Alle Beiträge von Martin Blaumeiser

Nicolas Hodges überwältigt den Herkulessaal mit Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert

Das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 am 23. Mai brachte Claude Viviers spätes Ensemblestück „Et je reverrai cette ville étrange“, Helmut Lachenmanns „Klangschatten – mein Saitenspiel“ und Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert „To An Utterance“ mit einem überragenden Nicolas Hodges. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete Matthias Hermann.

Matthias Hermann und Nicolas Hodges mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Nicht ganz so gut besucht wie die Veranstaltungen zuvor, hatte das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 im Herkulessaal doch ein paar Schmankerl parat, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Zweifellos war der gebürtige Kanadier Claude Vivier (1948–83) ein höchst unkonventioneller Künstler, der – zeitweise Schüler von Karlheinz Stockhausen – avantgardistische Moden oder Darmstädter Prämissen mutig über den Haufen warf und bald einem ganz eigenen Stil vertraute, der seinem Primat der Melodie in aufregender Weise Raum gab und damit auch seinen Hörern oft zu mystischer Versenkung verhalf.

Als Dirigenten hat man den Lachenmann-Schüler Matthias Hermann eingeladen, der vor zwei Jahren bei der Neufassung von My Melodies für den bereits erkrankten Peter Eötvös eingesprungen war (siehe unsere Kritik). Für Viviers Et je reverrai cette ville étrange von 1982 muss er kunstvoll verschnörkelte Monodien, die von sieben Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks meist quasi im Unisono – im ersten und da capo im letzten der sechs Abschnitte mal in Terzen – vorgetragen und von fernöstlichem Schlagwerk fast rituell untermalt werden, klanglich fein abstimmen. Dies gelingt z. B. bei einigen sehr hübschen Mixturen äußerst ansprechend, aber etliche Stellen könnten präziser zusammen sein.

Man könnte Hermann auch mangelnde Präzision bei den zunächst zeitlich recht vereinzelten, harten Knalleffekten, vor allem Bartók-Pizzicati, in Helmut Lachenmanns (*1935) Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) vorwerfen – zumindest da, wo sie tatsächlich punktgenau zusammen sein sollten. Zum Glück werden diese für die 48 solistisch agierenden Streicher schnell vom Komponisten mit zunehmenden Unschärfen versehen, bis in der Mitte des Stücks alles flächiger wird, was sofort eine ungeahnte Sogwirkung erzeugt und erstaunlich farbig und fantastisch klingt. Die drei Klaviere wirken hier entgegen ihrer Natur meist wie klangverlängernde Echokammern, aber keinesfalls solistisch – trotzdem großes Lob für Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und Alexander Waite, die sich wie die enorm konzentrierten Streicher des BRSO natürlich mit allen erdenklichen, ungewöhnlichen Spieltechniken auseinandersetzen müssen. Faszinierend etwa, wie gegen Schluss einige der Cellistinnen ein instabiles Bassfundament auf dem mit Bogen gestrichenen Saitenhalter erzeugen. Hermanns Timing und sein Überblick über die gesamte Vielfalt der Geräuschentwicklung kann jedenfalls überzeugen. Zu Recht erfährt das Stück, das heutzutage natürlich niemanden mehr zu provozieren vermag, allgemeine Zustimmung.

Für ihr Klavierkonzert To An Utterance (2020) mit nicht nur im Schlagzeug riesiger Orchesterbesetzung musste sich die britische Komponistin Rebecca Saunders – Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019 – schon etwas Besonderes ausdenken, um dem Solisten ein klangliches Gegengewicht zu ermöglichen. Jede Menge Cluster, vor allem jedoch allgegenwärtige Glissandi, oft über die gesamte Tastatur und in teils derart atemberaubender Geschwindigkeit und Dynamik, dass man fast glaubt, einem Player Piano von Conlon Nancarrow zuzuhören. Was hier die Hände von Nicolas Hodges – durch fingerfreie Handschuhe vor Abschürfungen geschützt – leisten, geht weit über das hinaus, was etwa Stockhausen in seinem berüchtigten Klavierstück X fordert, gerade auch an emotionaler Energie. Die geht hier tatsächlich meist vom Klavier aus; das grandios instrumentierte Orchester der lange auf kammermusikalische Besetzungen spezialisierten Komponistin – immer spannungsvoll, dabei wie der drohende Abgrund für den hyperaktiven Pianisten – nimmt dessen Anregungen auf und transformiert dessen häufig als Haltepunkt genutzten Resonanzraum zu wilden und schönen Klängen: z. B. enorm differenzierten Streicherflageoletts, die dann noch mit Akkordeon in höchster Lage bekrönt werden. Das an sich sehr gelungene Werk zerfasert formal allerdings durch zu schnelle Wechsel zwischen ungezähmter Brutalität und deutlich gemäßigterem Material – gibt es da eine Anspielung auf Tristan? – und bringt dramaturgisch daher nicht nur den Pianisten im Sinne der weniger geläufigen Bedeutung des Titels bis „zum bitteren Ende“. Hodges ist mit seiner phänomenalen Technik und unermüdlichen Präsenz einmal mehr ein Erlebnis im Herkulessaal, und Orchester und Dirigent fühlen sich in Saunders‘ kalkulierter Klangorgie sichtlich wohl: tosender Applaus.

[Martin Blaumeiser, 24. Mai 2025]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an Sir Simon Rattle

Bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an den Chefdirigenten des BRSO, Sir Simon Rattle, wurden wie üblich auch die diesjährigen Förderpreisträger geehrt: für Komposition Ashkan Behzadi, Bastien David und Kristine Tjøgersen. Die Preise für Ensembles gingen an collective lovemusic aus Strasbourg bzw. das Tacet(i) Ensemble aus Bangkok. Drei Stücke der Nachwuchskomponisten wurden vom Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum vorgestellt. Für Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 dirigierte Simon Rattle 15 Mitglieder des BRSO.

V.l.n.r.: Sir Willard White, Ilona Schmiel, Sir Simon Rattle, Bastien David, Tabea Zimmermann, Kristine Tjøgersen, Ashkan Behzadi © EvS-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Auch die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung fand im Münchner Herkulessaal statt, erneut moderiert von Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk. Offensichtlich hatte man aus der für die Anwesenden fast unerträglichen Überlänge der Veranstaltung im vorigen Jahr gelernt und kam mit perfekt durchorganisierten 130 Minuten aus, so dass die Gäste beim anschließenden Empfang nicht schon todmüde waren. Die Vorsitzende des Stiftungsrats, Tabea Zimmermann, durfte trotzdem stolz eine noch nie dagewesene Summe von gut 4 Mio. € eingesetzter Fördermittel für diverse Projekte in mittlerweile über 30 Ländern verkünden. Und sie schien ebenfalls erleichtert über die – vorerst – abgewendete geplante GEMA-Reform mit absehbar katastrophalen Folgen für den Bereich der klassischen Musik. Die kurzen Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List konnten nach den etwas infantilen Ausrutschern nun wieder an das gewohnte Niveau von vor 2024 anknüpfen. Sie machten Lust auf die geförderten Ensembles collective lovemusic aus Straßburg bzw. Tacet(i) aus Bangkok – von Neuer Musik aus Südostasien hört man bei uns ja so gut wie nie etwas – und trugen nicht unwesentlich zum Verständnis der dann folgenden Live-Beiträge mit Musik der jungen Komponisten bei. Insgesamt hatte man sich für den Nachwuchs – falls diese Bezeichnung bei teils schon über 40-jährigen Künstlern überhaupt noch angemessen ist – mehr Zeit genommen als für den Hauptpreisträger, aber zum Glück die Rituale der Preisverleihung etwas eingedampft.

Die Stücke der Förderpreisträger Komposition wurden vom kleinen, in den Niederlanden ansässigen Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum dargeboten: Bei Carnivalesque (iii) (2014/17) des gebürtigen Iraners Ashkan Behzadi (*1983), der später in Montreal und New York ausgebildet wurde, wo er nun lebt und selbst an der Manhattan School of Music lehrt, durften die Musiker noch weitgehend auf zumindest halbwegs vertraute Spielweisen zurückgreifen: unterschiedliche Texturen mit spannenden Kontrasten, kaleidoskopartig und dennoch verbunden, handwerklich kunstvoll ausgearbeitet. Nur warum die Musik kurz vor Schluss beinahe auf der Stelle trat, verstand man beim ersten Hören überhaupt nicht.

Die Musik des Franzosen Bastien David (*1990), der u. a. bei José Manuel López López und Gérard Pesson studierte, ist hinsichtlich der Klangerzeugung dagegen völlig kompromisslos: In Six chansons laissées sans voix (2020) werden stimmliche Lautäußerungen ganz ungewöhnlich auf Instrumente übertragen: Bogen auf Holzlamellen, – allenfalls hier erkennt man Tonhöhen – Reiben eines Luftballons mit einem feuchten Schwamm, Ziehen einer Angelschnur über eine Harfensaite etc. Dies wirkte vor allem erst einmal hübsch perkussiv, und man fühlte sich an afrikanische Musik erinnert, aber dann vermittelte sich über dieser Basis leider so gut wie nichts: Den Rezensenten langweilte diese erschreckend dünne Substanz recht bald. Vor ein paar Jahren hat David ein kreisförmiges Metallophon mit 216 im Abstand von jeweils einem Zwölftelton gestimmten Lamellen erfunden. Sowas ist eigentlich ebenfalls ein alter Hut: Man denke an das Instrumentarium eines Harry Partch und das in diesem Zusammenhang von Dean Drummond entwickelte Zoomoozophone

Die Norwegerin Kristine Tjøgersen – zunächst Klarinettistin, erst relativ spät in Linz bei Carola Bauckholt zur Komponistin ausgebildet – vertraut ebenfalls kaum noch traditioneller Handhabung ihres fantasiereichen Instrumentariums: So wird in ihrem preisgekrönten Klavierkonzert keine einzige Taste gedrückt. Sie entdeckt ihre Klangwelten und die zur Produktion nötigen Utensilien vielmehr in der Natur, sei dies unmittelbar im Wald oder in Forschungsergebnissen von Biologen – so wie den Unterwasseraufnahmen singender Fische am Great Barrier Reef, die sie zu Seafloor Dawn Chorus (2018, rev. 2025) inspiriert haben und die sie für dieses Stück quasi transkribiert hat. Auch wenn dies keine simple Mimesis darstellt, beeindruckte Tjøgersens Musik durch Natürlichkeit, fassliche Schönheit und vermittelte durchaus etwas von der – hier sei der altmodische Begriff erlaubt – Erhabenheit der Schöpfung, die es zu bewahren gilt. Der dahinterstehende Aufruf zum politischen Handeln erinnerte den Rezensenten – nicht nur wegen des Titels – an Liza Lims „Extinction Events and Dawn Chorus“; tatsächlich entstand Tjøgersens Werk jedoch gleichzeitig und rief im Herkulessaal allgemeine Bewunderung hervor.

Den diesjährigen Hauptpreisträger Sir Simon Rattle muss man an dieser Stelle sicherlich nicht mehr vorstellen. Kaum ein Dirigent hat sich schon in ganz jungen Jahren so energisch für die Aufführung zeitgenössischer Musik eingesetzt wie er und ist mittlerweile von seinem Repertoire her derart breit aufgestellt. Und wenn man beobachtet, wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach dem Tod Mariss Jansons‘ und der nachfolgenden, lähmenden Pandemie seit seinem Amtsantritt erst vor zwei Jahren wieder zu einem der am hinreißendsten musizierenden Klangkörper weltweit aufgeblüht ist, ist dies allein schon Hochachtung wert, verbunden mit der Hoffnung, dass er München als Dirigent noch möglichst lange erhalten bleiben möge. Die warmherzige Laudatio hielt der Bariton Sir Willard White, Rattles Weggefährte seit fast 45 Jahren – und mit solch wunderbarer Stimme, die als Porgy oder Wotan wohl jedermann zutiefst bewegt, geriet dessen Verneigung vor einem großen Künstler umso eindringlicher und glaubwürdiger.

Simon Rattle selbst wollte sich in seinen Dankesworten bewusst kurz halten und lieber musizieren, und so soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass Sir Simon das Preisgeld für ein ins BRSO eingebettetes Ensemble mit historischen Instrumenten einsetzen möchte – man darf gespannt sein. Zum Ausklang der Veranstaltung hatte Rattle dann Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 ausgewählt, ein schon historisch geradezu ideales Vorzeigestück für 15 Instrumentalisten, und erwähnte mit Respekt, dass sein anwesender Lehrer John Carewe diese schon seit 70 Jahren draufhat. Rattle leitete das Schönberg-Stück natürlich auswendig und mit feinster handwerklicher Virtuosität. Seine Solisten aus dem BRSO folgten dem energischen und bis ins Detail stimmigen Konzept mit Freude und Engagement, und so wurde aus einem recht komplexen, etwas sperrigen Werk ein emotional vielschichtiges und begeisterndes Erlebnis, für das sich der Saal mit starkem Beifall bedankte.

[Martin Blaumeiser, 19. Mai 2024]

Hochemotional und kultiviert: Simone Young dirigiert beim BRSO Werke der Zweiten Wiener Schule

Im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am 15. Mai 2025 erklangen in der Isarphilharmonie unter Leitung der exzellent vorbereiteten Simone Young drei Meilensteine der Neuen Wiener Schule: Anton Weberns „Fünf Stücke für Orchester op. 10“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücke op. 6“ und Alexander Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ – mit der Sopranistin Maria Bengtsson sowie dem Bariton Michael Volle.

Maria Bengtsson, Simone Young und Michael Volle mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Christopher Mann nennt in seiner Einführung mit der schon dabei gut aufgelegten australischen Dirigentin Simone Young sogleich den Namen, der über allen folgenden Darbietungen schwebt: Arnold Schönberg. Als Schüler und späterer Schwager Alexander Zemlinskys (1871–1942) gilt er ja als Begründer der Zweiten Wiener Schule; und er war wiederum Lehrer von Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935). Die drei Werke des Abends entstanden innerhalb von nur 12 Jahren – zwischen 1911 und 1923 – und sind relativ selten zu hören: Weberns Fünf Stücke für Orchester op. 10 wegen ihrer minimalistischen Besetzung kaum in Programmen mit großen Klangkörpern, Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 genau umgekehrt wegen des geforderten Riesenapparats, und Zemlinskys Lyrische Symphonie hat an diesem Donnerstag gar ihre Erstaufführung beim BRSO.

Weberns Orchesterminiaturen op. 10 (1911/13) sind quasi ein Gegenentwurf zu seinen großbesetzten 6 Orchesterstücken op. 6, die wiederum Vorbild für Berg waren. Von den gut 20 Instrumenten – darunter allerdings Exoten wie Mandoline, Celesta oder Röhrenglocken – erklingen oft nur wenige gleichzeitig. Der klangliche Reichtum und die Konzentration des Ausdrucks der insgesamt (!) nur etwa fünf Minuten dauernden Stücke verlangt von den Musikern höchste Präzision und in einem so großen Saal extrem gutes Aufeinander-Hören. Simone Young – u. a. zehn Jahre GMD an der Hamburgischen Staatsoper – zeigt, nur hier ohne Taktstock, alles genauestens an, insbesondere die sehr delikat auf den Raum abzustimmende Dynamik. Die erstaunlich phantasievollen, knappen musikalischen Gesten werden so zu echten Kabinettstückchen. Einfach grandios, wie man in der Isarphilharmonie etwa am Schluss des dritten Stücks die große Trommel im ppp mehr über den Solarplexus als über das Gehör wahrzunehmen glaubt. Aber verglichen mit dem, was danach kommt, ist dies natürlich nur ein Appetizer.

Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 – vollendet unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – warten nun mit einem Orchester auf, das selbst Mahlersche Dimensionen zu sprengen scheint. Sie sind vielleicht der Inbegriff des musikalischen Expressionismus, von ihrer emotionalen Intensität wie von der strukturellen Komplexität her, die keine „Füllstimmen“ kennt: Alles hat thematisch-motivisches Gewicht und stellt Dirigenten bei der Herstellung einer dynamischen Balance, die sowohl die Details hörbar macht, zugleich die Schichtungen von Haupt- und Nebenstimmen verständlich abbildet, vor bis dato völlig unbekannte Probleme. Zudem sind schon die rein instrumentalen Anforderungen an sämtliche Spieler exorbitant: Die 1. Posaune z. B. beginnt direkt mit einem hohen es“. Rhythmisch wird es ebenfalls dicht, obwohl keine Orgie an Taktwechseln notiert ist, wie etwa in Strawinskys Sacre. Frau Young koordiniert dies alles nicht nur perfekt, sondern geht auch emotional mit, ohne je übers Ziel hinauszuschießen: zutiefst beeindruckend. Alles bleibt klar, sieht immer geschmeidig aus, und mit der linken Hand gibt die Dirigentin nicht nur alle wichtigen Einsätze, sondern klug disponierend stets sehr deutliche dynamische Impulse. Die instrumentale Virtuosität und Empathie der Musiker des BRSO wird dem in jeder Weise gerecht. Vom anfangs noch wie in Schleier gehüllten Präludium über den unwirklichen Reigen streift der Zuhörer fast wie ein Voyeur in einem von Wänden unbehinderten Flug quer durch verschiedenste morbide Tanzböden, wo Walzer- und Ländler-Fetzen nur momentweise und perspektivisch verzerrt erscheinen, dabei längst keine fin-de-siècle Hochstimmung mehr aufkommen mag. Der Marsch schließlich wird zum reinen, gewalttätigen Horrortrip: wie eine Vision der noch ungeahnten Gräuel des beginnenden Krieges. Und hier darf der mörderische Holzhammer aus Mahlers Sechster tatsächlich dreimal aktiv werden – bis zum bitteren Ende. Wie kultiviert und farbig das dann trotzdem klingt, ist an diesem Abend schon ein kleines Wunder, das sofort erste Bravorufe provoziert.

Vor gut einem Jahr litt das Münchner Rundfunkorchester bei Zemlinskys Lyrischer Symphoniewir berichteten – unter Sänger-Absagen und unglücklichem Timing: nur einen Tag nach dem Jubiläumskonzert des BRSO. Dieses konnte nun unter optimalen Bedingungen seine erste Bekanntschaft mit dem lange unterschätzten Stück machen, das erst seit den 1980er Jahren als gleichrangig zu Mahlers Lied von der Erde anerkannt wird. Liegt die Gemeinsamkeit in der Verwendung asiatischer Dichtung, – hier des Bengalen Rabindranath Tagore – zielt Mahlers Vertonung mehr auf Weltschmerz, Zemlinskys imaginäre Liebesgeschichte hingegen auf ein wenig stereotype psychologische Innenwelten von Mann und Frau, jedoch als Individuen. Zemlinsky ging indes nicht den Weg Schönbergs und seiner Schüler in die Zwölftontechnik mit. Das BRSO unter Simone Young bringt den orchestralen Farbreichtum der tonalen, harmonisch zwischen Modalität und sensibler Chromatik pendelnden Partitur, an faszinierend schönen Details noch über Mahler oder Berg hinausgehend, in voller Pracht zur Geltung. Dabei trägt der große symphonische Bogen über das gesamte Werk. Ausdruck, Tempi, sehr differenzierte, bewusste Agogik und Balance stimmen auf den Punkt. Das übertrifft die gute Aufführung des Rundfunkorchesters dann doch nochmals spürbar.

Michael Volle erfasst als Heldenbariton ohne Sentimentalität und Pathos, aber mit Bestimmtheit und guter Textverständlichkeit, die Vorgaben des Komponisten exakt: Bis zum Schluss „ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche [!] Ton des ersten Gesanges festzuhalten.“ Die Ausdruckswelten der Frau sind vielschichtiger und extremer. Dafür reicht der von Zemlinsky angedachte jugendlich-dramatische Sopran der jungen Schwedin Maria Bengtsson nicht ganz aus. Bei „Mutter, der junge Prinz…“ fehlt ihr schlicht das stimmliche Fundament und die Genauigkeit der Artikulation, um über das schillernde Orchester herüberzukommen. Hierzu bräuchte es wohl doch eine Strauss-Stimme, die eher Salome oder die Kaiserin als die Marschallin beherrscht. Da dem Rezensenten Michael Volles Stimme von Opern- und Konzertbühne gut vertraut ist, und dessen Timbre hier ebenso heller wirkt als „normal“, mag daran freilich die Akustik des HP8 mal wieder eine gewisse Mitschuld haben. Im musikhistorisch nachwirkenden vierten Gesang „Sprich zu mir, Geliebter“ wird sowohl der Sopranpart als auch das Violinsolo besonders zärtlich und mit Wärme gestaltet, vielleicht ein wenig zu passiv und verhalten. Das ist jedoch anscheinend das Konzept der Dirigentin, die bei der umsichtigen Begleitung der Gesangssolisten ihre lange Opernerfahrung gekonnt einbringt. Absolut ergreifend gelingt Bengtsson dann ihr letzter Gesang „Vollende denn das letzte Lied“ mit seinen bereits nicht mehr tonalen, eiskalten Linien, wo sie glaubwürdig voll aus sich herausgeht. Die nächtlichen Klangfarben des einsamen Endes in ihrer fantastischen Instrumentation – die letzte Partiturseite ist ein Wunderwerk – gelangen mit der großen Streicherbesetzung wirklich zauberhaft ans Publikum.

Insgesamt ein selbst für BRSO-Verhältnisse außergewöhnlich gelungener Abend, der mit begeistertem Applaus für alle Ausführenden honoriert wird. Diejenigen Abonnenten, die dem Konzert – wegen des vermeintlich anstrengenden Repertoires? – ferngeblieben waren, haben da leider eine Weltklasse-Leistung verpasst.

[Martin Blaumeiser, 16. Mai 2025]

Porträtkonzert für Pascal Dusapin bei der musica viva

Am 25. April 2025 widmete die musica viva im Münchner Herkulessaal ein gesamtes Konzert dem großartigen französischen Komponisten Pascal Dusapin (*1955), der Ende Mai einen runden Geburtstag feiert. Unter Leitung der Dirigentin Ariane Matiakh spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben den Soli Nr. 6 und 7 für Orchester und dem Violinkonzert „Aufgang“ mit dem Uraufführungssolisten Renaud Capuçon noch „Wenn du dem Wind…“ – drei Szenen aus der Oper Penthesilea mit der Mezzosopranistin Christel Loetzsch.

Loetzsch, Capuçon, Dusapin, Matiakh © Astrid Ackermann/BR

Zugegebenermaßen mag der Rezensent musica viva Konzerte, in denen Kompositionen von nur einem zeitgenössischen Komponisten erklingen, mit am liebsten, weil man sich dabei – zumeist – auf nur einen Stil und eine dann hoffentlich individuelle Klangwelt einstellen muss als von oft sehr heterogenen Programmen quasi durchgeschüttelt zu werden. Der Franzose Pascal Dusapin feiert Ende Mai seinen siebzigsten Geburtstag und ist in seiner Heimat seit über 30 Jahren ein echter Star, in Deutschland mit seinen Werken noch ein wenig unterrepräsentiert, wenn auch gerade in München kein Unbekannter mehr: Zuletzt war vor knapp zwei Jahren im Herkulessaal sein sehr kontemplatives Orchesterwerk „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island zu erleben – siehe unsere Rezension. Als einziger Schüler Iannis Xenakis‘ ist seine Musik zwar von mathematischen Konzepten durchdrungen, im Vordergrund steht aber immer vermittelbare Emotionalität an oberster Stelle: Der vor allem von Literatur und bildender Kunst geprägte Dusapin legt stets Wert darauf, sein Publikum tatsächlich zu erreichen; sicher mit ein Grund seines Erfolges.

Die beiden Orchesterstücke Reverso (Solo Nr. 6, 2006) und Uncut (Solo Nr. 7, 2009) sind die beiden letzten Teile eines fast 20 Jahre währenden Projekts einer Art Symphonie, die sich zwar „wie russische Babuschkas“ (Dusapin) aus einzelnen Kompositionsaufträgen zusammensetzt, die jedoch im Hinblick auf ein großes Ganzes konzipiert wurden. Eine Gesamtaufführung aller sieben „Sätze“ am Stück (~ 100 Min.) hat indes bisher nicht stattgefunden, und auch die obigen Stücke erklangen am Freitag nicht hintereinander, weil dies ein zu großes zeitliches Ungleichgewicht der beiden Konzerthälften zur Folge gehabt hätte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Konzerten für Orchester der letzten 100 Jahre, wo dann einzelne Gruppen bzw. Solisten besonders hervortreten dürfen, versteht Dusapin den Gesamtapparat als ein Instrument, was deutlich wahrnehmbar vor allem die Holzbläser eher entindividualisiert. Trotzdem zeigen Reverso und Uncut höchst unterschiedliche Charaktere. So erscheint Reverso als in den Raum zusammengefaltete Klangfläche, – wie ein skulpturales Objekt, etwa ein sich dynamisch verändernder Torus – bei der nicht einmal mehr der zeitliche Verlauf linear wahrgenommen wird, trotzdem mit einer sehr harmonischen Hüllkurve. Hier sind in den Feinstrukturen Einflüsse des Minimalismus hörbar, die ohne Aleatorik auskommen, zugleich die dynamische Energie eines Edgar Varèse, dessen Arcana ein musikalisches Schlüsselerlebnis für Dusapin war. Die vor allem in Wien ausgebildete französische Dirigentin Ariane Matiakh schlägt deutlich, leider meist parallel – die linke Hand gibt fast nur Einsätze – und durchweg zu groß, überzeugt durch sehr klares und organisches Timing, hervorragenden Überblick sowohl bei den übergeordneten dramatischen Verläufen als auch der Agogik im Detail. Weniger Kontrolle hat sie freilich über die Feindynamik: Wenn sie selten mal mit Links etwas anzeigt, schaut da schon niemand mehr hin. Das funktioniert bei den Soli noch ganz gut, erstaunlicherweise sogar bei den drei Opernszenen, rächt sich jedoch später im Violinkonzert. Uncut ist deutlich schärfer konturiert, farbiger, in den Extremlagen intensiver, beginnt mit einer Art Blechbläserfanfare – am Schluss gibt es für die Gruppe und das Schlagwerk Extra-Applaus – und wirkt schon aufgrund des rascheren Grundtempos eben überhaupt nicht statisch: große Begeisterung dafür beim Publikum.

Dusapin schreibt momentan bereits an seiner elften Oper, und seine Penthesilea (2015) – nach Kleists bizarrer Umdichtung des Mythos – gehört sicher zu seinen beeindruckendsten Werken. Aus dem kurzen Prolog und den Szenen 2 und 4 schuf der Komponist eine dreisätzige Suite für den Konzertgebrauch ‒ lediglich mit der Hauptprotagonistin als Vokalpartie. Die Mezzosopranistin Christel Loetzsch hat die im wahrsten Sinne des Wortes „mörderische“ Partie konzertant schon komplett mit Frau Matiakh aufgeführt, verfügt über eine außergewöhnlich präsente Höhe und beherrscht alle stimmlichen Facetten, die vom „normalen“ Operngesang über Sprechgesang, Sprechen, Geschrei bis zu animalischeren Lautäußerungen reichen ‒ dies zum Glück eher im tieferen Register ‒ gemäß den hochdifferenzierten Anweisungen der Partitur; und so werfen sich hier mit der souverän vermittelnden Dirigentin die Solistin und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einem hochdramatischen Rausch gekonnt die Bälle zu. Wie vereinzelt bei manchen Ensemblewerken Xenakis‘ kommt der Harfe fast die Rolle eines Mediums zu, das ein gewisses Maß an Selbstreflexion bei der furienhaften Penthesilea ermöglicht. Was Frau Loetzsch gänzlich fehlt, ist leider ein für einen so großen Saal ausreichendes Fundament in der Mittellage und damit leider einhergehend jegliche stimmliche Wärme: Selbst mit der teils manierierten Überartikulation mancher Konsonanten ist nicht auszugleichen, was den Vokalen an Klangfarben mangelt. So bleibt die einstudierte Exaltiertheit streckenweise unglaubwürdig und ihr Vortrag geht doch stellenweise unter ‒ ohne Schuld des Orchesters. Trotzdem erntet die Sängerin am Schluss dieser emotionalen tour de force wahre Beifallsstürme.

Dusapins deutsch betiteltes Violinkonzert Aufgang von 2011 ist ein Musterbeispiel für sein Vermögen, zeitgemäße Klangwelten selbst in für viele Kollegen „überkommenen“ Formen kompromisslos zur Geltung zu bringen. Das Stück wird mit seiner traditionellen Dreisätzigkeit ‒ schnell, langsam, schnell ‒ schon äußerlich üblichen Hörerwartungen gerecht. Renaud Capuçon, bereits der Uraufführungsinterpret, hat den klangfarblichen Reichtum und die virtuos darzubietende Ausdrucksstärke des Werks in jeder Hinsicht verinnerlicht und kann die Schönheit und Energie des Violinparts mühelos aufs Publikum übertragen. Dieser erfordert Sanglichkeit in der Höhe, zupackende Verve, aber auch kontemplative Innigkeit in zahlreichen Solopassagen und extrem präzises Aufeinander-Reagieren zwischen Violinisten und Orchester. Diesem fehlt hier nun die erwähnte Kontrolle Frau Matiakhs über die Feindynamik, und so muss Capuçon leider – insbesondere bei Laufwerk – zu oft vergeblich um eine angemessene Balance kämpfen. Der sehr lange langsame Satz hat eine bemerkenswerte Steigerung nach der Mitte und endet dann in typisch Dusapinscher Melancholie. Das Finale ist absolut hinreißend und rundet ein vielschichtiges Konzert zu aller Zufriedenheit ab. Capuçon verzichtet trotz lautstarker Zustimmung allerdings auf die von manchem erwartete Zugabe.

[Martin Blaumeiser, 27. April 2025]

Simon Rattle dirigiert exemplarisch Boulez, Berio und Lachenmann

Diesmal – ungewohnt an einem Samstag: 22. März – leitete Simon Rattle „sein“ musica viva Konzert der Saison im Herkulessaal, das ausschließlich älteren Werken von Jubilaren des Jahres 2025 gewidmet war: Pierre Boulez‘ „Cummings ist der Dichter“, Luciano Berios „Laborintus II“ sowie Helmut Lachenmanns „Harmonica“ – mit dem Tubisten Stefan Tischler. Neben dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirkte auch wieder der Chor mit, teilweise solistisch.

Simon Rattle, Stefan Tischler, Helmut Lachenmann © Astrid Ackermann; BR

Im sehr gut besuchten Herkulessaal gab es letzten Samstag ein außergewöhnliches Symphoniekonzert der musica viva: zwar keine Uraufführung, dafür jedoch gleich drei Klassiker der Neuen Musik, die trotz ihres Nimbus eigentlich sehr selten gespielt werden. Damit sollten wohl deren Komponisten als Jubilare des Jahres 2025 besonders geehrt werden.

Cummings ist der Dichter (1970) von Pierre Boulez (1925–2016) war in München zuletzt 2016 im Prinzregententheater unter der Leitung George Benjamins zu hören – mit dem gerade noch bestehenden SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie dem SWR Vokalensemble. Damals erklang die Fassung mit 16 Solostimmen. Zum Glück hat sich Sir Simon Rattle für die dreifache Besetzung – bei den in der Partitur von 1986 als solchen gekennzeichneten Tutti-Passagen – entschieden, die dem Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung hierfür: Max Hanft) viel besser das nötige chorische Atmen bei den zahlreichen sehr lange liegenden Klängen in dieser Vertonung eines Gedichts des Amerikaners Edward Estlin Cummings erlaubt. Ebenso erreicht der bei diesem Stück ausnahmsweise ohne Taktstock dirigierende Sir Simon so eine deutlich bessere Balance mit dem nie aufdringlich werdenden Orchester. Und zum Glück betont er überhaupt nicht die vielen an- und abschwellenden Triller der Partitur, die den Rezensenten bei anderen Darbietungen auf Dauer nervten und an diesem Abend öfter als Ausschwingvorgänge verstanden werden. Rattle widmet sich mehr der Feindynamik innerhalb des höchst anspruchsvollen Chorsatzes und darf dem in dieser Hinsicht enorm selbstständigen Agieren seiner nur 27 Spieler des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks – ohne Schlagzeug! – voll vertrauen. Insgesamt erstaunt die Lebendigkeit, Natürlichkeit und Transparenz des Klanges dieser unter der Motorhaube freilich seriellen, zugleich irgendwie frühlingshaften Musik, die auch das Publikum anspricht.

Vielschichtiger und eher Musiktheater als ein konzertantes Werk, präsentiert sich Luciano Berios (1925–2003) gut halbstündiges Laborintus II von 1965, auf einen collage-ähnlichen Text Edoardo Sanguinetis, deutlich experimenteller. Eine Sprecherin – als Gast und nicht wirklich überzeugend: Marie Goyette – sowie aus dem Chor des BR drei singende Frauenstimmen und acht mit Sprechgesang im weitesten Sinne befasste Solisten (alle exzellent!) müssen sich also mit einem Dschungel an Texten – von der Bibel über Dante, Ezra Pound, T. S. Eliot und natürlich Sanguineti selbst – auseinandersetzen (Einstudierung: Stellario Fagone). Dazu kommt dann wiederum ein ähnlich dimensioniertes Orchester wie bei Boulez, diesmal allerdings mit äußerst effektivem Schlagzeug, plus ein 2-Kanal-Zuspielband. Für alle Stimmen fordert Berio Mikros, und einmal mehr schafft die Klangregie Norbert Ommers optimale Voraussetzungen für eine immer stimmige Balance, so dass Rattle hier souverän extrem unterschiedliche Klangräume bedienen kann. Vieles kommt aus historischen Kontexten mittelalterlicher Musik, aber dagegen gibt es gelenkte Aleatorik à la Lutosławski, wiederholte Patterns wie im Musical, eine Stelle mit Jazzimprovisationen, Agitprop der 1960er Jahre und dann im letzten Drittel noch das unerbittliche Tonband. Wie Rattle – völlig klar in seiner konzentrierten Zeichengebung – dieses komplexe Geflecht zu einem durchaus unterhaltsamen, faszinierenden Organismus verschmilzt, ist eine wirkliche Glanzleistung und weil Berio trotzdem immer auch eine Prise italienischen Humors einfließen ließ, letztlich echt begeisternd.

Helmut Lachenmann, der im November 90 Jahre alt wird, hat neben einer gewissen Verweigerungsästhetik oft vermocht, klangliche Opulenz mit einer unglaublichen Palette ganz neuartiger Klänge des immer ganzheitlich betrachteten Instrumentariums zu erzeugen. Ein Musterbeispiel dafür ist Harmonica (1981/83): Nach der Pause spielt so das volle Orchester mit seinem praktisch durchgehend beschäftigtem Solo-Tubisten: Stefan Tischler. Man gönnt ihm natürlich, das Stück als eines der wenigen vorzeigbaren Konzerte für sein Instrument aufzufassen. Doch trotz der ungeheuren physisch-technischen Anforderungen, die Tischler sensationell bewältigt, der enormen Vielfalt an Spielanweisungen und Ausdruckscharakteren: Harmonica ist ebenso wenig ein Solokonzert im herkömmlichen Sinn wie das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, das beim BRSO im Juni gespielt werden wird. Der Solist erscheint fast nie als Auslöser des gleichermaßen hochdifferenzierten Geschehens im Orchester, sondern eher als der neunmalkluge Kommentator im Hintergrund, der vielleicht sogar emotional vieles steuert, gleichzeitig jedoch hinterfragt. Lachenmann hat den Solopart übrigens nachträglich komponiert. Ein geistreiches Spiel und ein überwältigendes Klangbad, schon an der Grenze zur Überinstrumentierung, das jedoch zweifellos seinesgleichen sucht. Hier scheinen Rattle und sein Orchester endgültig in ihrem Element zu sein: Lachenmanns Musik hat, gerade auch wegen dessen kritischer Grundhaltung, nach über 40 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren. Der Komponist, der am Schluss auf die Bühne kommt, und alle Mitwirkenden dürfen hochverdient minutenlangen Applaus entgegennehmen.

[Martin Blaumeiser, 23. März 2025]

Ein reines Boulez-Programm beim zweiten „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für die Freunde Neuer Musik wird 2025 in erster Linie wohl ein Boulez-Jahr. Aus Anlass dessen 100. Geburtstags (26. März) widmete die Ernst von Siemens Musikstiftung ihr zweites „räsonanz“ Stifterkonzert am 9. Januar 2025 ganz dem großen Franzosen und präsentierte dem Publikum im Münchner Prinzregententheater endlich auch das fantastische Ensemble Les Siècles, dessen schon lange geplanter Auftritt wegen der Corona-Pandemie weit verschoben werden musste. So erklangen nun unter der Leitung von Franck Ollu zwei der Hauptwerke von Pierre Boulez: „Éclat/Multiples“ und „Pli selon pli. Portrait de Mallarmé“. Für die anspruchsvolle Sopranpartie konnte Sarah Aristidou gewonnen werden.

Sarah Aristidou und Franck Ollu mit dem Ensemble Les Siècles ©BR/Severin Vogl

Pierre Boulez (1925–2016) zählt noch immer zu den wichtigsten Komponisten der Nachkriegsavantgarde – völlig zu Recht, wie man am Donnerstag schon zur Pause des zweiten „räsonanz“ Stifterkonzerts im so gut wie ausverkauften Münchner Prinzregententheater feststellen durfte. Unter den meist in einem Atemzug genannten Zeitgenossen Xenakis, Berio, Nono, Ligeti und Stockhausen gilt Boulez vielleicht als der am verkopftesten agierende Intellektuelle, der zwar typische Techniken der 1950er Jahre wie den Serialismus aufgreift, jedoch zugleich mit geschickt gelenkter Aleatorik seine Musik sehr offen hält, zudem vielen Werken nie eine endgültige Fassung gab – Stichwort: work in progress –, sondern immer wieder daran weiterbastelte. Als Dirigent war Boulez spätestens ab Mitte der 1960er nicht nur einer der präzisesten Interpreten neuester Musik – seine manchmal als „Karate“ verspottete Schlagtechnik erwies sich als ungemein effektiv. Bei vielen modernen „Klassikern“ wie der Neuen Wiener Schule, Bartók und Strawinsky, insbesondere jedoch Ravel und Debussy wirkte er als Klangsensualist allererster Güte.

Die oft sehr vom instrumental hochdifferenzierten Schlagzeug dominierte, schon deshalb über Strecken leicht exotisch angehaucht klingende Musik Boulez‘ vermittelt sich dann auch dem Hörer überhaupt nicht über ihre oft mathematisch akribisch angelegten inneren Strukturen, sondern durch Raum, Resonanz, Hall und eben äußerst subtile und fantasievolle Farbmischungen. Éclat/Multiples (1970) entstand zunächst in zwei Etappen, wobei Multiples eine Art Erweiterung des ursprünglich für 15 Instrumentalisten geschriebenen Éclat (1965) darstellt, von der Besetzung her um 10 Bratschen erweitert. Sonst gibt es nur noch ein Cello in den Streichern. Abgesehen davon kann das Publikum schon optisch die beiden Abschnitte gut unterscheiden. In Éclat existieren weder durchgängige Metren noch Takte oder ein fixierbares Tempo, so dass der Dirigent – Franck Ollu, bereits in einem Konzert der musica viva 2023 mit dem BRSO ein überragend souveräner Leiter – hier wirklich jedes (!) einzelne Klangereignis dezidiert anzeigen muss. Bei Multiples gibt es streckenweise dann wieder Takt und Tempo: Der ungemein farbige, aber eben punktuelle Klang weicht dank der Bratschen stark auf und erscheint so insgesamt flächiger. Faszinierend sind die sich gegenseitig bespiegelnden Momente zwischen den einzelnen Orchestergruppen. Und kein Mensch merkt, dass Boulez dieses Werk ebenfalls nie wirklich beendet hat. Das von François-Xavier Roth gegründete, stets auf historisch korrekten Instrumenten spielende Orchester Les Siècles bewältigt all dies mit größter Konzentration, enormer Einigkeit mit dem Dirigenten, gerade was die Länge und den Nachhall einzelner Töne betrifft, und echter Sinnlichkeit – von wegen verkopft! Hier sind praktisch alle Musiker Solisten; besonderen Dank für eine gelungene Darbietung zollen Dirigent und Saal jedoch dem Pianisten, dem Bassetthorn sowie den Spielerinnen von Celesta und Cimbalom.

Pli selon pli. Portrait de Mallarmé (1957–1962) – vielleicht das wichtigste Werk des Komponisten – ist ebenso wieder in Boulez-typischer Manie mehrfach umgearbeitet worden, teils mit einschneidenden Veränderungen, zuletzt 2010/11, wo es mit Barbara Hannigan unter Boulez so hier aufgeführt wurde. Zum Glück entschieden sich Ollu und Les Siècles doch für die Fassung von 1989 – der letzte Satz Tombeau wirkte 2011 nicht nur nach Meinung des Rezensenten arg kastriert, worunter die symmetrisch angelegte Gesamtform spürbar litt. Wie der Komponist mit den revolutionär erratischen, hochästhetischen Texten des Dichters Stéphane Mallarmé (1842–1898) arbeitet, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel: Das gut 65 Minuten dauernde Werk besteht aus 5 Sätzen. In allen wirkt auch eine Sopranistin mit, die jedoch in den beiden großbesetzten Ecksätzen – Don und Tombeau – eher eine untergeordnete, in den drei mehr kammermusikalisch angelegten Improvisations, die allerdings minutiös ausnotiert sind, klar die Hauptrolle spielt. Es gibt nur wenige Künstlerinnen, die dies so überzeugend schaffen wie Sarah Aristidou – seit erst wenigen Jahren eine der profiliertesten jungen Koloratursopranistinnen und wegen ihres besonderen Engagements für Neue Musik da längst ein Star. Ihre Stimme ist bis auf wenige tiefe Töne – Boulez‘ Partie hat einen irrwitzigen Umfang – immer tragfähig, dabei jedoch nie grell, verströmt stets Wärme und bringt vor allem ein gewaltiges Charisma herüber, wodurch Aristidous Gesang eben nie nur instrumental wirkt, sondern menschlich und überraschend natürlich. Der Hörer klebt quasi an ihren Lippen, die von sirenenhaftem Schmelz bis zum aggressiv Hässlichen quasi sämtliche Schattierungen hervorbringen, die man einer Stimme überhaupt zutrauen mag. Eine absolute Glanzleistung, obwohl dieses Stück die erste Begegnung der aus Paris stammenden Sängerin französisch-zypriotischer Herkunft mit Boulez‘ Musik ist. Zwar enttäuschte der berühmte erste Zwölftonakkord von Don etwas – der sollte eigentlich wie der Urknall reinhauen –, doch danach klangen die Musiker von Les Siècles schlicht überwältigend: egal, ob solistisch-kammermusikalisch oder als Teil des faszinierenden Gesamtklangs agierend. Ollu hat dies natürlich perfekt im Griff: Ohne Allüren dient er der Musik und hält die Spannung über das gesamte, tief beeindruckende Werk, das wieder mit besagtem Zwölftonakkord endet, diesmal mit durchschlagendem Effekt. Mehr kann man als Dirigent für Pierre Boulez nicht leisten. Riesiger Beifall für Aristidou, Les Siècles und Ollu. Und entgegen verbreiteter Meinungen in einigen Medien: Boulez‘ Musik ist nicht tot. Man muss nur ihre Schönheiten entdecken.

[Martin Blaumeiser, 10. Januar 2025]

Loops, Scherben und Whistleblower

Beim musica viva Konzert am 20. 12. 2024 im Münchner Herkulessaal war der Stargeiger Leonidas Kavakos zu Gast und spielte das 2. Violinkonzert „Scherben der Stille“ der diesjährigen Trägerin des Ernst von Siemens Musikpreises, Unsuk Chin. David Robertson leitete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks außerdem bei der Uraufführung von Bernhard Langs „GAME 18 Radio Loops“ und der deutschen Erstaufführung von Philippe Manourys „Anticipations“.

Leonidas Kavakos, Unsuk Chin, David Robertson, © BR-Astrid Ackermann

Nicht nur die Bühne im Herkulessaal stand – trotz einer nur 50er-Streicherbesetzung – mal wieder randvoll, vor allem mit einer breiten Palette an Schlaginstrumenten. Auch das Publikum war äußerst zahlreich erschienen, zudem sogar alle drei Komponisten des anspruchsvollen Programms, das vom amerikanischen „Neue Musik“-Experten und ehemaligen Boulez-Schüler David Robertson geleitet wurde.

Der Linzer Bernhard Lang (*1957) bezeichnete sich in der Einführung sogleich etwas ironisch, aber absolut zutreffend, als „Wiederholungstäter“. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat sich wohl kein Komponist so lange und intensiv mit dem Potential von Wiederholungen, gerade auch in Verbindung mit Live-Elektronik – Stichwort Loops – auseinandergesetzt. Lang verlangt für GAME 18 Radio Loops einen differenzierten Orchesterapparat aus praktisch individuellen Akteuren inklusive Synthesizer samt besonderer Lautsprecherinstallation in zwei Höhenebenen, großartig realisiert von Zoro Babel. Das Grundmaterial besteht – anlässlich des 75-jährigen Bestehens des BR – aus „Pausenzeichen“ (heute sagt man Jingles) nicht nur deutscher Rundfunkanstalten. Diese zerlegt Lang natürlich in seine atomaren Bestandteile, um daraus über etwa 40 Minuten eine faszinierend neue Klangwelt zu schaffen. Von den einzelnen Spielern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks erwartet der Komponist dabei in mehreren der – schon durch deutlich hörbare „Schnitte“ in der Beschallung – gut erkennbaren sieben Abschnitte ein Höchstmaß an Selbstverantwortung, da sie oft, wie aus einem Kartenspiel, das Material, das sie selbst konkret zum Klingen bringen wollen, quasi ziehen dürfen. Das knüpft – wenn auch mit viel weitgehenderer Freiheit – noch an die kontrollierte Aleatorik etwa Witold Lutosławskis an. Und so laufen längere Sequenzen völlig ohne Beteiligung des Dirigenten ab. Überraschend, dass das klangliche Ergebnis zwar undurchschaubar komplex, jedoch keinesfalls chaotisch wird, sondern – im Gegenteil – erstaunlich homogen. So gibt es eine durchaus witzig-groovige Passage, die nur vom Schlagwerk gestaltet wird; die Loops im Raum wandern teilweise in zwei gegenläufigen Kreisen rund um den Saal und erzeugen dann eine Art Weltraumatmosphäre usw. Im letzten Abschnitt generiert Lang u. a. naturnahe Geräusche. Da, wo Robertson eingreifen darf, gelingt ihm enorme Kontrolle. Der immer mit ausgesprochen freundlicher „Ansprache“ agierende Dirigent – schlagtechnisch sieht das bei Lang ähnlich „einfach“ aus wie bei Ligeti – kann trotz allem Klein-Klein in der Partitur vor allem präzise Charakterisierungen zustande bringen, die einfach Freude machen. Ganz am Schluss kommt dann – ausnahmsweise klar erkennbar – das BR-Sendezeichen, der Alte Peter. Große Zustimmung zu einem unerwartet kurzweiligen Werk.

Obwohl sie eigentlich „klassische“ Setups lieber meidet, hat sich die schon lange in Berlin lebende Koreanerin Unsuk Chin, Trägerin des diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreises, gerade mit ihren Instrumentalkonzerten einen Namen gemacht. Ihr zweites Violinkonzert „Scherben der Stille“ – Anfang 2022 vom Widmungsträger und Solisten des Abends, Leonidas Kavakos, mit dem LSO unter Simon Rattle aus der Taufe gehoben – beginnt mit absichtsvoll brüchigen Flageoletts der Geige. Der praktisch über die gesamten 29 Minuten hochaktive Solopart steht in seinem technisch-musikalischen Anspruch fraglos auf dem Niveau des Berg- oder des großen Pettersson-Konzerts. Chin sieht das Stück als Porträt Kavakos‘, ihn sogar als „Hausherr“ des Geschehens, dessen Emotionalität dabei immer in einen Dialog mit dem Orchester tritt, dort durchaus nicht ohne Konflikte weiterentwickelt wird. Oft berückend schön sind die feinen, unaufdringlichen Schlagzeugfarben, aber etwa ebenso ein Zwischenspiel von vier Solo-Violinen des BRSO, das schließlich zu einem intensiven Flautando von Kavakos mit allen hohen Streichern führt. Robertson bleibt immer glasklar, ohne Mätzchen, kann jedoch, wo nötig, abrupt körperlich ganz energische Impulse geben. Das Orchester bewältigt alles mustergültig. Der unerwartet dramatische Schluss wirkt fast wie eine Erlösung von gewaltiger Anspannung. Dieses Konzert hat offenkundig das Zeug, zu einem Klassiker zu werden – langanhaltender Beifall und Bravos, insbesondere für die Komponistin.

Philippe Manourys (*1952) großbesetzte Anticipations (2019) wirken von Beginn an überwältigend: fasslich dichte, geradezu wuchtige Dramatik. Um es mit Hans Werner Henze zu sagen: wilder, schöner – allerdings weniger neuer – Klang. Wie Langs Live-Elektronik arbeitet Manoury geschickt mit gelenkter Aleatorik und dem Raum: Hier in Gestalt von zwei Bläsergruppen, die als „Whistleblower“ mit einem „Choral“ – als Gegenentwurf zum Geschehen auf der Bühne – von der Rückseite des Herkulessaals aus in mehreren Etappen das Podium entern und schließlich im Orchester zwar die angestammten Plätze einnehmen, aber ihre manipulativen Eingriffe fortsetzen. Das übrige Orchester muss sich damit auseinandersetzen: Das geht, bildlich gesprochen, von Verschmelzung über Konfrontation bis zu Ablehnung. Manoury kann hinreißend für Orchester schreiben: Trotz ungeheurer Intensität wird letztlich alles zu modernem „Schönklang“. Man staunt nicht schlecht, wie sein Schluss – ebenfalls mit einem Tam-Tam-Schlag, hier noch gefolgt von zaghaften Zuckungen der Streicher – dem von Chins Konzert ähnelt. David Robertson führt mit seiner Lockerheit und Konzentration das BRSO zu einem geradezu symbiotischen Musizieren. Alle Mitwirkenden und das Publikum sind anscheinend für derartige, fast konventionelle Formate, die für eine gelungene Realisation zwingend die Qualitäten eines Weltklasse-Klangkörpers benötigen, gleichzeitig dessen Höchstleistung noch zu beflügeln scheinen, sehr dankbar.

[Martin Blaumeiser, 22. Dezember 2024]

Ansprechend Bildhaftes aus Australien und Großbritannien

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte in seinem ersten musica viva Konzert der neuen Saison am 25. Oktober 2024 im Münchner Herkulessaal unter Edward Gardner zwei Orchesterwerke des Briten Oliver Knussen: „Flourish with Fireworks“ und die „Cleveland Pictures“. Von Knussens Schüler Mark-Anthony Turnage erklang „Three Screaming Popes“. Die größte Aufmerksamkeit erregte jedoch die Australierin Liza Lim mit der bejubelten Uraufführung von „A Sutured World“, eine Art Cellokonzert für den Solisten des Abends, Nicolas Altstaedt.

Nicolas Altstaedt, Edward Gardner, Liza Lim, BRSO ©BR/Astrid Ackermann

Nach Meinung des Rezensenten erklingen ja Werke britischer Herkunft, gemessen an ihrer Bedeutung, generell zu wenig auf deutschen Konzertpodien. Nun hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für diesen Abend nicht nur Edward Gardner, den derzeitigen Chef des London Philharmonic Orchestra zur musica viva eingeladen, sondern auch Musik zweier kompositorischer Schwergewichte der letzten Jahrzehnte programmiert, die gerade in München zuletzt nicht oft zu hören waren. Oliver Knussen (1952–2018) war eine eminente, frühreife Doppelbegabung, dirigierte schon mit 15 die Premiere seiner 1. Symphonie beim London Symphony Orchestra. Als Dirigent ein kongenialer Interpret komplexer zeitgenössischer Musik, – etwa der Werke Elliott Carters – bezog sich seine eigene Musik stark auf Strawinsky, knüpfte gerade an dessen Spätwerk an. Seine Instrumentationskunst war immer exzeptionell. Dies beweist das BRSO gleich in Flourish with Fireworks (1993): Zwar nur eine Gelegenheitskomposition für das Antrittskonzert von Michael Tilson Thomas als Chefdirigent des LSO, leitet Gardner den 4-Minüter präzis, ohne mit der linken Hand allzu viel anzuzeigen und kreiert einen mitreißenden Klang, der sich offenkundig an Strawinskys frühem Feu d’artifice orientiert –immerhin ein positiv einstimmendes Warm-up.

Die Australierin Liza Lim (Jahrgang 1966) braucht man in München nicht mehr vorzustellen. Sie erhielt den Happy New Ears Preis der Hans und Gertrud Zender Stiftung für 2021, und ihre Musik erklang mehrfach im Herkulessaal. Vieles davon zeugt von starkem politischem Engagement und Umweltbewusstsein. A Sutured World, dem deutsch-französischen Solisten Nicolas Altstaedt quasi auf den Leib geschrieben, darf das Publikum neben allem philosophischen Über- und Unterbau inklusive Begrifflichkeiten wie Wundheilung, Riss, Sutra oder Narbe schlicht als ein grandioses Cellokonzert genießen. Die für den Hörer klar strukturierte, vierteilige Anlage sowie Altstaedts hochengagierter, zudem von einer enormen emotionalen Spannweite geprägter Vortrag können durchgehend überzeugen: von mystischer Versenkung über Halluzination bis zu ekstatischer Spielfreude – der letzte Abschnitt ist mit Simon says: Alle Vögel fliegen hoch betitelt. Natürlich werden alle spiel- und klangtechnischen Möglichkeiten des Instruments genutzt: So beginnt Altstaedt sein erstes Solo mit einem Barockbogen. Für den wieder intimen Schluss nutzt er gar zwei Bögen gleichzeitig, darf auch mal in durchaus tonal gedachten Kantilenen schwelgen. Das mit nur 2-fachen Bläsern besetzte Orchester tritt oft mit Einzelinstrumenten (Harfe) oder kleineren Gruppen in interessante Dialoge mit dem Solisten und verzaubert mit schlüssiger, fein austarierter Farbigkeit, wird vom Dirigenten mit größter Übersicht und klarer Dynamik so geleitet, dass Altstaedt mit seinem Cello stets durchkommt. Selten hat das musica viva Publikum mit derart ungeteiltem, begeistertem Applaus ein Solistenkonzert bejubelt wie Liza Lims staunenswertes Stück; da verbot sich jede Zugabe.

Nach der Pause gibt es dann zwei Orchesterwerke, die sehr konkret von bildender Kunst inspiriert wurden. Mark-Anthony Turnage (*1960) studierte u. a. bei Oliver Knussen und bezeichnete den Lehrer als Vaterfigur, zu der er eine geradezu familiäre Beziehung unterhielt. Zu Weltruhm gelangte der junge Komponist auf einen Schlag bei der ersten Münchner Biennale 1988 mit seiner Oper Greek. Auch Three Screaming Popes – nach Francis Bacons berühmten Studien über Papstporträts von Velázquez – aus der gleichen Zeit ist eigentlich mittlerweile ein Klassiker. So wie Bacon die alten Gemälde verzerrt, benutzt Turnage historische spanische Tänze als Grundlage. Es ist jedoch weniger die elaborierte Umformung musikalischen Materials als pure Ausdrucksintensität, die sofort unter die Haut geht. Turnage konnte immer mittels Elementen aus Jazz und Pop zusätzliche Härten in seine Musik einbringen, was hier voll aufgeht. Gardner – jetzt mit noch mehr Detailkontrolle als vor der Pause – und das BRSO, die eine unglaubliche Spannung aufrechterhalten, erzielen nebenbei eine bessere Durchsichtigkeit als Simon Rattle in seiner 1992er Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem Turnage seinerzeit assoziiert war: faszinierend. Der Komponist freut sich sichtlich über diese Darbietung und die Ovationen der Zuhörer.

Zuletzt erklingen Knussens Cleveland Pictures: Sieben geplante Stücke, entstanden zwischen 2003 und 2009, die bereits die letzten Orchesterwerke des Briten darstellen, leider teils unvollendet geblieben sind und erst vor zwei Jahren uraufgeführt wurden. Tatsächlich wollte er quasi neue Bilder einer Ausstellung – nach Exponaten aus dem Cleveland Museum of Art – erschaffen, die freilich weit mehr als pittoreske, mimetische Umsetzungen einzelner Kunstwerke sein sollten. Im ersten Satz mit Bezug auf Rodin wird ein völlig tonaler Streichersatz mit aufmüpfigem Blech konfrontiert, im zweiten (Velázquez) gibt es kurze Renaissance-Anklänge, im dritten (Gauguin) eine knappe, sehr effektiv energiegeladene Streicherlinie. Im freundlichen, fast Tschaikowsky-nahen vierten (Two Clocks) findet sich ein unüberhörbares Zitat aus Mussorgskys Boris Godunow. Der Goya-Satz (St. Ambrose) mit äußerst delikater Harmonik – Mark-Anthony Turnage gewidmet – richtet seinen Blick gebetsartig nach oben, aber wohl, allein durch die verwendeten spanischen Tanzrhythmen, ebenso auf die Three Screaming Popes. Wäre es fertiggestellt worden, hätte man im letzten Bild (Turners The Burning of the Houses of Lords and Commons) mit Sicherheit die Entwicklung einer gewaltigen Feuersbrunst hören können. So bricht das Werk nach einer unglaublich starken, düster-bedrohlichen und unheilschwanger initiierten Atmosphäre schnell ab. Knussen zeigt bei all diesem fast schon unverschämten Schönklang nochmals seine ganze Instrumentationskunst, die Bewunderung verdient. Das Publikum findet großen Gefallen an dieser durch und durch verständlichen Musik. Dirigent und Orchester können mit einem gelungenen, mal überhaupt nicht verkopftem musica viva Abend mehr als zufrieden sein.

[Martin Blaumeiser, 27.10.2024]

Das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música brilliert beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für das erste räsonanz Stifterkonzert der neuen Münchner musica viva Saison – es folgt noch ein zweites im Januar – hatte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 28. 9. 2024 das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música mit seinem Chefdirigenten Stefan Blunier ins Münchner Prinzregententheater eingeladen. Zunächst erklang das großangelegte Orchesterwerk „Ruf“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ benötigt zusätzlich als Solisten ein Streichquartett: hier spielte kein Geringeres als das weltberühmte Arditti Quartet. Wie gewohnt ein staunenswertes Programm.

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música; StefanBlunier – © BR-Astrid Ackermann

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung bleiben ihrem Prinzip treu, einerseits höchst aufwändige Werke zu programmieren, die bereits historische Relevanz haben, ohne allzu oft aufgeführt worden zu sein, andererseits dem Münchner Publikum Klangkörper vorzustellen, die bislang selten oder gar nie hier zu Gast waren. Letzten Samstag brillierte im „Prinze“ das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, 1947 zunächst als Konservatoriumsorchester gegründet, nun nach dem 2001 für den Auftritt Portos als eine Kulturhauptstadt Europas neu errichteten musikalischen Zentrum Casa da Música benannt und dort ab 2006 beheimatet. Der Schweizer Stefan Blunier – in Deutschland u. a. von 2008-2016 GMD in Bonn – ist seit 2021 Chef des 94-köpfigen Ensembles. Leider hatten wohl selbst Teile des geladenen Publikums wegen der bereits grassierenden Erkältungswelle absagen müssen: Etliche Plätze blieben frei.

Nach anfänglichen Studien in seiner Heimat bei Fernando Lopes-Graça war Emmanuel Nunes (1941–2012) Schüler von Boulez, Pousseur und Stockhausen, gehört somit bereits zur zweiten Komponistengeneration, die man mit den Darmstädter Ferienkursen verbindet. Seine großangelegten Vokal- und Orchesterwerke führten bald zu internationalen Erfolgen. Später unterrichtete der Portugiese selbst in Lissabon, Freiburg und Paris. Ruf – für Orchester und Tonband (1977, revidiert 1982) – verwendet nicht einmal einen Riesenapparat: 28 Streicher, nur doppelt besetzte Bläser, 2 Schlagzeuger, Klavier (+ Celesta) und Harfe. Der 45-Minüter besteht aus sechs verbundenen Abschnitten. Bei vier davon wird der zeitliche Ablauf unerbittlich durch das Zuspielband vorgegeben. Das Orchester spielt seine Parts hochdifferenziert – jeder Spieler quasi als Solist – und der Dirigent muss trotz des engen Korsetts einerseits präzises Zusammenspiel, andererseits ein gehöriges Maß an kontrolliert aleatorischen Ereignissen koordinieren. Stefan Bluniers Schlagtechnik ist von makelloser Klarheit, dabei zum Glück nie mechanisch. Er formt den Klang der einzelnen Orchestergruppen immer gestisch äußerst dynamisch mit, agiert zugleich als emotionaler Katalysator dieses sich anfangs als recht chaotisch darstellenden, jedoch mit feinst austariertem Innenleben gestalteten musikalischen Stromes. Die elektronischen Klänge erscheinen als echte – gerade auch räumliche – Erweiterung, wirken streckenweise mit ihrem Gewobbel wie aus zeitgenössischen Science-Fiction-Filmen dem doch recht natürlichen Geschehen im Orchester dialektisch entgegen. Am Schluss wird es sehr leise, mit ganz unterschwelligen Zitaten aus spätromantischer Musik – Wagner und Mahler: ein überwältigendes Erlebnis. Hier ist bereits klar, dass man das tolle Orchester aus Porto einfach liebgewinnen muss.

Ganz anders nach der Pause Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ von 1979/80. Hier ist alles bis ins letzte Detail ausnotiert, mit schwäbisch-protestantischer Gründlichkeit. Dabei ist dies ein perfektes Beispiel der vom bald 89-jährigen Komponisten selbst so benannten Verweigerungsästhetik, die er über Jahrzehnte gepflegt und Teile des Publikums damit häufig ziemlich provoziert hat. So bleibt also hier das „Unerhörte“, lediglich Mitzudenkende, zentrales Element des großbesetzten Stücks, wohingegen das tatsächlich Erklingende konsequent so gut wie jede Hörerwartung enttäuscht. Nicht nur das Orchester, sondern ebenso das solistische, kaum merklich verstärkte Streichquartett, das anfangs die Führung übernimmt, spielen fast nur geräuschhafte Maskierungen. Der Prozentsatz „normal“ herausgebrachter „Töne“ ist minimal, dann jedoch meist verstörend. Das Arditti Quartet kennt das Stück genau; die vier Streicher schütteln die komplexen Spielanweisungen locker aus den Ärmeln. Die den 17 Abschnitten zugrunde liegenden Tanzrhythmen werden noch am ehesten erkennbar, wenn man optisch (!) dem wieder absolut souveränen Dirigenten folgt. Nach und nach wird klar, mit welch subversiver Energie und tiefgründigem Humor hier Altbekanntes komplett dekonstruiert wird. Selbstverständlich kommt auch das Deutschlandlied in der letzten der fünf Abteilungen – Mahler lässt grüßen – nur als „leeres Gerüst“: Nicht mal ansatzweise erscheinen Text oder Ton verbatim. Lediglich in der Partitur sind Stimmen mit den Silben der ersten (!) Strophe unterlegt, bereits zu Tode geritten (Galopp), bevor diese überhaupt anklingen könnte. Trotz des anstrengenden Appells von Lachenmanns Musique concrète instrumentale ans Publikum, hier zu versuchen, ständig zwischen den Zeilen zu hören, wird diese von Blunier und seinen fabelhaften portugiesischen Musikern sorgfältigst erarbeitete Darbietung keinen Moment langweilig. Und irgendwie passt Lachenmanns Werk auch zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution. Provozieren kann das heutzutage kaum mehr – und Musik wie Ausführende, die hier wirklich alles gegeben haben, erhalten verdient langen Applaus. Das Stifterkonzert ist einmal mehr seinen hohen Ansprüchen gerecht geworden.

[Martin Blaumeiser, 30. 9. 2024]

Die Jubiläumsessays der Ernst von Siemens Musikstiftung

Zum 50-jährigen Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung im vorigen Jahr gab man fünf Autoren den Auftrag, relativ übersichtliche Essays zu verfassen, die sich mit der Geschichte der Stiftung, vor allem aber mit der Entwicklung und den Zukunftsperspektiven „Neuer Musik“ generell auseinandersetzen sollten. So entstanden vier – einzeln veröffentlichte – Essays und ein eher belletristischer Beitrag: 1. Lydia Goehr: Musik, Maß, Klima; 2. Sophie Emilie Beha: Katalysator am Puls der Zeit – 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung; 3. Tim Rutherford-Johnson: Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973; 4. Christian Grüny: Höllisch kompliziert. Das Neue, das Zeitgenössische und die Musik – und 5. Cia Rinne: notes on music.

Die vier erstgenannten Essayhefte erscheinen im Klavierauszugformat (DIN D4 ~ 19 cm x 27 cm) auf hochwertigem Papier und in erstklassigem Druck, haben einen Umfang zwischen 37 (Grüny) und 48 Seiten (Goehr) und enthalten die Essaytexte jeweils im Original – englisch bzw. deutsch – sowie zusätzlich in der Übersetzung in die jeweils andere Sprache. Die eigentlichen Texte sind somit sehr knappgehalten: 13 Seiten bei Grüny und Rutherford-Johnson, 15 Seiten bei Beha und 17 Seiten bei Goehr. In der Mitte der Bändchen finden sich jeweils acht Seiten in Kunstdruckqualität, die Abbildungen von Skizzen oder Ausschnitten von Partiturautographen moderner Komponisten – oft Preisträgern des EvS Musikpreises oder Förderpreisträgern – zeigen und nicht zwangsläufig in direktem Zusammenhang mit den Essays stehen müssen. Die einzelnen Beiträge seien hier kurz beleuchtet:

Lydia Goehr: Musik, Maß, Klima

Die Philosophieprofessorin an der Columbia University unternimmt, ausgehend von Elementen aus Ray Bradburys berühmtem Roman Fahrenheit 451 (1953) und dessen späterer Bemerkung, er habe damit die Vorhersage einer Welt „wie sie sich in vier oder fünf Jahrzehnten entwickeln könnte“ schreiben wollen, einen Spaziergang durch Frankfurt am Main. Entlang des Weges, der sie u. a. ans Opernhaus Frankfurt, die Alte Oper sowie ins Cafe Utopia führt, möchte sie „die Klimaveränderungen in den heutigen Musikinstitutionen, der Musikpraxis und den Paradigmen der modernen klassischen Musik […] untersuchen“. Bald greift sie dabei auf André Malraux‘ Begriff des Musée Imaginaire zurück – Goehr hat 1992 selbst ein wegweisendes Buch mit dem Titel The imaginary museum of musical works verfasst. Hochinteressant sind ihre klug gesammelten Zitate zum Thema: Hass auf moderne klassische Musik, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Ihr Ausblick auf deren Zukunft in Anbetracht sozio-kulturellen Wandels, dessen musikgeschichtlicher Aufarbeitung – Stichwort: Erweiterung/Inklusion jenseits des nach wie vor bestehenden Eurozentrismus – und des veränderten Konsumverhaltens etwa durch digitale Medien bleibt indes vage. Schade, dass – anders als bei den Essays von Rutherford-Johnson und Grüny – hier die genauen Quellenangaben zu den von Goehr zitierten Bemerkungen, denen man gerne weiter folgen möchte, fehlen. Da hätte man vielleicht bei der Stiftung nacharbeiten sollen.

Sophie Emilie Beha: Katalysator am Puls der Zeit – 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung

Die Musikjournalistin gibt in ihrem knappen, dabei jedoch hochinformativen Essay einen Abriss der Geschichte der Ernst von Siemens Musikstiftung. Sie informiert über den Werdegang deren Gründers, erwähnt durchaus seine Bemühungen um Wiedergutmachung an ehemaligen jüdischen Zwangsarbeitern beim Siemens Konzern, verrät aber kaum etwas über dessen Musikgeschmack. Ein wenig unbefriedigend angesichts der später mehrfach erwähnten Missbilligung der Preisvergabe 1986 an Karlheinz Stockhausen durch Ernst von Siemens. Sicher nach so vielen Jahren erfolgreicher Förderung „Neuer Musik“ wissenswert, dass diese anfangs gar nicht zentral im Fokus stand, und es Persönlichkeiten wie Paul Sacher oder Pierre Boulez – 1979 selbst Hauptpreisträger des EvS Musikpreises – im Stiftungsrat zu verdanken ist, dass die Stiftung heute maßgeblicher Geldgeber für zahlreiche Zeitgenössischem gewidmete Projekte ist. Beha beschreibt die Struktur und Finanzierung der gemeinnützigen Stiftung, die Förderungen neben der immer die größte Öffentlichkeit erreichenden Preisverleihung sowie die Entwicklung, dass die Preisträger nun endlich diverser werden. Der Band erfüllt seinen Zweck ohne Beweihräucherung und gibt eine präzise Standortbestimmung, ohne dass der Leser auf die existierenden, umfangreicheren Dokumentationen angewiesen ist.

Tim Rutherford-Johnson: Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973

Der britische Musikkritiker nimmt die politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Marksteine dreier Jahre – 1973, das Gründungsjahr der EvS Musikstiftung, 1989, das Jahr der großen politischen Umbrüche in Europa, und 2020, den Beginn der Covid-19-Pandemie – sowie deren unmittelbare zeitliche Umfelder näher ins Visier, um maßgebliche Strömungen der Neuen Musik zu skizzieren, was auf derart begrenztem Raum natürlich nur rudimentär erfolgen kann. So bleibt etwa eine musikalische Postmoderne – bereits der Begriff erweist sich als Streitthema – komplett unbeachtet. Rutherford-Johnson verweist auf Manuel Castells Buch The Information Age (2010), und sieht durchaus Parallelen in der Entwicklung der Informationstechnologie und der modernen Musik. Sehr klar beschreibt er die Verdrängung linearer Strukturen – noch zentral in der Musik des ersten EvS-Preisträgers Benjamin Britten (1974) – zugunsten nichtteleologischer Musiklogik, beginnend beim parametrischen Denken serieller Musik über frühe Loop-Formen bei Harrison Birtwistle (The Triumph of Time, 1971) bis zu Helmut Lachenmanns Pression für Solocello. Er erwähnt die wachsende Popularität von Spektralismus und Minimalismus ab den 1980ern, kommt dann allerdings schnell auf das Genre der Netzwerkmusik – anhand von Werken Peter Ablingers, Anthony Braxtons und Jennifer Walshes, als „Beispiele eines parametrisch organisierten Raums der Ströme“. Die Corona-Zeit beschreibt er als „wirklich zeitlose Zeit, eine Ära ohne Zukunft oder Vergangenheit, ein endloses Jetzt“ und bringt für die musikalischen Reaktionen darauf einige recht spezielle Hör-Anregungen. Die in diesem klug sondierten Beitrag vermerkten Strategielinien haben – wen wundert’s? – natürlich auch in den Preisen der EvS Musikstiftung ihren Niederschlag gefunden.

Christian Grüny: Höllisch kompliziert. Das Neue, das Zeitgenössische und die Musik

Im Essay des in Stuttgart lehrenden Ästhetik-Professors Christian Grüny geht es nicht etwa um die meist hohe inhärente Komplexität Neuer Musik selbst, sondern um die Klärung und Abgrenzung der Begriffe des Neuen und des Zeitgenössischen. Dies ist eine recht abstrakte Angelegenheit und ein wenig schwierig zu verfolgen, aber äußerst lesenswert. Hatte Paul Bekker, der als einer der ersten von „neuer Musik“ sprach, noch beide Begriffe miteinander gekoppelt, erscheint das historisch Neue bei Reinhard Koselleck differenzierter. Insbesondere „in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vorzeit“ (Koselleck) unterscheidet Grüny das Andere nochmals: als Abweichung, (dialektische) Negation bzw. Utopie (radikaler Bruch). Er untersucht die Kategorie des Neuen bei Adorno und erwähnt die Ablehnung eines „fetischistischen“ Materialfortschritts bei vielen Protagonisten der zeitgenössischen Musik. Das Zeitgenössische ist fast noch komplizierter zu fassen. Peter Osbornes Theorie beschreibt es als „im historischen Sinne die Zeitlichkeit der Globalisierung“, was allerdings zu Heterochronie führt und somit den Begriff als Fiktion bzw. Aufgabe bezeichnet. Eine institutionalisierte, internationale Vernetzung sieht Grüny – verglichen mit den Biennalen der bildenden Kunst – bei der Neuen Musik höchstens in ersten Ansätzen und plädiert zum Schluss für die „Rettung einer Perspektive, die wirklich über die wie auch immer komplexe Gegenwart hinausgeht“.

Cia Rinne: notes on music

Hat man von der finnlandschwedischen, jedoch in Deutschland aufgewachsenen Autorin Cia Rinne tatsächlich einen wissenschaftlichen Essay erwartet? Wohl nein. So liefert die von Fluxus und Dadaismus beeinflusste Literatin auch eher ein belletristisches Kunstwerk ab: in Form von zwei Postkarten – eine zeigt 32-mal denselben gedrückten (Tür?)-Klingelknopf, die andere das Klingeldisplay einer großen Wohnanlage – und eines ca. 1 m langen vertikalen Leporellos. Auf dessen Vorderseite findet der Leser am rechten Rand extrem kurze Aphorismen, die zumeist musikalische Begriffe – mal mehr, mal weniger intelligent bzw. humorvoll – dekonstruieren. Hier nur zwei Beispiele (Zitat):

c dur

c’est dûr

sinfonica domestica

after Richard Strauss

see sharp

b flat

age minor

[usw.]

Manche davon sind nur typographische Spielereien, wie man sie allerspätestens vom Dadaismus her kennt. Die Rückseite – in Pink – zieren längs zwei Zeilen in mikrokleiner Schrift mit einem quasi Bewusstseinsstrom über „this movement“: „this movement would like to extend endlessly in time | this movement could be a bad idea | this movement wishes it could start all over again |…” usw. Maximal eine recht originelle Grußbotschaft.

Mehr Infos über die anregende Essayreihe mit der Möglichkeit, Druckexemplare – übrigens kostenlos – anzufordern, finden ernsthaft interessierte Leser hier:

https://50jahre.evs-musikstiftung.ch/jubilaeumsbeitraege/jubilaeumsessay/

[Martin Blaumeiser, September 2024]

Pendereckis 6. Symphonie und zwei Konzerte unter Antoni Wit

Naxos 8.574050; EAN: 7 47313 40507 7

Die als letzte von Krzysztof Pendereckis insgesamt acht Symphonien entstandene Sechste „Chinesische Lieder“ liegt nun in einer weiteren Einspielung mit dem Norrköping Symphony Orchestra unter Antoni Wit vor. Auf der Naxos-Produktion erklingen zudem das Trompeten-Concertino (2015) und das Concerto Doppio von 2012 in der Version für Violine und Violoncello. Die Solisten sind Jarosław Bręk (Bassbariton), David Guerrier (Trompete), Aleksandra Kuls (Violine), Hayoung Choi (Violoncello) sowie Hsin Hsiao-ling (Erhu).

Die Zählung der acht Symphonien Krzysztof Pendereckis (1933‒2020) verließ bereits früh die Chronologie: So wurde etwa die 3. Symphonie erst nach der vierten und fünften fertig. Eine 6. Symphonie war bereits für Ende 1996 bei den Münchner Philharmonikern angekündigt worden. Nach den Premieren der 7. Seven Gates of Jerusalem“ (1997) und 8. „Lieder der Vergänglichkeit“ (2005 bzw. 2007) rechnete eigentlich niemand mehr mit der noch fehlenden 6. Symphonie; und so entstanden schon CD-„Gesamtaufnahmen“ eben ohne eine solche. Penderecki hatte allerdings seit 2008 an einem Liederzyklus gearbeitet, der – wie Gustav Mahlers Lied von der Erde – altchinesische Dichtungen in der deutschsprachigen Übertragung Hans Bethges vertonen sollte. Die insgesamt acht Lieder, gesetzt für Bassbariton und relativ kleines Orchester, wurden 2017 vollendet und erschienen dann schließlich als 6. Sinfonie (Chinesische Lieder). Nach der Uraufführung in Guangzhou kamen für die Dresdner Aufführung im März 2018 noch vier Zwischenspiele für Erhu – das vielleicht typischste, lediglich zweisaitige Streichinstrument Chinas – hinzu.

Penderecki hat sich ja bekanntlich vorwerfen lassen müssen, vom Avantgardisten zum hemmungslosen Romantiker mutiert zu sein. Wie schon in der 8. Symphonie bedient der Komponist auch in der Sechsten ausgerechnet Texte auf Deutsch. Im Unterschied zu Mahlers Lied von der Erde, wo dieser alle angesprochenen individuellen Befindlichkeiten der altersweisen chinesischen Lyrik gleich in allgemeinen Weltschmerz umdeutet, bleibt Penderecki bei der Einsamkeit seines Protagonisten. Das ist feine Kammermusik, subtil instrumentiert, und interessanterweise nicht so stark mit Penderecki-typischen Intervallfolgen infiltriert wie lange bei ihm üblich. Ja, man darf sich an romantische Liederzyklen erinnert fühlen und ein im engeren Sinne erwartbarer symphonischer Zusammenhang ist schwer erkennbar.

Antoni Wit (*1944), noch Schüler von Henryk Czyż, Stanisław Skrowaczewski und Nadia Boulanger, erlangte als Karajan-Preisträger schnell Weltruhm. Sein größter Verdienst liegt im unermüdlichen Einsatz für zeitgenössische polnische Komponisten, insbesondere Lutosławski und Penderecki, dessen Orchesterwerke er fast komplett für Naxos eingespielt hat – meist in herausragender Qualität. Bislang kamen dafür fast ausschließlich Warschauer Orchester zum Einsatz. Das vorliegende Programm benötigt zwar weniger große Klangkörper; das Norrköping Symphony Orchestra – zuletzt gelobt für seine Aufnahmen der Symphonik Allan Petterssons – fremdelt nun allerdings ein wenig mit der Musik des polnischen Meisters.

Ein echter Schwachpunkt der Wit-Aufnahme ist der leider kürzlich viel zu jung verstorbene Bariton Jarosław Bręk. Verglichen mit Stephan Genz auf der Erstaufnahme der Symphonie unter Wojciech Rajski stört der überdeutliche polnische Akzent Bręks, mehr jedoch seine seltsam unbeteiligte, über Strecken fehlende Ausdeutung des Textes – fast so, als wisse er nicht, von was er da singen soll. In den mittleren Sätzen IV. und V. (Die wilden Schwäne/ Verzweiflung) erweist sich sein deutlich dunkleres Timbre als vorteilhaft, aber selbst hier wirkt der Vortrag blass. Das Orchester bleibt bei der Symphonie ebenfalls nur präzis routiniert, kann höchstens punktuell mal emotional mitreißen. Wenigstens aufnahmetechnisch gewinnt die Neueinspielung, ist durchsichtiger und dynamisch besser ausbalanciert als die recht mulmige CD Accord Veröffentlichung. Kurios allerdings, dass die vier kurzen Erhu-Zwischenspiele mit Hsin Hsiao-ling völlig gesondert ein halbes Jahr später in Hong Kong aufgezeichnet wurden.

Viel besser gelingen die beiden konzertanten Werke: Pendereckis Concerto doppio – 2012 ursprünglich für Violine und Viola konzipiert – ist, so wie sein Bratschenkonzert, inzwischen auch für andere Besetzungen, selbst für Akkordeon, adaptiert worden. Dem Rezensenten gefällt die Fassung für Violine und Cello – die Violastimme wird dazu durchgängig nur nach unten oktaviert – eigentlich besser als das Original. Der zusammengenommen nun größere Ambitus der beiden Solistinnen bietet den in diesem Konzert überwiegenden Duopassagen differenziertere Klangmöglichkeiten. Die polnische Geigerin Aleksandra Kuls – u. a. Schülerin von Kaja Danczowska und Wienawski-Preisträgerin – und die Südkoreanerin Hayoung Choi – Siegerin des Queen Elizabeth Competition 2022 für Cello – übertreffen hier an gestalterischer Energie sogar die Interpreten der Urfassung in Pendereckis eigener Aufnahme. Wit bewegt sich in gewohntem Fahrwasser mit nachtwandlerischer Sicherheit und inspiriert dabei ebenso das schwedische Orchester.

Vom gut 10-minütigen Trompeten-Concertino (2015) existieren bereits mehrere Aufnahmen. David Guerrier, 2003 Erster Preisträger des ARD-Wettbewerbs und seit Anfang des Jahres Solotrompeter der Berliner Philharmoniker, musiziert das dankbare, zugleich denkbar traditionelle viersätzige Stück mit Hingabe und vollster Überzeugung, perfekt von Wit unterstützt – eine makellose Darbietung, die nur begeistern kann. Für Sammler ist die mit dieser CD vollständige „echte“ Gesamtaufnahme aller Penderecki-Symphonien unter Antoni Wit wohl ein Muss, obwohl eine rundum befriedigende Wiedergabe der 6. Symphonie noch aussteht. Die Konzerte verdienen eine uneingeschränkte Empfehlung.

Vergleichsaufnahmen: [6. Symphonie] Stephan Genz, Polska Filharmonia Kameralna Sopot, Wojciech Rajski (CD Accord ACD 270-2, 2019); [Concerto doppio – Fass. für Violine & Viola] Bartłomiej Nizioł, Katarzyna Budnik, Jerzy Semkow Polish Sinfonia Iuventus Orchestra, Krzysztof Penderecki (DUX 1537, 2018)

[Martin Blaumeiser, August 2024]

Begeisternde Einspielungen von George Antheils Violinsonaten

Naxos 8.559937; EAN: 6 36943 99372 9

Als Co-Produktion mit Deutschlandfunk Kultur haben die Geigerin Tianwa Yang und der Pianist Nicholas Rimmer in Berlin die vier Violinsonaten des US-amerikanischen Komponisten George Antheil (1900‒1959) für Naxos eingespielt. Die Veröffentlichung kann in allen Belangen überzeugen.

George Antheil war in den 1920er Jahren in der klassischen Musikszene Europas tatsächlich das enfant terrible schlechthin, bezeichnete sich nicht erst in seiner gleichnamigen Autobiographie (1945) ausdrücklich als Bad Boy of Music. Insbesondere durch rhythmisch äußerst aggressive, über Strecken dabei mechanistisch unterkühlte Musik – allem voran sein Ballet mécanique (1926, rev. 1952) – wusste er stets gehörig zu provozieren. Die dann auch immer vorhandenen Jazz-Einsprengsel taten ein Übriges. Genoss der Komponist in Europa seine Skandale, war ein Konzert in der New Yorker Carnegie Hall 1927 ein einziges Debakel. Als er 1933 zurück in die USA ging, ab 1936 in Hollywood arbeitete – nicht nur für die Filmindustrie – wurde er zunehmend „braver“, so dass er fortan kaum noch als Avantgardist wahrgenommen wurde und seine frühen, für uns heute umso erfrischender wirkenden Glanzlichter lange in Vergessenheit gerieten. Eine echte Renaissance erlebt sein Werk erst wieder seit den späten 1970ern.

Antheils erste drei Violinsonaten entstanden 1923 und 1924, genau während seiner Experimente mit dem Ballet mécanique. Der Komponist war 1922 nach Europa gereist, traf in Berlin sein Idol Igor Strawinsky und folgte ihm 1923 nach Paris. In der viersätzigen ersten Violinsonate erkennt man in den Ecksätzen Strawinskys Einfluss sehr stark (Les Noces, Histoire du soldat). Aber gleichzeitig gibt es hier bereits in der Violinliteratur bislang unerhörte, bewusst bis an die Grenze der Erträglichkeit sich wiederholende Barbareien, clusterartig klingendes, extremes Kratzen zwischen Steg und Saitenhalter, härteste irreguläre Akzente usw. Jedwede Formerwartungen an klassische Sonaten werden enttäuscht. Andererseits ist das 24-minütige Werk voller Exotismen und schöner Details, die den Hörer ebenso umwerfen.

Die aus Peking stammende, mittlerweile mit Preisen gerade für ihre CD-Aufnahmen (Sarasate, Rihm, Brahms…) überhäufte Violinistin Tianwa Yang ist bereits lange in Deutschland tätig, seit 2018 Professorin in Würzburg. Mit ihrem britischen Klavierpartner Nicholas Rimmer gelingt ihr schon hier eine Darbietung, die alle bisherigen Einspielungen weit in den Schatten stellt. Während etwa Vera Beths und Reinbert de Leeuw einerseits die Bruitismen nicht bis an die Grenze ausloten, andererseits die Musik – sicherlich absichtsvoll – völlig ohne innere Anteilnahme wie eine Maschine abspulen, atmet und lebt bei Yang/Rimmer jeder Moment. Alles ist hier auch emotional nachvollziehbar und verständlich. Der Klang beider Musiker –wunderbar flexibel und farbig – lässt niemals kalt, trotz haarsträubender Präzision. Selbst die barbarischsten Stellen klingen natürlich: zum Beispiel wie der Schrei eines Esels. Und der Schluss des Finales, nicht nur von den Bewegungsmustern her an den Schluss des ersten Teils von Le Sacre du printemps gemahnend, wirkt in seiner Raserei geradezu hinreißend. Rimmers Geschmeidigkeit bei Läufen ist staunenswert – das ganze Stück kommt so absolut großartig herüber.

Genauso begeisternd spielen Yang und Rimmer die übrigen Sonaten. Die Jazz-Einflüsse der Sonaten Nr. 2 und 3 sind (aber)witzig, haben Swing und wirken keinesfalls als Fremdkörper wie bei Beths/de Leeuw. Die vierte Sonate von 1947-48 beweist, dass der dann vermeintlich zahme Antheil nichts an Ausdrucksstärke eingebüßt hat, alles andere als zahnlos oder gar ein Langweiler geworden ist. Erinnert der Kopfsatz – mit ein, zwei Beinahe-Zitaten – an die besten Momente von Kammermusik Prokofjews, erreicht die Passacaglia enormen Tiefgang. Das Toccata-Rondo ist ein wenig konventionell, dennoch ein brillanter Abschluss. Aufnahmetechnisch vermag die CD ebenfalls mit Transparenz und Dynamik völlig zu überzeugen. Die Veröffentlichung kann nicht hoch genug gelobt werden und gehört wirklich in jede Sammlung: ein echtes Kleinod für diese Besetzung.

Vergleichsaufnahme: Vera Beths, Reinbert de Leeuw (Auvidis Montaigne MO 782022, 1989)

[Martin Blaumeiser, Juli 2024]

Jörg Widmann überzeugt bei der musica viva in Dreifachfunktion

Beim Konzert der musica viva am 28. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal präsentierte sich Jörg Widmann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einmal mehr in gleich dreifacher Funktion: als Klarinettist, Dirigent und natürlich als Komponist. Mal abgesehen von Wolfgang Amadeus Mozarts „Adagio für Glasharmonika“, KV 356/617a, mit dem Christa Schönfeldinger Widmanns Schlüsselerlebnis mit diesem Instrument in Erinnerung rief, gab es ausschließlich Widmann-Werke: „Armonica, „Drei Schattentänze“, „Danse macabre“ und das gewaltige Trompetenkonzert „Towards Paradise“ (Labyrinth VI) mit dem Solisten Håkan Hardenberger.

Håkan Hardenberger und Jörg Widmann mit dem BRSO © BR musica viva/Astrid Ackermann

Im letzten Konzert der musica viva Saison am 28. 6. 2024 durfte sich der Münchner Jörg Widmann gleich dreifach in Szene setzen: als Komponist von vier eigenen Werken, mit einem Solostück für sein Instrument: die Klarinette, sowie als Dirigent des Abends – und konnte diesmal in allen Belangen überzeugen. Vor knapp sieben Jahren versuchte sich Widmann hier bereits in dieser Mehrfachfunktion – wir berichteten. Damals rief zumindest sein Dirigat Stirnrunzeln beim Rezensenten hervor. Seitdem hat Widmann ziemlich viel mit Orchestern gearbeitet, nicht nur an eigenen Stücken, mittlerweile auch als Erster Gastdirigent bei der NDR Radiophilharmonie (Hannover). Widmann ist am Pult sicht- und spürbar deutlich souveräner geworden: Er gibt nicht nur hochengagiert und klar alle wichtigen Impulse, sondern steuert den Klang insgesamt viel differenzierter als früher. Natürlich darf man von einem Komponisten erwarten, dass er seine eigene Musik wahrscheinlich besser kennen dürfte als die meisten Dirigierkollegen. Dennoch hat seine Ausstrahlung auf das BRSO heute einen unvergleichlich positiveren Effekt und unmittelbarere Wirkung als etwa in besagtem Konzert von 2017.

An diesem Abend gibt es vier Widmann-Stücke, allerdings keine Uraufführung. In Armonica (2006) versucht der Komponist, die fast jenseitigen klanglichen Sphären der Glasharmonika – diese steht nicht etwa als Soloinstrument ganz vorne, sondern weil dynamisch sonst chancenlos – mittels delikatester Orchestrierung quasi auf den gesamten Apparat zu erweitern. Dabei gelingen ausladende, organische Spannungsbögen mit nur einem absichtsvoll verstörenden „Abbruch“. Christa Schönfeldinger, mit den komplexen Anforderungen von Widmanns Partitur seit nunmehr über 60 Aufführungen bestens vertraut, beweist anschließend – als offizieller Programmpunkt bei der musica viva höchst ungewohnt – mit dem Standardwerk für die Glasharmonika, Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio KV 356/617a, die wundervolle Zerbrechlichkeit und Klangschönheit ihres besonderen Instruments. Die Begegnung mit diesem Stück war für Widmann das anregende Schlüsselerlebnis für Armonica.

Wenn der Komponist ein Solo auf der Klarinette darbietet, ist dies immer hochspannend. Die eigenen Drei Schattentänze von 2013 beleuchten höchst kontrastierende Aspekte der Klangerzeugung: Im Echo-Tanz geht es um extreme Techniken des Überblasens, damit erzeugte Mehrstimmigkeit und Mikro-Tonalität. Die übrigen beiden benötigen elektro-akustische Unterstützung: Der (Under) Water Dance vermittelt die beabsichtigte Illusion mittels eines künstlichen Hallraums, der Danse africaine benutzt die Klarinette als imaginäres Schlagzeugensemble – mit Verstärkung. All dies stößt beim Publikum auf helle Begeisterung.

Der Danse macabre (2022) steht natürlich in der großen Tradition des Totentanzes, die nicht erst mit Saint-Saëns beginnt. Der Tod als einschmeichelnder, aber zugleich sarkastischer Werber für den letzten Weg alles Lebendigen, ist naturgemäß eine Steilvorlage für einen Instrumentationskünstler von Rang. Das verwendete Orchester ist noch nicht einmal überdimensioniert, enthält aber erwartungsgemäß Exoten wie Flexaton oder Waterphone – dessen Name verweist sowohl auf seinen wassergefüllten Korpus als auch den Erfinder Richard Waters, und das Instrument machte insbesondere in Filmmusiken des Horror-Genres Karriere. Für die Gattung ist Widmanns Beitrag mit 17 Minuten schon recht lang – mehr echte Tondichtung als nur netter Lärm wie z. B. Helmut Lachenmanns Marche fatale – und verwurstet verschiedene vertraute Tanzmodelle bis zur Groteske bzw. zum nackten Gerippe. Das hemmungslos tonale Hauptmotiv geht fast so ins Ohr wie Klaus Badelts Filmmusik zu Fluch der Karibik. Trotzdem ist das Publikum ob der leichten Zugänglichkeit des Werkes einigermaßen überrascht.

Das mit knapp 40 Minuten äußerst ausladende Konzert Towards Paradise für den nach wie vor phänomenal tonschön agierenden Trompeten-Weltstar Håkan Hardenberger gehört zur Gruppe der Labyrinth-Stücke, in denen Widmann immer auch seine momentane Befindlichkeit als Komponist reflektiert. 2021 prägte diese freilich die Corona-Situation, und so dreht sich der Weg ins Paradiesische nicht zuletzt um das Thema Einsamkeit, was durch den halbszenischen Gang des Solisten von außerhalb des Podiums durch die einzelnen Orchestergruppen, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Anschluss sucht, bis zum Entschwinden in die „Katakomben“ des Herkulessaals am Ende überdeutlich wird. Anders als im 2002 für Sergei Nakariakov geschriebenen Konzertstück, das mit seinem Hochgeschwindigkeitswahnsinn Virtuosität ganz wörtlich ad absurdum führte, steht im Labyrinth VI Lyrik und Nachdenklichkeit im Vordergrund. Das Werk ist aber – trotz eindringlicher Choral-Andeutungen – keineswegs nur langsam.

Hardenberger nimmt vom ersten Augenblick die Zuhörer gefangen. Die exquisite Schönheit der Melodik seines riesigen Parts ist von geradezu erstaunlicher Einprägsamkeit, verlangt dafür eine unglaubliche Sicherheit in der Höhe, aber noch mehr Flexibilität im Ausdruck bei den großartigen Interaktionen mit einzelnen Teilen des Orchesters. In der Mitte gibt es zudem auch Jazz-Momente – die jedoch mit etwas zu wenig Synkopen nicht die Authentizität etwa von B. A. Zimmermanns Nobody knows de trouble I see erreichen. Die Innigkeit gerade an Stellen, wo die Trompete mit Dämpfern spielen muss, scheint bei Hardenberger unübertrefflich. Widmann ist hier meilenweit entfernt von der bis ins Extreme ausdifferenzierten Geräuschhaftigkeit seines Dritten Labyrinths, setzt auf Klangkombinationen, die stets aufhorchen lassen und emotional unterstützend wirken – so etwa Akkordeon oder gestrichene Crotales als schärfste Waffen im Diskant. Symbolisiert gegen Schluss Bachsche Kontrapunktik das Erreichen eines paradiesischen Zustands? Dunkles Blech und geheimnisvolles Schlagzeug stellen dies zumindest infrage, während Hardenberger als letztes Statement einsam ein dreigestrichenes Es verhaucht.

Selten einmütiger Applaus für eines der besten Werke Widmanns überhaupt, für ein in jeder Sekunde aufmerksam und empathisch mitgehendes BRSO und selbstverständlich die musikalische Glanzleistung des dann sehr glücklich wieder aus dem Off erscheinenden Solisten. Widmann wird zu Recht für die Erfüllung der hohen Erwartungen in allen drei Funktionen bejubelt – das soll ihm erst mal jemand nachmachen!

[Martin Blaumeiser, 1. Juli 2024]

Die Kunst der Reduktion: Zauberhafte Miniaturen von Steffen Wolf

TYXart TXA21160 EAN: 4 250702 801603

Sechs Zyklen, bestehend aus insgesamt 51 Miniaturen, vereint die Kammermusik-CD „Essais musicaux“ mit Musik des in Hamburg lebenden Komponisten Steffen Wolf (Jahrgang 1971): Die titelgebenden Essais musicaux I(„To quiet the mind“) und II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier, „Im Zeichen der Kastanie“ (Violine solo), „Kreise“ (Klarinette solo) sowie die Klavierzyklen „Als Kind“ und „So listen to my lullaby, you knights and ladies fine“ (zu vier Händen). Die Interpreten sind Ewelina Nowicka (Violine), Pamela Coats (Klarinette), Jennifer Hymer und Michi Komoto (Klavier) sowie der Komponist als Sprecher.

Der wohl im südlichen Niedersachsen (?) aufgewachsene, nun in Hamburg ansässige Sänger und Komponist Steffen Wolf (*1971), hält sich mit Informationen über seine Vita erstaunlich bedeckt, selbst auf seiner eigenen Website: überall stets die fast im Wortlaut identischen, mehr als spärlichen Angaben. Offenkundig interessiert ihn beim Komponieren mehr als nur die reine Musik, vielmehr eine Verbindung zu Malerei, Architektur, Literatur und Philosophie, was auch in den vorliegenden sechs Zyklen mit insgesamt 51 Miniaturen seinen Niederschlag erfährt. Die Besetzung geht von solistischen Werken – Im Zeichen der Kastanie (Violine), Kreise (Klarinette) sowie dem Klavierzyklus Als Kind – über So listen to my lullaby, you knights and ladies fine (Klavier vierhändig) bis zu den für die CD titelgebenden Essai musical I („To quiet the mind“) und Essai musical II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier.

Die kurzen, emotional fein dosierten Stücke wollen nicht die jeweiligen Inspirationsquellen „übersetzen“ oder gar illustrieren; es sind die inneren Bewegungsmomente des Komponisten bei diesen Kunstbegegnungen, die dem Hörer vermittelt werden. So vergleicht man den durch eine alte Fotografie – des Komponisten? – angeregten Zyklus Als Kind unweigerlich mit von der äußerlichen Anlage ähnlich scheinenden Werken, natürlich insbesondere Schumanns Kinderszenen. Gemeinsam mit diesen werden auch hier eben nicht konkrete Kindheitssituationen gleichsam geschildert, sondern eben aus der Sicht des Erwachsenen in die Gegenwart zurückgeholt und reflektiert. Jedoch ist Wolfs Rhetorik vorsichtiger und dabei noch reduzierter. Da Wolfs Harmonik nie tonal fundiert ist – sie schwankt zwischen eher weicher Atonalität und Polytonalität mit teils mehreren Zentraltönen – wirken die kurzen Blicke dieser Musik recht spontan, nicht „gewollt“ oder gar konstruiert. Das soll nicht heißen, dass es hier keine inneren musikalischen Zusammenhänge gäbe; dies aufzudecken bedürfte eingehenderer Analysen anhand des Notentexts. Michi Komoto spielt makellos, die schnelleren Abschnitte kommen teils etwas aufgesetzt herüber.

Wie diese oft zauberhafte, durchgehend sehr intime Musik – die daher überhaupt nicht in große Konzertsäle passt – wirkt, ist schwer zu beschreiben. Gemessen an der Kammermusik und den Liedern des frühen, expressionistischen Anton Webern mangelt es ihr an Direktheit, sie ist dafür deutlich zugänglicher. Dem vielleicht großartigsten lebenden Verfasser musikalischer Miniaturen, György Kurtág, ähnelt Wolfs Herangehensweise ebenso nur bedingt, da hier nicht ständig musikgeschichtliche Querverweise von der stillen Ausdruckskraft ablenken. Am gelungensten erscheinen dem Rezensenten in der Tat die beiden Essais musicaux: To quiet the mind nimmt Bezug auf einen Bilderzyklus von Carmen Hillers, Wolfs Gattin. Die den 7 Sätzen zugeordneten Kunstwerke sind im Booklet abgebildet. Die exzellente Violinistin Ewelina Nowicka – sie glänzte erst kürzlich auf einer fabelhaften CD mit konzertanten Werken verfolgter polnischer Komponisten – gestaltet die recht freien Assoziationen überzeugend empathisch und wird von Jennifer Hymer minutiös begleitet. Im Zeichen der Kastanie – hier wechseln ruhige und erregtere Abschnitte einander abbringt Nowicka kongenial auf den Punkt. Die kammermusikalisch sehr umtriebige Klarinettistin Pamela Coats spielt Abbaye Saint-Philibert – mit eingebauten Glockenassoziationen sowie einem Zitat Hildegard von Bingens – klanglich und dynamisch differenziert, aber setzt mehrfach auf einen leicht gockelhaften Klarinettensound, der Wolfs intimen Ansatz stellenweise konterkariert. In Kreise – die kurzen Haikus Kobayashi Issas werden vom Komponisten selbst mit etwas zu viel Hall dazu gesprochen – wirken die Tierschilderungen (Frosch und Hund) geradezu lächerlich.

Merkwürdig ist die Klangverteilung – die Mittellage des Flügels erscheint unterrepräsentiert – der beiden Spielerinnen in So listen to my lullaby, you knights and ladies fine, in der sich Steffen Wolf einmal mehr Christoph Martin Wielands Versdichtung Der Vogelsang widmet. Da, wo der Satz dichter wird, erreicht der Komponist beinahe ungewohnt orchestrale Fülle. Jedoch wirken gerade in den von der Faktur eher schlichteren Abschnitten Primo und Secondo eher als Antipoden als klanglich zu verschmelzen, was sich nicht nach Absicht anhört. Aufnahmetechnisch hat man offenkundig versucht, diesem Manko (?) mit Hall entgegenzuwirken, sonst vermögen die Einspielungen den intimen Charakter von Wolfs Musik durchaus zu transportieren. Insgesamt eine außergewöhnliche Hörerfahrung, auf die sich einzulassen lohnt, wenn man dafür tunlichst immer nur einen der sechs Zyklen konzentriert genießt, keinesfalls die komplette CD am Stück.

[Martin Blaumeiser, Juni 2024]

Klaus Ospalds „Entlegene Felder“ in der CD-Reihe „musica viva“

BR Klassik 900642; EAN: 4 035719 006421

In der Reihe „musica viva“ hat BR Klassik zwei Kompositionen aus der Trias „Entlegene Felder“ des Komponisten Klaus Ospald (*1956) veröffentlicht: Das großbesetzte „Más raíz, menos criatura“ sowie das „Quintett von den entlegenen Feldern“. Es spielen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Peter Rundel – mit dem Pianisten Markus Bellheim und Singer Pur – sowie das Ensemble Experimental mit dem SWR Experimentalstudio, geleitet von Peter Tilling.

Der aus Münster stammende und lange in Würzburg lebende und lehrende Komponist Klaus Ospald (Jahrgang 1956) hat einen höchst individuellen Stil entwickelt, der stark von Literatur inspiriert scheint. Zuletzt zieht sich insbesondere der früh in den Kerkern der spanischen Faschisten verstorbene Miguel Hernández (1910‒1942) wie ein roter Faden durch Ospalds Schaffen, auch wenn die Texte selbst in der Musik gar nicht direkt in Erscheinung treten oder gar „vertont“ werden. Auf der vorliegenden CD der Reihe musica viva erklingen zwei Werke der Trias Entlegene Felder – inzwischen erweiterte der Komponist seine Auseinandersetzung mit der Dichtung Hernández‘ zum bislang aus sechs ganz unterschiedlich besetzten Stücken bestehenden Guerra-Zyklus.

2019 erhielt Ospald den Happy New Ears Preis für Komposition der Hans und Gertrud Zender Stiftung (wir berichteten). Anlässlich der Preisverleihung erklang im musica viva Konzert des BR eine beeindruckende Darbietung des gut 50-minütigen Werks Más raíz, menos criatura („Mehr Wurzel als Mensch“ = Entlegene Felder III) für Orchester, Klavier und achtstimmigen Kammerchor, die hier nun festgehalten wurde. Die exzellente Aufnahmetechnik überspielt dabei einmal mehr so manche Unzulänglichkeit des Münchner Herkulessaals. Sie macht gleichzeitig klar, wie Ospald die Textfragmente aus Hernández‘ Gedicht El niño yuntero („Das Kind als Zugtier“) selbst für den 8-stimmigen Kammerchor – hier mit dem um zwei zusätzliche Sängerinnen ergänzten, vorzüglichen Vokalsextett Singer Pur – lediglich als Material benutzt und sehr bewusst mit den hochdifferenzierten Orchesterklängen verschmelzen lässt. Dasselbe gilt für den durchgehenden Klavierpart, der mehr reflektiert und kommentiert als solistisch aufzutrumpfen: Markus Bellheim realisiert dies absolut souverän, klangschön und stets präsent, ohne bei aller Virtuosität daraus eine Art Klavierkonzert zu machen. Das Klavier wird oft durch ein Upright-Piano sowie zwei Harfen – alles leicht gegeneinander verstimmt – sekundiert. Ein empathischer Aufschrei für Humanität in einer Welt der Unterdrückung. Das BRSO unter Peter Rundel spielt vielleicht eine Spur zu distanziert, in jedem Fall engagiert und auf höchstem Niveau.

Das Quintett von den entlegenen Feldern für Streichtrio, Klarinette (Bassklarinette), Klavier und Live-Elektronik (2012/13, rev. 2014) als erstes Werk der Trias arbeitet zwar nicht mit Texten, dafür aber mit sehr subtiler Klangerweiterung, die sowohl mit bewegtem Raumklang als auch mit Präparationen sowie Transducern auf dem Resonanzboden des Flügels experimentiert und deshalb nicht nur einen zweiten „Spieler“ am Klavier, sondern auch eine äußerst aktiv eingreifende Klangregie erfordert. Zunächst erscheint die Live-Elektronik eher episodenhaft, steigert jedoch mit der Zeit eindrucksvoll auch ihre emotionale Bedeutung – etwa mit „eingefrorenen” Klängen bzw. plötzlichen Klang-Abbrüchen. Die ebenfalls sehr gelungene Einspielung mit dem Ensemble Experimental und dem SWR-Experimentalstudio entstand im Mai 2019 bei einem Live-Konzert in Coburg. Fazit: Ergreifende Musik eines erklärten Außenseiters, die bei aller klanglichen Dichte und Finesse auf alle äußerliche Effekthascherei verzichtet, klar durchhörbar bleibt und quasi über jeden Ton Rechenschaft ablegen könnte. Die mit knapp 83 Minuten randvolle CD wird so zum Muss für alle Hörer Neuer Musik, verlangt allerdings enorme Aufmerksamkeit. Wer mehr über Ospalds Kompositionsprinzipien als im durchaus informativen Booklet erfahren möchte, sei auf nachstehende Veröffentlichung verwiesen.

Ergänzende Literatur: Ulrich Tadday (Hrsg.), Klaus Ospald, Musik-Konzepte 183, II/2019, edition text+kritik, München

[Martin Blaumeiser, Mai 2024]