Archiv der Kategorie: Konzertrezension

Rund um die Drei

Drei Jahrzehnte Bühnenjubiläum feiert Ingolf Turban mit den drei Violinsonaten von Johannes Brahms auf drei großartigen Geigen aus drei Jahrhunderten. Im großen Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater München findet am 13. April um 19:00 das Jubiläumskonzert statt, am Klavier dabei seine langjährige Kammermusikpartnerin Gabriele Seidel-Hell.

Wenn Ingolf Turban sagt, er habe sein 30-jähriges Jubiläum auf der Konzertbühne, so ist dem nicht ganz richtig. Schließlich spielte er bereits mit fünf Jahren seinem Gemeindepfarrer vor und stand mit sieben auf dem Podium des großen Konzertsaals der Hochschule für Musik und Theater München, dem Ort des heutigen Konzertabends. Vielmehr bezieht sich diese Zahl auf einen denkwürdigen Auftritt kurz nach seiner Ernennung zum Konzertmeister der Münchner Philharmoniker. Als Einspringer für eine erkrankte Solistin übernahm Turban damals den Solopart von Sibelius‘ grandiosem Konzert d-Moll Op. 47 unter Sergiu Celibidache, was ihm entscheidend zum Durchbruch verhalf, vor allem jedoch eine zutiefst prägende Erfahrung war.

Später wurde Ingolf Turban vor allem bekannt durch seine Darbietungen und Einspielungen unbekannterer Musik und holte teils komplett verloren geglaubte Schätze ans Licht. Umso glücklicher schätzt sich der Virtuose, wie er selbst bekundet, heute einmal drei Werke der Standardliteratur vorzutragen. Die drei großen Violinsonaten von Johannes Brahms sind drei grundverschiedene Werke: die zart-vernebelt scheinende G-Dur-Sonate Op. 78 – welche ja auch Regen-Sonate genannt wird, was auf den Titel des dort zitierten „Regenlieds“ aus Op. 59 zurückgeht -, dann die klare und brillante ‚Meistersinger’-Sonate in A-Dur Op. 100 sowie die dunkel-herbe in d-Moll Op. 108. So entscheidet sich Turban, jedem der Werke eine eigene Stimme zu verleihen und folglich ein französisches, ein italienisches und ein deutsches Instrument, je aus einem anderen Jahrhundert und von jeweils einem äußerst namhaften Geigenbauer, zu spielen.

Den drei hochkarätigen Instrumenten entlockt Ingolf Turban immer neue, scheinbar nicht enden wollende Nuancen der Tongestaltung. Bei all dem vermeidet er allerdings dennoch die Extreme und kann die Musik vor effekthascherischen Oberflächlichkeiten bewahren, zu denen viele Virtuosen etwa in der dritten Sonate neigen. Die bewegten Sätze geraten zu keiner Zeit hastig oder überstürzt, das Tempo wirkt kontrolliert und bodenständig, und auch die ruhigeren Sätze driften nicht in überzogene Träumereien aus, was auch ganz untypisch für die robust-männliche Musik Brahms‘ wäre. Gerade bei der Phrasierung zeigt sich, dass Turban aus der Schule von Sergiu Celibidache stammt, denn er behält stets eine Natürlichkeit darin, was ausschließlich über genaueste Auslotung der Spannungs- und Intervallverhältnisse bewusst geschehen kann, wie es Celibidaches Phänomenologie lehrt. Höchst bemerkenswert ist das Vibrato Turbans, welches einmal nicht als bloße Verstärkung jedes einzelnen Tons dient, sondern in verschiedenen Schattierungen besondere und ansprechende Effekte aus bestimmten Passagen hervorlockt, während manche Stellen auch komplett ohne dieses Hilfsmittel auskommen können.

Spürbar ist die langjährige kammermusikalische Verbindung mit Gabriele Seidel-Hell, welche die anspruchsvollen Klavierparts souverän gestaltet. Beide Musiker empfinden genau denselben Tempoimpuls und lassen Tempoänderungen vollkommen synchron gefühlt entstehen. Nur an wenigen Stellen könnte Seidel-Hell ein wenig mehr in den Vordergrund treten und als gleichwertige Duettstimme agieren, anstatt im Hintergrund zu bleiben. Auch manchen Kontrast könnte sie noch etwas stärker hervorheben, gerade die rastlose Konfliktrhythmik oder plötzliche Wechsel von thematischem Material oder Harmonik könnten das fahl abschattierte Licht der Verhaltenheit verlassen. Abgesehen davon strotzt ihr Spiel von Energie und Vitalität, bleibt dennoch zart und eher hintergründig. Alles erhält eine enorme Lockerheit und Leichtigkeit, wobei auch sie nie ins impressionistische Extrem abgleitet und somit dem Geiste Brahms’ ziemlich gerecht wird.

Wie Turban richtig vermutet, erwartet jeder im Publikum als Zugabe das Scherzo der F.A.E.-Sonate als einzigen weiteren Satz für diese Besetzung von Johannes Brahms. Doch genau deshalb spielen er und Seidel-Hell es nicht, sondern lassen den Abend gemütlicher auslaufen, und zwar mit einem innig-empfundenen und genießerisch-wachen langsamen Satz von Robert Schumann.

Das Publikum liebt und dankt es sehr. Bleibt nur, den Jubilar zu beglückwünschen und auf die nächsten dreißig Jahre gespannt zu sein.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Arabesken, Fantasien, Andenkrieger

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Am Montag, den 9. April spielte die italienische Pianistin Ottavia Maceratini in der ‚série jeunes’ des Tonhalle-Orchesters Zürich ihr Debütkonzert im Kammermusiksaal der Zürcher Tonhalle. Nach der ersten Hälfte mit Schumanns Arabesque, Mozarts Rondo in a-moll und Schumanns Fantasie folgten Ravels Sonatine, zwei ‚Essays in the Modes’ von John Foulds, Kaikhosru Shapurji Sorabjis Pastiche über das Lied des Hindu-Händlers aus Rimsky-Korsakovs Oper ‚Sadko’ und die Uraufführung der großen, hochvirtuosen Fantasie ‚Guerrero Andino’ des peruanischen Meisterpianisten Juan José Chuquisengo.

Die ‚série jeunes’ des Zürcher Tonhalle-Orchesters ist eine Beobachtungsstätte für aufstrebende junge Künstler und wird von einem entsprechend fachkundigen, hochinteressierten, natürlich auch kritischen Publikum besucht. Und der Zuspruch zu diesen Konzerten ist ausgezeichnet, wie auch an diesem Abend zu spüren, der durchaus furios und denkwürdig war. Ottavia Maria Maceratini ist eine Musikerin, die nicht um jeden Preis Karriere machen möchte. Es geht ihr um die Musik und um die Begegnung mit dem Publikum, und eben nicht um den demonstrativen Ego-Trip, was ihrem Spiel anzumerken ist. Eine phänomenale Technik ist natürlich die Voraussetzung, um ‚ganz oben’ mitzuspielen, und ein kultivierter Klang und Stilbewusstsein sollten dazugehören, sind aber keine Selbstverständlichkeit. Bei ihr ist das alles in schönster Weise gegeben. Vor einem Jahr gab sie ihr Debüt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin in der deutschen Erstaufführung von John Foulds’ einzigem, großartigem Klavierkonzert ‚Dynamic Triptych’, davor war sie unter anderem mehrfach mit Lavard Skou Larsen, einem der feinsten Dirigenten unserer Zeit, aufgetreten, hatte mit Gidon Kremer und der Kremerata Baltica beim Schleswig Holstein Musik Festival debütiert, mit dem Nowosibirsk Philharmonic und dem Münchener Kammerorchester konzertiert, und vieles weitere. Nun also ihr erster Zürcher Auftritt, der von großem Erfolg beim Publikum bekrönt wurde.

Sie begann mit Robert Schumanns Arabeske op. 18, vielleicht etwas flüchtig im Entwurf, dabei mit bezauberndem Feinsinn dargeboten. Es ist nicht einfach, über die zwei lyrisch kontrastierenden Zwischenspiele hinweg den großen Bogen entstehen zu lassen, doch die erwärmende Intimität des Ausdrucks nahm sofort gefangen. Es folgte Mozarts Rondo in a-moll, in der organischen Entfaltung über die weite Strecke und den vertrackten dynamischen Vorschriften durchaus ein besonders anspruchsvolles Werk von 1787, und es waren außergewöhnliche Klarheit und feinnervige Phrasierungskunst zu bestaunen. Ottavia Maria Maceratini ist hier schon einen weiten Weg der Bewusstwerdung gegangen, sehr ungewöhnlich in der die Strukturen auffächernden Ernsthaftigkeit für einen jungen Menschen. Auch klanglich fesselt ihr perlendes, niemals verwaschenes Spiel, das der Spur einer kontinuierlichen Durchdringung folgt, die keine nichtssagenden Formelhaftigkeiten kennt. Es ist sehr nahe dran an einem idealen Mozart, auch hinsichtlich des graziös gemessenen Tempos. Was noch fehlt, ist in entscheidenden Momenten eine gewisse Ruhe, das Auskosten des atmenden Gesangs. Und zugleich ist so erfreulich, dass bei ihr nicht die geringste Gefahr sentimentalen, sich selbst zelebrierenden Stillstands besteht. Diese Musik bewegt sich fortwährend auf einem schmalen Grat, und wir dürfen hoffen, dass es ihr gelingt, einen vollendeten Ausgleich zwischen Vorwärtsdrängen und subtilem Innehalten im Dienste der Gesamtform zu finden. Das ist ein Prozess, der Zeit braucht, und dem sich die wenigsten Musiker stellen.

Gleiches gilt auch für Robert Schumanns gewaltige dreisätzige Fantasie C-Dur op. 17 von 1835-36. Hier ist vorauszuschicken, dass Frau Maceratini eine Darbietung gelang, die nicht nur zum Besten gehört, was heute in Sachen Schumann zu vernehmen ist, sondern auch, dass sie dieses komplexe und gefürchtete, so viel gespielte Meisterwerk mit einer technischen Vollendung spielte, wie das kaum je geschieht. Auch die extremsten Schwierigkeiten gelangen ihr, ohne Verzerrungen des Tempos, mit phänomenaler Leichtigkeit. Nie knallt ihr äußerst kraftvolles Forte, alles ist klar und rund, legt die Polyphonie offen, folgt den harmonischen Impulsen, lässt die Musik mit unwiderstehlichem Charakter sprechen. Da fehlt nicht viel! Einzig möchte ich anmerken, dass der Mittelteil des Kopfsatzes zwischendurch zu sehr beschleunigt, dass auch im Mittelsatz einige Male in der Hitze des Gefechts das Tempo etwas davonzulaufen tendiert, dass im Finale die letzte Beruhigung etwas spät kommt. So ist auch hier der einzige kardinale Kritikpunkt, mehr Raum für die Ruhe zu lassen, die natürlich nichts mit Ermattung zu tun hat, sondern mit Innigkeit, die potentiell ohnehin da ist, jedoch noch nicht wirklich zu ihrem Recht kommt.

Ravels Sonatine erklang mit der pantomimischen Zerbrechlichkeit, die so bezeichnend für diese Musik ist, wunderbar stilisiert und natürlich zugleich in den Details – auch den formbildenden Tempokontrasten, und dort, wo es angesagt ist, den Blick in die Abgründe offenbarend. Auch hier: gelegentlich noch mehr Ausatmen lassen, der lyrischen Gegenwelt mehr Raum geben, und die schnelleren Tempi nicht davoneilen lassen.

Zwei der sieben 1926 in Paris komponierten ‚Essays in the Modes’ op. 78 von John Foulds (1880-1939) schlossen sich an, was programmatisch passender nicht hätte gewählt werden können: das Passacaglia-artig lyrisch kontrapunktierende ‚Ingenuous’ und das herrlich verinnerlichte, in vier ‚Strophen’ auf archaischen Pfaden feierlich dahinschreitende ‚Strophic’. Es ist unglaublich, welchen Reichtum Foulds einer niemals modulierenden Musik in jeweils einem einzigen Modus entlockt. In solchen Werken erweist er sich als der substantiellste und transzendenteste englische Komponist seiner Zeit, durchaus mit Ravel und Bartók auf Augenhöhe, und hier kann sich die lyrisch-introvertierte, klangsensitive Begabung der Pianistin wunderbar entfalten.

Dann Sorabji, mit seinem ‚Pastiche on the Hindu Merchant’s Song from Sadko by Rimsky-Korsakov’ – wie eine Edelstein-glitzernde Episode aus Tausendundein Nächten, von der Pianistin herrlich abschattiert in der immer vernehmlichen, reich ornamentierend umkleideten einfachen Gesangsmelodie.

Mit Spannung wurde die abschließende Uraufführung des Peruaners Juan José Chuquisengo erwartet. Er schrieb nicht den ursprünglich angekündigten Tango, sondern eine Gedächtnismusik für einen verstorbenen Freund aus den Anden, dessen Andenken das Werk gewidmet ist: ‚Guerrero Andino’. Diese große Fantasie ist nicht nur eine zugleich höchst dankbare gigantische pianistische Herausforderung, sondern besticht bei ihrem immensen harmonischen Reichtum, ihrer melodischen Schönheit, abwechslungsreichen rhythmischen Vitalität und unkonventionellen kontrapunktischen Eleganz vor allem dadurch, dass die eigentlich rhapsodische Anlage auf organisch kunstreichste Weise ineinander verwoben ist. Es ist keine ‚moderne Musik’ in dem Sinne, in welchem sie in unserer subventionierten Kulturlandschaft nach wie vor hartnäckig verstanden wird, dafür ist sie nicht nur viel zu schön, sondern auch in der Subtilität viel zu neuartig. Eine unglaublich kraft- und prachtvolle, farbenreiche, lebendige, innerlich reiche Musik, die endlos scheinende Räume eröffnet und das Gefühl einer unerschöpflichen Freiheit atmet. Es kann gut sein und ist zu wünschen, dass dieses Werk ein Klassiker der Soloklaviermusik in unserer Zeit wird. Juan José Chuquisengo beweist darin auch sozusagen ganz nebenbei, dass er nicht nur einer der feinsten Pianisten unserer Tage ist, sondern auch ein wahrhaft großartiger Komponist (am 22. April wird im Freien Musikzentrum in München seine symphonisch angelegte Piazzolla-Hommage ‚Tango-Metamorphosen’ für Streichquintett uraufgeführt, die bald darauf in Augsburg durch die Bayerische Kammerphilharmonie auch in der Streichorchesterfassung erstmals erklingen wird). Ottavia Maria Maceratini hat mit ‚Guerrero Andino’ ein gewaltiges Werk an den Schluss ihres Programms gesetzt, das ihrer Ausnahmebegabung in schönster Weise entspricht und das Publikum in Begeisterung versetzt. Sie dankt für den Applaus mit einer so wundervollen wie hochoriginellen Zugabe, dem ‚Persian Love Song’ von John Foulds, in verfeinertster Wiedergabe. Möge sie bald wieder in Zürich zu hören sein.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, April 2016]

Maeckel auf der Probe

„Liszt plus“ lautet der Titel des Konzerts von Professor Gregor Weichert am Nachmittag des 3. April 2016 im Johannissaal des Schloss Nymphenburg in München. Das Konzert der Reihe „Klavierspielkunst – Stationen der Musikgeschichte“, veranstaltet von Jürgen Plich, enthält Werke von Liszt, nämlich zwei Legenden, Die Zelle in Nonnenwerth und die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium, sowie von Louis Vierne Le glas und von César Franck Prélude, Choral et Fugue. Zwei Intermezzi von Johannes Brahms, dessen Todestag begangen wird, bilden die Zugabe.

Vor einiger Zeit besprach ich für The New Listener das Buch „Das organische Klavierspiel“ von O. V. Maeckel, eine in Vergessenheit geratene Methode eines zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkenden und damals hoch angesehenen Klavierpädagogen, der versuchte, die noch nie in Worte gefasste Methode der großen Klaviervirtuosen wie Franz Liszt zu entschlüsseln und authentisch zu unterrichten. Herausgeber des im Staccato-Verlag erschienenen Reprint ist Gregor Weichert, emeritierter Professor in Münster, der selber nach Maeckels Methode spielt und lehrt. So lasse ich mir natürlich die Chance nicht nehmen, seinem Konzert im Münchner Schloss Nymphenburg beizuwohnen und die praktische Umsetzung von Maeckels Methode unter die Lupe zu nehmen.

Wie auch der Pädagoge des frühen 20. Jahrhunderts ist Weichert ein großer Anhänger von Franz Liszt und Erforscher auch von dessen geistig-spiritueller Seite. Da verwundert nicht, dass sowohl Liszt als auch das Religiöse das Konzertprogramm einem roten Faden gleich durchziehen. Zwei Legenden von großen Heiligen, die Zelle in Nonnenwerth, und eine Polonaise aus dem lediglich als Klavierparticell vorliegenden Stanislaus-Oratorium des Chopin-Freundes machen den ersten Teil des Recitals aus, Francks Prélude, Choral et Fugue sowie das Totengeläut, Le glas, des für seine Orgelsymphonien berühmten Franck- und Widor-Schülers Louis Vierne den zweiten. Kurze Moderationen Weicherts vermitteln leger und gekonnt sein fundiertes Wissen und tiefes Verständnis der gespielten Werke.

Der Klang verzaubert und erstaunt gleichermaßen von der ersten Sekunde an: Professor Gregor Weichert entlockt dem Broadwook & Sons Full Concert Grand von 1896 einmalige Schattierungen und einen sauberen, klaren und vollendet abgerundeten Ton. Tatsächlich manifestiert sein Spiel nach der Klaviermethode von O. V. Maeckel eine ganz eigene Art des Anschlags, der ein unerwartetes Hörerlebnis hervorruft. Besonders auffällig sind hierbei die weittragenden Gesangslinien (die 3. Spielart nach Maeckel) sowie die genauestens durchbalancierten Akkorde (wovon Maeckels zweites Kapitel handelt). Zu keiner Zeit scheint sich Weichert sonderlich anzustrengen, er geht nur mit dem nötigen Druck in die Tasten hinein, wodurch niemals Härte entsteht, alles geschieht aus der Entspanntheit der Muskeln und aus der natürlichen Schwerkraftenergie heraus.

Darüber hinaus ist für das Spiel von Gregor Weichert innere Ruhe und Gelassenheit bezeichnend, aus welcher heraus die Musik entstehen kann. Locker und entspannt nimmt Weichert selbst die virtuosesten Passagen und lässt sie in aller Einfachheit entstehen, ohne isolierte, nachdrückliche Effekte nötig zu haben.

Ein Stück, das noch besonders hervorgehoben werden sollte, ist die Polonaise aus dem Stanislaus-Oratorium von Franz Liszt. Welch eine fortschrittliche harmonische Kraft in diesem Stück liegt, das ist wirklich faszinierend – niemals hätte man bei solch einer Musik an Franz Liszt gedacht, viel eher an einen späteren Neuerer. Besonders manche scheinbar falschen Noten stechen hervor, die im Gesamtkontext jedoch einen Sinn ergeben und nur punktuell fast wie „Blue Notes“ wirken. Nicht weniger beachtlich sind aber auch die restlichen Werke: die beiden programmbeladenen Legenden, Viernes düsteres und stimmungsgeschwängertes Le glas, welches wohl niemanden kalt lassen kann – vor allem nicht in solch einer reflektierten Darbietung -, und die chromatisch schillernde Virtuosität der Musik von César Franck, die rein musikalischen Zwecken dient. Unfassbar fesselnd geraten insbesondere die beiden Intermezzi von Johannes Brahms, welche es als Zugabe gibt, wie gewohnt in innerer Lockerheit und meditativer Ruhe – und umso stärker mit echt empfundenem Gefühl und Reife der Gestaltung.

So leitet Weichert direkt über in den nächsten Klaviernachmittag, der am 8. Mai mit seinem ehemaligen Schüler und nunmehr Kollegen sowie Veranstalter Jürgen Plich stattfinden wird. Bei „Brahms plus“ gibt es dessen dritte Sonate sowie die 3 Phantasiestücke Op. 111 von Robert Schumann. Auf dieses Konzert bin ich sehr gespannt.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Trier blickt gen Norden

Die Manfred-Ouvertüre Op. 115 von Robert Schumann, das Klavierkonzert a-Moll Op. 16 Edvard Griegs sowie die dritte Symphonie Op. 44 (ebenfalls in a-Moll) von Sergej Wassilijewitsch Rachmaninoff stehen auf dem Programm des sechsten Sinfoniekonzerts des Philharmonischen Orchesters der Stadt Trier unter Leitung von Generalmusikdirektor Victor Puhl am 31. März 2016. Solist des im Theater Trier stattfindenden Konzerts ist der aus Moldawien stammende Alexander Paley.

Ein anspruchs- und gehaltvolles Programm wählt das Philharmonische Orchester der Stadt Trier für sein 6. Sinfoniekonzert am 31. März. Schon die eröffnende Manfred-Ouvertüre Op. 115 ist ein tiefgreifendes Seelengemälde und erfüllt von Hintergründigkeit. Die düstere Geschichte von Manfred, der sich durch Inzest mit Astarte – vermutlich, doch nicht im Text von Lord Byron wörtlich zu finden, seiner Halbschwester – schuldig machte und so ihren Tod verursachte, läuft durch Magie, Geister und Dämonen unweigerlich auf seinen Tod zu und birgt unermesslichen Stoff zur musikalischen Umsetzung. Schumann schuf daraus ein epochales Melodram-Meisterwerk, das in der Ouvertüre eine gedrängte psychologische Zusammenfassung erfährt. Trotz des vorgezeichneten Es-Dur steht sie eigentlich in es-Moll, todnah und von innerer Zerrissenheit. Nicht weniger ein Meisterwerk ist das einzig vollendete der mindestens vier geplanten Solokonzerte des Schumannverehrers Edvard Hagerup Grieg. Nicht zu Unrecht ist der Geniestreich des in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts stehenden Norwegers eines der meistgespielten Klavierkonzerte aller Zeiten, und dies trotz der erheblichen Selbstzweifel Griegs an seiner Musik, die ihn dazu brachten, auch dieses Werk mehrfach zu revidieren. Seit der Uraufführung nicht gleichermaßen beliebt ist die dritte Symphonie a-Moll Op. 44 von Sergej Rachmaninoff, fast 30 Jahre nach seiner zweiten Symphonie entstanden. Tatsächlich weist sie wohl doch ein paar Längen auf und besitzt nicht ganz die Stringenz seiner Klavierkonzerte oder der Symphonischen Tänze Op. 45, die sein letztes Werk werden sollten.

Die erste Konzerthälfte ist vor allem durchzogen von Temposchwankungen, die zum Teil äußerst irritierend wirken. Grund dessen sind hauptsächlich die ausladenden und nicht ausschließlich zu musikalischen Zwecken eingesetzten Gesten von Generalmusikdirektor Victor Puhl, die ihm teilweise wörtlich genommen über den Kopf zu wachsen scheinen. So wird es schwierig, die wie magisch miteinander verschweißten Übergänge mitzuverfolgen oder den unweigerlich aufs Ende hin verlaufenden Fluss zu verspüren. Einige klanglich ansprechende Momente gibt es schon, etwa das Versterben vor dem letzten kurzen Aufbegehren gerät recht stimmungsvoll. Insgesamt gelingt es Victor Puhl auch recht gut, den Unterstimmen zur Geltung zu verhelfen und eine stetige polyphone Wirkung zu erreichen, die in allen der dargebotenen Werke durchaus vernehmlich ist, doch von vielen Dirigenten als reine Begleitwirkung vernachlässigt wird.

Eine absolute Premiere findet beim Klavierkonzert a-Moll Op. 16 Edvard Griegs statt: Alexander Paley übernimmt erstmals in diesem Werk öffentlich den Solopart nach jahrzehntelanger Konzerttätigkeit. Rückblickend ist es unvermeidlich, zu sagen: Hätte er es doch mal lieber sein lassen. Der durchaus informative Einführungsvortrag vor dem Konzert warnt bereits, Paley habe einige Eigenheiten und bringe seine persönliche Note in die vorgetragenen Werke. Dass sich diese „Eigenheiten“ in komplett unmusikalischen Freiheiten, vollkommen unpassenden ständigen Rubati und an den Haaren herbeigezogenen Akzentuierungen ausdrücken, war dann doch ernüchternd. Es ist dem Dirigenten unmöglich, den wirren Temposchwankungen zu folgen und der brutalen und gehackten Lautstärke etwas nur halbwegs Passendes entgegenzubringen. Lediglich am Ende des zweiten Satzes scheint Paley zu merken, wie sinnlos und stupide er an der Musik vorbeigeht, und lässt sich einmal von den Noten tragen, statt sie frappierend grotesk zu entstellen. Zu Beginn des Finales ist dies jedoch schon wieder vergessen und er schmettert statt dem schwungvollen Halling einen tosenden Säbeltanz – ein lauter „Hayja“-Schrei seinerseits verstärkt dieses Zerrbild überdies. Von mir unerklärlichen Bravo-Ausrufen angespornt, rattert er noch eine kurze Zugabe herunter, die allerhöchstens als erträglich bezeichnet werden kann. Das Orchester bemüht sich wirklich, etwas Musikalität einzubringen – Paley unterbindet dies resolut und mit Erfolg.

Ein vollkommen anderes Bild bietet sich nach der Pause, Rachmaninoff scheint wesentlich mehr geprobt zu sein als Schumann, und dies ist hörbar! Durch lebendige Hervorbringung der Nebenstimmengeflechts glänzt das umstrittene Werk in Plastizität und Vielseitigkeit, wodurch auch einige der bekannten Längen gar nicht so lang erscheinen. Auch ist der Klang nun wesentlich ausgewogener als zuvor. Zwar bleiben noch immer einige eher blässliche Stellen und die bereits beanstandeten unfunktionellen Temposchwankungen, doch ist alles in allem eine enorme Steigerung gegenüber der ersten Konzerthälfte offenkundig.

Gab es zwar in der ersten Hälfte doch einige Komplikationen, zumal vom Pianisten ausgehend, so kann doch das Schlussstück einigermaßen überzeugen, nicht zuletzt einiger Musiker wegen, die mit ihrem Können und ihrer Einfühlung in teils glänzenden Soli das Publikum in innere Bewegung bringen.

[Oliver Fraenzke, April 2016]

Mehta macht Mozart – 3 Mal

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Drei Mal Wolfgang Amadeus Mozart gibt es am 22., 24. und 26. März 2016 in der Philharmonie im Gasteig. Zubin Mehta dirigiert die Münchner Philharmoniker und den Philharmonischen Chor München in der Serenade für 12 Bläser und Kontrabass B-Dur KV 361 „Gran Partita“, dem Requiem für Soli, Chor, Orgel und Orchester d-Moll KV 626 in der Fragmentfassung ohne die Vervollständigungen seiner Schüler Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler sowie die Motette „Ave verum corpus“ KV 618. Der Chor ist von Andreas Herrmann einstudiert, die Solisten sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser.

Seit 2004 bereits darf sich Zubin Mehta als erster Ehrendirigent der Münchner Philharmoniker in deren über 120-jähriger Geschichte bezeichnen. Nun ist er wieder einmal bei „seinem“ Münchner Orchester und widmet drei Konzertabende voll und ganz Wolfgang Amadeus Mozart, der im Januar diesen Jahres 260 Jahre alt geworden wäre.

Ungewohnt leer ist die Bühne in der ersten Hälfte des Konzerts am 24. März, für welches ich, für The New Listener, eine Karte in den mittleren Rängen erworben habe. Das unausgefüllte Podium hängt allerdings nicht mit einer Krankheitswelle bei den Musikern zusammen, sondern mit der kammermusikalischen Besetzung des ersten Werks: Lediglich dreizehn Musiker verlangt die Serenade B-Dur KV 361 mit dem Titel „Gran Partita“. Die Philharmonie im Gasteig kommt der kleinen Aufstellung bedauernswerterweise überhaupt nicht entgegen, der Klang erscheint bereits in den Blöcken G, H, I und J – immerhin zur ersten und zweiten Preiskategorie gehörend – distanziert und fahl. Vermutlich haben die vorderen Blöcke, auch durch die tiefgestellten Klangsegel, eine annehmbarere Akustik, was allerdings auch auf Kosten der weiter hinten gelegenen Plätze geht. Zubin Mehta dirigiert Mozart mit kleinen und nur auf das Nötigste beschränkten Bewegungen, jegliche übermäßige Zutat ist ihm fremd. Das kommt dem Zusammenspiel und der Präzision seines Ensembles zugute, die Musiker wirken durchwegs aufeinander abgestimmt und erstaunlich synchron, was bei reiner Bläseraufstellung (plus dem hinzugefügten Kontrabass) alles andere als einfach ist. Alle Mitwirkenden können ihr enormes Können in den solistisch gesetzten Passagen unter Beweis stellen – mehr als einmal wird die Serenade in der Literatur als Konzert für dreizehn Solisten bezeichnet. Besonders in den leisen Passagen zeigen Bläser und Kontrabass einen enormen Reichtum an Klangschattierungen, doch gerade in den extrovertierten Momenten könnten sie etwas mehr aus sich herausgehen und bräuchten nicht in der Zurückhaltung zu verharren. Das beeinflusst nämlich nicht zuletzt den Farbenreichtum, der durch den Raum schließlich eh bereits gedämpft ist.

Nach der Pause füllt sich die Bühne, nun befinden sich ein für Mozart’sche Verhältnisse volles Orchester, ein Chor, ein Orgelpositiv und vier Gesangssolisten auf der Bühne. Im Rahmen dieser Konzerte wird das Fragment gebliebene Requiem KV 626 gespielt, das letzte Werk des großen Genies. Auf Geheiß seiner Witwe Constanze wurde das Werk zeitnah nach seinem Tod von seinen Schülern Franz Xaver Süßmayr und Joseph Eybler vervollständigt, sprich, das nur acht Takte umfassende Lacrimosa vollendet und Domine Jesu, Hostias, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei nach den verbleibenden Skizzen konstruiert. So konnte das Requiem dem anonym gebliebenen Besteller überbracht werden, um den sich nach wie vor Mythen ranken, etwa, er sei an dem Ableben Mozarts schuldig oder zumindest daran beteiligt. Die Solisten im Münchner Gasteig sind Mojca Erdmann, Okka von der Damerau, Michael Schade und Christof Fischesser, sie alle weisen ein gutes Gespür für die Musik auf und singen ihre Soli mit Bravour. Lediglich Erdmann und Fischesser haben ein zu stur mechanisches und durchgängiges Vibrato, das dosierter und feinfühliger eingesetzt hätte werden müssen, vor allem auch, um beim Zusammenwirken aller vier Solisten durch die große Amplitude entstehende mikrotonale Spannungen zu vermeiden. Eine besonders außergewöhnliche und ansprechende Stimme weist Michael Schade auf, dessen Tenor als markig und prägnant sogleich erfreut. Chor und Orchester sind hier spürbar in ihrem Element, sie veranstalten ein sprühendes Feuerwerk an Farben und Ausdruck. Zubin Mehta bringt eine feine und auch in dichter Polyphonie durchhörbare Linie zum Vorschein, die wichtigsten Stimmen sind linear mitverfolgbar. Er achtet minutiös auf den großen, die Sätze zusammenhaltenden Bogen und verliert dennoch nicht das Detail und das Gefühl für das Wechselspiel aus Spannung und Entspannung.

Welch eine unfassbare Wirkung entsteht, wenn das Lacrimosa nach lediglich acht Takten zerfällt, die Soprane noch ohne ihre Mitstreiter weitersingen, aber auch sie nach zwei Takten ersterben! Das Wissen, dass dies das abrupte Ende eines der größten Kapitel der Musikgeschichte darstellt, lässt einen schaudern – der Abbruch ist wie das Zufallen des Sargdeckels, ein so unumkehrbares wie unaufgelöstes Ende. Solch eine Wirkung ist ansonsten nur noch im letzten Contrapunctus von Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ zu erleben, jenem unübertroffenen polyphonen Werk, das nach ungefähr zehnminütiger Spielzeit plötzlich mitten in der Ausführung ausgerechnet des B-A-C-H-Sujets abbricht …

Direkt im Anschluss gibt Mehta noch die kurze Motette Ave verum corpus, die doch noch ein versöhnliches Ende bringt und den Hörer nicht in der Unaufgelöstheit lässt. Dennoch bleibt dieses enorme Gefühl eines schicksalhaften Endes bestehen und wird den Hörer auch noch aus dem Saal heraus begleiten. Nicht zuletzt, da Mehta das Requiem vor der Aufführung all jenen gewidmet hat, die auf der Welt leiden und hungern müssen, und dafür auf den Applaus verzichtet. Ohne das wohl verdiente „Brot des Künstlers“ verlässt er die Bühne, der Hörer verbleibt – überwältigt von dieser Musik.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Aus der weiblichen Perspektive

Im Rahmen des Festivals Art in Perspective spielt Yamilé Cruz Montero ein Programm mit „Komponistinnen aus aller Welt“. Die meisten der gespielten Werke sind Uraufführungen, die für das Festival in Auftrag gegeben worden sind. Die Komponistinnen sind Miriel Cutiño und Keyle Orozco aus Kuba, Tania León aus Kuba / USA, Elena Tarabanova aus Russland / Deutschland, Verena Marisa aus Deutschland, Anna Korsun aus Ukraine / Deutschland, Leticia Armijo und Lilia Vázquez aus Mexiko und Diana Syrse aus Mexiko / Deutschland.

Die Frauen in der Zeitgenössischen Kunst, darum dreht sich das neu gegründete Festival „Art in Perspective“ von Diana Syrse und Eva Schabatin. An zwei Tagen werden Frauen in vielen Bereichen der Kunst präsentiert sowie ihre Probleme und Benachteiligungen dargestellt. Im Pyramidensaal des neuen Gebäudes der KHG-TUM in der Karlsstraße 32 in München gibt es Tanz, Musik, Ausstellungen und Podiumsrunden.

In der ersten Programmhälfte am 11. März besteht der Ablauf hauptsächlich aus einer großen Podiumssitzung, in der Frauen aus verschiedenen Zweigen der Kunst vorgestellt werden und über ihre Probleme und Herausforderungen als Künstlerinnen sprechen sowie darüber, warum sie trotz der schwierigen Voraussetzungen ihr Leben der Kunst widmen. Zuvor werden allerdings von Diana Syrse noch zwei CDs der Reihe „Colección Murmullo de Sirenas“ beworben, welche ausschließlich Musik von Komponistinnen Mexikos beinhalten. Leider ist die Zeit nicht ausreichend, um in die Musik auch hineinzuhören, doch kann man sie direkt an der Abendkasse erwerben und nach ausgiebigem Hörgenuss derselben lässt sich sagen, dass darauf wirklich interessante und einprägsame moderne Musik zu hören ist, die sich auch empfehlen lässt. Auch gibt es noch ein kurzes Klavierintermezzo, bei welchem die elfjährige Viktoria Vanninger eine kurze popmusikalische Eigenkomposition vorträgt, die schon im jungen Alter ein erstaunliches Gespür für Harmoniechangierungen aufweist.

Nach der Pause beginnt das Klavierrezital von Yamilé Cruz Montero, die sich der extremen Herausforderung stellt, zehn ganz neue Werke an einem Abend zu spielen, ohne auch nur ein etabliertes und allgemein bekanntes Werk hinzuzufügen. Das Konzert beginnt mit der „Pieza Rapsodiosa“ von Miriel Cutiño (Kuba), einem virtuosen und zerrissenen Stück von höchster Schwierigkeit, das sich als klangschön und eingängig zeigt, wenngleich auch ohne die erwarteten kubanisch-rhythmischen Elemente und ohne besonderen inneren Zusammenhang. „Der Kranke“ von Elena Tarabanova (Russland/Deutschland) folgt, ein noch zersprengteres Werk über den Zwiespalt eines sterbenden Körpers und der auch nach dem Tod noch unruhigen Seele, wobei die Musik zwischen Popmusikelementen und herben Dissonanzen hin und her schwankt. Die vergleichsweise anerkannteste Musik stammt von Tania León (Kuba/USA), heute bereits eine Komponistin älterer Generation, die sich zumindest in ihrem Heimatland einer breiteren Bekanntheit erfreut: „Tumbao“, eine knackig prägnante Miniatur von brillantem Rhythmus, beißendem Witz und Humor, sowie „Momentum“, etwas ruhiger, doch in ähnlichem Stil. Das nächste Stück ist quasi ein Heimspiel, Verena Marisa studierte in München Komposition und Filmmusikkomposition, ihr „between lives“ zeigt entsprechend eine besonders hohe handwerkliche Beherrschung auch der neuesten Klangerzeugungsmöglichkeiten, es ist das freieste und geräuschlastigste Stück des Abends. Ganz das Gegenteil ist „De Chismes y Confidencias“, das eher durch Traditionsverbundenheit aufwartet. In dieser Komposition von Keyla Orozco (Kuba) herrscht auch der musikalische Scherz vor, denn sie bildet nicht nur ein Orchesterkonzert ab, sondern auch die Geräusche des Publikums davor sowie das Auftreten und Anklopfen des Dirigenten. Für die Pianistin wohl das anstrengendste Werk des Abends ist „Acqua“ von Anna Korsun (Ukraine/Deutschland), ein aus spärlichem Material zusammengepuzzeltes Stück aus nicht enden wollenden Glissandi und eher willkürlichen gesetzten Akkorden. Wieder traditionsverbunden und eine das typische Landesgefühl evozierende Musik ist „Andiamos“ der Mexikanerin Leticia Armijo, welches in herrlicher Verträumtheit den Hörer in den Bann zieht. „Scratch Cat!“ ist eine rockige Toccata der Festivalveranstalterin Diana Syrse, voll von vorwärtstreibenden Rhythmen und wohl die interessanteste der Uraufführungen des Abends. Für die letzte Komposition, „Destellos des Alba“ der Mexikanerin Lilia Vásquez, holt sich die Pianistin noch einige Mitglieder des Ensemble Zeitsprung unter dem Dirigat von Markus Elsner ins Boot (Dirigent, Violinist und Flötist sind die einzigen drei Männer, die heute auf der Bühne stehen). Das Ensemble ist von höchster Qualität und von einer besonderen Klangverliebtheit, die jede Phrase auf natürliche Weise entstehen lässt. Gemeinsam schweben die Musiker in den harmonischen Phantasien dieser Morgenidylle, die den heutigen Abend beschließt.

Eine wahre Entdeckung ist die Pianistin Yamilé Cruz Montero, die durch hochmusikalisches und sehr feinfühliges Klavierspiel beeindruckt. Trotz des leicht schepprigen und nicht ganz lupenrein gestimmten Flügels erschließt sie ungeahnte Nuancen in der Musik. In all den divergierenden Kompositionen und bei dem ganz unterschiedlichen musikalischen Gehalt sucht und forscht sie, um überall das Bestmöglichste entstehen zu lassen. Sogar dem glissandoüberlaufenden Acqua entlockt sie feinste Schattierungen und eine perlige Geschmeidigkeit, die ihresgleichen sucht. Fantastisch ist Cruz Monteros Gespür für Rhythmik, die stechend scharf und trotz immenser Herausforderungen vollkommen präzise ist. Respekt gebührt ihr auch alleine schon für die Tatsache, sich so sehr für Neues und Unbekanntes einzusetzen, eine solche Anzahl an Uraufführungen von hoher Komplexität auf sich zu nehmen für einen Auftritt in kleinem Rahmen.

So ist der Abend des elften März eine wahre Fundgrube von Neuentdeckungen und interessanten Erfahrungen. Gerade die Stücke von Tania León und Diana Syrse werden mir persönlich noch länger im Kopf bleiben – und natürlich die wunderbare Pianistin.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Ein Programm, zwei Dirigenten

Das erste Programm der Munich Young Classical Players wird gleich an drei kleinen Spielstätten in München dargeboten, am 6. März in der Moor Villa, am 10. März im Bürgersaal Fürstenried sowie am 17. März im Kleinen Theater Haar. Für The New Listener höre ich die zweite Vorstellung mit einem Programm bestehend aus Joseph Haydns Ouvertüre in D Hob. Ia:7 und seiner Symphonie Nr. 87 in A-Dur Hob. I:87, der Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 von Wolfgang Amadeus Mozart und der 5. Symphonie in B-Dur D 485 von Franz Schubert. In der ersten Hälfte wird das Dirigat von Sergey Lunev übernommen, die Symphonien von Haydn und Schubert leitet Maximilian Leinekugel.

Die Munich Young Classical Players wurden dieses Jahr erst gegründet von den beiden Dirigenten Sergey Lunev und Maximilian Leinekugel aus Studenten der Münchner Musikhochschule und anderen Musikern mit (beziehungsweise: in) hoher musikalischer Ausbildung. Ziel ist es, auch in kleinen Konzerthäusern Musik auf spieltechnisch hohem Niveau aufzuführen – Zentrum dabei soll vorerst München bleiben.

Spieltechnisch liegt die Qualität tatsächlich recht weit oben, die Musiker sind größtenteils auf einem beachtlichen Niveau und halten trotz der kurzen Zeit, die das Kammerorchester besteht, erstaunlich gut zusammen. Die Besetzung ist ziemlich klein, es gibt nur je drei erste und zweite Geigen, die Kontrabasssektion besteht gar aus nur einem einzigen Spieler, dafür ist ein ziemlich vollständig besetzter doppelter Bläsersatz vorhanden. Diese Ungleichheiten der Aufstellungen werden jedoch gut kaschiert, so dass das Verhältnis erstaunlich ausgewogen erscheint. Der Klang ist entsprechend recht trocken, da sich drei Geigen pro Stimme schlecht mischen, was durch große Präsenz und größtenteils reine Intonation wettgemacht wird. Besonders hervorzuheben ist zweifelsohne der grandiose Kontrabassist, der dem ganzen Streicherapparat eine solide Klanggrundlage schenkt, sein spiel ist exakt und sauber, auch gehört er zu den wenigen Streichern, die das Vibrato einmal vernünftig einsetzen (ein übermäßiges Vibrato ist bekanntlich der ständige Begleiter von vor allem hohen Violinen und Celli, letztere meist mit noch größerem und störenderem Ambitus). Auch der gesamte Bläserapparat glänzt durch Präzision und durch einen gediegenen Klang.

Nach der kurzen, aber typisch Haydn’schen Ouvertüre in D wagt sich das frisch gegründete Orchester unter Leitung von Sergey Lunev direkt an Mozarts Symphonie Nr. 40 in g-Moll, ein vielgespieltes und somit mit hohen Erwartungen versehenes Stück mit hohen technischen und inhaltlich-musikalischen Anforderungen. Dieses Werk des späten Mozart wird durch seinen dunklen und teils doppelbödig erscheinenden Charakter ausgezeichnet, es wirkt nur bei genauestem Verständnis von Dynamik, Phrasierung und Tempi. Sergey Lunev dirigiert es vor allem aus den Unterarmen heraus, dennoch mit ausladenden Gesten, und spornt das Orchester damit immer wieder an; seinem Schlag ist leicht zu folgen. Das Tempo gerät jedoch immer wieder ins Bröckeln und weist Inkonsistenzen auf, das Andante ist um einiges zu schnell, dafür fällt die Geschwindigkeit im Trio des Menuetts rapide ab. Das eh schon schnell begonnene Finale (eine Herausforderung vor allem für die Streicher) wird immer noch rasender, was es den Kammerorchestermusikern nicht einfach macht, da noch mitzuhalten. Obgleich die hohen Fähigkeiten der Musiker hier deutlich werden, macht das Stück stellenweise den Eindruck, nur auf Durchkommen geprobt zu sein. Einen schönen Klang macht dafür vor allem der Kopfsatz her, und auch das Allegretto-Menuett gerät knackig und frisch.

Nach der Pause steht Maximilian Leinekugel am Dirigentenpult. Der 1995 geborene Student, der bereits zwei Jahre Gaststudent in Dirigieren an der Musikhochschule war, leitet Schubert und erneut Haydn. Die Haydn-Symphonie avanciert zum Höhepunkt des Abends, hier wird die intensive Arbeit auch an musikalischer Struktur, dem atmenden und pulsierenden Bogen und vor allem an nuancierter Dynamikabstufung deutlich. Leinekugels Leitung geschieht hauptsächlich aus dem Oberarm, seine Gesten sind ausgearbeitet und sehr schwungvoll mit vielen kleinen Schnörkeln. Er geht viel mehr als Lunev auch aus seiner aufrechten Position heraus, mal krümmt er sich und geht in die Knie, mal bewegt er sich förmlich auf sein Ensemble zu. Die Orchestermusiker folgen gerne seiner Einladung zur aktiven Gestaltung dieser Symphonie und holen das beste heraus, was einem so frisch gegründeten Ensemble nur irgend möglich ist.

Abschluss des Abends ist die fünfte Symphonie von Franz Schubert, ein Werk von subtiler Komplexität und Vielschichtigkeit, das von den meisten leider unterschätzt und fast immer sehr oberflächlich dargeboten wird. Wahrhaftig wirkt das Werk bereits nach kurzer Übezeit, doch ein kurzer Blick in die Partitur genügt, um festzustellen, wie viel mehr doch dahinter steckt. Auch hier wird wieder viel Arbeit an Details sichtlich, wenn auch das Orchester teilweise an seine Grenzen stößt mit den hohen Anforderungen Schuberts, beispielsweise den Anfang tatsächlich Pianissimo zu spielen, die Stimmpolyphonie im zweiten Satz glaubhaft zur Geltung zu bringen oder auf kürzeste Distanz viele Sforzati einzeln aus der Melodie herauszumeißeln. Doch werden gerade die Randsätze sehr prägnant genommen, und auch das Allegro molto-Menuett hat beschwingten Charme.

Die jungen Musiker der Munich Young Classical Players sind auf einem hohen Niveau und werden sich unter guter Leitung sicherlich sehr bald zu einem Kammerorchester mit starkem Zusammenhalt und Liebe zum Detail entwickeln können. Sie schlagen bereits bei ihren ersten Konzerten einen ausgezeichneten Weg ein, den fortzuführen sich lohnen wird.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Wiener Klassik mit der Wilden Gungl

Samstag, 5. März 2016 Herkulessaal

Wiener Klassik

Marie-Luise Modersohn, Oboe
Michele Carulli, Dirigent
Symphonieorchester Wilde Gungl München

Franz Schubert (1797-1828)
Ouvertüre C-Dur op.26 D 644
zu „Die Zauberharfe“ (später „Rosamunde“)
Andante – Allegro vivace

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Konzert für Oboe und Orchester
C-Dur KV 314

Allegro aperto
Adagio non troppo
Rondo Allegretto

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Symphonie Nr. 4
B-Dur op. 60

Adagio – Allegro vivace
Adagio
Allegro vivace
Allegro ma non troppo

Beethovens „Vierte“ innerhalb eines Jahres drei Mal in München? BR-Symphonie-Orchester mit Herbert Blomstedt, Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora, und nun – im vollbesetzten Herkulessaal der Residenz die „Wilde Gungl“ unter ihrem neuen Chefdirigenten Michele Carulli.  Dazu vor der Pause Schuberts Ouvertüre zu „Rosamunde“  und Mozarts Oboenkonzert KV 314, das ganze Konzert unter dem Titel „Wiener Klassik“ Ein hoher Anspruch also, man durfte gespannt sein…
Dass Michele Carulli nicht nur ein exzellenter Solist auf der Klarinette ist, hatte er im Sommerkonzert im Brunnenhof schon glänzend bewiesen. Aber was er mit dem Orchester in den vergangenen Monaten ge- und erarbeitet hat, das war mehr als deutlich zu hören. Mit „anima e corpore“ hatte ich damals geschrieben, um sein Dirigieren zu charakterisieren. Allerdings hatte er diesmal alle Hände frei, und schon beim ersten Stück, der scheinbar allzu bekannten Ouvertüre zu Schuberts „Rosamunde“, bekam man den Eindruck, dass dieses Stück nicht nur melodienselig daherkommt, sondern eben auch sehr temperament- und kraftvoll. Schubert hatte – wie im sehr informativen Programmheft zu lesen war – sein Können schon vorher an zwei Ouvertüren italienischen Typs erprobt, kein Wunder also, dass diese Musik voller Elan und Feuer ist.
Und noch etwas war mir beim Zuhören aufgefallen: Waren die Streicher- und zwar alle von hoch bis tief –  wirklich so weich und dennoch intensiv, wie es mir vorkam? Nicht, dass sie in den vergangenen Konzerten nicht gut gespielt hätten, aber da war etwas Neues zu hören, etwas Verändertes!
Beim Mozart’schen Oboenkonzert würde man ja weitersehen!
Als die junge Solistin in ihrem langen roten Kleid die Bühne betrat, hatte sich das Orchester ein wenig auf „Mozart-Maß“ verkleinert.  Marie-Luise Modersohn ist seit 2005 Solo-Oboistin der Münchner Philharmoniker. Schon im ersten Satz, dem Allegro aperto, wurde deutlich: das Orchester – trotz seines martialischen Namens „Wilde Gungl“ – war alles andere als wild, sondern begleitete die Solistin mit der größtmöglichen Delikatesse. Es wurde eine Sternstunde. Das Spiel der Oboistin war samtweich und melodisch, nie schrill oder unangenehm näselnd, sondern klangschön und hingebungsvoll, so schön, wie Mozarts Musik eben nur sein kann. In aller aufmerksamsten Gelassenheit bescherte das Orchester unter seinem Dirigenten Michele Carulli den drei Sätzen das Silbertablett, wie eine gute Begleitung eben sein kann und sollte. Natürlich weiß Carulli als Bläser, wie sich ein Solist die ideale Begleitung wünscht und vorstellt. Das – vor allem natürlich im klangschönsten singenden zweiten Satz – gelang ausnehmend gut, dazwischen immer wieder die kleineren oder größeren Kadenzen der Solistin, einfach wunderschön. Tosender Beifall, den Marie-Luise Modersohn mit einer Zugabe – einem der fünf Stücke für Oboe solo von Benjamin Britten (1913-1976) nach Metamorphosen von Ovid, nämlich „Pan“ – „belohnte“.  Und es war wirklich etwas Neues im Klang der Streicher, wie deutlich wurde.
Nach der Pause dann die vierte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die Schumann ja einmal „eine griechisch schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen“ genannt hat.
Aber was die „Wilde Gungl“ und Michele Carulli da zu Gehör brachten, war alles andere als ein Zwischenspiel zwischen der Dritten (Eroica) und der Fünften (Schicksalssymphonie). Schon der Beginn des ersten Satzes – geteilt in ein einleitendes Adagio und ein heftiges Allegro vivace – machte klar, dass hier Beethoven und nicht etwa ein anderer Symphoniker zu hören war. Diese Energie, diese unmittelbaren Abbrüche und Aufschwünge, diese Übergänge vom Energischsten zum fast unbewegt Ruhevollen, seine ausgefeilte Melodik und die das ganze Orchester souverän einsetzende Instrumentation und Harmonik, das ist stets aufs Neue bewegend und erhebend.  Der zweite Satz schwelgt natürlich in himmlischen Gefilden, was mich immer wieder davon überzeugt, dass Beethoven eben doch einer der größten Melodiker war und ist.
Die rhythmischen Vertracktheiten des dritten Satzes sind für ein klassisches Scherzo noch immer verwirrend und Rätsel aufgebend: Ist es nun ein Menuett oder eben doch ein „Zwiefacher“? Jedenfalls entfesselte der Dirigent mit all seinem Temperament und seiner Energie das gesamte Potential an Klang und Rhythmus in diesem Satz.
Konnte noch mehr kommen? Ja, es kam ein Finale von überschäumendem Temperament, wie es im Programmheft hieß. Und das kam dann auch, Michele Carulli verdeutlichte mit all seinem Einsatz, welch eine ungeheure Energie diese Beethoven’sche Musik in sich birgt und wie man sie – das Orchester „Wilde Gungl“  und sein Dirigent  – beschwört und erlebbar macht.
Riesengroßer Beifall, Bravo-Rufe, die eine Zugabe nach sich zogen, nämlich nochmal die Reprise des vierten Satzes, mit einer kurzen Unterbrechung, in der Michele Carulli auf die Bedeutung der Beethoven’schen Musik hinwies und sich sehr eindrucksvoll bei „seinem“ Orchester bedankte. Wenn das so weiter geht, wächst da ein nächstes – nicht mehr zu überhörendes und übersehendes – großes Orchester in der Münchner Musik-Landschaft heran, und das kann dieser Stadt und ihren Zeitungen ja nur gut tun.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Jubiläum in Regensburg

Sein 30jähriges Bestehen feiert das Regensburger Amateur-Orchester am Singrün mit drei Konzerten, am 20. Februar in Nittenau, am 21. in Viechtach und am 28. im heimischen Audimax der Universität Regensburg. Lutz Landwehr von Pragenau dirigiert Ludwig van Beethovens Egmont-Overtüre f-Moll Op. 84, das Cellokonzert h-Moll Op. 104 von Antonín Dvořák sowie die Erste Symphonie in c-Moll Op. 68 von Johannes Brahms. Der Solist ist Johannes König.

Gerade nach den Konzerten des Musica-Viva-Wochenendes in München ist es wieder eine angenehm klingende Wohltat, ein Programm hören zu dürfen wie das am 28. Februar im Audimax der Universität Regensburg. Nach ihren letzten Programmen mit teils nicht ganz so im Konzertleben etablierten Werken von Sergej Prokofieff oder Nino Rota gibt es am heutigen Abend ausschließlich Standardwerke der Konzertliteratur. Die Ouvertüre zu Goethes Egmont ist eine der ersten reinen Konzertouvertüren, sie fasst die gesamte Handlung des Dramas musikalisch zusammen und nimmt dabei noch die Siegessymphonie der Schauspielmusik vorweg. Nach der Enthauptungspassage schwenkt die bisher so bedrohlich-düstere Musik in überschwänglichen Jubel um und das Opfer Egmonts wird durch die Freiheit des Landes belohnt, wobei die Piccoloflöte ihren vielleicht ersten großen wie zentralen Auftritt der Musikgeschichte erfährt. Das späte Cellokonzert Antonín Dvořáks zählt als Königswerk der Gattung, blieb allerdings ein Einzelkind – ein früherer Versuch wurde vom Komponisten weder orchestriert noch veröffentlicht. Das Konzert zeichnet sich durch die Dvořák-typische Zelebrierung seiner eingängigen Themen und Motive wie durch einen sehr dichten und die Möglichkeiten des Instruments vollkommen ausnutzenden Solopart aus, der in den Ecksätzen keine Solokadenz erhält. Nach der Pause gibt es dann die erste Symphonie c-Moll von Johannes Brahms, dem diese Leistung erst nach jahrzehntelangem Ringen gelingen mochte, mehrfach unter der Last, es Beethoven gleichtun zu wollen, einknickend. Und wie auch in dessen Symphonien, Extremfall in der Neunten, ist Brahms‘ erstes symphonisches Werk absolut finalfokussiert und erfährt dort eine in strahlendem C-Dur ausmündende Apotheose, die thematisch sogar ein wenig an „Freude schöner Götterfunken“ erinnert, diese Ähnlichkeit aber geschickt – fast schelmisch – sogleich durch leichte Variation kaschiert.

Charakteristisch für das Orchester am Singrün ist ein recht trockener Klang ohne übermäßig viel Vibrato in den Streichern. Die Laienmusiker agieren auf recht beachtlichem Niveau und sogar das sonst bei Laienorchestern meist sehr risikobehaftete Blech spielt heute ziemlich sauber. Dynamisch kann das Orchester viele fein abgestufte Nuancen hervorbringen, was den Werken einen bezaubernden Ausdrucks- und Farbenreichtum verleiht, und was zweifellos das Verdienst des Dirigenten Lutz Landwehr von Pragenau ist. Erfreulich sind bei diesem Klangkörper vor allem die tiefen Streicher, die einen angenehm warmen und präzisen Klang haben und mit dem Vibrato sparsam umgehen, was gerade im Vergleich mit der üblichen Streicherpraxis wohltuend erscheint. Auch die Holzbläser spielen exakt, feinfühlig und mit viel sanglicher Anteilnahme.

Mit einem markigen und ebenso trockenen Klang kann sich Johannes König gut dem Orchester gegenüber behaupten im Violoncellokonzert von Antonín Dvořák. Mit dem hochvirtuosen Solopart und dessen technischen Schwierigkeiten kommt der junge Cellist bestens zurecht und spielt mit hoher Dichte und Konzentration. Jedoch nimmt er die Tempi gern um einiges zu schnell, wodurch die Sätze teilweise etwas bröckeln – gerade der letzte trotzige Finalaufbau droht, zu zerfallen. Die Tempi sind allerdings auch allgemein ein wenig wackelig an diesem Abend, schon bei Egmont irritiert, dass er teilweise auf Viertel genommen wird anstatt auf die vorgeschriebenen Halben, und auch bei Brahms hätte teilweise etwas mehr Ruhe nicht geschadet. Als Zugabe gibt Johannes König zusammen mit einigen Musikern des Orchesters noch den Schwan von Camille SaintSaëns aus dem Karneval der Tiere. Hier zeigt er, bei fast schon ulkig uhrwerkhaft-mechanischer Begleitung unter Führung des recht humorfrei erscheinenden Konzertmeisters, dass neben der halsbrecherisch-virtuosen Höchstleistung auch das lyrische Moment eine seine Stärken ist.

Der Mann des Abends ist zweifelsohne Lutz Landwehr von Pragenau, der bereits als Gründungsmitglied des Orchesters mitwirkte und auch heute wieder an dessen Spitze steht. Ihm gelingt es nicht nur, das Laienorchester gut zusammenzuhalten und zur Gestaltung auf artikulatorischer wie dynamischer Ebene anzuregen. Seine Bewegungen sind eine wirkliche Kunst für sich, alles ist sehr zentral aus dem Körperzentrum heraus empfunden in einem einzigen großen Fluss, der die Musik direkt bildlich zu beschreiben vermag. Mit seinen ausladenden Gesten animiert er die Musiker zu größter Anteilnahme. Wenn zwar an diesem Abend einige kleinere Pannen im Orchester passieren und es einige Stellen gibt, die nicht ganz so vollendet erklingen, so zeigt sich doch, welch eine gewaltige Leistung in der Arbeit dieses Dirigenten steckt und wie ein solches Orchester von dieser Leistung anhängt. Lutz Landwehr von Pragenau gehört definitiv nicht zu den Dirigenten, die ihre Assistenten die Arbeit machen lassen, um danach auf der Bühne eine große Show abzuziehen, wie man es bei manchen A-Orchestern oft erleben muss – sieht man den Vergleich, fällt dies schon bei den ersten Takten ins Auge. Es würde mich wirklich einmal interessieren, auch eines seiner eigenen Orchesterwerke live zu hören!

Als Zugabe gibt es noch den Ungarischen Tanz in g-Moll von Johannes Brahms, der besonders schwungvoll gelingt und wo das Orchester in höchster Motivation noch einmal zeigen kann, wie viele dynamische Nuancen sie aus der kurzen Miniatur herausholen können.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Klassik und Klassizistik im Prinzregententheater

Am Abend des 21. Februar 2016 spielt Jan Lisiecki im Münchner Prinzregententheater zusammen mit dem Zürcher Kammerorchester unter Leitung seines Konzertmeisters Willi Zimmermann die Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467 von Wolfgang Amadeus Mozart. Außerdem gibt das Orchester Mozarts Marsch D-Dur KV 249 sowie die fünfte Symphonie B-Dur D 485 von Franz Schubert. Der Veranstalter ist MünchenMusik.

Diese beiden Werke sind untrennbar miteinander verbunden, trotz ihres extrem divergierenden Charakters: Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467. Die zwei Konzerte wurden 1785 innerhalb weniger Wochen hintereinander komponiert und werden bis heute auf etlichen Aufnahmen kombiniert, so auch auf dem Debütalbum des damals 17-jährigen Jan Lisiecki, der heute kurz vor seinem 21. Geburtstag steht. Das C-Dur-Konzert funkelt in strahlender Ausgelassenheit, einem strukturell komplexen Kopfsatz folgen zwei durchweg inspirierte und stringente Sätze, von denen vor allem der Mittelsatz große Beliebtheit erlangt hat. Ganz anders das düstere und unheilverkündende d-Moll-Konzert, das jeden Ausbruch ins Dur sofort wieder in den Abgrund zu reißen vermag: sogar das liebliche Romanzenthema des Mittelsatzes bricht im Mittelteil ein und bäumt sich mit aller Gewalt in donnerndem Moll auf. Neben diesen beiden unvergänglichen Werken Mozarts kann das Orchester sich mit Schuberts Symphonie Nr. 5 präsentieren, die häufig als erste klassizistische Symphonie der Musikgeschichte beschrieben wird. Tatsächlich besinnt sie sich auf überlieferte, Mozart‘sche und Haydn‘sche Ideale, ist die kürzeste und ohne Pauken, Klarinetten und Trompeten am sparsamsten besetzte Symphonie Schuberts. Dessen ungeachtet enthüllt auch sie eine ganz eigene und unverwechselbare Tonsprache im klassischen Korsett und geht furchtlos eigene Wege, modulatorisch und hinsichtlich der Themenentwicklung. Diese Symphonie hat eine freundliche und beschwingte Grundattitüde und brilliert durch eine von Schubert eher ungewohnte uneingeschränkte Leichtigkeit und Heiterkeit, einmal ohne den für ihn so bezeichnenden doppelten Boden.

Es ist durchaus erstaunlich, mit wie viel Liebe zum Detail Jan Lisiecki an die beiden ausgereiften Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart geht. In einem Alter, in dem heute die meisten Pianisten lediglich auf schnelle Finger und automatisierte Perfektion achten (was – welch ein Teufelskreis! – vom Publikum peinlicherweise meist auch noch durch besonders laute Bravo-Rufe und noch tosenderen Applaus honoriert wird), nimmt Lisiecki die Musik selbst unter die Lupe. In größter Detailverliebtheit gestaltet er jede Phrase und jede Stimme farbenreich aus. Beim C-Dur-Konzert mag es dadurch noch teilweise etwas steril und gewollt wirken sowie der Bezug zum großen Ganzen etwas fragmentarisch erscheinen, doch im d-moll-Konzert geht dies voll auf. Hier beweist er ein unerschütterliches Verständnis für die Musik, was auch beim Konzert in C-Dur schon durchaus ersichtlich wurde, und kann die Zerrissenheit und Untergründigkeit der Musik dem Hörer sinnhaft vermitteln. In beiden Konzerten glänzt sein Spiel durch klare und schlichte Tongebung mit technischer Brillanz und wohldosiertem Pedaleinsatz. Die Ausfeilung der Melodieführung bringt mit sich, dass Lisiecki auch die Gesetze von Spannung und Entspannung erfühlt und die Linien dynamisch aus den ihnen innewohnenden Kräften entstehen lässt.

Ein klein wenig geschmälert wird die furiose Wirkung der Konzerte bedauerlicherweise durch die Zugabe, die Träumerei aus Robert Schumanns Kinderszenen. Zwar formt Lisiecki auch hier die Melodie plastisch aus und bringt sie durch eine außergewöhnliche Abmischung der einzelnen Stimmen zum Strahlen, doch läuft ihm die hochromantische Musik strukturell vollkommen aus dem Ruder. Er „verträumt“ sich in der Träumerei, lässt das Tempo vollständig auseinanderfallen und somit den Hörer ohne jeden Sinn für Zusammenhang oder zentrale Aussage des Stückes zurück. Mit einem weiteren Stück von Mozart oder einem seiner Zeitgenossen hätte sich Jan Lisiecki einen größeren Gefallen getan – oder mit einem weiteren Satz eines anderen Klavierkonzerts von Mozart oder auch Haydn, wo außerdem das ausgezeichnete Orchester sich noch einmal hätte beteiligen können. Trotzdem wird anhand von Mozart deutlich, welch herausragender Musiker Jan Lisiecki bereits jetzt ist – einer, der früh schon einen guten Zugang zur Musik hatte und der einzelnen Tönen und deren Verbindungen spürend nachforscht anstatt sich auf zirkushafte Fingerfertigkeit zu verlassen – ein gehaltvoller Weg, den weiter zu beschreiten wahrlich lohnt, und der zweifellos von großem Erfolg gekrönt sein wird!

Das Zürcher Kammerorchester unter Willi Zimmermann, der nebenbei noch als Konzertmeister die ersten Violinen anführt, zeigt sich von seiner besten Seite. In der kleinen Besetzung begeistert das Ensemble durch seinen enormen Farben- und Artikulationsreichtum, durch Durchhörbarkeit und spürbare feinsinnige Abstimmung. Es ist offenkundig, wie wach sich die Musiker gegenseitig zuhören und ihren eigenen Klang in das Gewebe einpassen können. Das intime Gefühl, das durch die Nähe des Publikums zur Bühne ohne einschüchternde Erhebung oder großen Abstand im Münchner Prinzregententheater entsteht, kommt dem Kammerorchester zusätzlich zu Gute, in Kombination mit seinem warmen und frischen Klang wirkt alles sehr vertraut, gar heimisch. Die Begleitung der beiden Klavierkonzerte gerät hinreißend (abgesehen von der kurzen Panne, als die Musiker nicht genau zu wissen scheinen, wann denn die Kadenz im Kopfsatz des KV 466 nun endet und wann folglich ihr Einsatz folgt – was aber angesichts der doch recht eigenwillig gewählten Kadenzen in diesem Konzert im Gegensatz zu den angenehmen und sich gut einpassenden Kadenzen in KV 467 nicht allzu sehr zu verwundern vermag) und auch der eher unbekannte Marsch zu Beginn des Konzerts ist bereits ein musikalisches Erlebnis. Doch am meisten können die Musiker des Zürcher Kammerorchesters mit der fünften Symphonie von Franz Schubert verzaubern, die eine besonders schillernde Lebendigkeit erhält und stets atmend pulsiert. Zu keiner Zeit entstehen lähmende Längen und die Zeit verfliegt wie im Flug. Eine höchst bemerkenswerte Leistung dieses renommierten Schweizer Ensembles.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Hungary for Music

Im Festsaal an der Maria-Ward-Straße 5 findet am 12. und 13. Februar das diesjährige Konzert des Münchner Internationalen Orchesters, des MIO, mit dem unmissverständlichen Titel „Hungary for Music“ statt. Auf dem Programm des von Michael Mader geleiteten Klangkörpers steht das Vorspiel zu „Die Königin von Saba“ Karl Goldmarks neben Béla Bartóks drittem Klavierkonzert, sodann die Ruralia Hungarica von Ernst von Dohnányi sowie aus der Feder von Franz Liszt Les Préludes. Solist des Abends ist Gerold Huber.

Gleich mit zwei Raritäten wartet das Münchner Internationale Orchester an diesem Konzertabend des 13. Februar (sowie am Vortag, am 12. Februar) auf. Die Königin von Saba, eine biblische Figur, ist ein beliebter Stoff: Eine bekannte Erzählung von Knut Hamsun trägt diesen Titel ebenso wie das Ballett Belkis, Regina di Saba von Ottorino Respighi, außerdem tritt die Figur in Händels Oratorium Solomon im dritten Akt auf. Wenig bekannt hingegen ist die Oper von Karl Goldmark auf dasselbe Sujet. Der ungarische Komponist Karl (in Ungarn bis heute Károly) Goldmark erlebte zu Lebzeiten große Erfolge, einige Opern des Autodidakten wurden von Gustav Mahler dirigiert und auch bekannte Größen erhielten Unterricht von ihm, so etwa Jean Sibelius. Später verschwand der Komponist vollends in Versenkung, vor allem zur Zeit der Nationalsozialisten wurde er aufgrund seiner jüdischen Abstammung geächtet. Der Grund für das Verschwinden von Ernst (Ernő) von Dohnányi, Klavierlehrer von Berühmtheiten wie György Cziffra und Géza Anda, liegt anders: Er wurde als spätromantischer Emigrant in Amerika vergessen. Sein Sohn wurde von den Nationalsozialisten als Kollaborateur Stauffenbergs hingerichtet, seine Enkel machten als Dirigent (Christoph) und Hamburger Oberbürgermeister (Klaus) Karriere. Dohnányis Ruralia Hungarica sind eine Suite aus dem Jahr 1923 in sieben Sätzen für Klavier solo mit der Werkkennung Op. 32a, aus der er zum fünfzehnjährigen Bestehen der zusammengesetzten Stadt Budapest fünf Sätze orchestrierte (Op. 32b, eine Fassung 32c für Violine und Klavier sowie 32d für Violoncello und Klavier sollten auch noch folgen).

Das Münchner Internationale Orchester zeigt an diesem Konzertabend eine große Freude am Musizieren und einen vollen, ausgewogenen Ton. Die Musiker, bunt gemischt durch alle Altersklassen und Professionalitätsstufen, sind hochmotiviert und größtenteils auf einem wahrlich beachtlichen Niveau. Bei der Musik von Goldmark scheinen sich manche noch etwas warmzuspielen und die Synchronizität ist nicht durchgängig vorhanden, doch schon hier zeigt sich ein warmer Klang und es wird deutlich, wie intensiv das Orchester an einigen Feinheiten geprobt hat und verborgene Details ans Licht bringen konnte. Auch der in den Orchesterstimmen höchst anspruchsvolle Bartók gelingt größtenteils, nur an wenigen Stellen wirken einzelne Stimmen mit dem komplexen Zusammenspiel ein wenig überfordert. Spätestens nach der Pause kommen die Musiker voll zum Zug und können ihre Qualitäten präsentieren. Die Ruralia Hungarica Dohnányis erhalten schwungvollen Glanz und sanfte Kantabilität zugleich, das Blech darf wie überall kraftvoll schmettern und das Holz besticht durch virtuose Solopassagen. Darbietungstechnisch das Highlight sind dennoch zweifelsohne Les Préludes von Franz Liszt, in diesem bekannten Stück in vertrauter Tonsprache kommt eine Freude an dieser Musik auf, wie ich sie so von großen reinen Profiorchestern nur selten gehört habe. Das Zusammenspiel komplettiert sich nun vollends zu einer mitreißenden Einheit und die divergenten Teile der Préludes werden in feiner Stringenz zusammengehalten. Die Musiker geben durchwegs ihr Bestes und überzeugen mit hoher Qualität. An dieser Stelle seien nur wenige von ihnen besonders hervorgehoben, dies wäre zum einen die hochvirtuose Klarinette, die ihre seiltänzerischen Solopassagen mit größter Lockerheit und spürbarem musikalischen Verständnis präsentiert, das Schlagwerk, welches dynamisch stets auf das restliche Orchester abgestimmt agiert, ohne darin unterzugehen oder sich in den Vordergrund zu drängen, sowie die Basssektion. Lediglich zwei Kontrabässe spielen an diesem Abend – und das bei acht Celli -, dennoch können die beiden Spieler stets vernehmbar bleiben und zeigen eine Klangfülle, die ein solides Fundament für den Klangkörper bildet. Obgleich beide Kontabassisten vollständig unterschiedliche Techniken verwenden, mischt sich der Klang und sogar bei Bartók passen sie sich im Wechselspiel mit dem Pianisten an dessen dominierenden Tonfall an.

Den für seine enormen Schwierigkeiten bis heute respektgebietenden Solopart in Béla Bartóks 3. Klavierkonzert übernimmt Gerold Huber, der bisher vor allem als Liedbegleiter von Christian Gerhaher Aufmerksamkeit erlangte. Auch den Anforderungen an einen Orchestersolisten wird Huber gerecht, die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten in dem Konzert gelingen ihm in gelassener Lockerheit. An diesem Abend steht das Klavier in der Mitte vor dem Dirigenten und teilt das Orchester quasi in zwei Teile, wodurch in dem akustisch angenehmen Saal ein interessantes Klangexperiment entfacht wird, welches größtenteils gelingt – abgesehen davon, dass das tiefe Holz bei mir auf der rechten Seite etwas schwer hörbar ist in manchen Passagen. Doch ist dazu zu sagen, dass Gerold Huber stets zu laut und hart spielt und das Orchester damit an ruhigeren Stellen übertönt. Anstelle von formbarer Klangfülle durch aktiven Anschlag aus dem Körperzentrum heraus erhalten die Akkorde eine kühle und granitene Härte und Trockenheit durch reinen Armeinsatz. So mag sich der Klang auch wenig in das warm und voll klingende Orchester einpassen. Erst im dritten Satz gelingt die Synthese zwischen Solist und Orchester besser, hier wird auch ein gewisses Verständnis für die Musik merklich.

Michael Mader hält den Klangapparat vom Dirigentenpult aus gut zusammen. Mit Sicherheit lässt sich behaupten, dass die Musiker ihn schätzen und respektieren, jeder folgt intensiv seinem Wink. Mader hat hörbar viel Arbeit in die Proben gesteckt und erhält an diesem Abend seinen Lohn dafür, das Orchester ist trotz Unterbesetzung in einigen Instrumentengruppen beziehungsweise Überschuss in anderen sorgsam abgestimmt und präsentiert ein erstaunlich einheitliches Klangbild.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Konzert im Zeichen Tschechiens

Zum zweiten Mal hintereinander spielten die Münchner Philharmoniker unter ihrem slowakischen Gastdirigenten Juraj Valčuha am Freitag, den 05. Februar 2016, ein Programm mit böhmischer Musik: die Tondichtung „Vodnik“ („Der Wassermann“) Op. 107 von Antonín Dvořák (1841 – 1904), das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271 von Bohuslav Martinů (1890 – 1959) und die „Sinfonietta“ von Leoš Janáček (1854 – 1928).

Wie man dem in jeden Programmpunkt sehr sorgsam einführenden Programmheft entnehmen konnte, war es stets ein Anliegen der Münchner Philharmoniker und ihres Vorgängerorchesters seit 1893, sich als Botschafter tschechischer (bzw. tschechoslowakischer) und polnischer Musik zu erweisen. Dank Juraj Valčuha, der seit der Saison 2005/06 die Philharmoniker immer wieder dirigiert, kamen während der drei Tage vom 4. bis zum 6. Februar jeden Abend in der Philharmonie des Gasteigs wieder einmal tschechische Werke zum Erklingen.

Klug konzipiert war das Programm, das neben zwei der meistgespielten böhmischen Komponisten – Dvořák und Janáček – mit Martinů einen zwar auch als modernen Klassiker anerkannten, aber in München eher weniger zu hörenden Landsmann präsentierte. Es hatte allerdings am Abend des 5. Februar den Anschein, als ob die Darbietung der zwei erstgenannten Komponisten auch ein gewisses Verbleiben in Routine mit sich brachte, was vor allem die Sinfonietta von 1926, eines der fesselndsten Werke Janáčeks, betraf. Immerhin gehörte der eröffnende Satz „Fanfaren“ sowie der Schluss von „Das Rathaus“ mit den darin enthaltenen zwölf Trompeten zu den aufregendsten Momenten dieses Abends. Hinsichtlich des zweiten Satzes, der „Burg“, sind vor allem die Streicher und die Holzbläser positiv zu erwähnen, sowie Valčuha, der kein allzu rasches Tempo nehmen ließ. Allerdings hätten einige Gruppen kultivierter agieren können, so zum Beispiel die Posaunen, deren gestopfte, für diesen Satz charakteristische Achtel mehr Akzentuierung vertrügen. In seinem Textbeitrag zur Sinfonietta schreibt Tobias Niederschlag, es zeichne das Werk aus, auf spätromantische Mischklänge zu verzichten und eher auf klar abgetrennte Instrumentengruppen zu setzen. Derart orientierten sich denn auch die Philharmoniker und Valčuha, ohne jedoch zu kantig zu klingen, die Wechsel zwischen den Gruppen kamen stets sehr fließend. Was das „Königin-Kloster“ angeht, so waren die Themen und deren Wechsel durch die Instrumente zwar sehr plastisch vorgetragen, wobei eine etwas innigere Atmosphäre, die gerade dieses lyrische Herzstück der Sinfonietta ausmacht, nicht geschadet hätte. Das gilt auch für den vierten Satz, die „Straße“. Dieses Scherzo wurde, wie die übrige Sinfonietta auch, mit Ernst und Sicherheit in der Phrasenbildung und Formkontur vorgetragen, allerdings fehlte etwas vom suggestiven Bild der „Straße und was in ihr wimmelte“ (wie Niederschlag den Komponisten zitiert). Und das ist nicht unerheblich, wenn man bedenkt, dass dieses letzte Werk für Janáček ein sehr persönliches war. Spannend wurde es dann, wie schon angemerkt, im Schlusssatz, der sich immer weiter steigert und wo die Philharmoniker bereits vor der Kulmination in die Fanfaren zu ihren besten Momenten an dem Abend fanden.

So erhielt die Sinfonietta insgesamt eine beachtenswerte Wiedergabe, die ihre Schwächen in der mangelnden musikalischen Tiefe und ihre Stärke in der formal klaren Gestaltung sowie in der Kompaktheit der Instrumentengruppen hatte. Anders verhielt es sich bei Dvořáks 1896 komponiertem Vodnik. Diese für eine symphonische Dichtung schon recht lange Komposition wurde von Marcus Imbsweiler eingehend erörtert, vor allem bezüglich der einzelnen musikalischen Motive, deren Zuordnung zu den Figuren in der Schauergeschichte Karel Jaromír Erbens und deren seelischer Darstellung in der Musik. Die entsprechenden Figuren kamen auch deutlich zum Vorschein, vor allem das Motiv des Wassermanns war von gewichtiger Bedeutung, wogegen die Thematik der Mutter in den hohen Streichern eher farblos klang. Was in der ersten Hälfte des Werkes etwas auf der Strecke blieb, war der formale Zusammenhalt zwischen den einzelnen Episoden dieser Symphonischen Dichtung, die an sich einer Rondoform orientiert. Einige Instrumentengruppen hatten auch ihre Schwierigkeiten mit der Klangbalance. In diesem Fall waren es – und das ist kein billiges Stereotyp dieser häufig unterschätzten Gruppe – die Bratschen, die, nimmt man den eigenen Anspruch des Orchesters an sein Niveau ernst, einen runderen Gesamtklang hätten bringen können (die Akustik des Gasteig trug keine Schuld daran). Von überzeugender Dramatik waren die wohldosierten Tutti-Ausbrüche, wobei gerade die an diesem Abend seltenen Einsätze des Schlagwerks hervorstachen. Ab der zweiten Hälfte wurde die Klimax spürbar, welche die Verdichtung der Themen und die allgemeine Steigerung mit sich brachte (woran auch der seltene Einsatz einer zweiten Basstuba Anteil hat). Auch gelang es Valčuha von hier ab besser, die Gestaltung einzelner Abschnitte sorgfältiger darzustellen. Sei es der leise, aber hier bedeutsame Schlag des Tamtams, der wohl den Mord am Kind symbolisiert, oder der resignierte Schluss der Dichtung, den wenige tiefe Instrumente inklusive Posaunen pointiert, aber nicht zu lange wiedergaben.

Oftmals neigen selbst große Symphonieorchester dazu, weniger bekannte Werke unterprobt und unausgereift zur Aufführung zu bringen. Glücklicherweise kam ein solcher Eindruck beim Mittelwerk, dem 1938 komponierten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken H 271 von Bohuslav Martinů, nicht auf. Martinů, der am 8. Dezember 1890 in Polička in Böhmen geboren wurde, hatte das Schicksal eines Nomaden: Er musste, bedingt durch die beiden Weltkriege, von seiner Heimat nach Paris, in die USA und von dort, obwohl keineswegs kommunistisch, aufgrund der Repressionen der Mc-Carthy-Ära nach Basel übersiedeln, wo er am 28. August 1959 starb. Als dementsprechend kosmopolitisch, frei und humanistisch ist sein Schaffen zu verstehen, so beschreibt es Wolfgang Stähr im Programmheft. Mit dem rein äußerlich klassizistischen Doppelkonzert ist zumindest ein Glanzstück entstanden, das an diesem Abend bei den Münchner Philharmonikern eine Sternstunde erlebte (was auch die notwendige, aber lange Umbauzeit nach dem Vodnik kompensierte). Obgleich der erste Satz Poco allegro mit seinen tendenziell freitonalen Themen noch recht sperrig klang, konnte man schon das Potential ahnen, das in diesem Werk steckt, das die Streicher mit dem Pauker und dem Pianisten überzeugend vortrugen. Emotional packend gelang der zweite Satz Poco allegro, welchen der Komponist „Den Märtyrern von Lidice“ widmete, wo es zu einem Massaker durch die NS-Wehrmacht gekommen war. Hierbei erhält der Pianist zwar Gelegenheit, als dritte Instanz zwischen den beiden Streichorchestern hervorzutreten. Doch verhielt er sich ganz und gar unpianistisch im eigentlichen Sinne, was man als kluge Zurückhaltung zugunsten der Musik verstehen kann. Der Höhepunkt kam dann mit dem Finale, Allegro. Hier zieht Martinů alle satztechnischen und kontrapunktischen Register seines Könnens und formt einen komplexen Satz mit hohen Ansprüchen, der formal sehr geschlossen wirkt, und den die Philharmoniker unter dem einfühlsamen Dirigat Valčuhas voller Hingabe musizierten. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann vielleicht, dass die Musiker gelegentlich das konzertante Konzept klarer betonen hätten können, indem sie die Trennung zwischen den beiden Streichorchestern mehr akzentuierten. Dies fiel jedoch nicht sehr ins Gewicht bei dem Niveau, das die Streicher (inklusive Bratschen) in diesem Binnenstück des Abends erreichten, was uns, was sicher ausbaufähig ist, auf weitere Aufführungen im Sinne musikalischer Völkerverständigung nicht nur zwischen Tschechien und Deutschland hoffen lässt.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

Mit böhmischen Pauken und Trompeten

Die Münchner Philharmoniker spielen am 04., 05. und 06. Februar 2016 in der Philharmonie des Gasteig München unter Juraj Valčuha Werke aus Tschechien, auf dem Programm stehen „Vodník“ (Der Wassermann) von Antonín Leopold Dvořák, das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martinů sowie die Sinfonietta von Leoš Janáček. Für The New Listener besuche ich die dritte und letzte der Vorstellungen.

Nur schlecht besucht ist die Philharmonie im Gasteig am Abend des 06. Februar, das rein böhmische Programm scheint kein besonderer Publikumsmagnet zu sein. Es ist sehr bedauerlich, dass diese Werkauswahl auf kein größeres Interesse stößt, ist sie doch mehr als spannend und vielseitig: Der Wassermann, Vodník, die erste der (nach der letzten Symphonie entstandenen) fünf späten Tondichtungen Dvořáks, ist ein mitreißendes Werk in ausgereiftem und vollendetem Personalstil, das durch absolute Ausreizung des einprägsamen Grundmaterials lange Zeit im Kopf zu bleiben vermag. Doppelbödige Kantabilität und schroffe Gewalt wechseln einander ab in einer wilden Handlung, die im Mord an der Tochter gipfelt. Einen ganz anderen Weg beschreitet Martinů in seinem an das barocke Concerto Grosso angelehnten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, das mit rhythmischer Durchschlagskraft und voller orchestraler Wirkung trotz kleiner Besetzung besticht. Stets ein klanglicher Höhepunkt ist die Sinfonietta Janáčeks, in deren Randsätzen neben der eh bereits großen Orchesterbesetzung noch dreizehn weitere Trompeten, zwei Tenortuben und zwei Basstrompeten zum Einsatz kommen (später hat Chatschaturian in seiner bombastischen Dritten Symphonie etwas Vergleichbares versucht). Die Sinfonietta ist ein monolithisches Spätwerk voll sanglicher Melodik, mit virtuoser Instrumentation, als Hörerfahrung immer wieder zutiefst beeindruckend.

Mit dieser pathosbeladenen Musik gelingt es dem Dirigenten Juraj Valčuha, den Münchner Philharmonikern wieder eines zurückzugeben, was in letzter Zeit selten anzutreffen war: die Spielfreude. Man denke beispielsweise an den vollkommen unterprobten Prokofieff-Zyklus unter Gergiev oder ein erstaunlich farbloses Prélude à l’après-midi d’un faune von Debussy, wo wenig Hingabe zur Musik zu spüren war. Heute ist dies anders, das Orchester hat Lust und Spaß an dem mächtigen Programm und spielt wieder aus vollem Herzen. Besonders farbenreich erscheint die Musik Antonín Dvořáks, der schlichten und dauerpräsenten Motivik gewinnen die Philharmoniker etliche feine Farbnuancen ab und genießen immer wieder die volltönenden Höhepunkte. Das Orchester kennt und mag die musikalische Sprache des Tschechen und weiß, dies ansprechend umzusetzen. Besonders erfreulich gestalten sich die häufigen phraseninternen Instrumentenwechsel, die perfekt aufeinander abgestimmt sind und eine imaginativ räumliche Wirkung evozieren.

Weniger Verständnis zeigen die Streicher für die eigentümliche Musik von Bohuslav Martinů, dessen Stil uns noch immer unvertraut und neuartig erscheint. Was auch bei Dvořák und Janáček als Grundtendenz vorliegt, wird hier zum Extrem: Es ist stets zu laut, und wiederholt werden Pianoangaben schlicht nicht beachtet, dafür ist die Musik im Forte zu pauschal mächtig, zu wenig differenziert ausgestaltet und kontrastlos, wodurch einige Längen entstehen. Hinzu kommt eine ungünstige Aufstellung mit Klavier und Pauken hinter den Streichern, wobei der Pianist den Dirigenten frontal anschauen kann. Resultat der Kombination der beiden Aspekte ist, dass die beiden Solisten kaum hörbar sind (und das, obwohl ich einen akustisch sehr guten und mittigen Platz habe). Zwar stimmt es, dass die Pauke eher eine ergänzende Rolle spielt als solistisch hervorzutreten, aber der Klaviersolist sollte doch als zentrale Säule stets deutlich vernehmbar sein. Die grundsätzliche Aufteilung in zwei antiphonisch agierende Streichorchester wird dadurch geradezu hinfällig, und man nimmt die konzertierend wettstreitende Teilung kaum wahr. Allem Anschein nach ist den Veranstaltern der Pianist auch nicht wichtig, wird dieser (wie auch der Paukist) doch nicht einmal im Programm erwähnt. Der Pianist hat das Konzert auch scheinbar nicht wirklich als Solistenstück erarbeitet, seine Stimme klingt eher nach einem soliden Accompagnement denn nach der zentralen Rolle im Wechselspiel mit den beiden Streichorchestern als drittem Widerpart. Natürlich liegt hier kein Klavierkonzert im klassischen Sinne vor und der Flügel spielt bis auf kurze kadenzartige Abschnitte im Mittelsatz eher innerhalb des Orchesters denn solistisch hervorgehoben, doch hier wurde eine Nivellierung erreicht, die den Charakter verfälscht.

Als sich nach der Pause die dreizehn zusätzlichen Blechbläser erheben, senkt sich auch das letzte Programmheft und der „kollektive Astmaanfall“, der zwischen den Sätzen eines Konzerts nicht mehr aus dem heutigen Konzertleben wegzudenken ist, ist plötzlich ausgeblendet. Der späte Stil von Leoš Janáček wirkt so verblüffend attraktiv, so unmittelbar und so wirkungsvoll, das sich einfach keiner dieser Musik entziehen kann. Er ist schlicht und volkstümlich, aber doch enorm ausgearbeitet und von riskanter Komplexität. Hier können sich die Musiker einmal austoben, und das nutzen sie voll aus; Valčuha versucht erst gar nicht, das Orchester zurückzuhalten. Der enorme Blechapparat, der normalerweise auf die ersten Kiekser nur warten lässt, intoniert absolut lupenrein und gibt sich freudig schmetternd, das Holz wartet mit virtuosen Läufen auf (immer wieder herrlich, wenn Flöte und Piccolo ihre rasenden Linien ziehen, die von anderen Holzbläsern aufgegriffen werden), auch die Harfe tritt mit brillanten Einsätzen hervor, das Schlagwerk ist gut abgestimmt und die Streicher bewältigen ihre rhythmisch verzwickten Passagen mit imponierender Lockerheit. Hier zeigt sich einmal, dass die Münchner Philharmoniker doch ein wirkliches Spitzenensemble sein können, das ganz vorne mitspielen kann – schwer verständlich, dass sie dies in letzter Zeit ein paar Mal vergessen ließen. Sehr hoffe ich darauf, sie in nächster Zeit öfter mit solch hinreißender Spiellaune und musikalischem Gestaltungswillen zu hören wie heute bei Dvořák und Janáček. Juraj Valčuhas oft schon übermäßiges Pathos wirkt bei diesen Stücken teils auch recht förderlich, wenngleich er Martinů zerbröckeln lässt. Er kann durchaus für große Effekte und Prägnanz garantieren, so dass ich mich bis heute an sein Konzert mit Rudolf Buchbinder im Concerto in F von George Gershwin von 2014 zurückerinnere, das nicht zuletzt dank seines Enthusiasmus zu einem unvergleichlichen Erlebnis geworden ist. Dies tut den Münchner Philharmonikern nach wie vor gut, aber dennoch wäre es generell wünschenswert, den animierenden Vorwärtstrieb etwas im Zaum zu halten und eben wenigstens nicht durchgängig ungebändigt walten zu lassen.

Das Publikum ist am Ende des Konzertabends nicht zu Unrecht begeistert – noch immer unter der enormen Unmittelbarkeit der Sinfonietta stehend. Solch ein Werk live zu hören, ist etwas ganz Besonderes und wird mich noch einige Zeit begleiten.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Spätwerke zweier Romantiker

Anlässlich seines zweiten Semesterabschlusskonzerts für den Winter 2015/16 am 1. Februar 2016 in der Großen Aula der Ludwig Maximilians Universität führt der UniversitätsChor München unter der Leitung Verena Eggers späte Chorwerke aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Es sind die Kantate „Hör mein Bitten“ WoO15 (1844/47) sowie der Psalm 42 „Wie der Hirsch schreiet“ op. 42, MWV A 15 (1837/38) von Felix Mendelssohn-Bartholdy, gefolgt von der Messe in Es-Dur D 950 von Franz Schubert. Begleitet wird der Chor vom Collegium Musicum München; Solisten sind Katja Stuber (Sopran), Florence Losseau (Alt), Roman Payer und Philip Carmichael (Tenöre) sowie Manuel Adt (Bariton).

Die größeren Chorwerken der beiden Komponisten Schubert und Mendelssohn- Bartholdy aufzuführen erfordert nicht nur eingehendes musikalisches Verständnis und Qualifikation von Chor, Solisten und Orchester, sondern eröffnet auch die Möglichkeit, aus der Masse der vielen Aufführungen und Tonträger-Einspielungen der genannten Werke hervorzustechen. In dieser Hinsicht haben der über 250 Mann starke Chor der LMU München und sein Stammorchester, das aus Orchesterakademisten bestehende Collegium Musicum München, im Großen und Ganzen beträchtliche Arbeit geleistet.

Sowie das posthum veröffentlichte „Hör mein Flehen“ von Mendelssohn-Bartholdy den Abend eröffnete, erlebte man zunächst eine souveräne Katja Stuber, deren Stimme sich einfühlsam und mit vielseitigem Timbre in den Text fügte. Das Orchester spielte von Beginn an sauber und mit großenteils ausgewogener Balance. Besonders hervorzuheben sind die Streicher, die mit dem Vibrato sehr sparsam umgingen und eine daher umso tragfähigere Klangbasis schufen. Spätestens in der zweiten Textstrophe („Die Feinde sie droh´n und heben ihr Haupt“) kam es allerdings zu leichten Problemen in der Textverständlichkeit, nicht wegen des Chores, der sich trotz seiner Größe zu beherrschen wusste und immer sehr genau artikulierte, sondern aufgrund des von der Dirigentin nicht im Zaum gehaltenen Orchesters, das die Sänger streckenweise glatt übertönte. Insgesamt aber fällt dies trotzdem nicht übermäßig ins Gewicht bei dem schnörkellosen und stringenten Dirigierstil von Anna Verena Egger.

Im populären Psalm 42 konnten sich alle Musiker noch mehr entfalten. So zählten der Eingangs- und Schlusschor („Wie der Hirsch schreiet“, „Was betrübst du dich, meine Seele“ (Reprise)) zu den schönsten Darstellungen des Abends. Vor allem ersterer dürfte durch das sehr harmonische Zusammenwirken von Chor und Orchester bei vielen Zuhörern gar für Gänsehaut gesorgt haben. Das Schlussstück überzeugte in den wohlgemessenen Achtelläufen des Orchesters, welche den Chorhymnus polyphon begleiten. Diese klangen weder gehetzt noch an den Rand der Spielbarkeit getrieben. In den Nummern dazwischen glänzte immer wieder Frau Stuber, die es nach wie vor verstand, zwischen lyrischen Tonfällen und einer dem geistlichen Werk angemessenen Dramatik der Situation zu wechseln. Gerade die Arie „Meine Seele dürstet nach Gott“ erhielt durch ihre Stimme und dank dem ihr angepassten Orchester viel Leben und glaubwürdigen Ausdruck. Die einzelnen Stimmen des Chores bekamen nun auch Gelegenheit, die Früchte der Probenarbeit eines ganzen Semesters zu präsentieren. In erster Linie waren es die Soprane und Altistinnen, die ein intonationssicheres, dynamisch ausgewogenes und homogenes Klangbild ermöglichten und zumal in „Denn ich wollte gern hingehen“ die Solistin trefflich begleiteten. Die Männerstimmen waren insgesamt weitgehend zufriedenstellend, hätten aber hie und da etwas mehr aus sich herausgehen können. Vor allem die Tenöre hatten in hoher Lage einige Male ihre Probleme, was allerdings weniger in den Werken der ersten Konzerthälfte als danach in der Schubert-Messe auffiel.

Jedoch bestach die Darbietung dieses im Todesjahr Schuberts entstandenen Werkes durch sorgfältige Einstudierung und auch dadurch, dass man die musikalischen Raffinessen dieser Messe keineswegs unterschätzte. Der Programmhefttext, worin Katharina Smiatek, Johannes Harth-Kitzerow und Felix Klossek solide über Entstehung und wesentliche musikalische Elemente der Werke informierten, hob gelegentlich die düsteren Stellen dieser Messe hervor. Ebenso erfuhr man auch, wie verhältnismäßig umfangreich die Schlussfugen des Glorias und des Credos im Kontext der damaligen Zeit geraten sind. Jedoch entstanden nie die von Robert Schumann anhand des Finales von Schuberts großer C-Dur-Symphonie konstatierten „himmlischen Längen“, da jeder einzelne Messeabschnitt dramaturgisch schlüssig und mit Hingabe musiziert wurde. Das liegt nicht nur an der eigenwilligen, symmetrisch intelligenten Wiederholungstechnik Schuberts, über die das Programmheft auch aufklärt, sondern auch an der konsequent straffen, aber niemals akademisch langweiligen Leitung Frau Eggers.

Die Fuge des Gloria enthält viele chromatischen Linien, die jede Chorstimme wohldosiert vortrug, ohne die Artikulation zu verschmieren. Ein geringer Wermutstropfen ergab sich im Mittelteil des Gloria, Andante con moto, in den Blechbläsern, denen trotz ihrer verhältnismäßig kleinen Größe von je 2 Hörnern und Trompeten sowie 3 Posaunen wiederholt unterlief, den Chor an einigen Stellen zu übertönen. Hier muss Frau Egger mehr auf der Begleitfunktion bestehen. Im „Et incarnatus est“ des Credos treten erstmals zwei solistische Tenöre zur Sopranistin hinzu, in diesem Fall Roman Payer und Philip Carmichael, was ein stimmiges Terzett ergab, wobei Herr Carmichael, der hier seinen einzigen Auftritt hatte, im Vergleich zu seinem Kollegen um einiges ausgereifter sang. Als weniger glücklich erwies nach einem schönen Sanctus das Solistenquartett im Benedictus. Während Manuel Adt eine passable Baritonstimme vorweisen kann, hörte man von Florence Losseau als Mezzosopran schlichtweg recht wenig bis gar nichts (zumindest im hinteren Teil der Aula). Es mag daran liegen, dass sie hier von den anderen Solisten zugedeckt wurde, zumal sich ihre Lage im Agnus Dei zwar nur geringfügig, aber merklich besserte und auch sie eine durchaus sichere Stimmführung bewies. Hingegen boten der Chor und das Orchester ein ausgezeichnet vorbereitetes „Dona nobis pacem“, das sie bis zum Schluss intensiv musizierten, wobei sie gerade in dem Moment besonders diszipliniert blieben, als ein Chormitglied kurz vor Konzertende kollabierte.

Glaubt man dem Applaus und der allgemeinen Begeisterung, so hat der Chor, der seit 65 Jahren besteht und mit ähnlich ausgerichteten Ensembles international sehr gut vernetzt ist, zusammen mit Solisten und Orchester ein stimmiges und ereignisreiches Konzert gegeben, das trotz einiger Schwächen überzeugte und die Messlatte für das kommende Semester hoch legt.

[Peter Fröhlich, Februar 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4b:] Argentinien in München

Hugo Schuler spielt am 31. Januar 2016 im FMZ Bach, Kaminski, Schwarz-Schilling, Canepa und Ginastera

Stellen Sie sich vor: Sie sind ein wirklich überragender Pianist, berühmt im eigenen Land vor allem auch als Bach-Spieler – nämlich ihrem Geburtsland Argentinien, wie Daniel Barenboim oder Martha Argerich eben – und fliegen nach München, um hier ein Konzert zu geben. Und Sie geben dieses Konzert nicht etwa in der Philharmonie oder wenigstens im Herkulessaal, nein, sie spielen im sog. „Festsaal“ des FMZ = Freies Musikzentrum in der Ismaningerstrasse vor wieder einmal einer Handvoll Zuhörerinnen und Zuhörer. Noch dazu ist den meisten Münchnern erst gar nicht bekannt, wo das FMZ überhaupt liegt, jedenfalls ernte ich oft ein Kopfschütteln, wenn ich jemanden danach frage.
Am Fall des Freien Musikzentrums kann man sehen, wie schwer es ist, einen neuen Klassikstandort zu etablieren in einer Stadt, die dem etablierten Starkult frönt und sich selbst genug ist. Da brauchen auch so ausgezeichnete Reihen wie ‚Backstage on Stage’ Jahre, um größere Publikumskreise zu erreichen. Nun, wir werden sehen, ob die Münchner aufwachen…
Doch genug der Klage, da bin ich sicher nicht allein. Zum Konzert selber:

In den vergangenen Jahren hat Hugo Schuler die Goldberg-Variationen oft gespielt, diesmal im ersten Teil ohne die üblichen Wiederholungen, was eine Spieldauer von ca. 40 Minuten bedeutet und eben ermöglichte, eine Pause einzulegen und danach noch ein Kontrastprogram zu bieten. Bei Schulers erstem Auftreten hier in Deutschland 2014 schrieb ich im alten, leider online nicht mehr verfügbaren „The Listener“:
„Völlig uneitel, versunken, intensivst und gleichzeitig mit größter Gelassenheit entfaltete Schuler die einleitende (und abschließende) Aria mit den folgenden 30 „Veränderungen“, wie sie Bach für den Grafen Keyserlink und dessen Cembalisten Goldberg (einen Schüler Bachs und seines Sohnes Friedemann) komponierte.“
Dem ist auch nach der „verkürzten“ Fassung nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass Hugo Schuler noch durchdringender, selbstverständlicher – im besten Sinn des Wortes – und durchaus auch noch horchender, singender und entfaltender diesen Kosmos vor uns ausbreitet, dessen Kühnheit – es gibt doch nur diese 88 Tasten, bei Bach noch nicht mal alle – mich jedes Mal aufs Neue überrascht und mitnimmt. Es kommt eben in diesem Universum alles vor vom Leisesten, Melodiösen bis zum Abstrakten, fast Freitonalen. Besonders in der 25. Variation, einem Adagio, glaube ich die Bach’sche Tonsprache auch beim wiederholten Hören nicht zu fassen, so unvermittelt kommen da – gegen jede Erwartung – die Melodietöne in der rechten Hand. Es ist immer wieder unfassbar, welche harmonischen und melodischen Kühnheiten der alte Johann Sebastian aus der Kompositionstasche zieht, auf welche „Irrwege“ er uns dann und wann lockt, die ja für ihn überhaupt keine sind oder waren.
Nach der Pause dann die Fortsetzung mit zwei Kompositionen von Heinrich Kaminski (1886-1946)  – Präludium und Fuge, erschienen 1935 – und seinem einstigen Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), die Klaviersonate von 1968.
In beiden Kompositionen wird das polyphone Erbe Bachs deutlich und erkennbar, neben einem strömenden musikalischen Fließen, wo natürlich die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts im Ausdruck und im Charakter hinzukommen. Auch diese Musik ließ Hugo Schuler in all ihrer Größe und klanglichen Farbigkeit entstehen – es wird auch bald bei Aldilà Records Schulers Debüt-CD mit den Goldberg-Variationen und diesen Werken erscheinen.
Zum Abschluss zwei Stücke argentinischer Komponisten. Der erste Julio Canepa, ein Zeitgenosse, geboren 1940, schrieb drei Klavierstücke nach einem Bilderzyklus mit einem Boot, die sehr impulsiv und expressiv waren, besonders den unteren Teil der Klaviatur betonend.
Die „Danzas argentinas“ von 1937 – drei Tänze des großen argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916-1983) – bildeten den temperamentvollen Abschluss und zeigten Hugo Schuler von seiner anderen Seite, die nicht nur dem Publikum, sondern auch ihm selber ersichtlichen Spaß machte. So bleibt nur zu hoffen, dass die Karriere des jungen argentinischen Pianisten ihn auch hier in München bald wieder einmal in einem repräsentativeren Rahmen dem großen Publikum erlebbar macht. Drücken wir ihm und uns die Daumen!

[Ulrich Hermann, Februar 2016]