Alle Beiträge von Oliver Fraenzke

Fern ab der Trennung von Musikern und Publikum

Im Freien Musikzentrum München spielen Violeta Barrena und Ottavia Maria Maceratini am 19. Februar Werke von Schubert, Ravel, Chopin, Weinberg und Monti sowie Zugaben von Piazzolla und Chuquisengo.

Das Freie Musikzentrum München ist einem kleinen Hörerkreis schon lange als Wohnzimmer für erstklassige Klassikkonzerte bekannt, und gerade auch der heutige Abend sollte keine Ausnahme bilden. Schon des Öfteren spielte die italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini in diesem kleinen Saal, in dem auch heute wieder alle Zuhörer konzentriert und beinahe ins Geschehen involviert wirken; und für die in England lebende katalanisch-schweizerische Violinistin Violeta Barrena ist dies heute ihre Premiere im FMZ. Vor allem aber ist es die gemeinsame Premiere der beiden exzellenten Musikerinnen als Duo.

Das Programm beginnt mit Schuberts a-Moll-Sonatine D. 385, ein hinreißendes Werk, erfüllt von harmonischen Finessen und subtiler Gestaltung. Das Werk ist bekannt als beschauliches Stück Hausmusik, das nicht allzu tiefgreifend scheint. Aber weit gefehlt bei der heutigen Darbietung, unter den Fingern von Barrena und Maceratini entfaltet die viersätzige Sonatine ihr gewaltiges symphonisches Potential in aller Farbenpracht. Brausend begehrt der Kopfsatz auf, nach welchem im Andante tiefe Abgründe aufgerissen werden; In tänzerischer Beschwingtheit – nicht ohne Doppelbödigkeit – gibt sich das Scherzo-hafte Menuetto und auf eine zwiespältige Weise versöhnend schließt das Allegro-Finale. Es folgt die einsätzige postume Violinsonate Ravels, ein Werk aus Studienzeiten, das der Komponist anscheinend nicht für bedeutend genug für eine Veröffentlichung ansah: Ein grobes Fehlurteil. In diesem Frühwerk ist schon der unverkennbare Personalstil Ravels manifestiert, ein zwischen Traum und Realität changierender Fluss innigster Leidenschaft. In allen Farben schillert das Stück wie auch die Darbietung der beiden jungen Musikerinnen, die sich voll auf diese eigenartige Gefühlwelt einlassen. Ungehört griffig erklingt die Sonate, beide lassen sich nicht einfach treiben, sondern holen bewusst zentrale Elemente hervor und legen so die Struktur inmitten dieses feingliedrigen Geflechts frei.

Als Solistin darf Ottavia Maria Maceratini nach der Pause mit Chopins Polonaise Fantasie op. 61 glänzen, einem kolossalen Spätwerk in erstaunlicher Konzentration. Bereits die ersten Noten können bei Maceratini verzaubern, so himmlisch transzendental erheben sich die eröffnenden Linien. Die Pianistin legt ihre vollste Energie und emotionale Bandbreite in die einzelnen Passagen, erreicht kühne Höhepunkte, lässt sich als Ausgleich in träumerische Gefilde fallen. Anders als bei den restlichen Werken des Abends ist kein großer Bogen von der ersten bis zur letzten Note zu verspüren, viel eher verlagert sich Maceratini auf interne Höhepunkte und die Auskostung eines jeden Aufbaus. Expressive Töne, nun wieder von beiden Musikerinnen, sind in der Sonatine von Mieczysław Weinberg zu hören, die mit einem jüdisch-östlichen Flair und einer gewissen Robustheit versehen ist. Wie auch Schubert ist dies eigentlich keine übliche Sonatine, sondern enthält die gesamte Innenwelt eines großen Konzertwerks und ebenso erklingt sie auch. Das Finale bildet der unverwüstliche Csárdás von Vittorio Monti, bei welchem sich die Violinistin voll austoben darf und in spielerischer Freude über die Saiten huscht, dabei allerdings auch nicht die zarte Ausgestaltung der einzelnen Linien vernachlässigt. Als Zugabe gibt es noch zwei Werke aus Lateinamerika, Piazzollas Oblivion, der selten so introvertiert-mitreißend erklingt, und Juan José Chuquisengos Arrangement von Mariano Mores’ populärer Milonga ‚Taquito militar’ für Violine und Klavier, ein so belebter wie unentrinnbar mitreißender Tanz.

Den ganzen Abend herrscht eine ganz besondere Energie, die jeden Zuhörer im Raum gefangen nimmt und innerlich involviert. Kaum zu glauben, dass die beiden Musikerinnen heute das erste Mal gemeinsam aufgetreten sind, solch eine intensiv innige Bindung ist zwischen ihnen zu spüren und bis ins kleinste Atmen ist alles wunderbar aufeinander abgestimmt. Es ist eine Natürlichkeit der Bühnenpräsenz, fernab der allgegenwärtigen Trennung von Musikern und Publikum, die alles so intim werden lässt und die Musik noch unmittelbarer zur Entfaltung bringt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2017]

Zielen auf Unausgeschöpftes

Mensch und Musik von Hans Erik Deckert (Novalis-Verlag, 2016)
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

0087

„Mensch und Musik“ zielt auf in der Zeit nach unserer Jahrtausendwende auf neue Weise Unausgeschöpftes. Die Essays des Buches aus den Jahren 1981 bis 2015 widmen sich bei hohem geistig-seelischem Anspruch dem musikalischen Weg zum Selbst, zum teamwork, zur Gemeinschaft, der sozialen Potenz der Musik, der anthropologischen Potenz der Musik, mithin spirituellen Potenzen der Musik.

Die scheinbar nüchterne Phänomenologie der Tonalität wird gestreift bei der Erörterung der Intervalle, der tonalen Kohärenz, der Bildung von Tongestalten und musikalischer Formprozesse. Die Funktion derartiger Elemente der Musiklehre und zudem die Funktion der Notenbeispiele des Buches (Beethoven, Mendelssohn, Schostakowitsch, Martinu) erfüllen sich bei Deckert erst dann, wenn sie sich in einem höchst verantwortlichen Umgang  realisieren – einem erneuerten Umgang mit und in der Musikkultur. Deckert arbeitet im besten Sinne idealistisch heraus, was Musik, die ihren Namen verdient, eigentlich heißt, bedeutet und fordert! Dezent verbindet der Autor dies mit Fähigkeiten und Werten wie Staunen, Hingabe, Demut, Dankbarkeit, Heiligkeit. Nicht umsonst erscheint Arnold Schönbergs Wort vom „Priester der Kunst“ als kardinales Zitat.

Damit verbunden ist für Deckert die Abwendung von Unterhaltung und die Kritik oder Verdammung des heute fast omnipräsenten Happy Sound, der die Menschen bei vielerlei täglichen Verrichtungen vielerorts umspült – solange man nicht mit Deckert versucht, gegen den ein oder anderen modischen mainstream zu schwimmen.

Deckerts Abgrenzung von Rock und Pop muss man zumindest dezidiert, ja radikal nennen. Rock-Musik und ihre Varianten werden im Anschluss an den 1940 geborenen Jan W. Morthenson unter den Verdacht faschistoider Gesellschaftsbildung gestellt (auch knüpft Deckert an das Diktum „Hinrichtung der Sinne“ an, das Urs Frauchiger geprägt hat , mit dem Deckert übrigens auch die Hochschätzung Sergiu Celibidaches verbindet).

Gerne möchte ich Deckert zustimmen, dass jedwedes Militärische (ein Musiker wie Arturo Toscanini wird nicht explizit genannt, könnte aber mitgemeint sein) das Gegenteil von Musik im emphatischen Sinne ist.

Wenn Deckert die Gegenwart in einer tiefen Krise sieht, werden meines Erachtens sehr berechtigte Sorgen wachgerufen durch Stichworte wie Reizüberflutung und eine Abstumpfung, deren musikalische Kehrseite mancherorts interpretatorische Egomanie war. Abstumpfung, Leerlauf, Trägheit, Wertezerfall umschreiben einen Teil dessen, wodurch Deckert sich herausgefordert fühlt. In der Verbannung der popular music indessen geht der Autor, der Rudolf Steiner verpflichtet ist, (mir) zu weit.

Hier gebe ich zu Bedenken: Kann nicht auch ein chorisch arrangierter Satz wie „Viva la vida“ (Coldplay) oder eine konzertant freilich immer nur elektrisch verstärkt dargebotenes Songbook etwa einer Melody Gardot gerade unsere heutigen Jugendlichen zu Erfahrungen führen, die auf die vielleicht noch tiefere Welt des Musikalischen wenigstens vorzubereiten vermögen? Das Sprichwort, demzufolge man manchmal mit dem Teufel über die Brücke gehen muss, bis man drüben ist, bliebe Deckert wohl eher fremd. Vielleicht ist aber gerade das digitale Zeitalter voller solcher Notwendigkeiten?

Insgesamt ist diesem Buch ein Leserkreis zu wünschen, der im Kreis von Instrumentallehrern, Lehrern an allgemeinbildenden Schulen und Instituten Aufmerksamkeit erregen möge. Deckert, der als junger Mann noch bei Pablos Casals und in Frankfurt bei Kurth Thomas gelernt hat, gibt genügend Anregung – nicht zuletzt bei der (ent)spannenden Frage nach den Vorteilen der Stimmtonhöhe von 432 oder 435 Hertz, mit der der Autor aufgewachsen war.

[Matthias Thiemel, Januar 2017]

Treuer Wegweiser im Abenteuer der Musik

„Mensch und Musik“ von Hans Erik Deckert
Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

0087

Unter dem Titel „Mensch und Musik“ hat Hans Erik Deckert ein für die heutige Zeit aufrüttelndes Buch geschrieben, eine Art Testament seines über siebzigjährigen, vielfältigen musikalischen Wirkens. Als Cellist, Dirigent und Hochschulprofessor kann er in seinem Erfahrungsschatz bis zu Pablo Casals und Wilhelm Furtwängler zurückblicken. Darin zeigt sich eine außergewöhnliche Biographie.

„Mensch und Musik“ ist ein brennendes Plädoyer für die Musik, um den Menschen von heute wieder bewusst zu machen, wovon eigentlich die großen Musiker seit jeher wussten und was sie zielstrebig verfolgt haben: Von J.S. Bach ist uns überliefert: „Alle Musik soll zur Ehre Gottes und zur Rekreation des Gemüts sein. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musik, sondern nur ein teuflisches Geplärr und Geleier“. Beethoven sagte: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie“. Auch bei Denkern wie Rudolf Steiner oder Goethe findet Deckert klare Bekenntnisse zur Musik, und schmückt damit durch aussagekräftige Perlen seinen Diskurs.

Viele Aspekte unseres Umgangs heute mit Musik werden in diesem Buch ans Licht geholt: Wie Musik mit elektronischen Mitteln (CD, Lautsprecher) vermittelt wird.  So hören wir z.B. bei der Trauung eines Ehepaares die geistlichen Lieder von einer CD gesungen, sogar bei der Beerdigung von Sergiu Celibidache, einer der größten Gegner von Aufnahmen, wurde vom Messner eine Schallplatte aufgelegt. Auf welchen Kammerton ‚a‘: 432, 440 bis 445 Hz – sollen die Instrumente gestimmt werden? Und warum eigentlich immer höher? Die Kunst des Instrumentalspiels, das zu einer faszinierenden technischen Meisterschaft gewachsen ist, als Selbstzweck zu pflegen, und immer schneller: ist das, wohin der Weg heutiger Musiker führen sollte? In all diesen Phänomenen zeigt sich, dass der Begriff „Musik“ mit seinem Kleid, dem Klang, gleichgesetzt wird, anstatt zu verstehen, dass aus Klang Musik entstehen kann, Klang jedoch oftmals nichts mit Musik zu tun hat.

Ein zentrales wertvolles Thema ist Deckerts Auffassung der Kammermusik als soziale Kraft, und wie sie das Solistische sowie das Orchestrale befruchten kann. Hier kann sich eine Tür zur Menschenbildung öffnen.

Konkreter zeigt er, welche Rolle die Technik im Instrumentalspiel einnimmt, und welche Gefahren es mit sich bringt, wenn sie getrennt von einer musikalischen Vorstellung gepflegt wird. Auch auf dem pädagogischen Gebiet können wir in diesem Buch wertvolle Gedanken für den Lehrer-Alltag finden.

Mit Notenbeispielen gibt uns H.E. Deckert aus seinem Erfahrungsschatz kostbare Orientierungshilfen für die Phase der Aneignung eines Musikstücks. Vor welcher Verantwortung steht doch zum Schluss jeder Musiker, wenn es um das Vermitteln des musikalischen Phänomens als geistige Realität geht!

Wir halten hier ein Buch mit vielen wunderbaren Anregungen in Händen, das als treuer Wegweiser dienen kann, um das wunderbare Abenteuer des Musizierens zu beflügeln.

[Rudolf Kuhn, Dezember 2016]

Die Musik in Gefahr?

Novalis; ISBN: 978-3-941664-48-7

0087

Mensch und Musik heißt Hans Erik Deckerts Anthologie von Aufsätzen aus den Jahren 1981 bis 2015. Der Cellist, Dirigent und Musiktheoretiker geht auf die Wirkung der Musik im Menschen, auf ihre Heiligkeit, auf die Folgen der aktuellen Musiknutzung, auf die Kammermusik und auf weitere Phänomene ein.

Ist die hörbare Kunst in ernsthafter Gefahr? Immer wieder tritt diese Frage, die Mahnung in den Aufsätzen von Hans Erik Deckert hervor. Es ist bei weitem nicht die einzige Frage, die diese umfassende wie weitreichende Anthologie umfasst, aber doch ist es die aktuellste – die, die einen jeden heute betrifft. Die Begründung dieser Befürchtung: mehr als frappierend und definitiv denkwürdig. Die Grundannahme, von der Deckert ausgeht, ist, dass es eine objektive Existenz der Musik gibt und dass sie in uns allen als eine Art Heiligtum prädisponiert ist. Deckert geht dabei auf die Sphärenharmonie Pythagoras‘ zurück, welche die Musik in Musica Mundana (Musik der Welt), Musica Humana (Musik im Menscheninneren) und Musica Instrumentalis (Stimme und Musikinstrument) unterteilt. Somit sind wir ständig umgeben von diesem kostbaren Gut, zudem ist es in uns selbst verankert – und erst in dritter Instanz können wir sie bewusst erzeugen. Doch wie hat sich die Musik durch die Möglichkeit der Tonaufnahme gewandelt, wie wird sie nun dargestellt und was macht sie mit uns? Wir werden belastet von einer Dauerbeschallung, ob in Film und Werbung, im Kaufhaus oder auf der Straße, in manchen Städten wie München gar in den U-Bahn-Stationen. Musik ist jederzeit wieder-abrufbar, die Einmaligkeit der Aufführung wird durch Reproduktion mit endloser Laufzeit ersetzt. Die Folgen für die Musiker unterminieren frühere Praxis und führen von der Gestaltung des unwiederbringbaren Moments hin zu einer Fixierung auf technische Brillanz und Makellosigkeit, die für eine ‚verewigte’ Aufnahme angeblich nötig sei. So wird auch im Konzertsaal versucht, an die Perfektion einer geschnittenen Aufnahme heranzukommen. Die Seele der Musik wird preisgegeben für einen schönen Körper. Nicht geringer, vielleicht sogar noch gravierender, sind die Konsequenzen für den Hörer. Er lernt das „Weghören“, gewöhnt sich an die stumpfe Hintergrundberieselung und nimmt diese irgendwann überhaupt nicht mehr wahr – entsprechend verlernt er das „Hinhören“, die Konzentration auf den erlebbaren Zusammenhang der Musik. Daraus resultiert, wie Deckert sagt, eine rein triebgebundene Musik, welche auf Zuständen statt auf entwickelnder Form basiert, die Musik zur Droge, zum vereinzelten Gefühl oder zum ’schönen Geräusch‘ abwertet. Auch wenn ich an dieser Stelle nachdrücklich eine generelle Verteufelung der so genannten ‚Unterhaltungs-Musik‘ fragwürdig finde und die Ablehnung für übertrieben halte, sollte sich der Hörer doch bewusst des musikalischen Gehalts und wahrhafter künstlerischer Leistungen bewusst werden, sollte sich nicht von Oberflächlichkeiten und schon gar nicht von Gewohnheiten blenden lassen, sondern lieber auf tieferen Ebenen suchen, um auch bei leichter Muse nicht vom wachen Zugang in einen benebelten Zustand abzugleiten.

Doch wie nun kommt man heraus aus diesem Teufelskreis der musikalischen Abstumpfung, die uns dieses Heiligtums zu berauben droht? Vollständig, so die ernüchternde Antwort, vermutlich gar nicht, denn zu stark werden wir bereits von außen mit Hintergrund- und Zustandsmusik beschallt, um nicht die natürlichen Abwehrreflexe im Sinne von bewusstem wie unbewusstem Weghören auszubilden. Verbessern können wir den Zustand zum einen natürlich durch veränderte Gepflogenheiten des Musikhörens, indem wir das „Hören“ zum Zentrum und nicht zum Hindergrund oder zum Teilaspekt eines Multitasking machen, vor allem aber wieder Konzerte hören anstelle von Aufnahmen. Denn nur live versprüht die Musik unverfälscht (ohne künstliche Membran etc.) ihre volle Lebendigkeit und die unwiederbringliche Einmaligkeit des Moments, das echte Erlebnis. Zum anderen ist es selbstverständlich das bewusste Musizieren selbst: Deckert nennt vor allem die Kammermusik als quasi heiligen Gral der Musik. Nur hier kann die „notwendige Durchdringung des Individuellen mit dem Sozialen“ stattfinden, kann der Mensch sich als gleichwertiger Teil eines Ganzen mit tragender Aufgabe finden. Aktives Hören ist in der Kammermusik unentbehrlich, um sich einfügen zu können. Über die Wege, wie nun eine musikalische Gemeinschaft gebildet und ausgebildet werden kann wie auch über das, was unbedingt beim Musizieren zu vermeiden ist, schreibt Deckert ausführlich. Vor allem dem Thema „Zu hoch, zu schnell, zu laut“ schenkt er notwendigerweise ein ganzes Kapitel, in welchem auf die verheerenden Auswirkungen unserer heutigen Musizierpraxis eingegangen wird: Auf den zu hohen Kammerton, der besonders den Sänger Überlastung der Stimmbänder beschert; auf zu schnelle Tempi, die all die herrlichen Details unhörbar machen; sowie auf zu heftige Lautstärke, die die Ohren der Musiker (wie auch des Publikums) belasten und schädigen.

Natürlich handelt es sich bei „Mensch und Musik“ nicht um ein Buch, welches ausschließlich auf Probleme eingeht und unsere heutige Praxis kritisiert – das Hauptanliegen ist viel eher, uns die besonderen Kräfte der erlebten Musik – gespielt wie gehört – nahezubringen, uns die „Heiligkeit“ der Musik zu vermitteln und uns dazu anzuregen, Musik wieder bewusst wahrzunehmen und sie als Teil von uns in uns aufzunehmen. Dies alles mit einer nun beinahe neunzigjährigen Lebenserfahrung, die so viele Veränderungen der Musikwahrnehmung und -ausführung aktiv mitbekommen hat, ergibt ein umfassendes Bild über das Wesen der Musik. Es lässt den Leser so einiges kritisch überdenken und kann helfen, die Liebe zur Musik noch weiter zu entfachen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Ouvertüren-Symphonien

Capriccio, Encore, C8006; EAN: 8 45221 08006 2

Als Vokalmusikkomponist spielte William Boyce eine wichtige Rolle im England des 18. Jahrhunderts. Weitaus weniger bekannt sind seine zahlreichen Instrumentalwerke. Dabei handelt es sich um herausragende Werke, und Boyce wird nicht grundlos nachgesagt, einer der wenigen englischen Komponisten seiner Zeit gewesen zu sein, die qualitativ den Größen des kontinentalen Festlands nahe kommen. Die acht Symphonien Op. 2 sind formal eher dreisätzige Ouvertüren als Symphonien im später etablierten Sinne, und tatsächlich leiten sich abgesehen von der achten (im Übrigen auch der einzigen in Moll stehenden) alle von Bühnen- oder Vokalwerken ab. Einen interessanten Aufbau weist die sechste Symphonie auf: sie besitzt einen ausgebreiteten Allegro-Kopfsatz mit verhältnismäßig langer Largo-Einleitung sowie Rückkehr in dieses Tempo und ein Larghetto als zweiten Satz, ohne ein schnelles oder tänzerisches Finale darauf folgen zu lassen.

Die bereits 1993 aufgenommene und dieses Jahr bei Capriccio, Encore veröffentlichte Aufnahme Sir Neville Marriners mit der Academy of St. Martin-in-the-Fields sticht durch gewohnt brillanten und lupenreinen Klang in hoher technischer Perfektion hervor. Die thematischen Keimzellen sind fein herausgearbeitet, und die Phrasierung derselben ist gewissermaßen reflektiert. Und doch gleitet die Musik immer wieder in Gleichförmigkeit ab, die weiterreichenden Entwicklung hat der Dirigent nicht im Auge, und so plätschert die Musik über längere Strecken richtungslos vor sich hin. Dies liegt nicht zuletzt an dem gleichförmigen Non-Legato, welches die Entstehung einer gesanglichen Linie durchkreuzt, aber auch an der dynamischen Gleichförmigkeit im fortwährenden Mezzo-Bereich. Da können auch manche Tricks in der Instrumentierung – wie beispielsweise, die Flöte in den Wiederholungen Solo spielen zu lassen, ohne die mächtigere Violingruppe – wenig darüber hinwegtäuschen. Zu wünschen wäre, die raffinierte Harmonisierung mancher Sätze noch deutlicher heraushören zu können, plötzlichen Umschwung ins Moll auch als solchen bewusst wahrzunehmen, und die versteckten Details in vollem Licht erstrahlen zu sehen. Bei aller Makellosigkeit und Brillanz sind doch die Manierismen und mechanischen Routinen augenfällig, weshalb aktive Mitverfolgung auf lange Zeit ziemlich ermüdet.

[Oliver Fraenzke, Februar 2017]

Rastlose Brillanz

Linn Records, CKD 555; EAN: 6 91062 05552 9

Gemeinsam mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Antonio Méndez spielt Ingrid Fliter die Klavierkonzerte a-Moll Op. 54 von Robert Schumann und g-Moll Op. 25 von Felix Mendelssohn. Das Orchester erklingt zudem in Mendelssohns Konzertouvertüre Op. 32 „Das Märchen von der schönen Melusine“.

An der Oberfläche präsentiert sich die Aufnahme Ingrid Fliters mit Klavierkonzerten von Schumann und Mendelssohn brillant und heiter glänzend. Mit Pathos jagt Fliter über die Tasten, verströmt einen Sog nach vorne und mitten hinein in die Musik. Dabei strahlt sie nicht nur handwerkliche Souveränität aus, sondern auch ein gewisses Gespür für den Zusammenhalt einzelner Phrasen sowie eine glühende Inspiration. Mit dem Scottish Chamber Orchestra unter Antonio Méndez besteht eine spürbare Verbindung, die Partner fügen sich problemlos zu einer Einheit zusammen, die verschmilzt.

Erst der Blick auf die subtileren Ebenen legt ein anderes Bild frei. Denn so sehr Fliter in der Virtuosität aufgeht und in raschen Passagen zu zaubern scheint, so rastlos sind die langsamen wie entspannten Abschnitte genommen. Die Pianistin scheint innerlich nie zur Ruhe zu kommen, und so wird auch die gesamte Lyrik gerade im Schumann-Konzert durch atemlose Hektik ausgehebelt. Die romantische Verträumtheit und die Wendungen ins Innere sind nicht vorzufinden (natürlich dürfen diese nicht ins manieriert Willkürliche übertrieben werden, aber sie sind dennoch ein entscheidendes Merkmal für Musik jener Zeit). Dazu gehörlt auch, dass immer wieder die spannungstragenden Dissonanzen, die wie ein Gewürz dem Ganzen erst die unverkennbare Note verleihen, unter den Tisch gekehrt und verharmlost werden.

Sehr subtil kann Antonio Méndez das Scottish Chamber Orchestra auf die jeweiligen Stimmungen einschwingen, kann ausgebreitete Melodien natürlich entstehen lassen und dann doch plötzlich wieder in entschiedenstem Aufbegehren toben. Gerade in Mendelssohns Konzertouvertüre kann das Orchester sich einlassen und eine beschwingte Gestaltung erlebbar machen. Dabei geht allerdings manche Nebenstimme im Geflecht unter, die noch einen schönen Beitrag hätte leisten können. Gerade in den Klavierkonzerten hätte damit noch für eine stärkere Kompaktheit des Apparates und für einen stringenter zusammenhängenden Fluss gesorgt werden können.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Das blühende Leben

paladino music, pmr0074; EAN: 9120040730741

Dimitri Ashkenazy spielt Klarinettenwerke von Jean Françaix. Gemeinsam mit dem Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Christoph-Mathias Müller bietet er das Klarinettenkonzert dar, mit der Pianistin Yvonne Lang Tema con variazioni, und mit Ada Meinich und Bernd Glemser das Trio für Klarinette, Viola und Klavier.

Nach wie vor wird der französische Komponist Jean Françaix (1912-97) vor allem von den Bläsern aktiv wahrgenommen, gerne im Konzert gespielt und aufgenommen. Auch knapp zwanzig Jahre nach seinem Ableben ebbt dies nicht ab, was auch nicht verwundern mag, schließlich ist seine Musik kontinuierlich von überragender Qualität und Inspiration. Diese Musik ist das blühende Leben: Leicht, aufgeweckt, in stetiger Frische und mit aufmerksamer Seele – beinahe ein wenig unbekümmert. Der Hörer kann sich leicht hineinhören in diese bei allen Schwierigkeiten so unkomplexe Musik, die mit ihrer Beschwingtheit bezaubert.

Mit seinem unverkennbarem Klang meistert Dimitri Ashkenazy die Klarinettenwerke, besticht durchweg mit Souveränität, verströmt Ruhe und Gelassenheit. Gerade im Konzert gibt er sich scherzend und verspielt, lässt zugleich allerdings auch nie die innere Kontrolle los. Von Willkür kann hier nicht die Rede sein, alles ist bewusst und reflektiert. Leichtfällig rieseln die Töne und formen eine nicht enden wollende Melodie.

Den gleichen unbeschwerten Gestus macht sich das Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Christoph-Mathias Müller zu eigen. Die vorliegende Aufnahme erschien übrigens bereits 1995 mit anderen Werken zusammen und wurde vom Komponisten damals sehr positiv aufgenommen – was auch nachvollziehbar ist angesichts der Brillanz und Durchsichtigkeit des Orchesterapparats, in den sich die Klarinette so wunderbar einfügen, mit dem sie zu einer Einheit verschmelzen kann. Was allerdings ein wenig fehlt, sind Kompaktheit, Dichte und Tiefe im Spiels – es wirkt streckenweise etwas dissoziiert.

Im Trio sticht Dimitri Ashkenazy deutlich hervor, seine beiden Mitstreiter haben nicht die selbe Souveränität und nicht die Gegenwärtigkeit im musikalischen Geschehen wie der Klarinettist. Ada Meinich an der Viola wirkt oft hektisch und ohne innere Ruhe, die den Hörer erst teilhaben ließe an den üppig detaillierten Strukturen. Bernd Glemser hat einen angenehm weichen Anschlag, nivelliert leider stellenweise die Wirkung durch monochrome Färbung, durch endlose Gleichförmigkeit und neutrales Notenlesen statt musikalischen Gestaltens. Farbenfroher zeigt sich Yvonne Lang im Duett, wenngleich hier ihre extrem kurzen Staccati stören, wodurch auch die Akkorde nicht wirklich ausgehört sein können. Brillieren kann Lang hingegen an Legato-Stellen, die sehr lebendig phrasiert erklingen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Sterile Wiener Klassik

Querstand, VKJK1619; EAN: 4 025796 016192

Norbert Anger spielte gemeinsam mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny die beiden Cellokonzerte Joseph Haydns (C-Dur Hob. VIIB:1 und D-Dur Hob. VIIB:2) ein. Zudem gibt es ein Konzert D-Dur für Violoncello und Orchester nach Mozarts Konzert für Horn Es-Dur KV 447 zu hören, eine Bearbeitung von Gaspar Cassadó.

Zwei herrliche Cellokonzerte schenkte uns Haydn, beide heute wohlbekannt und ins Standardrepertoire der Cellisten aufgenommen – im Gegensatz zu den Violin- und Klavierkonzerten (wobei von Letzteren die meisten vermutlich nicht von Haydn selbst stammen). Mozart bedachte das Violoncello nicht mit einem Solokonzert, was seit jeher alle Cellisten zutiefst bedauern. Der spanische Virtuose Gaspar Cassadó schuf Abhilfe, indem er das Hornkonzert Es-Dur KV 447 für sein Instrument bearbeitete, wobei er sich kompositorische Freiheiten gönnte und nicht zuletzt die Tonart ins für Streicher dankbarere D-Dur transponierte.

Technisch makellos gibt sich die Aufnahme dieser Konzerte von Norbert Anger mit den Dresdner Kapellsolisten unter Helmut Branny. Doch klingt alles steril, ohne Lebendigkeit oder Freiheit, beinahe museumsreif aufdrapiert. Zum einen trägt eine recht trockene Aufnahmetechnik dazu bei (obgleich die Aufnahme in einem großen Raum, der Lukaskirche Dresden, und nicht in einem Studio entstand), zum anderen – und dies ist wesentlich folgenschwerer – die uninspirierte Darbietung. Die Musik wird mit Banalitäten gespickt wiedergegeben, dabei werden die träumerischen Melodien unzusammenhängend abgehackt, so dass kleine aneinandergereihte Fetzen anstelle einer sinnfälligen Linie herumgeistern. Allgemein mangelt es an dynamischen Kontrasten und musikalischer Ausgestaltung – alles findet in einer monotonen Komfortzone statt, harmonische Feinheiten bleiben dabei außen vor. Der Solist zeigt zumindest Ansätze, einmal etwas musikalisch aus der Gleichförmigkeit auszubrechen, wird jedoch sogleich vom Orchester in die Schranken gewiesen. Von dem lebensbejahenden Frohsinn, von der sprühenden Vitalität dieser Musik ist kaum etwas zu erahnen. Um zumindest noch etwas Leben hinein zu interpretieren, werden die Tempi der Randsätze hastig überzogen, was allerdings zur Folge hat, dass gerade in den rasenden Schlusssätzen viele subtile Details im hochgepeitschten Spielrausch verloren gehen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Philosophengespräche

Fidelitas, Pegasus, FR 16.001; EAN: 9 783944 256009

 

Jens Oberheide stellt ein Gespräch zwischen Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing nach, das resultierende Hörspiel wird gelesen von Gerhard Fehn und Ferenc Husta, musikalische Untermalung bietet Franck Adrian Holzkamp mit eigenen Werken.

Eine etwas andere CD fiel mir in die Hände, mehr Hörspiel als Musik, doch ist es schon immer ein wichtiges Ziel von The New Listener gewesen, jederzeit gerne über den Tellerrand hinaus die Fühler auszustrecken (andere und ausgefallenere Artikel werden folgen!), und so hat auch vorliegende Aufnahme einen Platz hier verdient.

Zwei große Persönlichkeiten des achtzehnten Jahrhunderts lernen sich beim Schachspiel kennen und werden lebenslange Freunde mit intensivem Austausch. Viele Textquellen sind uns überliefert, leider nicht die Gespräche zwischen dem Philosophen Moses Mendelssohn, Großvater von Felix Mendelssohn-Bartholdy, und dem Dichter Gotthold Ephraim Lessing. Jens Oberheide machte es sich nun zur Aufgabe, aus insgesamt 138 Textquellen einen Schach-Dialog zusammenzustellen, der bewusst offen gehalten ist, nicht alles beantwortet, gerne einmal springt und so einem echten Dialog nahekommt. Außer kleinen Korrekturen für das Verständnis oder den Kontext wurde wenig verändert oder eingefügt. Zwischen all den Themen, von Philosophie, Religion und Kunst zu Wissenschaft oder strategischen Schachzügen gibt es natürlicherweise Gedankenpausen, und diese werden mit Klaviermusik von Franck A. Holzkamp angereichert. Es entsteht ein stimmiges Ganzes, das schweifende Einblicke in Denkweisen und Werke der Schriftsteller bietet und kurzweilige Unterhaltung mit wissenswerten Erkenntnissen kombiniert.

Die Sprecher, Gerhard Fehn und Ferenc Husta (letzterer als langjähriges Mitglied der Wise Guys beinahe ein „Star“ der Populärmusikszene), rezitieren ihre Rollen verständlich und gut prononciert, der Hörer kommt gut mit und kann die Gedankengänge leicht verfolgen. Durch Studioakustik und Tonfall erhält man allerdings nicht das Gefühl, einem „echten“ Dialog, sondern zwei vereinzelten Stimmen zu lauschen.

Romantisch berühren die eingeschobenen Werke von Franck Adrian Holzkamp, teils mit leichten Einflüssen des Minimalismus. Seine Notturnos, Bagatellen und Slow Airs sind von anmutiger Schönheit und Schlichtheit, laden zum Träumen ein. Der Komponist ist zugleich auch der ausführende Musiker und bietet sie mit Zartheit, innigem Feingefühl und meditativer Ruhe dar, lässt die Musik die philosophischen Gedanken weitertragen und fortspinnen, verknüpft und komplettiert die fiktiven Dialoge damit zu einem Ganzen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Geniales in kongenialer Darbietung

ALBA, ABCD 399; EAN: 6 417513 103991

Werke von Pehr Henrik Nordgren sind auf „Storm – Fear“ des Ostrobothnian Chamber Orchestra unter Leitung von Juha Kangas zu hören. Solist im Konzert Nr. 2 für Klavier, Streicher und Schlagwerk Op. 112 und dem Konzert für die linke Hand alleine und Kammerorchester Op. 129 ist Henri Sigfridsson, Monica Groop singt den Liederzyklus nach Gedichten von Edith Södergran Op. 123 für Mezzosopran, Streicher und Harfe.

„Storm – Fear“ ist ein wahrer Schatz auf dem aktuellen CD-Markt: Nicht nur, dass Pehr Henrik Nordgren (1944-2008) einer der substanziellen Komponisten der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und des beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts war (mehr als einmal hörte ich, wie er als Finnlands bedeutendster Meister seit Sibelius gerühmt wurde), sondern auch Juha Kangas und sein Ostrobothnian Chamber Orchestra gehören zu den führenden Kammerorchestern unserer Zeit und bescherten uns bereits einige legendären Aufnahmen, viele davon gerade von nordischen Komponisten wie Grieg, Eliasson, Vasks oder eben Nordgren.

Auf vorliegender CD sind zwei der drei Klavierkonzerte des finnischen Komponisten zu hören, die allesamt für den Japaner Izumi Tateno verfasst wurden. Das dritte, das Konzert für die linke Hand, entstand auf Anfrage Tatenos, nachdem er aufgrund einer Hirnblutung seine rechte Hand nur noch teilweise bewegen konnte. Zwischen den beiden Werken ist ein Liederzyklus nach Edith Södergran auf schwedisch zu hören, alle Werke entstanden nach 2000. Der profund informierende Bookletttext entstammt der Feder von Kalevi Aho, des neben seinem Lehrer Rautavaara erfolgreichsten finnischen Komponisten der letzten Jahre, der auf dem Gebiet der Oper, des Solokonzerts und der Symphonik weltweit große Erfolge feiert.

Stilistisch war der 2008 verstorbene Nordgren ein Einzelgänger, er passte sich keiner Schule oder Traditionslinie an. Seine Musik entstammt seinem Inneren und reißt mit einer Vitalität und glühenden Lebendigkeit mit, ist erfüllt von kompromissloser Ungebundenheit, Zwanglosigkeit und Natürlichkeit. Alles befindet sich im Kontinuum, eines resultiert wie selbstverständlich aus dem anderen. Dabei ist der Grundgestus das, was wir als „nordisch“ bezeichnen würden: düster und nach unten gerichtet. Die Musik ist mystisch, umnebelt, geheimnisvoll brodelnd und im Verborgenen polternd; sie ist nicht direkt und schon gar nicht erwartungsgemäß, immer findet sie einen verhüllten und doch unmittelbaren Weg, erreicht so ungeahnte Wirkung. Am dunkelsten ist wohl das Konzert für die linke Hand nach der von Lafcadio Hearn aufgezeichneten japanischen Geistergeschichte Der Leichenreiter: Wie bildhaft all der Schrecken und die Furcht sich zeigen, beinahe sieht man die Geschichte vor sich ablaufen! Herausragend ist Nordgrens Umgang mit dem kleinbesetzten Kammerorchester, hier aus neunzehn Streichern bestehend, denn jeder hat eine eigene Stimme, und so entsteht eine multiple Klanglava, die manche Komposition für großes Symphonieorchester an Volumen spielend überbietet. Weder die Solokonzerte, noch die Lieder sind auf virtuosen Effekt oder Zurschaustellung aus, alles dreht sich um den musikalischen Sinn und die Stimmigkeit und Stringenz der Aussage.

Bis zu Nordgrens Tod arbeitete Juha Kangas an erster Stelle mit dem Komponisten zusammen, bei allen hier zu hörenden Werken leitete er die Uraufführung. Das Resultat aus der engen Kooperation und Kangas’ unbestechlichen Gespür für den Ausgleich zwischen horizontalem (Melodie) und vertikalem (Harmonie) Druck, für Bogen und Phrasierung sowie für die Korrelation des Ganzen als Einheit ist schlichtweg überwältigend. Henri Sigfridsson und Monica Groop passen sich beide selbstlos in das dichte Geflecht ein und finden ihren hervorgehobenen Platz in einer Einheit, die vollkommen aufeinander abgestimmt ist und an der absolut nichts auch nur ansatzweise auszusetzen wäre.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]

Neue Entdeckungen aus Norwegen

Lawo, LWC1097; EAN: 7 090020 181097

Neue Lieder aus Norwegen tragen Marianne Beate Kielland (Mezzosopran) und Nils Anders Mortensen (Klavier) auf ihrer CD „The New Song“ für Lawo vor. Zu hören sind LiebesKleineLieder von Helge Iberg, …As the Last Blow Falls… von Henrik Hellstenius, Brahmanische Erzählungen von Håvard Lund und Gruk pour soprane et piano Op. 53B von Edvard Hagerup Bull.

Formale Grenzen scheint es in unserer Zeit in der Musik kaum noch zu geben, frei nach dem Motto: Alles ist erlaubt. Doch dessen ungeachtet existieren gerade auf dem europäischen Kontinent eine Vielzahl von Schulen und Traditionslinien, die erschreckend oft noch immer in der Avantgarde der 1960er-Jahre stecken geblieben und nicht über die Zeit der hochkomplexen Diskontinuität hinweggekommen sind, diese auch nach knapp sechzig Jahren noch als modern vergöttern. In den skandinavischen Ländern ist man hiervon oft erfrischend unbeeindruckt, hier steht der Individualstil über normativen Gesetzen, wie denn Musik heute zu sein habe (denn auch die Maxime, Musik müsse „modern“ sein, ist eine Begrenzung). Die nordischen Länder verfügen heute über eine Vielzahl herausragender Individualisten, die ihre eigenen Ideale verfolgen, die sich nicht selten in jedem Stück neu erfinden und die doch auch freundschaftlich nebeneinander stehen, ohne die Hörer oder Studenten in ihr Lager zu treiben zu versuchen. Vier beeindruckende Beispiele von „neuen“ Liedern bietet vorliegende CD, drei davon Kompositionsaufträge für diese Einspielung.

Staunen lässt der Text-Musik-Bezug in LiebesKleineLieder von Helge Iberg nach Texten von Erich Fried. Durch Wiederholungen schafft Iberg einen eigenständigen Ausdruck, antwortet zum Teil auf unklar gelassene Aussagen im Text (wie in „Was es ist“: Es bleibt offen, was „es“ nun ist, ob Unsinn, Unglück oder Schmerz etc. – die von Iberg eingefügte Textwiederholung am Ende antwortet ausdrücklich: Liebe) oder schafft einen neuen Sinn (so in „Aber wieder“). Die Klavierbegleitung bewegt sich oft in sparsamen Patterns, die allerdings immer wieder durch textausdeutende Momente durchbrochen werden, ebenso die weit ausgenutzte Singstimme, welche gerne auch einmal in eine Sprechstimme übergleitet. „…As the Last Blow Falls…“ von Henrik Hellstenius nach einem Text von Theodor Storm ist eine groß angelegte Phantasie zwischen englischer und deutscher Sprache. Die zusätzlich agierende Rezitation, die der Komponist selbst gesprochen hat, schafft eine dritte Ebene in diesem Werk. Dies ist das wohl experimentellste Werk der CD, immer unerhörtere Klang- und Geräuschsphären erreicht Kielland mit ihrer Stimme. Es ist ein ständiges Hin und Her zwischen den Extremen, dem auf einer subtiler wahrzunehmenden Ebene eine langsame Metamorphose übergeordnet ist. Balladeske Liedkompositionen sind die „Brahmanischen Erzählungen“ nach Friedrich Rückert von Håvard Lund. Die Musik folgt dem großartigen Text und gibt diesem Bedeutung, unterbrochen nur durch kurze melismatische Kontrastpassagen (in „Ein Bettler in Schiraz“ eingeschoben, in „Der abgebrannte Bart“ ganz am Ende, wo sich mir der Sinn allerdings noch nicht erschlossen hat). Edvard Hagerup Bull ist der einzige Komponist auf dieser CD, der nicht mehr lebt und dessen Musik hier nicht auf deutsch gesungen wird, sondern auf dänisch, wie dies die Textvorlage Piet Heins vorgab. Vielleicht ist es aber gerade dieser Komponist, der die größte Entdeckung dieser Einspielung ist. Obgleich er sowohl mit Edvard Grieg als auch mit Ole Bull verwandt war, hat seine Musik eigentlich nichts mit den beiden Meistern zu tun, viel eher ging es Hagerup Bull um eine enorme Verdichtung und Ver-Wesentlichung der Musik auf das Nötigste, vielleicht am ehesten vergleichbar mit der kargen Tonsprache von Anton Webern (wobei sich Hagerup Bull trotz aller harmonischen Komplexität nicht der Dodekaphonie oder anderen beschneidenden Regelwerken unterordnete), und natürlich ursprünglich auch einmal geprägt von der raffinierten Bitonalität seines Lehrers Darius Milhaud. Die fünf Gruk sind kleine Perlen faszinierendster Tonsprache, die sich einer Beschreibung effektiv entziehen.

Marianne Beate Kielland besticht mit einer markanten, angenehm rauen, düster-„nordischen“ Stimme mit enormer klangfarblicher Variabilität. Bis in die äußersten Lagen ihrer Stimme bleibt sie klar und präzise intoniert, verliert auch in Extremsituationen nie die Kontrolle. Nils Anders Mortensen begleitet zurückhaltend und lebendig, beinahe improvisatorisch spontan. Die beiden Musiker sind blendend aufeinander angestimmt.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Konzerte und Quartette

Naxos, 8.573666; EAN: 7 47313 36667 5

Die beiden Klavierkonzerte in c-Moll op. 35 und in F-Dur Op. 102 von Schostakowitsch spielt Boris Giltburg gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko, die Solo-Trompete im ersten Konzert übernimmt Rhys Owens. Des weiteren sind von Giltburg Arrangements des achten Streichquartetts c-Moll Op. 110 und des Walzers aus dem zweiten Quartett Op. 68 für Klavier solo zu hören.

Nach drei recht erfolgreichen Solo-Aufnahmen spielt Boris Giltburg nun mit einem Orchester. Da es erst vor kurzem eine Gesamtaufnahme aller Schostakowitsch-Symphonien abgeschlossen hat, ist das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko geradezu prädestiniert, mit dem zum Star aufsteigenden Solisten die beiden Klavierkonzerte des russischen Meisters einzuspielen.

Im Vergleich zu der vorausgegangenen Rachmaninoff-Einspielung hat Boris Giltburg an Weichheit und Flexibilität gewonnen, das Forte ist wesentlich voluminöser. Und gerade die zarten und lyrischen Passagen konnte der in Moskau geborene Pianist nun für sich erschließen, tragfähige und zeitgleich zerbrechliche Kantilenen sind der Beweis. Trotz dessen erscheinen die Tempi gerade im ersten Konzert etwas sehr rasch. Jedoch verliert Giltburg durch extreme Willkür in oftmals unstimmigen Rubati den Fluss (plötzlich eilt die Musik davon, dann bleibt sie wieder stecken) und somit das kontinuierliche Precipitato-Feeling, das die Musik Schostakowitschs so mitreißend macht – wobei dieses in Ansätzen durchaus vorhanden wäre, aber eben nicht mit der charakteristischen Konstanz.

Das Orchester blüht vor allem im zweiten Klavierkonzert auf, das allgemein plastischer entsteht als das erste. Vasily Petrenko gibt seinem Klangkörper einen markanten, rhythmisch prägnanten Charakter, der ihm nicht aus dem Ruder läuft. Im zweiten Konzert gelingt Petrenko eine herrlich polyphone Gestaltung des Orchesterapparats, die Unterstimmen erhalten volles Mitspracherecht, ergeben somit eine vielschichtigere Färbung. Auch im ersten Konzert fasziniert allgemein eine plausible Linienführung, lediglich der langsame Satz verliert bei allen Beteiligten an Fokus und Richtung, verläuft sich in Richtungslosigkeit. Rhys Owens brilliert in der hohen Lage seines eigenwilligen Trompeten-Soloparts (welch eine Besetzung!), in der Tiefe sticht er durch einen rauh-blechernen Ton hervor, der einen ganz eigenen Charme besitzt.

In den Arrangements des achten Quartetts sowie des Walzers aus dem zweiten Quartett bleibt Giltburg dem Original verpflichtet, sowohl als Arrangeur wie auch als Pianist. Es klingt alles sehr nach der Streicherbesetzung, die er in einer Person zu ersetzen versucht. Auch wenn einige Passagen deutlich nach echtem Streicherklang verlangen, funktionieren die Arrangements erstaunlich gut und lassen die herrliche Kammermusik nun auch als Solomusik entstehen. Auch das Spiel Giltburgs wird hier auf einmal kammermusikalischer, das Tempo erhält Kontur und die Stimmen spielen polyphoner mit- und gegeneinander, das Gesamte erhält einen deutlicheren einheitlichen Bogen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Zwischen Kirche und Club

GP ARTS 201; EAN: 4 260213 912019

Arrangements von Dietrich Buxtehudes Präludium in g BuxWV 149, Georg Friedrich Händels Oboensonate c-Moll HWV 366 und Franz Tunders „An Wasserflüssen Babylon“ für Sopransaxophon, Orgel und Live Electronics finden sich neben vier eigenen Werken (teils ebenfalls mit entliehenem Material der Barockzeit) auf der CD buxtehude_21 On The Bridge von Bernd Ruf und Franz Danksagmüller.

Die Faszination der Barockmusik mit neuen Mitteln zu aktualisieren und in der Jetztzeit wirksam zu machen ist das Ziel des Projekts danksagmüller_ruf. Durch vielseitige Arrangements von Buxtehude, Händel und Tunder realisierte das Duo seinen Plan auf der CD buxtehude_21 On The Bridge.

Und tatsächlich schlagen die beiden Musiker eine Brücke zwischen alt und neu, quasi zwischen Kirche und Club – denn es passt in beides, oder doch in keines der beiden? Alleine die Besetzung verwundert: Eines der altehrwürdigsten Instrumente, die Orgel, neben ein Instrument des zwanzigsten Jahrhunderts, das (Sopran-)Saxophon, zu stellen und darüber hinaus mit Live Electronics anzureichern, ist ein recht gewagtes Unterfangen. Dabei reichen die Arrangements von exakt notengetreuer Wiedergabe bis hin zur relativen Unkenntlichkeit der originalen Sätze oder Passagen. Manches wirkt improvisiert, anderes aufwändig „rekomponiert“, die Übergänge zwischen dem einen und dem anderen sind fließend. Das Sopransaxophon übernimmt meist die Solostimme oder eine zentrale Stimme im polyphonen Satz, umspielt aber auch gerne frei die Orgelpartie.

Das klangliche Resultat besitzt eine große Eigenständigkeit, mag sich in keine Schublade so wirklich einordnen lassen. Die barockzeitliche Grundlage bleibt stets erhalten und doch gibt es sogar in den tongetreu gespielten Passagen durch die Besetzung und leichtes Hineinschleifen in die Töne durch das Sopransaxophon eine etwas jazzähnliche Atmosphäre. Manches mutet gar an, als könnte es auf einem „Rave“ mit experimenteller elektronischer Musik erklingen. Die Kirchenakustik von St. Jakobi Lübeck sorgt dabei für eine hallige und großräumige Atmosphäre, die auch auf mittelmäßigen Anlagen durchhörbar bleibt und Platz schafft, der mit dimensionsöffnenden Klängen gefüllt wird.

Bernd Ruf und Franz Danksagmüller offerieren musikalisch feinsinnigen Umgang auf ihren Instrumenten, reflektierte Phrasierung und eine außergewöhnliche Kreativität als Arrangeure und Komponisten. Lediglich die Eigenkomposition „Dow Jones – Danza Infernale“ mit der aufdringlichen Sprecherstimme mag nicht so recht zum Rest passen, sehr beschaulich hingegen „Lullaby for Anna Margaretha“. „BTB – BuxToccataBach“ ist eine herrliche Gegenüberstellung beziehungsweise Vermengung und bietet den strahlenden Abschluss eines spannenden Experiments, das uneingeschränkt empfohlen sei.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Verschlungene Tonalität

Audiomax 707 1979-2; EAN: 7 60623 19792 0

Variationen für Violine, Violoncello und Klavier über Motive aus dem Buch Hiob und eine Auswahl an Liedern von Alexander Asteriades wurden für Audiomax, Musikproduktion Dabringhaus und Grimm von Jörg Gottschick (Bariton), Nicola Birkhan (Violine), Verena Obermayer (Violoncello) und Paul Rivinius (Klavier) eingespielt.

Sich vom Serialismus abwendend, machten es sich einige Komponisten zur Aufgabe, aus der harmonischen Orientierungslosigkeit auszubrechen und zur Tonalität zurückzukehren, dieser allerdings ein neues Gesicht zu verleihen zu versuchen und einen eigenen Zugang zu ihr zu finden. Der kürzlich verstorbene Einojuhani Rautavaara gilt mit seinem ersten Klavierkonzert als Vater des so genannten Postserialismus, zu dem auch der viel unternommene Versuch gehört, eine individualisierte Tonalität zu kreieren. Zu den bedeutendsten Namen dieser postmodernen Tradition zählt hierzulande neben Willhelm Killmayer auch der 1941 geborene Alexander Asteriades, von dem hier eine Auswahl von Werken in der Besetzung für Klaviertrio sowie für Bariton und Klavier vorliegt.

Asteriades schafft eine bei aller Schlichtheit recht verschlungene Harmonik, die keine eindeutig-klaren Pfade verfolgt. Es schlängelt sich ein ständiger Fluss durch die Werke, der klare Konturen nicht entstehen lässt. Oft entstehen somit zwiegespaltene Klangkonstellationen, die etwas Unruhiges und Unstetes haben, sich nicht festlegen wollen. Konsonanz und Dissonanz stehen gleichwertig nebeneinander, harte Dissonanzen werden vollständig in die Musik integriert und verlieren durch die dadurch entstehende Gewöhnung an sie ihre grelle Wirkung, wirken als vollkommen natürlicher Bestandteil. Gewissermaßen entzieht sich die Musik den allgemeinen Beschreibungen für Musik, sie entleiht sich Grundlagen aus verschiedensten Traditionen und schafft etwas Eigenes, das in keine bisher musikwissenschaftlich erforschte Schublade so recht passen mag, viel eher zwischen diesen steht.

In dieser verschlungenen Tonalität geht aber auch der Hörer recht schnell verloren, die Musik fließt eher am Hörer vorüber als dass er ihr folgen könnte. Gerade die Variationen für Klaviertrio laufen so schnell Gefahr, in ihrer Form nicht verstanden zu werden, da sich eine Gleichgültigkeit beim Hörer einstellen kann, der der „simplen Komplexität“ nur schwerlich zu folgen vermag. In den Liedern wird durch den Text ein klarere Orientierung geboten, wodurch auch die harmonischen Verästelungen leichter nachvollziehbar werden.

Doch nicht nur für die Hörer scheint die Musik undurchsichtig, auch die Musiker sind vor allem im Trio etwas im Nebel gefangen. So stellt sich bald eine gewisse Gleichförmigkeit ein, die dynamische Ausgestaltung der Melodik ist recht flach, die harmonische Spannung bleibt teils in Gänze außen vor, zu sehr vermischt sich Spannung mit Entspannung. Es entstehen traumhafte und atemberaubende Momente, doch der Kontext lässt diese Augenblicke unorganisch im Raum stehen, und die hinreißende Wirkung ist ebenso schnell wieder verflogen. Am überzeugendsten gelungen ist „Ein Winterabend“ aus den drei Liedern nach Gedichten von Georg Trakl, hier findet Asteriades ein angenehmes Gleichgewicht in seiner Tonalität, und auch die Musiker glänzen mit einer freien Natürlichkeit.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Bachs meisterliche Übungen

Sono Luminus, DSL-92209; EAN: 0 53479 22092 9

Die sechs Partiten Johann Sebastian Bachs BWV 825-830 erschienen in einer neuen Einspielung mit Jory Vinikour am Cembalo auf drei CDs bei Sono Luminus.

Sie stellen den ersten Teil der Clavierübungen von Johann Sebastian Bach dar, setzen gleichsam die Zyklen der Französischen und der Englischen Suiten als dritte Sechsergruppierung fort: Die Partiten BWV 825-830. Es handelt sich jeweils um große  sechs- bis achtsätzige Tanzsuiten für ein solistisches Tasteninstrument, denen im Gegensatz zu den Französischen Suiten allesamt ein Einleitungsstück vorangestellt ist. Die Sätze sind ausnahmslos in vollster Reife und Meisterschaft gesetzt, von gebündelter Kompaktheit, unausweichlicher Folgerichtigkeit und absoluter Klarheit, vollendeter Ausgeglichenheit und Perfektion. Die dabei an den Ausführenden gestellten Anforderungen sind enorm, übertreffen insgesamt sogar noch diejenigen der Englischen Suiten. Dabei ist Bach nicht einmal auf einen drei- oder mehrstimmigen Satz angewiesen, sogar die zweistimmigen Tänze gehen an die Grenzen des musikalisch Korrelierbaren.

Auf einem zweimanualigen Cembalo spielt Jory Vinikour den gesamten gut zweieinhalbstündigen Zyklus. Es gibt nur sehr wenige Gestaltungsmöglichkeiten auf diesem gezupften Saiteninstrument, und es fehlt dennoch nichts, den großformatigen Werken zu vollem Glanz zu verhelfen. Vinikour spielt klar und verständlich, lässt die Hörer durch seine Tempowahl die Tanzsätze gut mitverfolgen. Durch strahlende Schlichtheit und Ungekünsteltheit brilliert dieser Cembalist! Lediglich manche kurzen Tempoverzögerungen geraten etwas unorganisch und vorhersehbar gleichförmig, was den ansonsten kontinuierlichen Fluss kurzzeitig stocken lässt. Die spärlichen dynamischen Möglichkeiten nutzt Jory Vinikour bis an die Grenzen aus und kann so durchaus Kontraste schaffen und sogar innerhalb der Tänze Auflösungen ans Licht holen, die auf Cembali üblicherweise in Gleichförmigkeit untergehen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]