Vorgängern, die in den Archiven verstauben? Bereits in der ersten Symphonie, „Die Glocken von Zlonice“ von 1865, ist der typische Dvořák-Stil unverkennbar und manifestiert sich in jedem weiteren seiner symphonischen Werke. Das ausgiebige Exzerzieren und Steigern von so prägnanten wie einprägsamen Themen darf als eines der zentralen Charakteristika von Dvořáks Musik angesehen werden und zieht sich von seinen frühen Kompositionen bis hin zu den fünf späten Tondichtungen, die nach den Symphonien entstanden sind. Obgleich der Komponist Anfangs wenig Glück mit der Symphonie zu haben schien – die erste galt als verschollen und wurde erst 1936 als Antiquariatsfundstück uraufgeführt, und auch die zweite war lange Zeit verloren –, schrieb er weiter und schenkte so der Welt noch sieben weitere Symphonien, jede für sich ein wahrhaft bedeutendes Werk.

Dieses bedeutsame Schaffen fiel nun in die Hände von José Serebrier, der sowohl als Dirigent wie auch als Komponist nicht zufällig einen großen Namen hat. In beiden Bereichen sind seine Leistungen auf einer großen Anzahl an CD-Veröffentlichungen für verschiedenste Labels belegt. Immer wieder spielt Serebrier auch unbekanntere Werke ein und schenkt uns somit Referenzaufnahmen in Vergessenheit geratenen Repertoires. Nach seiner letzten Warner-Box mit sämtlichen Symphonien und Konzerten von Alexander Glazunov 2012 lautete also das nächste große Projekt: Dvořák.

Auch hier gelangen einmal wieder absolute Referenzaufnahmen. José Serebrier entlockt dem Bournemouth Symphony Orchestra einen vielseitigen und farbenreichen Klang, es entsteht eine unvergleichlich dichte Struktur, und Serebrier besticht mit einem Gespür für lange Steigerungen bis hin zur unfassbar berstenden Spannung. Gerade auch Wiederholungen, die viel zu oft lediglich als simple und stur gleiche Abfolgen dargeboten werden, erhalten hier einen musikalischen Sinn und dienen dem Aufbau. So wird beispielsweise die Expositionswiederholung der Neunten ein wahres Erlebnis, aus dem vernebelten ersten Vortrag entsteht eine viel aufgeladenere und drängendere Wiederholung, welche unweigerlich auf den Höhepunkt in der Durchführung hinführt. Bei all dem legt der Dirigent zudem feinstes Rhythmusgefühl an den Tag, welches der Musik eine gewaltige Prägnanz verleiht. Unweigerlich wird ersichtlich, wie viele eigene Gedanken sich Serebrier über diese Musik gemacht, wie lange er mit seinem Orchester geprobt hat und wie frei er doch die Musik aus sich heraus entstehen lässt – nichts wirkt gekünstelt oder gewollt, alles erfüllt seinen eigenen musikalischen Zweck und entgleist zu keiner Zeit in falsche Übertreibungen. Auch der interessante Booklettext entstammt der Feder des Dirigenten und lässt den Leser wissenswerte Details über die Werke und im Falle der ersten Symphonie auch über die Korrekturen (sowie das lange Hadern mit den offensichtlichen Fehlern) erfahren.

Doch ist kein Musiker etwas ohne sein Instrument und kein Dirigent ohne sein Orchester. Und auch das „Instrument“ von José Serebrier ist auf Hochglanz poliert und makellos rein. Das Bournemouth Symphony Orchestra brilliert durch technisch einwandfreie Leistung und außergewöhnliche musikalische Darstellungsgabe. Sämtliche Soli passen sich in den Gesamtklang ein und sind frei von mechanischem Vibrato oder Eigenzurschaustellung. Mir persönlich besonders im Kopf geblieben sind die herrlichen Solopassagen der großen Flöte, die so unberührt rau und hauchig ertönten, dass direkt das Schwingen des Materials Kern des Klanges zu sein schien.

Einmal wieder gelingt es José Serebrier, mit einer Gesamtaufnahme vollkommen zu begeistern. Mit jugendlicher Frische und gereifter Auffassungsgabe gelingt es ihm, den Symphonien eine unverbrauchte Vitalität in größter Natürlichkeit zurückzugeben – eine absolut uneingeschränkte Empfehlung wert!

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Mehta macht Mozart – 3 Mal

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Drei Mal Wolfgang Amadeus Mozart gibt es am 22., 24. und 26. März 2016 in der Philharmonie im Gasteig. Zubin Mehta dirigiert die Münchner Philharmoniker und den Philharmonischen Chor München in der Serenade für 12 Bläser und Kontrabass B-Dur KV 361 „Gran Partita“, dem Requiem für Soli, Chor, Orgel und Orchester d-Moll KV 626 in der Fragmentfassung ohne die Vervollständigungen seiner Schüler Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler sowie die Motette „Ave verum corpus“ KV 618. Der Chor ist von Andreas Herrmann einstudiert, die Solisten sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser.

Seit 2004 bereits darf sich Zubin Mehta als erster Ehrendirigent der Münchner Philharmoniker in deren über 120-jähriger Geschichte bezeichnen. Nun ist er wieder einmal bei „seinem“ Münchner Orchester und widmet drei Konzertabende voll und ganz Wolfgang Amadeus Mozart, der im Januar diesen Jahres 260 Jahre alt geworden wäre.

Ungewohnt leer ist die Bühne in der ersten Hälfte des Konzerts am 24. März, für welches ich, für The New Listener, eine Karte in den mittleren Rängen erworben habe. Das unausgefüllte Podium hängt allerdings nicht mit einer Krankheitswelle bei den Musikern zusammen, sondern mit der kammermusikalischen Besetzung des ersten Werks: Lediglich dreizehn Musiker verlangt die Serenade B-Dur KV 361 mit dem Titel „Gran Partita“. Die Philharmonie im Gasteig kommt der kleinen Aufstellung bedauernswerterweise überhaupt nicht entgegen, der Klang erscheint bereits in den Blöcken G, H, I und J – immerhin zur ersten und zweiten Preiskategorie gehörend – distanziert und fahl. Vermutlich haben die vorderen Blöcke, auch durch die tiefgestellten Klangsegel, eine annehmbarere Akustik, was allerdings auch auf Kosten der weiter hinten gelegenen Plätze geht. Zubin Mehta dirigiert Mozart mit kleinen und nur auf das Nötigste beschränkten Bewegungen, jegliche übermäßige Zutat ist ihm fremd. Das kommt dem Zusammenspiel und der Präzision seines Ensembles zugute, die Musiker wirken durchwegs aufeinander abgestimmt und erstaunlich synchron, was bei reiner Bläseraufstellung (plus dem hinzugefügten Kontrabass) alles andere als einfach ist. Alle Mitwirkenden können ihr enormes Können in den solistisch gesetzten Passagen unter Beweis stellen – mehr als einmal wird die Serenade in der Literatur als Konzert für dreizehn Solisten bezeichnet. Besonders in den leisen Passagen zeigen Bläser und Kontrabass einen enormen Reichtum an Klangschattierungen, doch gerade in den extrovertierten Momenten könnten sie etwas mehr aus sich herausgehen und bräuchten nicht in der Zurückhaltung zu verharren. Das beeinflusst nämlich nicht zuletzt den Farbenreichtum, der durch den Raum schließlich eh bereits gedämpft ist.

Nach der Pause füllt sich die Bühne, nun befinden sich ein für Mozart’sche Verhältnisse volles Orchester, ein Chor, ein Orgelpositiv und vier Gesangssolisten auf der Bühne. Im Rahmen dieser Konzerte wird das Fragment gebliebene Requiem KV 626 gespielt, das letzte Werk des großen Genies. Auf Geheiß seiner Witwe Constanze wurde das Werk zeitnah nach seinem Tod von seinen Schülern Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler vervollständigt, sprich, das nur acht Takte umfassende Lacrimosa vollendet und Domine Jesu, Hostias, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei nach den verbleibenden Skizzen konstruiert. So konnte das Requiem dem anonym gebliebenen Besteller überbracht werden, um den sich nach wie vor Mythen ranken, etwa, er sei an dem Ableben Mozarts schuldig oder zumindest daran beteiligt. Die Solisten im Münchner Gasteig sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser, sie alle weisen ein gutes Gespür für die Musik auf und singen ihre Soli mit Bravour. Lediglich Erdmann und Fischesser haben ein zu stur mechanisches und durchgängiges Vibrato, das dosierter und feinfühliger eingesetzt hätte werden müssen, vor allem auch, um beim Zusammenwirken aller vier Solisten durch die große Amplitude entstehende mikrotonale Spannungen zu vermeiden. Eine besonders außergewöhnliche und ansprechende Stimme weist Michael Schade auf, dessen Tenor als markig und prägnant sogleich erfreut. Chor und Orchester sind hier spürbar in ihrem Element, sie veranstalten ein sprühendes Feuerwerk an Farben und Ausdruck. Zubin Mehta bringt eine feine und auch in dichter Polyphonie durchhörbare Linie zum Vorschein, die wichtigsten Stimmen sind linear mitverfolgbar. Er achtet minutiös auf den großen, die Sätze zusammenhaltenden Bogen und verliert dennoch nicht das Detail und das Gefühl für das Wechselspiel aus Spannung und Entspannung.

Welch eine unfassbare Wirkung entsteht, wenn das Lacrimosa nach lediglich acht Takten zerfällt, die Soprane noch ohne ihre Mitstreiter weitersingen, aber auch sie nach zwei Takten ersterben! Das Wissen, dass dies das abrupte Ende eines der größten Kapitel der Musikgeschichte darstellt, lässt einen schaudern – der Abbruch ist wie das Zufallen des Sargdeckels, ein so unumkehrbares wie unaufgelöstes Ende. Solch eine Wirkung ist ansonsten nur noch im letzten Contrapunctus von Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ zu erleben, jenem unübertroffenen polyphonen Werk, das nach ungefähr zehnminütiger Spielzeit plötzlich mitten in der Ausführung ausgerechnet des B-A-C-H-Sujets abbricht …

Direkt im Anschluss gibt Mehta noch die kurze Motette Ave verum corpus, die doch noch ein versöhnliches Ende bringt und den Hörer nicht in der Unaufgelöstheit lässt. Dennoch bleibt dieses enorme Gefühl eines schicksalhaften Endes bestehen und wird den Hörer auch noch aus dem Saal heraus begleiten. Nicht zuletzt, da Mehta das Requiem vor der Aufführung all jenen gewidmet hat, die auf der Welt leiden und hungern müssen, und dafür auf den Applaus verzichtet. Ohne das wohl verdiente „Brot des Künstlers“ verlässt er die Bühne, der Hörer verbleibt – überwältigt von dieser Musik.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Nordlichter am Gitarrenfirmament

SIMAX Classics, PSC1339, Abbey Road Studios; EAN: 7033662013395

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Ausschließlich Musik von Ketil Hvoslef, dem vielleicht spannendsten und gewiss unverkennbarsten norwegischen Komponisten unserer Zeit, findet sich auf dem neuesten Album des norwegischen Gitarristen Stein-Erik Olsen. Zu hören sind das Quintett für Gitarre und Streichquartett von 2004, das Gitarren-Trio SEONVEH – das zudem titelgebend ist – aus dem Jahre 2011, das Doppelkonzert für Flöte, Gitarre und Streichorchester von 1977 sowie die bereits 1966 entstandenen Sechs Stücke für Sechs Saiten. Olsens Mitstreiter sind die Gitarristen Egil Haugland und Njål Vindenes, Gro Sandvik an der Flöte, ein Streichquartett bestehend aus Elise Båtnes, Daniel Dalnoki, Ida Bryhn und Torunn Stavseng sowie das Norwegischen Kammerorchester unter Leitung von Christian Eggen.

Zweifelsohne als einer der substanziellsten zeitgenössischen Komponisten ist der Norweger Ketil Hvoslef anzusehen. Der Sohn des überragenden norwegischen Symphonikers Harald Sæverud beschreitet seit jeher vollkommen eigene Bahnen und löste sich auch ohne Zögern von der Tradition seines Vaters: Nicht eine Symphonie schrieb Hvoslef bisher, dafür eine bemerkenswerte Zahl an Solokonzerten für alle möglichen Besetzungen, teils auch recht ungewohnt wie für singende Säge, für Violine mit Popband, oder für Saxophonquartett. Die Musik von Ketil Hvoslef hat stets einen freien und geradezu improvisatorisch anmutenden Charakter, ist zugleich kraftvoll rau und von enormer Leichtigkeit, und wirkt in höchstem Maße spielerisch. Typisch ist die Zelebrierung von markanten Themen, die gleich einem roten Faden immer wieder auftreten und die Form zusammenhalten. So kann trotz der Freiheiten nie von einer zerfallenden oder gar strukturlosen Musik gesprochen werden, alles hat seinen Platz in den Stücken und nichts scheint unnötig oder zu viel. Obgleich Hvoslef durchaus nach neuen Zusammenklängen und energetischen Bahnen sucht und diese tatsächlich findet, bleibt er instrumental der natürlichen Klangerzeugung verbunden ohne Hinzunahme von reinen Geräuscheffekten. In seiner Orchestration weist Ketil Hvoslef durchgehend höchstes handwerkliches Geschick auf, kombiniert mit nicht endendem, durchaus auch obsessivem Wagemut. Er fordert die spieltechnischen Möglichkeiten der Instrumente bis ans Maximum und schafft es, vollkommen neue Wirkungen beim Zusammenspiel der Instrumente hervorzubringen. Ketil Hvoslef ist zeitgleich ein Neuerer, der einen unverwechselbar eigenen Stil geschaffen hat, als auch ein klassischer Musikant in Bezug auf die absolute Priorität der strukturgebenden Grundpfeiler der Musik: Melodie, Harmonie und Rhythmik – all das ist bei Hvoslef ausgeprägt vorzufinden und in ureigener Weise bis an die Grenzen, ja eigentlich gefühlt über diese hinaus, ausgeschöpft.

Vier Werke bietet die bei SIMAX classics erschienene CD, die in einem Zeitraum von 45 Jahren entstanden. Den Beginn macht das fünfsätzige Gitarren-Quintett von 2004, in welchem das Zusammenspiel zwischen Zupfinstrument und den Streichern des Quartetts ausgelotet wird. Mal wirken die beiden Pole zusammen und ergänzen sich (wie vor allem im dritten Satz), mal spielen sie komplett entgegengesetzte Stimmen (besonders deutlich im zweiten Satz). Auch im einsätzigen Doppelkonzert für Flöte, Gitarre und Streichorchester von 1977 wird das harmonische Zusammenwirken immer wieder unterminiert und nach neuen Konstellationen des gemeinsamen Spiels geforscht. Für Hvoslef stellt dieses Konzert eine imaginäre Liebesgeschichte zwischen den Instrumenten dar, so beginnt die Gitarre von ihrem ersten Einsatz an, sich der anfangs solistisch spielenden Flöte anzunähern, bis sie tatsächlich miteinander zu verschmelzen scheinen – immer wieder kommentiert und reflektiert vom Streicherapparat. Ganz anders begegnet SEONVEH (2011) der Frage nach dem Zusammenspiel: Viel eher schafft das ebenfalls einsätzige Werk – dessen Titel sich aus den Initialen der drei Widmungsträger (und hier Vortragenden) Stein-Erik-Olsen, Njål Vindenes und Egil Haugland zusammensetzt – von Anfang an die Illusion eines großen „Superinstruments“, zu welchem sich die drei sich klangfarblich mischenden Gitarren verschmolzen haben. Zuletzt sind noch sechs Miniaturen für sechs Saiten (also die einer solistisch spielenden Gitarre) aus dem Jahre 1966 zu hören, und auch hier wird das Gefühl von Mehrstimmigkeit evoziert.

Stein-Erik Olsen entlockt seiner von Daniel Friederich gebauten Gitarre ein außergewöhnliches Spektrum an Klangfarben und Nuancen der Schattierung. Die spieltechnisch extremen Anforderungen meistert er mit frappierender Lockerheit und unmittelbar sich übertragendem Verständnis des musikalischen Gehalts. Dynamische Feinheiten bringt er überzeugend und ungekünstelt ans Licht, die stetig wiederkehrenden Motive meißelt er mit charakteristischer Kontur heraus. Auch das Zusammenspiel der drei Gitarristen wirkt hier kein bisschen nivellierend, die drei Stimmen mischen sich sofort und fusionieren zu einer hinreißend vollendeten Einheit.

Gro Sandvik verzaubert auf ihrer Flöte mit einem so strahlenden wie hauchigen Ton von mächtiger Emotionalität und Tiefe des Ausdrucks. Sie kollaboriert fantastisch mit dem Orchester und Olsen, begehrt teils wie vom Komponisten initiiert gegen diese auf und lässt sich dann wieder auf den Ausdruck ihrer Mitstreiter ein. Nicht zuletzt das Orchester unter Eggen und nicht weniger das Streichquartett fesseln durch ihr dichtes und präzise abgestimmtes Spiel, sie übertönen niemals die dynamisch schwächere Gitarre und manifestieren einen vollen Klanggrund sowie in den Soli einen konzis abgestimmten Widerpart. Es wird deutlich, wie stark die intensive Zusammenarbeit aller beteiligten Künstler mit dem Komponisten sich auf ein restlos überzeugendes, suggestiv in Bann ziehendes Ergebnis auswirkt. Tief ist denn auch das grundsätzliche Verständnis seiner Musik, die alle Beteiligten mehr als nur makellos vortragen.

Was soll nach all den Lobesworten noch groß über diese einmalige Musik gesagt werden – sie sollte umgehend ganz einfach gehört werden, und jeder kann sich dem Feuer ihres Genius überlassen!

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Tragisch ausgelöschter Meister der klassischen Moderne

Joachim Mendelson
2. Symphonie (1939), Symphonie de chambre (1938), Quintett für Oboe, Streichtrio und Klavier (1939), Sonate für Violine und Klavier (1937)

Tatjana Blome (Klavier), Frédéric Tardy (Oboe), Ulrike Petersen (Violine), Ignacy Miecznikowski (Viola), Claudio Corbach (Cello), Polnisches Rundfunk-Symphonieorchester, Jürgen Bruns

EDA 040
ISBN: 840387100401

EDA040

Immer wieder zucken wir gerade als Musiker aufs Neue zusammen, wie unsere nationalsozialistischen Vorgänger innerhalb kürzester Zeit im Zuge systematischer Zerstörung insbesondere die polnische Kultur dem Erdboden gleich gemacht haben. So vieles ist unwiederbringlich verloren! Und jetzt präsentiert das Berliner Label EDA, das seit zwei Jahrzehnten mehr tut für die vergessene polnische Musik als alle anderen zusammen, einen Komponisten, den ich bis dahin überhaupt nicht kannte – einen jüdisch-polnischen Komponisten, der 1943 im Warschauer Ghetto getötet wurde. Joachim Mendelson wurde 1892 in Warschau geboren, schrieb sich ursprünglich Mendelssohn und lebte ab 1929 in Paris, bis er 1935 als Dozent für Musiktheorie und Harmonielehre an die Musikakademie seiner Heimatstadt berufen wurde, wo sein Leben wie so viele 1939 in die Hände der Deutschen fiel. Der exzellente Booklettext von Initiator Frank Harders-Wuthenow, einem der beschlagensten, engagiertesten und intelligentesten Musikforscher unserer Zeit, bringt alles vor, was die Recherchen über Mendelson zu so einer Einführung beitragen konnten, und das ist leider sehr wenig, denn fast alles ist vernichtet worden, darunter sämtliche Manuskripte Mendelsons, die bei der Niederbrennung Warschaus 1944 in Flammen aufgingen. Daher kann man es nur als unschätzbaren Glücksfall ansehen, dass fünf Werke Joachim Mendelsons beim französischen Verlagshaus Max Eschig im Druck erschienen sind. Sie sind alles, was erhalten ist: ein etwas früher entstandenes Streichquartett sowie die vier auf vorliegender Portrait-CD enthaltenen Kompositionen: eine Sonate für Violine und Klavier (1937), eine Kammersymphonie (1938), und aus dem Jahr 1939 ein Quintett für Oboe, Violine, Viola, Cello und Klavier sowie die Zweite Symphonie. Bei der Datierung handelt es sich jeweils um das Jahr der Veröffentlichung, die Kompositionen dürften etwas früher entstanden sein, doch kann man anhand der stilistischen Reifung – wie Harders treffend konstatiert – davon ausgehen, dass die Veröffentlichungsreihenfolge einigermaßen der Entstehungabfolge entspricht. Alle vier Kompositionen sind dreisätzig mit der Abfolge schnell-langsam-schnell.

Schon in der Violinsonate zeigt Mendelson eine deutlich eigene Handschrift, die natürlich stark von französischen Vorbildern geprägt ist, jedoch sowohl zum Besten darunter gehört als auch mit einem dezidiert slawischen Einschlag besticht, der gleichwohl viel subtiler vorhanden ist als etwa bei einigen anderen lange in Paris tätigen Kollegen wie etwa Martinu. Besonders zeuberhaft ist der langsame Satz, ein ätherisch melismatisches Andante ma non troppo. Die Kammersymphonie bezeugt bereits eine offenkundige Weiterentwicklung, beispielsweise in der organischen Handhabung der würzigen freien Dissonanzen, und auch hier ist es der langsame Mittelsatz, ein vital schwebendes Larghetto, das besonders eigenartig klingt und mit einer unwiderstehlichen Atmosphäre umfängt. Und man darf staunen, wie herrlich farbenreich und mit welchem Sinn für Balance und Kontraste Mendelson orchestrierte.

Ein großes Meisterwerk ist das Quintett für die seltene Besetzung von Oboe, Streichtrio und Klavier. Hier haben auch die ohnehin so geistreichen schnellen Sätze nochmals sichtlich an Substanz gewonnen, und der kontrapunktisch meisterliche Fluss ist staunenerregend in der Leichtigkeit und freien Anmutung, mit welcher die komplexen Kunststücke inszeniert werden. Mendelson zeigt sich immer mehr als ein vortrefflicher Meister der Formdramaturgie, und nie wird es neoklassizistisch oberflächlich, nie modisch stilisiert, nie schwerfällig tiefgründig. Diese Musik ist durchweg durchflutet von Leben, Charme, hellwachem Geist und Brillanz im Dienste aristokratisch feinsinniger Aussage. Die Zweite Symphonie, wohl sein letztes Werk in Freiheit, krönt sein erhaltenes Schaffen (leider können wir sie nicht der Ersten gegenüberhalten), und ihr Larghetto darf als einer der schönsten Sätze für Orchester in den letzten Zwischenkriegsjahren gelten. Nun möge diese CD anregen, diese Werke auch im Konzertleben zu präsentieren.

Die Einspielungen sind mit großem Engagement und Liebe zur Sache geschehen. Mich stören vor allem zu kurz ausgehaltene Töne, vor allem bei beiden Akteuren in der Violinsonate. Im Orchester sind die lauteren Passagen oft vertikal eher unstrukturiert und zumal in den schnellen Sätzen recht primitiv artikuliert. Lyrische Innigkeiten entschädigen andernorts für derlei Einbußen. Das Klangbild ist in den Kammermusikwerken ansprechender, da präziser und ausgewogener, als in den Orchesteraufnahmen. Insgesamt ist das eine CD, die jeder kennen sollte, dem die Musik der klassischen Moderne ein echtes Anliegen ist, und der sich für höchstkarätige Kammer- und Orchestermusik des 20. Jahrhunderts interessiert.
[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, März 2016]