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Ein Flickenteppich sticht hervor

 

Zwei Mal jährlich nimmt das Bruckner Akademie Orchester unter Leitung seines Chefdirigenten Jordi Mora mit einem neuen Programm die Münchner Bühnen im Sturm. Dieses Mal gibt es die d-Moll-Symphonie Bruckners, die „Nullte“, sowie die Sechste Symphonie Dmitri Schostakowitschs. Am 23. April 2017 spielte das Orchester im Kubitz Unterhaching und heute, einen Tag später, im Münchner Herkulessaal der Residenz.

Schon längere Zeit berichtete ich nicht mehr aus den großen Sälen Münchens. Grund war nicht mangelndes Angebot an Konzerten und namhaften Orchestern, sondern dass nichts wirklich bemerkenswert aus der klingenden Masse herausgestochen ist. Technische Perfektion und roboterhafte Makellosigkeit sind an der Tagesordnung, viel zu oft allerdings auf Kosten des tatsächlichen Erspürens der Musik, auf Kosten von Inspiration und Einmaligkeit der Aufführung. Ein ganz anderes Bild erwartet den Hörer am heutigen Abend des 24. April 2017 im Herkulessaal beim Auftritt Jordi Moras mit seinem Bruckner Akademie Orchester. Das Orchester ist ein bunter Flickenteppich bestehend aus professionellen Musikern, ambitionierten Laien und musikalischen Nebenberuflern sowie einigen jungen Talenten. Was sie verbindet, ist ihre Liebe zur Musik sowie der Anspruch, das Maximum aus den Tönen herauszuholen. Auf erstaunlich hohem technischen Niveau findet die Arbeit musikalisch statt, und so sticht dieses Orchester hervor.

Das Programm enthält keinen wirklichen Publikumsmagneten, und Werbung gab es keine bis wenig, also blieb der Herkulessaal kaum halb besetzt. Viele potentiell Interessierte ließen sich diese Gelegenheit entgehen (zumal bei 35 € für die beste Kategorie, einem für diesen Saal minimalen Kostenaufwand), Musik auf außergewöhnlich großartigem Niveau zu hören.

Die „Nullte“ Symphonie Bruckners ist nicht etwa vor der Ersten komponiert, sondern danach und wurde vom Komponisten als ungültig, „annulirt“, abgehakt, erhielt folglich ihren Beinamen. Dabei ist das etwa 40-minütige Werk durch und durch echter, kerniger, feinsinniger Bruckner, enthält herrliche Steigerungen und ist durchgehende stringent aufgebaut, mit einem großen Zug voll magischer Momente. Jordi Mora hält die Form energetisch zusammen und beweist im gemeinschaftlichen Tun durchweg den Überblick über das Gesamte. Jeder Einsatz hat seine unverrückbare, unersetzliche Funktion im orchestralen Geflecht, keine Themenwiederholung wird mechanisch gleichartig aufgefasst, alles erhält kontextbezogen einzigartige Wertigkeit, unwiderstehliche Intensivierung und innerlich nachklingende Wirkung. Der weit ausgreifende Kopfsatz gelingt kristallklar und zutiefst ergreifend, der langsame Satz verzaubert in unerhörter Zartheit, und das mit durchaus dämonischen Zügen durchsetzte Scherzo treibt aus der Tiefe glühend voran. Manche Momente im Finale gemahnen überraschend ein wenig an die Mannheimer Schule, angereichert durch beinahe Mendelssohn’sche Klangwelten, von Mora besonders farbenprächtig hervorgehoben.

Ein formal gewagtes Experiment stellt die Sechste Symphonie Schostakowitschs dar, hauptsächlich aus dem weit ausgedehnten Largo-Hauptsatz bestehend. An diesen schließt ein Allegro an, und die Symphonie endet mit einem übermütig turbulenten Presto, die beiden letzten Sätze sind dabei zusammen kürzer als der erste. Somit ist die gesamte Symphonie ein auskomponiertes Beschleunigen, aus dem inneren Leiden hin zu rasendem Tollen, immer wilder und ungezügelter werdend. Der erste Satz wird unter Mora äußerst getragen und tiefschürfend dargeboten und fließt doch beständig und unaufhaltsam durch all die harmonischen Schrägheiten, die vom Orchester deutlich hervorgeholt und in ihren mannigfachen Bezügen erfühlt werden. Die schnellen Sätze reißen mit Witz und Charme mit, verleugnen auch nicht unterhaltungsmusikalische Elemente, die dennoch den unbedingten Ernst und die irrationale Doppelbödigkeit Schostakowitschs überall durchklingen lassen. Hier können die Musiker auch technisch ihr Können auf die Probe stellen, die Solisten, Stimmführer und besonders der grandiose Konzertmeister leisten Phantastisches. Und die Technik degeneriert nicht für eine Sekunde zum Selbstzweck, alles geschieht immer im Dienst der Musik und der dynamischen Formwerdung.

Jordi Mora ist das absolute Gegenteil eines Selbstdarstellers, er gibt wenig auf äußere Ästhetik seiner Bewegungen oder showbetonte Eleganz. Seine Bewegungen werden vom Körperinneren geführt, wie im Tai Chi sind die Arme lediglich die Vermittler einer mittig fokussierten Kraft, die in ihrer Zentrierung meditative Ruhe und kraftvolle Flexibilität ausströmt, was sich unmittelbar auf die Musiker überträgt. Diese folgen jedem Wink ihres Dirigenten, sind ein brillant eingespieltes Team und haben sichtlich Freude am Musizieren. Freude haben auch die Hörer angesichts solch eines überragenden Konzerts, das mit geradezu frenetischem Applaus endet. In einem Jahr, also wieder in der Woche nach Ostern, werden wir wohl die Neunte Symphonie Gustav Mahlers von diesen Musikern hören dürfen, und vielleicht versteht man es ja dann auch, vorher ein bisschen effizienter dafür zu werben.

[Oliver Fraenzke, April 2017]

Herrlicher Krach bis zum Vulkanausbruch

Ondine, LC 3572; EAN: 0761195121023

Normalerweise mache ich ja bei Klassik-Samplern einen Bogen um eine Rezension. Aber die Wiederveröffentlichung der schon legendären „Earquake“-CD (1997) beim finnischen Label Ondine – Untertitel: The Loudest Classical Music of All Time – darf man schon mit einer Besprechung feiern…

Zunächst einmal: Diese inhaltlich gegenüber der Erstveröffentlichung unveränderte CD ist ein Gag; vielleicht ein brauchbarer Party-Rausschmeißer à la „The Glory??? of the Human Voice“ (Florence Foster Jenkins) – mehr nicht. Und leider fehlt jetzt das entscheidende Gimmick; im transparenten Tray lagen seinerzeit zwei gelbe Ohrstöpsel – wohlgemerkt: for your neighbor! Für diese Aufnahme durfte ein äußerst körperbetont, aber immer präzise agierender Dirigent mal so richtig „die Sau rauslassen“. Der Finne Leif Segerstam ist nicht nur ein weltweit tätiger Orchesterdompteur, sondern komponiert nebenbei auch noch ein wenig: Seine Werkliste umfasst mittlerweile z.B. 309 (!) Symphonien; er ist da wohl der absolute Rekordhalter. Der Legende nach hat das mit Anfang zwanzig noch spindeldürre Nordlicht seinerzeit mit voller Absicht innerhalb kürzester Zeit 30 kg draufgepackt – nur um so auszusehen wie der dirigierende Johannes Brahms auf den berühmten Bleistiftzeichnungen. Und wenn ich den etwas korpulenten, aber höchst agilen Herrn mal live erleben durfte (ob mit Frau ohne Schatten an der Zürcher Oper oder Turangalîla in der Kölner Philharmonie), war ich immer von seinen mitreißenden Darbietungen begeistert. Auch hier mit dem Helsinki Philharmonic Orchestra weiß Segerstam natürlich genau, wie er die hypertrophen Klangmassen selbst im allergrößten Krach zu bändigen hat, damit das Ganze noch irgendwie vernünftig ausbalanciert scheint.

Trotzdem: Was mich naturgemäß an diesem Sampler stört, ist nicht etwa die Vielzahl der Komponisten und Stile (alles 20. Jahrhundert), sondern dass hier nur Ausschnitte aus zum Teil deutlich umfangreicheren Werken zu Gehör gebracht werden; und in der Regel noch nicht einmal komplette Sätze, sondern tatsächlich nur eben die lauten Stellen – Häppchenkost nach Art von Klassik Radio. So wird dem Hörer die Sinnhaftigkeit solcher Passagen, also die Entwicklung, die überhaupt erst zu solch hemmungslosen Ausbrüchen führt, vorenthalten.

Das ist natürlich ein dann doch einseitiges Vergnügen. Neben den 13 echten „Krachern“ gibt es noch drei ruhige Stücke (Druckman, Segerstam und Rautavaara) als Kontrast. Gespielt wird zumeist auch rhythmisch sehr attraktive Musik, etwa der Lateinamerikaner Revueltas und Ginastera, dazu einiges aus Skandinavien (Rangström, Nielsen…), aber auch Lärm aus den USA oder Russland (Hanson, Bolcom, Prokofjew…). Als Höhepunkt am Schluss dann der vom Isländer Jón Leifs 1961 sensationell in Orchestersprache übersetzte, große Vulkanausbruch der Hekla (1947/48) – dagegen war der Eyjafjallajökull 2010 nur ein Huster. Da wird innerhalb eines 140-Mann-Orchesters so fast alles aufgeboten, was das Schlagwerk zu bieten hat. Schlecht ist das magere Booklet, das selbst die Vornamen der Komponisten unterschlägt und auch sonst keinerlei Infos zu den Stücken – mit Ausnahme von Hekla – bereithält.

Der Anspruch, hier wirklich die lauteste, klassische Musik aller Zeiten auf einer CD zu versammeln, wird allerdings verfehlt. Stücke wie Iannis Xenakis‘ Jonchaies, Leonardo Baladas Steel Symphony und einiges mehr, das bereits vor 1997 geschrieben war, sind lauter und aggressiver. Ganz zu schweigen von Dror Feiler – da halten sich einige Musiker des BR-Symphonieorchesters schon beim Erklingen nur des Namens die Ohren zu. Und warum hat man von Ginastera den Malambo aus Estancia ausgewählt, und nicht etwa die brachialen Stellen aus Popol Vuh? Sei’s drum – das hier eingespielte Repertoire reicht allemal, um gepflegt die Wände wackeln zu lassen und macht wirklich Spaß. Ein Paar Ohrstöpsel für die Nachbarn bereit zu halten, wäre dann aber gar keine so verkehrte Idee…

[Martin Blaumeiser, März 2017]

Abgründig, tiefgründig

Coviello Classics, COV 91701; EAN: 4 039956 917014

Eine im Jahr 2000 gemachte Liveaufnahme von Lavard Skou Larsen und den Salzburg Chamber Soloists ist nun bei Coviello Classics wiederveröffentlicht worden: Darauf sind Schuberts vierzehntes Streichquartett D810 in d-Moll mit dem Beinamen „Der Tod und das Mädche“ in einem Arrangement für Streichorchester des Orchesterleiters und Schostakowitschs Kammersymphonie op. 110a, die Bearbeitung des 8. Quartetts durch Rudolf Barschai, zu hören.

Zwei abgrundtief schürfende Streichquartette begeistern in der neuesten Wiederveröffentlichung der Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou Larsen, sie beide behandeln den Tod auf ihre ganz eigene Weise. Schuberts berühmtes Quartett trägt seinen Beinamen aufgrund von Zitaten aus seinem gleichnamigen Lied im zweiten Satz, dem knapp fünfzehnminütigen Herzstück des groß angelegten Quartetts. Schostakowitsch bezog sich auf einen Film über das zerstörte Dresden 1945, worauf er in nur drei Tagen eine Trauermusik in Quartettform komponierte, welcher er seine Initialen D-Es-C-H zugrunde legte. Das Quartett besteht aus fünf Sätzen, ist jedoch eigentlich ein einziges zusammengehöriges Gebilde. Ungeachtet aller stilistischen Unterschiede verbindet die Quartette ihr feines Gespür für harmonische Finessen, eine tiefgründige Komplexität und nachtschwarze Todesnähe.

Erst vor wenigen Tagen hörte ich das Orchester in Kempten mit Schostakowitschs Kammersymphonie, siebzehn Jahre nach vorliegender Aufnahme. In dieser Zeit hat sich der Zugang stark gewandelt, andere Aspekte rückten ans Licht und andere Schwerpunkte wurden gesetzt. Dies soll nicht bedeuten, dass die damalige Aufführung schlechter oder unvollständiger wäre als die heutige – es zeigt sich lediglich, dass sich Lavard Skou Larsen selbst nach einer wahrhaft gelungenen Aufnahme nicht zurückgelehnt hat, sondern ständig weiter an seinem Repertoire forscht und immer Neues hervorholt. Die Musik ist nie starres Endprodukt, sondern flexibel sich ständig aktualisierendes Eigenleben. Die Salzburg Chamber Soloists bestechen mit voluminösem Sound in technischer Vollendung und klanglich feinster Nuancierung. Nie driftet der sich ständig metamorphosierende Fluss ins Verträumte ab, nie wird haltlos nach vorne gestürmt, alles hat einen unentrinnbaren Sog, der den Hörer erbarmungslos durch die fünf bezwingend zusammengeschweißten Sätze schleift.

Eine der schwierigsten Aufgaben hinsichtlich zusammenhängender musikalische Gestaltung ist seit jeher die Musik Schuberts, dessen harmonisch bis ins letzte Details ausgearbeitete Sätze eine subtile und nur den wenigsten Musikern sich wahrhaft eröffnende Komplexität entfalten, über deren Abgründe und Feinheiten fast immer viel zu belanglos hinweggespielt wird – und damit am Kern der Musik vorbei. Dass Schubert adäquat dargeboten stets aufs Neue unwiderstehlich verblüfft, war mir durchaus bewusst, aber dass seine Musik eine solch elementare Wucht und unmittelbare Durchschlagskraft aufweist wie in dieser Aufnahme, hat mich nun doch zutiefst erstaunt. Die großformatigen Sätze sind aus einem Guss ohne jegliches energetische Einknicken erfasst, dabei werden auch versteckteste Nuancen blendend herausgefeilt und mit entfesselter Liebe in das Gesamtbild integriert. Gerade im zweiten Satz, in den meisten Aufführungen langatmiger Melancholie erliegend, entstehen magisch transzendente Augenblicke, die allerdings nicht isoliert, sondern in alles umfassendem Zusammenhang erstrahlen.

Zwei tragische Komponistenfiguren sind hier in selten bis nie dagewesener Qualität zu hören. Musikalisch so fein erarbeitete Werke sind eine absolute Rarität, und das mit solch einem sensiblen Gespür für den alles durchdringenden Strom der Töne – eine Pflichtlektüre für jeden Menschen, der die Subtilität seiner Wahrnehmung erweitern möchte.

[Oliver Fraenzke, März 2017]

 

Lebendig wandelnde Wesen der Musik

Im Rahmen der Meisterkonzerte des Theaters in Kempten (TiK) spielen die Salzburg Chamber Soloists unter Lavard Skou-Larsen am 18. März 2017 zwei Kammersymphonien von Dmitri Schostakowitsch – op. 118a nach dem 10. und op. 110a nach dem 8. Streichquartett jeweils in der Bearbeitung durch Rudolf Barschai – sowie zwei der Cembalokonzerte von Johann Sebastian Bach, d-Moll BWV 1052 und A-Dur BWV 1055. Solistin am modernen Konzertflügel ist die österreichisch-russische Pianistin Lisa Smirnova.

Nur von wenigen Komponisten ist zu sagen, dass kein einziger Ton zu viel und keiner zu wenig ist, dass absolut alles am rechten Platz steht. Zu diesen gehört Johann Sebastian Bach, den selbst in einem unüberschaubar gigantischem Œuvre nie die Kreativität verließ. Zwei seiner insgesamt acht Cembalokonzerte sind am heutigen Abend mit Lisa Smirnova am großen Konzertflügel von Steinway & Sons zu hören, dasjenige in A-Dur BWV 1055 und das wohl bekannteste in d-Moll BWV 1052. Die Österreicherin russischer Herkunft besticht nach anfänglich etwas romantischen Ansätzen im Kopfsatz des A-Dur-Konzerts mit erstaunlicher Feingliedrigkeit der Stimmführung. Sie hört sich exakt auf die Streicher ein und reflektiert deren Ton auf dem Tasteninstrument, verschmilzt mit ihnen zu einer untrennbaren Einheit. Dabei gelingt ihr eine natürliche und organische Phrasierung, die durch ihren perlenden Anschlag unterstützt wird. Abgesehen vom Kopfsatz des d-Moll-Konzerts kommt auch die ganze Vielfalt der Unterstimmen zum Tragen und ergibt ein angenehmes Klangvolumen. Lisa Smirnova kennt ihren Bach inwendig wie nur wenige und spielt mit einer ekstatischen Hingabe, und ihre Mitspieler, angeführt von Skou Larsen, verschmelzen mit ihr zu einer Ausdruckseinheit von unwiderstehlicher Glut und Ausdrucksdichte.

Dmitri Schostakowitsch hatte ein gewaltiges Ziel vor Augen, welches er in seiner Lebenszeit nicht realisieren konnte: Vierundzwanzig Symphonien und ebenso viele Streichquartette zu verfassen, die wie die Präludien und Fugen aus Bachs Wohltemperiertes Klavier in allen vierundzwanzig Tonarten stehen. Beiden Gattungen schenkte er letztlich fünfzehn Werke. Ein Intimus Schostakowitschs, der Weltklassebratschist und legendäre Dirigent des Moskauer Kammerorchesters Rudolf Barschai, bearbeitete vier der Quartette als Kammersymphonien für Streichorchester (Nr. 3, 4, 8, 10), fügte damit auch jeweils eine Kontrabassstimme hinzu. Bei der As-Dur-Kammersymphonie op. 118a führt Lavard Skou Larsen den Dirigierstab, bei op. 110a und bei den Bach-Konzerten sitzt er am Konzertmeisterpult. In beiden Positionen hält er seine Salzburg Chamber Soloists mehr als vortrefflich zusammen und schafft eine einheitlich pulsierende Ganzheit. Ausnahmslos spielen die Musiker auf technisch wie musikalisch allerhöchstem Niveau, selbst in den schwierigsten Passagen behalten sie die Souveränität und fokussieren sich vollkommen auf ihre musikalisch stimmige und feurig innige Darbietung – der Name „Soloists“ ist Programm. Die Einzelstimmen wie ihr Zusammenwirken sind zutiefst empfunden, von der fragilen Solo-Kantilene bis zum brodelnden Lavastrom im Tutti. Die Kammersymphonien beginnen zu atmen und sich wie lebendige Wesen kontinuierlich zu wandeln, die Details in der Momentaufnahme und das Gesamte im Fluss stets parallel im Blick in der hinreißenden Einstudierung Lavard Skou Larsens, der mit seinen phänomenalen Mitstreitern einmal mehr zeigt, was höchste Streichorchesterkultur heute sein kann.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Konzerte und Quartette

Naxos, 8.573666; EAN: 7 47313 36667 5

Die beiden Klavierkonzerte in c-Moll op. 35 und in F-Dur Op. 102 von Schostakowitsch spielt Boris Giltburg gemeinsam mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko, die Solo-Trompete im ersten Konzert übernimmt Rhys Owens. Des weiteren sind von Giltburg Arrangements des achten Streichquartetts c-Moll Op. 110 und des Walzers aus dem zweiten Quartett Op. 68 für Klavier solo zu hören.

Nach drei recht erfolgreichen Solo-Aufnahmen spielt Boris Giltburg nun mit einem Orchester. Da es erst vor kurzem eine Gesamtaufnahme aller Schostakowitsch-Symphonien abgeschlossen hat, ist das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko geradezu prädestiniert, mit dem zum Star aufsteigenden Solisten die beiden Klavierkonzerte des russischen Meisters einzuspielen.

Im Vergleich zu der vorausgegangenen Rachmaninoff-Einspielung hat Boris Giltburg an Weichheit und Flexibilität gewonnen, das Forte ist wesentlich voluminöser. Und gerade die zarten und lyrischen Passagen konnte der in Moskau geborene Pianist nun für sich erschließen, tragfähige und zeitgleich zerbrechliche Kantilenen sind der Beweis. Trotz dessen erscheinen die Tempi gerade im ersten Konzert etwas sehr rasch. Jedoch verliert Giltburg durch extreme Willkür in oftmals unstimmigen Rubati den Fluss (plötzlich eilt die Musik davon, dann bleibt sie wieder stecken) und somit das kontinuierliche Precipitato-Feeling, das die Musik Schostakowitschs so mitreißend macht – wobei dieses in Ansätzen durchaus vorhanden wäre, aber eben nicht mit der charakteristischen Konstanz.

Das Orchester blüht vor allem im zweiten Klavierkonzert auf, das allgemein plastischer entsteht als das erste. Vasily Petrenko gibt seinem Klangkörper einen markanten, rhythmisch prägnanten Charakter, der ihm nicht aus dem Ruder läuft. Im zweiten Konzert gelingt Petrenko eine herrlich polyphone Gestaltung des Orchesterapparats, die Unterstimmen erhalten volles Mitspracherecht, ergeben somit eine vielschichtigere Färbung. Auch im ersten Konzert fasziniert allgemein eine plausible Linienführung, lediglich der langsame Satz verliert bei allen Beteiligten an Fokus und Richtung, verläuft sich in Richtungslosigkeit. Rhys Owens brilliert in der hohen Lage seines eigenwilligen Trompeten-Soloparts (welch eine Besetzung!), in der Tiefe sticht er durch einen rauh-blechernen Ton hervor, der einen ganz eigenen Charme besitzt.

In den Arrangements des achten Quartetts sowie des Walzers aus dem zweiten Quartett bleibt Giltburg dem Original verpflichtet, sowohl als Arrangeur wie auch als Pianist. Es klingt alles sehr nach der Streicherbesetzung, die er in einer Person zu ersetzen versucht. Auch wenn einige Passagen deutlich nach echtem Streicherklang verlangen, funktionieren die Arrangements erstaunlich gut und lassen die herrliche Kammermusik nun auch als Solomusik entstehen. Auch das Spiel Giltburgs wird hier auf einmal kammermusikalischer, das Tempo erhält Kontur und die Stimmen spielen polyphoner mit- und gegeneinander, das Gesamte erhält einen deutlicheren einheitlichen Bogen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2016]

Zauber des Moments

Les Dissonances, LD 009; EAN: 3 149028 105421

Es sind zwei der meistgespielten Werke Schostakowitschs, die der Geiger und Dirigent David Grimal für die neueste Live-Aufnahme mit seinem Orchester Les Dissonances auswählte: die fünfte Symphonie d-Moll op. 47 sowie das Es-Dur-Cellokonzert Nr. 1 op. 107 mit dem Solisten Xavier Phillips. Seit jeher sorgt gerade diese Symphonie bei den Besserwissern für ein leichtes Grinsen, wenn am Ende das strahlendste und starrsinnigste nur vorstellbare D-Dur durchbricht und ein so übermäßig feierliches Ende ergibt, dass es anscheinend überhaupt nicht erst ernst genommen werden kann nach all den Abgründen dieser Musik. Für die Musiker und vor allem den Dirigenten bietet die Symphonie eine harte Nuss, die es zu knacken gilt, so gewaltig sind die Formen und so schwierig gestaltet es sich, all die feinen Übergänge fließend zu gestalten und sich nicht in Details oder Momentaufnahmen zu verlieren, worüber hinaus der Kontext und somit auch der Hörer verloren geht in uferlos sich ausbreitenden Flächen. Mrawinsky, Celibidache und Kondraschin haben allerdings bewiesen, dass die Form sehr wohl bewältigbar ist und ein gewaltiger durchgehender Sog entstehen kann, der mitreißt und alles ausschöpft bis zum Letzten, doch viel zu oft ist auch zu erleben, wie die Zuhörer maßlos überfordert werden durch den Mangel an Bewusstsein über das große Ganze, und spätestens im dritten Satz sind fast immer einige Köpfe niedergesunken. Mit Schostakowitsch über große Strecken zu begeistern ist leicht, dies macht alleine schon die genial gesetzte Partitur mit herrlicher Orchestration und einer Unzahl an tiefgreifenden Effekten, doch sich der Musik voll bewusst zu werden und dies umzusetzen, gelingt den Wenigsten.

David Grimal setzt mit seinem Orchester Les Dissonances auch auf die Magie des Moments. Dadurch entstehen überwältigende Gegenwartsaufnahmen, die mit viel Hingabe und spürbarer Übertragung an glühendem Gefühl dargeboten werden. Düstere Passagen brodeln direkt voll von Feuer und Energie, die großen Steigerungen begehren in höchstem Maße auf und schießen förmlich nach oben, um sich zu entladen. Die düsteren Passagen sind hingegen neblig verhangen, geheimnisvoll und von einer unheimlichen Aura eingesäumt. Klar und transparent gibt sich zudem der Orchesterklang, so dass alle Stimmen hervortreten können und die dichte Polyphonie ihre volle Wirkung entfalten kann. Doch auch bei Grimal zerbricht die Form oft in einzelne Episoden, die zwar jede für sich herausgearbeitet wurden, doch keine zusammenhängende Korrelation spüren lassen. Woran liegt dies? Hauptsächlich spaltet es sich an den subtilen Übergängen auf, die Tempowechsel geraten stockend und werden äußerlich bemerkbar, der Fluss somit unterbrochen. Des Weiteren schwankt auch innerhalb der Abschnitte das Tempo teilweise sehr, drängt gerne einmal nach vorne, die punktierte Rhythmik verstolpert als Folge dessen. Ebenfalls zu nennen ist die Phrasierung, die nicht den umfassenden Bogen spannt, den sie benötigt, um über lange knapp besetzte Passagen zu tragen, sondern sich zu sehr momentverliebt gibt. Hinzu käme das Verständnis über die harmonischen Modulationen – bei Schostakowitsch selbstredend eine an die Grenzen des Korrelierbaren reichende Aufgabe -, mit welchem bezwingend über weit verzweigte Strecken disponiert werden kann (von Celibidache unnachahmbar verwirklicht), was aber auch hemmend wirken kann, sofern die Harmoniechangierungen nicht verstanden werden. Im zweiten Satz neigt Grimal zudem dazu, die Dissonanzen zu verharmlosen, und nimmt somit dem ersten Teil die düstere Doppelbödigkeit, mithin auch den Kontrast zum verspielt scherzenden zweiten Teil.

Der Solopart in dem ersten, Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch gewidmeten Cellokonzert wird von Xavier Phillips übernommen, einem ehemaligen Schüler des Widmungsträgers. Er geht mit klarem und erstaunlich unprätentiösem Spiel die hochvirtuose Stimme an und überzeugt mit Feingefühl und einem angenehmen Cantabile, doch auch mit einer großen Obsession, wenn es an die von Wildheit geprägten Passagen geht. Schade, dass hier das Orchester etwas in den Hintergrund gedrängt ist und in der Abmischung dem Solisten nicht als gleichwertiger Widerpart zur Seite steht.

Zwar mag diese Aufnahme nicht durch vollendetes Formgefühl zu bestechen, doch weiß Grimal sehr wohl, den Zuhörer im Moment zu verzaubern und ihn in seinen Bann zu reißen. Viele Stellen meißelt er vorzüglich heraus und lässt eine atemberaubende Wirkung zu Tage treten, die die vorliegende von der Mehrzahl der unzähligen Aufnahmen dieser Stücke abhebt.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2016]

Der wahre Avantgardist in neuer Referenzqualität

Dmitri Schostakowitsch
Sonaten für Violine und Klavier op. 134 (1968) und für Viola und Klavier (1975)
Mirjam Tschopp (Violine, Viola), Riccardo Bovino (Klavier)
Genuin GEN 16428 (EAN: 4260036254280)

Hätte es je eine originellere Übernahme von tragenden Elementen eines großen Meisterwerks gegeben als im Finale von Schostakowitschs letzter Komposition, der Bratschensonate, die er einen Monat vor seinem Tod vollendete? Die Art, wie hier der Kopfsatz von Beethovens ‚Mondschein’-Sonate anklingt, ist wahrlich unheimlich und zeugt von einer ungeheuren inneren und äußeren Freiheit. Wie hatte Schostakowitsch selbst zwei Jahrzehnte zuvor, 1955, geschrieben:

„Ich glaube, Originalität im Musikschaffen ist umfassend zu verstehen. Die Übernahme einzelner Elemente von großen Komponisten der Vergangenheit bedeutet noch lange nicht ein Abschreiben von Seiten oder Takten aus bekannten Werken. Man muss die Technologie ihres Schaffens gründlich durchdenken, sie verstehen und dann dieses oder jenes Element zu seinen eigenen Zwecken benutzen, indem man es abändert oder – besser noch – entsprechend seiner eigenen künstlerischen Aufgabenstellung weiterentwickelt.“

Ein besseres Beispiel dafür könnte es nicht geben. Danach ist derlei in der Sowjetunion in Mode gekommen, doch selbst bei Schnittke nicht auf solcher beklemmend befreiten Höhe. Und heute erweist sich Schostakowitsch damit im Nachhinein als wahrer Avantgardist, denn heute ist solches Mäandern zwischen den Zeiten und Stilen allgemeine Verfahrensweise in der sogenannten ‚Postmoderne’, wenngleich eben meist mit peinlichen und kaum je mit wirklich hörenswerten oder gar zusammenhängend tragfähigen Resultaten. Dergleichen Probleme – die von unseren Zeitgenossen in ihren eigenen Werken gar nicht als solche wahrgenommen werden – kannte Schostakowitsch nicht, denn bei ihm funktioniert es so unvorhersehbar wie folgerichtig organisch.

Die Neuaufnahme der Bratschensonate und der um sieben Jahre vorangegangenen Violinsonate für den unübertroffenen David Oistrach durch die Schweizer Geigerin und Bratscherin Mirjam Tschopp und den Turiner Pianisten Riccardo Bovino bewegt sich auf olympischen Höhen. Nicht nur, das Mirjam Tschopp sowohl auf der Geige als auf der Bratsche eine herausragende Virtuosin ist: Bei ihr klingt die Bratsche zudem nicht wie eine tiefere Geige, sondern eben wirklich originär, wie eine Bratsche im schönsten Sinne klingen kann, als authentischer Ausdruck des Alt-Registers mit grandios mächtiger Tiefe. Mirjam Tschopps Ausdruck umfasst eine weite Skala. Grundsätzlich fällt eine unsentimental innige Herbheit auf, die sich allerdings in idealtypischer Weise mit Schostakowitschs weltabgewandtem Spätstil verbindet. Riccardo Bovino ist ihr ein souverän mitgestaltender und intensiv zuhörender Partner, und beide sind in jeder Hinsicht bestens aufeinander abgestimmt, auch in den dynamisch heikelsten Abschnitten bilden sie ein exzellent abgestimmtes Duo. Überhaupt ist das dynamische Spektrum mit entschlossener Bewusstheit sehr weit gespannt. Hinzu kommt eine vorzügliche Aufnahmetechnik, die wohl auch von der ausgezeichneten Akustik der Leipziger Bethanienkirche profitiert haben dürfte. Hier ist in allen Belangen superbe Arbeit geleistet worden, und auch Eckhard van den Hoogens kenntnisreicher Begleittext hält da gut mit.

Ein paar kritische Kleinigkeiten möchte ich dennoch anmerken: Dem Ganzen täte des öfteren noch mehr Tempokonstanz über die großen Abschnitte hinweg gut; und dynamisch entspricht die Realisierung nicht immer ganz dem musikalischen Sinn. So werden etwa manche Crescendi, die eigentlich nur zur nächsten Dynamikstufe hinführen sollen, übermäßig hervorgehoben, wodurch dann am Ziel die Dynamik wieder zurückgenommen werden muss. Auch das gegenteilig ausmündende Crescendo mit anschließendem subito piano (dieses einst von Beethoven mit so einmaliger Wirkung eingeführte Mittel) wird gelegentlich nicht konsequent zum Ende geführt. Auch über manche Phrasierung kann man diskutieren, doch das fällt dann doch nicht so sehr ins Gewicht, und als Fazit ist zu sagen: Es handelt sich um eine Referenzaufnahme, wie seit Jahrzehnten keine gleichrangige vorgelegt wurde. Gerne hören wir mehr von diesen außergewöhnlich ernsthaften und befähigten Künstlern.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, August 2016]

Ein Leben in Symphonien

NAXOS, 8.501111; EAN: 7 30099 11114 0

0015

Das gesamte Symphonieschaffen des großen russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie dem Royal Liverpool Philharmonic Choir (in den Symphonien Nr. 2, 3 und 13), der Huddersfield Choral Society (in der Symphonie Nr. 13) und den Solisten Alexander Vinogradov (in den Symphonien Nr. 13 und 14) als Bass und Gal James (in der Symphonie Nr. 14) als Sopran unter dem Dirigat von Vasily Petrenko ist nun als 11 CD-Box bei NAXOS erhältlich mit Einspielungen aus den Jahren 2009 bis 2014.

Kein anderes Genre zieht sich so sehr durch das Leben von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wie das der Symphonie: 1924/25 schrieb der 1906 geborene Komponist sein frühes Erstlingswerk und verstummte schließlich symphonisch 1971 mit seiner fünfzehnten Symphonie, vier Jahre vor dem Herzinfarkttod des bereits schwer Krebskranken 1975. Sein utopisches Ziel war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht, – 24 Streichquartette und 24 Symphonien wollte er schreiben, ähnlich dem von so vielen Komponisten wie auch ihm selbst verfassten Zyklus von 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten – lediglich 15 konnte er vollenden, sowohl Symphonien als auch Streichquartette.

Jeder Versuch, das gesamte symphonische Werk Schostakowitschs auf einen Nenner zu bringen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn zu divergierend sind sie doch alle. Bereits zwischen der eingängigen ersten und der undurchschaubaren, mit bis zu dreizehnstimmigem Fugato verstrickenden, höchst komplexen zweiten Symphonie liegen Welten, auch die Längen der Werke schwanken insgesamt zwischen knapp 20 und 80 Minuten, ebenso ist die Besetzung sehr wechselnd. Sucht man doch nach Verknüpfungspunkten zwischen Schostakowitschs Symphonien, so sollte sein Gespür für beißende Ironie und todernsten Sarkasmus ins Zentrum gerückt werden – bei kaum einem anderen Komponisten wird noch immer so heftig spekuliert, was er aussagen wollte mit solchen fast frivol-markanten Passagen, sei es der plötzliche überlang auftrumpfende Schluss der Fünften, sei es das verstümmelte Rossini-Zitat in der Fünfzehnten, sei es der Höllentanz der Malagueña als zweiter Satz der Vierzehnten, der erst in den letzten Takten sein wahres Gesicht zeigt, sei es die Umfunktionierung der Loreley in selbigem Werk, die sich von ihrem Felsen stürzt und im unmittelbaren Anschluss als scheinbar andere Person schließlich über ihr eigenes Grab spricht, verbunden mit zwei identischen Glockenschlägen, die einen parallel grinsen und Gänsehaut machen, oder sei es die ganze fast an Haydn erinnernde Form der „Neunten“, die statt Ruhm und Götterfunken in aller Kürze alles Militärische veralbert, karikiert und dem System die lange Nase zeigt. Tausendfach diskutiert man seit jeher, ob Schostakowitsch nun für oder gegen das System war, ob er seine Meinung zeitweise änderte und wie sich dies in seinem Schaffen abbildet – Extremfall die nach Stalins Tod geschriebene Zehnte, die heute meist als „Befreiung aus dem System allgemein und im Einzelschicksal“ angesehen wird. Bezeichnend auch für alle Werke ist die unglaubliche Kunst Dmitri Schostakowitschs, mit seinen Motiven zu spielen, sie obsessiv in durchgängigem Precipitato-Empfinden in die Höhe zu treiben, militärische Anklänge einzubeziehen und diese wieder in der Beklommenheit und Stille versinken zu lassen. Und dies in einer Verbindung mit ausgefeiltester kontrapunktischen Fertigkeit und einem einmaligen Gespür für Instrumentierung, die das gesamte große Orchester einbezieht und unzählige Soli gebiert.

Vasily Petrenko wagt sich nun an die Gesamteinspielung dieses zwölfstündigen Marathons, der ihn von 2009 bis 2014 beschäftigte. Damit tritt er in die Fußstapfen einiger sehr namhaften Dirigenten wie Kirill Kondraschin, Gennadi Roschdestwensky, Valery Gergiev, Rudolf Barshai oder Mariss Jansons, bei dem Petrenko auch einige Zeit lernte und dessen Gesamteinspielung meiner Meinung die alles in allem vielleicht gelungenste ist, auch wenn einige Symphonien beispielsweise unter Gergiev noch etwas mehr Glanz und Unmittelbarkeit versprühen. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra dirigiert der noch recht junge Orchesterleiter in einer nahezu unwirklich erscheinenden Synchronizität, die bis in die verzwicktesten Rhythmen vollkommen makellos ist. Das Orchester erhält einen trockenen Anstrich, der jedoch nicht ins Spröde und vor allem zu keiner Zeit in romantischen Kitsch verfällt, was gerade bei den ausgedehnten langsamen Sätzen das unumstößliche Todesurteil für die Musik darstellen würde. In den meisten Symphonien erreicht es Petrenko, die verzweigten Stimmengeflechte alle hörbar werden zu lassen und für eine gute Transparenz zu sorgen, nur in manchen Einzelfällen fehlt mir eine zentrale Instrumentalstimme, die von Bedeutung gewesen wäre und nun in der Klangmasse verloren geht. Dynamisch hält sich das Orchester zwar nicht zwangsläufig an alle vorgegebenen Feinheiten, schafft aber dennoch oder eben sogar damit stets ein lebendig pulsierendes Klanggebilde mit Respekt für die Bogenlinie und die verschiedenen Dynamikebenen in der Partitur. Ein wenig in die Extreme geht Vasily Petrenko bei der Tempofrage, die schmetternden Höhepunkt in größter Pracht drängen unglaublich nach vorne, während die eh schon teils überlangen ruhigen Tempi noch mehr in die Breite gezogen werden. Das Drängen ist alles andere als störend, weil dadurch kein qualitativer Verlust der Musik zu beklagen ist, nach wie vor bleibt alles sauber und durchsichtig, nur die langsamen Sätze zerbröckeln teils etwas und verlieren dadurch ihre an sich schon gedehnte Form – besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei der sechsten Symphonie, deren erster Satz hier eine Länge von knapp 20 Minuten aufweist (bei Jansons im für mein Empfinden perfekten Tempo 15 Minuten). Es wäre so lange nichts gegen dieses Tempo zu sagen, wenn auch musikalisch entsprechend Fülle und Dichte bestünde, wie dies bei einem Celibidache die Grundeigenschaft einer jeden Darbietung war, doch ist eben dies bei Konzerten für den Besucher durch die Wirkung des anwesenden Orchesterapparates wesentlich leichter nachvollziehbar als auf nie an die Klangqualität und Unmittelbarkeit eines Livekonzertes reichende Aufnahmen, die deshalb nicht selten (sogar bei dem großen Meister Celibidache manchmal) für den Nachhörenden unter übermäßig gedehnten Tempi leiden.

Die Musiker des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sind allesamt von beeindruckendem technischen Können und mit genauestem Verständnis für Hintergründe und Zerklüftungen in dem Symphonieschaffen vertraut, mit dem sie sich sichtlich jahrelang beschäftigten, wodurch sie es auch angemessen vermitteln können. Die Solisten sind allesamt präzise, können sich gut vor das Orchester stellen und werden problemlos mit ihren größtenteils wirklich anstrengenden Solopassagen fertig. Lediglich der Konzertmeister nimmt manch ein Solo ein wenig zu spröde abgehackt und der Piccoloflötist kann nicht durchgehend die unschlagbare Wirkung erzielen, die von der enormen Höhe ausstrahlen kann und in manch einer Vergleichseinspielung oder im Livekonzert für Atemlosigkeit sorgt. Hervorzuheben sind vor allem die Soli von Fagott, Klarinette und Oboe sowie die gediegenen Bläserchoräle wie im zweiten Satz der letzten Symphonie. Nicht weniger das vielstimmige Schlagwerk ist positiv zu erwähnen, zu keiner Zeit überdeckt es das Orchester und ist dennoch immer in gutem Maße präsent.

Neben der Orchesterleistung darf auch die des Royal Liverpool Philharmonic Choir, teils unter Verstärkung von Männerstimmen der Huddersfield Choral Society, nicht vergessen werden. Der Chor ist sehr bodenständig mit solidem und kräftigem Klang, er kann in allen Dynamikstufen frei gestalten und schafft in jeder Umgebung eine durchdringende Wirkung und Atmosphäre. Wenngleich nicht mit der selben faszinierenden Synchronizität wie das Orchester agierend, ist diese ins Orchester eingepasste Stimmvielfalt wirklich eindrucksvoll und dem großartigen Instrumentalkörper angemessen. In zwei Symphonien wirkt Alexander Vinogradov als sonorer Bass mit dunkler Stimme und sehr angenehmem, ruhigem Timbre. In der Vierzehnten steht ihm zudem die Sopranistin Gal James zur Seite, die ihre hektischen und selbstzerstörerischen Partien so glaubhaft herüberbringt, dass man meinen könnte, sie selber sei das lyrische Ich, das sein wahres Schicksal besingt. Trotz der so unterschiedlichen Rollen und Stimmfärbungen mischen sich die beiden Solisten gut und haben eine langgeprobte Übereinstimmung mit dem restlichen Klangkörper, der seinerseits untrennbar mit dem Vokalpart verbunden scheint.

Mit neuester Aufnahmetechnik eingespielt herrscht eine phänomenale Klanglichkeit, die einen fast live ins Geschehen zu versetzen vermag. Der mehr als ausführliche Booklettext von Richard Whitehouse auf Englisch gibt einen guten Einblick in jedes einzelne dieser großartigen Werke und bietet eine nützliche Verständnisgrundlage für die Umstände dieser doch oft subjektiv konnotierten Musik. Ein zusätzlicher Kommentar zu jeder Symphonie vom Dirigenten Vasily Petrenko lässt auch ein wenig dessen Gedanken zu den Symphonien durchscheinen.

Alles in allem eine sehr empfehlenswerte Gesamteinspielung des gesamten Symphonieschaffens Dmitri Dmitijewitsch Schostakowitschs. Persönlich kenne ich auch allgemein keine Gesamteinspielung irgendeines großes Œuvres, wo es nichts zu kritisieren gäbe und wo alle Aufnahmen vollendet gelungen wären. Dies kann man denn auch nicht erwarten, doch liegt hier eine mehr als beeindruckende Sammlung auf 11 CDs mit absoluten Spitzenmusikern und einem wirklich verständigen Dirigenten vor, die dem Hörer diese fantastische Musik vermittelt.

[Oliver Fraenzke; Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 2b] Junge Klänge am Ursprung der Donau

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter der Leitung von Johannes Klumpp spielt am 11.November Werke von Schnittke, Tschaikowsky und Schostakowitsch.

Mit jugendlichen Orchesterklangkörpern lassen sich gut und gerne musikalische Nachwuchsförderung und künstlerische Zukunftsgestaltung, aber auch die drei berüchtigten Ds (Drill, Druck und Disziplin) verbinden. Letzteres ist für eine solide musikalische Reifung scheinbar unabdingbar. Um einen frischen und überzeugenden Klang auf die Beine zu stellen, braucht es aber, entgegen gewisser Ansichten, die ersten beiden Ds nicht zwingend, wie das Landesjugendorchester Baden-Württemberg in der Mozarthalle Donaueschingen bewiesen hat.

Natürlich dürfte es bei den Probenphasen der jungen Musiker sicherlich auch Stress, Frustmomente und Durststrecken gegeben haben, zumal bei so einem Werk wie der 10. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Es ist nur allzu verständlich, wenn die Kinder und Jugendlichen, wie aus informierter Quelle zu erfahren war, sich vor drei Jahren noch nicht an dieses Mammutwerk gewagt haben. Umso erstaunlicher und vielversprechender gelang das Ergebnis!

Zu Beginn des Abends erklang der Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ (1974/81) von Alfred Schnittke. Was sich wie eine kleine salonmusikalische Aufwärmübung anhören mag, haben die Musiker bezwingend ernst genommen. Mag dieser Tango auch keine extravaganten Herausforderungen bieten, so ist es doch die ausgefeilte und reizende Instrumentation Schnittkes, die an diesem Abend sehr schön herüberkam, vor allem in den Klarinetten. Doch auch die ersten Violinen, die sehr klangvoll, aber nie zu dick musizierten, und allen voran das Solo des Konzertmeisters der ersten Hälfte, Johannes Ascher, sind zu loben. Gerade er hat mit seinem dezenten Vibrato, seiner eleganten, durchaus sensiblen Tongebung und sachtem Artikulationsvermögen ein Talent offenbart, welches ihm später noch einen großen Weg eröffnen könnte. Etwas störend leider fiel die den Tango eröffnende und abschließende Celesta auf, die in ihrer Phrasierung ziemlich mechanisch klang. Insgesamt jedoch hat das Orchester – unter dem beherzt animierenden, schlagtechnisch vielleicht noch nicht komplett ausgereiften Dirigat von Klumpp – mit Beherrschung und Neugier gespielt, seriös, ohne den Tangocharakter zu verleugnen, sowie mit einem klaren Verständnis für das Verhältnis zwischen Begleitung und Solo.

Gerade letzteres kam ihnen in den vielgespielten Rokoko-Variationen Op. 33 von Peter Iljitsch Tschaikowsky zugute. Auch zu diesem attraktiv solokonzertanten Werk lieferten sie eine äußerst dezente Begleitung, aber auch eine nicht zu überhörend facettenreich-kraftvolle Tondynamik (gerade in den energischen Passagen), welche zumal in der Variation 7 wie in der Coda traumhaft geriet. Bei einem Cellisten wie Jakob Spahn war das auch notwendig, da sich dessen Spiel als durchaus vielfältig und risikofreudig erwies. Allgemein zu loben bei Spahn ist die sehr reine und sichere Intonation, wobei er für das eröffnende Moderato semplice noch etwas zu laut klang, im Laufe der ersten Variationen jedoch zusehends umsichtiger agierte. Der Eindruck, gelegentlich etwas zu viel zu wollen, hat sich besonders in der Variation 3 (Andante sostenuto) gezeigt. Die enormen technischen Herausforderungen der Coda schließlich hat er sehr souverän gemeistert, doch selbst hier dürfte er künftig noch Einiges zu verfeinern wissen. An dieser Stelle muss übrigens angemerkt werden, dass während der Wiedergabe das Fell der kleinen Trommel im Hintergrund leicht mitvibrierte, was durch vorübergehende Entfernung des Instruments hätte vermieden werden können. Da sich nun das Publikum – sicherlich mit den manchen Eltern, Angehörigen und Freunden der Künstler – sehr begeistert zeigte von dieser Darbietung, wurde ebenjener Schlussteil als Zugabe noch einmal gegeben. Und wieder offenbarten Solist wie Orchester eine ungebremste, völlig routinefreie Spielfreude, bei der das Ergebnis sogar noch etwas besser geriet also zuvor.

Weiterhin kann insofern von Routine keine Spur sein, wenn man den Worten zuhört, die Maestro Klumpp dem großen sinfonischen Hauptwerk voranstellte: Angesichts des düsteren biographischen Hintergrunds, vor dem Schostakowitsch seine Symphonie Nr. 10, Op. 93 schrieb, sei dieses Werk den Musikern und ihrem Dirigenten immer näher gegangen, je mehr sie sich damit befassten. Wortwörtlich, so Klumpp, bringe Schostakowitsch eine regelrechte Volksklage aufgrund der „Säuberungen“ und des Krieges in seiner Musik zum Ausdruck – Worte, die nach den jüngsten Ereignissen in Beirut und Paris im Nachhinein sehr nachdenklich stimmen können.

Die Musiker jedenfalls legten sich nun intensiv ins Zeug und hatten jegliche vorerwähnte Scheu vor der Monumentalität der Symphonie abgelegt, aber nicht den Respekt vor dem Werk selbst. So klang das dunkle Unisono der tiefen Streicher zu Beginn des Moderato alles andere als „schön“ und umso überzeugender. Was nun jedoch am Anfang etwas zu breit erschien, gewann mit dem Hinzukommen der Violinen und Bratschen deutlich an Expressivität und Fluss. Wieder einmal zu loben ist die Klarinette, sobald sie mit dem ersten Seitenthema beginnt, sowie das Blech, wenn das erste Tutti erdröhnt. Das zweite Thema, von der sonst sehr schön spielenden Flöte vorgestellt, geriet fast an die Grenze zur unfreiwilligen Komik, woran sicher das vorgeschrieben gesteigerte Tempo nicht unschuldig ist. Beim großen Höhepunkt des Kopfsatzes, dem im Tam-Tam kulminierenden Tutti, kamen die jugendlichen Musiker an die Grenzen ihrer physischen Kräfte. Dennoch schafften sie es, diesen circa 20 Minuten langen Satz unter einen mitvollziehbaren Spannungsbogen zu zwängen – was auch die rein kompositorisch sehr lange Coda betrifft. Hier bewies das Orchester seine kollektive Musikalität, dank dem Dirigenten Johannes Klumpp, der die Entwicklung mit klarem Sinn für Stringenz und Kontinuität ausgestaltete.

Bereits erwähnte Furchtlosigkeit steigerte sich im zweiten Satz Allegro in Risikofreudigkeit. Wie auch im ersten Satz haben die Musiker unter Klumpp einige Mühe, bei dem Tempo des Satzes nicht zu entgleisen. Wie aber nun schon fast zu erwarten, haben sie sich auch hier wacker geschlagen, was auch für die Kontrabässe gilt angesichts ihrer berüchtigten hohen Begleitung in Daumenlage zur Satzmitte. Und auch die leisen Stellen kurz vor Ende klangen gut. Ganz am Schluss natürlich, wo die Darbietenden „alles“ geben, lässt sich zwischen drei- und vierfachem forte kein wirklicher Unterschied mehr feststellen. Umso gelungener kam der Anfang des Allegretto, der ja oftmals Gefahr läuft, nach einem belanglosem Walzer zu klingen. Dieses Manko weiß das Jugendorchester zu verhindern, indem es das Thema mit angemessener Tiefe artikuliert, ohne die Trostlosigkeit des Klangmilieus zu kaschieren. Mit entsprechend angemessener Klage stimmte die Klarinette das zentrale d-es-c-h-Motto jenes Satzes an. Das sogenannte ELVIRA-Motto hingegen gelang mehrmals hintereinander nicht so schön im ersten Horn – man darf annehmen, dass die Gruppe an diesem Abend wohl etwas ermüdet war von den Tourneestrapazen. Obwohl die Musiker den Satz im allgemeinen zu gestalten wussten, machte der Schluss einen etwas seelenlosen Eindruck – man erinnerte sich jedoch an die Trostlosigkeit des Satzes insgesamt.

Im Finale bot das Orchester nochmals sämtliche Fähigkeiten auf, um einen befreienden Kehraus zu kreieren. Sehr schön gelang die lange Oboenkantilene im breiten, fast etwas rhapsodischen Andante, gerade vor dem Hintergrund des wiederum recht heterogenen Streicherbasses. Und mit vielen Ecken und Kanten startete der Hauptteil des Satzes, das Allegro: Die Phrasenwechsel gerade dieser abschließenden Achterbahnfahrt klangen sehr abrupt. Dafür wurde das Tempo erfreulicherweise um keinen Deut zu schnell genommen, wodurch das Orchester bessere Möglichkeiten zur Ausgestaltung hat, andererseits der Spannungsbogen leicht schwächelte – was letztlich angesichts der sonst begeistert aufgenommenen Symphonie kaum der Rede wert sein dürfte.

Zu recht, wo dieser Abend ein in jeder Hinsicht vielversprechendes Jugendorchester Baden-Württemberg mit einer sehr beachtlichen Leistung und einem für weitere gemeinsame Hochleistungen prädestinierten Dirigenten bot. Mögen die Kinder und Jugendlichen weiterhin ihre Begeisterung am bewussten Musizieren vertiefen!

[Peter Fröhlich, November 2015]

[Rezensionen im Vergleich 2a] Die Kinder Schostakowitschs kehren wieder

Am 11. November spielt das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter Leitung von Johannes Klumpp im Mozartsaal der Donauhallen in Donaueschingen. Neben dem Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ von Alfred Schnittke und Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester in der heute gebräuchlichen Umstellung und Bearbeitung von Wilhelm Fitzenhagen mit dem Solisten Jakob Spahn steht auch die herausfordernde und zutiefst ernste zehnte Symphonie in e-Moll Op. 93 von Dmitri Schostakowitsch auf dem Programm.

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg hat sich viel vorgenommen für den Abend des 11. November in Donaueschingen. Ein so langes und schwieriges Konzertprogramm mit Schostakowitschs grandioser Symphonie Nr. 10 als Höhepunkt ist der Hörer normalerweise ausschließlich von einem großen und etablierten Klangkörper aus Berufsmusikern gewohnt, nicht aber von einem Jugendorchester, auch wenn ihm ein so blendender Ruf vorauseilt wie in diesem Falle.

Den Beginn des Abends macht Alfred Schnittkes Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“, ein zarter und in feiner Manier zurückhaltender Tanz, der dennoch in eine gewisse Wildheit und in Überschwang gerät, der sowohl mit Melancholie als auch mit innerlichem Drängen durchsetzt das einprägsame Thema in verschiedenstem Licht erstrahlen lässt. Besonders markant natürlich Beginn und Schluss durch die engelsgleiche und fernab erscheinende Celesta, die nach ihren ersten Einsätzen in Tschaikowskys Nussknacker-Suite sowie bei Bartók, Chausson oder Strauss relativ bald vor allem in der Filmmusik Verwendung fand und heute jedem durch „Hedwig’s Theme“ aus der Musik zu Harry Potter von John Williams geläufig ist. Unter Klumpp erhält der Tango einen angenehmen Schwung und verfällt zu keiner Zeit in Überhitzung auch in den lauten Passagen, sondern hält sich stets ein wenig zurück und behält so die von Schnittke vorgegebene Wirkung in der gewollten Passivität, die leicht verlorengehen kann. Der Dirigent Johannes Klumpp schätzt seine Musiker gut ein und weiß genau, welch ein Risiko er ihnen zutrauen kann – und geht dieses ein, indem er direkt zum Erscheinen des Tangorhythmus‘ in eben diesem dirigiert, anstatt die sicherere Variante eines geraden Taktschlags zu wählen. Der Plan geht auf und ermutigt das gesamte Landesjugendorchester zu einer prägnant klingenden und rhythmisch fesselnden Wiedergabe. Durch kleine Soloeinwürfe kristallisieren sich schnell einige besondere Talente aus dem Orchester heraus. Es ist nicht zu erwarten, dass alle jungen Musiker bereits einen sauber auspolierten und abgewogenen Klang haben, doch erstaunlich viele können bereits eben damit überzeugen. Besonders der Konzertmeister der ersten Hälfte, Johannes Ascher, bewies ungeheuere Musikalität trotz jungen Alters: Die Ritenuti in seinen kurzen Soloeinwürfen waren derart innerlich gefühlt und organisch wieder in das Originaltempo zurückführend, wie es teils namhaften Konzertsolisten nicht so bewusst gelingt.

Die Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester versetzen den Hörer zurück in das 18. Jahrhundert, wenn natürlich auch mit einem vollkommen romantischen Neuanstrich von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky. Auch an diesem Abend wird die Version von Wilhelm Fitzenhagen gespielt, dem ansonsten vollkommen vergessenen Cellisten und langjährigen Freund von Tschaikowsky, der ebenfalls recht beeindruckende Musik geschaffen hat, die durchaus eine Renaissance verdient! Fitzenhagen bearbeitete das circa zwanzigminütige Bravourstück ein wenig und stellte insbesondere die Variationsreihenfolge um; in dieser Version verbreitete er es und sorgte damit bis heute dafür, dass fast ausschließlich diese Bearbeitung gespielt wird – auch wenn das fast nie in den Programmen und üblicherweise auch nicht einmal in den Noten ausgewiesen wird. Als Solist des Abends agiert Jakob Spahn, der unter anderem durch den Sonderpreis der Alice Rosner Foundation beim Internationalen ARD-Wettbewerb 2010 in München für Aufsehen sorgte. Spahn vermag vom ersten Strich an einen vollkommen eigenen Ton auf seinem Cello zu erzeugen, der recht rau und volltönend klingt und eine sanfte Wärme ohne übermäßig glatten Klang schafft. Das virtuose Meisterwerk gelingt ihm ohne technische Probleme, bis hin in die höchsten Lagen steigt er mit sauberen Tönen auf und bewältigt alle halsbrecherischen Läufe mit einem unbekümmerten Lächeln im Gesicht. Auch auf musikalischer Ebene beweist Spahn großes Können und kann den Melodiebogen als großes Ganzes erfassen und gliedern. Unverkennbar sieht man ihm die überschwängliche Spielfreude an und hört sie auch, in leicht beschwingtem Tonfall tanzen seine Themen und kommen offensichtlich aus ganzem Herzen. Doch wie bei fast allen Cellisten (und sonstigen Streichern auch) fällt bei Jakob Spahn eine durchgehende Ingebrauchname des Vibrato auf, das standardisiert bei jedem Ton eintritt, der eine gewisse Länge besitzt. Selbstverständlich hilft ein gutes Vibrato zu einem belebten Klang und hat eine anregende Wirkung, aber der Effekt kippt nach und nach ins Gegenteil, wenn er mechanisch übermäßig zum Einsatz kommt. Als Zugabe gibt es noch einmal das Finale der Variationen, diesmal noch geschwinder und mit noch mehr Elan, (wenn auch entsprechend mit einigen kleinen, jedoch verzeihlichen Fehlgriffen mehr), so dass Spahn nun auch die letzten mitreißt bis in die fulminanten und ausgedehnten Schlusstakte.

Nach der Pause erklingt schließlich das Werk, worauf vermutlich sowohl die Musiker als auch das Publikum an gespanntesten gewartet haben, die zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch in e-Moll Op. 93. Dieser gewaltige symphonische Koloss mit über fünfzig Minuten Länge ist auf körperlicher wie geistiger Ebene zutiefst anspruchsvoll und erschütternd. Manch großes A-Orchester müht sich teils mit der dichten Stimmvielfalt, den zerrüttenden Themen und dem schreckensgeladenen Ausdruck dieses symphonischen Werks hörbar ab, welches Schostakowitsch 1953 kurz nach dem Tod seines Unterdrückers Josef Stalin (der genau am gleichen Tag wie Prokofieff, am 5. März, verstarb) begann. Üblicherweise wird die Symphonie als Schlussstrich unter die Terrorherrschaft angesehen, wobei Stalin als Thema auftreten und auch die Zeit an sich verbildlicht werden soll, in die sich Schostakowitsch in Form seiner Initialen D-Es-C-H hineingraviert hat. In wie weit dies alles zutrifft, ist nicht sicher, doch ist zweifelsohne das Grauen komponiert, was bei guter Darbietung den Hörer fesseln muss und teilhaben lässt anhand des unmittelbaren musikalischen Geschehens. Gerade für die jüngeren Musiker muss es eine gigantische Herausforderung sein, sich in diese Schwermütigkeit und Reflexionen aus furchtbaren Zeiten hineinzuversetzen, sie zu fühlen und darzustellen – und all dies bei einer technisch für alle Beteiligten nicht zu unterschätzenden Aufgabe. Diese Anforderungen werden, besonders im Hinblick darauf, dass hier ein Jugendorchester spielt, überraschend umfassend erfüllt. Zwar können die jungen Musiker trotz mitreißender Leitung durch Johannes Klumpp die Symphonie auch nicht völlig frei von statisch gleichförmig wirkenden Passagen halten und auch nicht jede wesentliche Stimme tritt vernehmbar in den Vordergrund, doch gestalten sie ihre Phrasen allesamt erstaunlich vielseitig aus und entlocken der Musik detaillierte Farbnuancen. Der viel beanspruchte Bläserapparat brilliert auch in verzwickten Passagen und gerade das Holz zeichnet sich durch eine frappierende Makellosigkeit aus. So erreicht es das monströse Werk, den Zuhörer durchgehend in seinem Bann zu halten und ihn von der ersten dunklen Sekunde bis in die finale auskomponierte Apotheose unwiderstehlich mitzuzerren in alle erdenklichen Bereiche menschlicher Emotion.

Am Dirigierpult steht Johannes Klumpp, selber zur jüngeren Dirigentengeneration gehörend, und bietet all der divergierenden Stimmvielfalt Zusammenhalt. So einen Dirigenten braucht es für solch ein interessiertes und begeisterungsfähiges Orchester! Denn genau das zeichnet Klumpp aus, er reißt mit und begeistert. Er legt keinen besonderen Wert auf eine optisch ausgefeilte Dirigiertechnik, sondern auf seine Wirkung in zentraler Position als Vermittler gleichermaßen von Musik und Enthusiasmus. So stachelt er sein Jugendorchester stets zur Höchstleistung und auch zur energetisch packenden Melodieführung an, damit auch wirklich das frische Musizieren im Vordergrund steht und nicht etwa die Mechanik des Technischen. Und so hat es sich zweifelsohne gelohnt, die lange Anreise aus München auf sich zu nehmen, um dieses beeindruckende und in vielerlei Hinsicht ausnehmend gelungene Konzert miterleben zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

Violinklänge versilbert

Linn Records CKD 520; EAN: 6 91062 05202 3

Paul1

Flötenvirtuosin Katherine Bryan adaptiert in ihrem neuen Album „Silver Bow“ Musik für Violine und Orchester. Mit dem Royal Scottish National Orchestra unter Jac van Steen hat sie ein facettenreiches Programm aufgenommen, welches vorwiegend aus Werken des 19. Jahrhunderts besteht, sich jedoch auf keine Gattung festlegen möchte. So findet sich hier sinfonische Programmmusik von Vaughan Williams genauso wie rein solistische und kammermusikalische Stücke von Paganini, Schostakowitsch, Massenet und Saint-Saёns.

Um zunächst einmal auf den gewählten Titel einzugehen: Die Flöte als silbernen Bogen zu bezeichnen ist eine witzige bildliche Beschreibung der Essenz dieser CD, wirkt anfangs jedoch sehr gewagt, beinahe provozierend. Man ist sich über diese Bezeichnung erst nach dem Höreindruck im Klaren, denn auf den ersten Blick haben beide Instrumente nicht sehr viel gemein. So lässt sich im Klang zwar noch eine gewisse Ähnlichkeit heraushören, unterscheiden lassen sich Violine und Querflöte aber vor allem in der unterschiedlichen Klangerzeugung. Auch Bryan, die den Zuhörer mittels ihres farbenreichen, virtuosen, klangsensiblen Spiels durch diesen Übergang vom Streich- zum Blasinstrument führt, schafft es nicht immer, diese Grenze vollkommen verschwinden zu lassen. So ist vor allem der Charakter von Saint-Saёns „Introduction et Rondo capriccioso Op. 28“ beinahe gänzlich verloren gegangen. Diese Komposition, gewidmet dem spanischen Geigenvirtuosen Pablo de Sarasate, beginnt mit einem zarten, sehnsuchtsvollen Violin-Thema, welches nach und nach auf das tänzerische Rondo hinführt. Sehr grazil und beinahe burlesk anmaßend erinnert dieses Spiel von teuflischer Besessenheit der Violine doch sehr an Saint-Saёns „Danse macabre“. Von dem dämonischen, schneidenden Unterton ist bei Bryan jedoch wenig übrig geblieben. Es wirkt unbeholfen, unbedarft, manchmal unfreiwillig komisch, wenn sie hier versucht, den Geigenklang mit einer Flöte zu imitieren.  Dasselbe bei den Zigeunerweisen des ebengenannten Widmungsträgers, des Virtuosen und Komponisten Pablo de Sarasate: auch hier bekommt die Musik eine andere Intention und verfehlt die vom Schöpfer intendierte Wirkung. Rein objektiv betrachtet ist das jedoch nicht zwangsweise etwas Schlechtes. Oft eröffnet es uns eine neue Perspektive auf etwas Bekanntes neue Räume.
Steht Bryan z. B. bei Paganinis „Caprice No. 24“ mehr interpretatorischer Handlungsspielraum zur Verfügung, so ist man durchaus beeindruckt, wie sie mit bläserspezifischen Techniken wie Flatterzunge, Doppel- bzw. Tripelzunge den Geigenklang, hier geprägt durch repetitive Figuren, Tremoli, Doppel-,Tripel- und Quadrupelgriffe, täuschend echt imitiert. Besonders hervorzuheben ist die, laut ihrer eigenen Aussage selbst entwickelte, „Plop- Zungentechnik“, bei welcher der Ton durch das vorzeitige Verschließen der Luftöffnung den gezupften (pizzicato-) Ton auf einem Streichinstrument nachahmt.
Ist der Charakter bei den beiden oben genannten Werken doch stark verfehlt worden, gelingt Bryan bei Vaughan Williams’ impressionistischem Konzertstück „The Lark Ascending“ jedoch eine Neuschöpfung. Sie imitiert nicht nur den Klang der Violine, nein, sie geht noch weiter. Sie nimmt die Musik als solche an wie sie ist. So trifft sie im wahrsten Sinne des Wortes den richtigen Ton und gibt diesem Tongemälde eine neue Farbe. Man fühlt sich an Debussys „Prélude a l´après midi d´un faune“ erinnert, wenn Bryan bei Vaughan Williams die Flöte des Pan erklingen lässt, so unschuldig Vogelmelodien imitiert. Auch das sehr impressionistisch angehauchte Harmoniefundament bringt das Royal Scottish National Orchestra mit gut ausgewogenen Bässen und Celli zur Geltung und verhilft diesem paradiesischen See zur Vollkommenheit.
Dieses nuancenreiche, klangsensible Spiel bezaubert auch bei Massenets weltberühmter Méditation aus der Oper Thaїs. Auch hier verschmilzt ihr Klang wunderbar mit dem des Orchesters und nimmt den sanften, ruhigen Charakter vollends an. Wie bei Vaughan Williams bekommt der Zuhörer das Gefühl, man würde Originalliteratur zu Gehör bekommen. Ihr lyrisches, expressives Spiel bietet sich selbstverständlich auch für Romanzen an, weshalb es kein Wunder ist, warum auf dieser CD gleich drei vertreten sind. Allesamt, darunter auch Fritz Kreislers „Liebesleid“ aus alten Wiener Tanzweisen, sind sie nett anzuhören, aber fallen doch eher in die Kategorie „leichte Musik zum Genießen“, wobei Bryan auch hier dem Violincharakter in nichts nachsteht.
Dazu ist noch zu sagen, dass die äußerst lebendige Aufnahmetechnik den qualitativ hochwertigen Eindruck unterstreicht. So empfinde ich beispielsweise das manchmal etwas laute Einatmen genauso interessant wie die eigentliche Musik, denn es dient wie eine Art Impuls, sich voll und ganz auf sie einzulassen.
Mit Transkriptionen ist das so eine Sache. Es können dabei sehr gewöhnungsbedürftige Ergebnisse herauskommen oder kleine Perlen in Erscheinung treten. Letzteres trifft meines Erachtens auf diese hörenswerte CD zu.

[Paul Prechtel; Oktober 2015]

Ein Anschlag, der aufhorchen lässt

Alpha CD 203, Outhere Music, ISBN: 3 760014 192036

201507291303-001

Anna Vinnitskaya ist Solistin in den Klavierkonzerten von Dmitri Schostakowitsch, zusammen mit der Kremerata Baltica. Im ersten Konzert wird sie flankiert vom Solotrompeter Tobias Willner und im zweiten sekundiert von den Bläsern der Staatskapelle Dresden sowie dem Dirigenten Omer Meir Wellber. Gemeinsam mit Ivan Rudin folgen das Concertino Op. 94 sowie die Tarantella für zwei Klaviere.

Das vierte Album der jungen Pianistin Anna Vinnitskaya ist vollständig der Musik von Dmitri Schostakowitsch gewidmet, die den pianistischen Werdegang der Russin von Anfang an prägte. Die beiden mit großem Abstand voneinander komponierten Klavierkonzerte sowie zwei Werke für zwei Klaviere bilden das mit unter 50 Minuten recht knappe, dabei durchaus prägnante Programm. Gerade bei den Klavierkonzerten liegen die Ansprüche an eine Aufnahme extrem hoch, spielte doch schließlich der Komponist beide vortrefflich selber ein. So findet sich vom Konzert Op. 35 eine Aufnahme unter Samuil Samosud mit dem Moscow Philharmonic Orchestra und dem Trompeter Josif Volovnik, sowie vom F-Dur-Konzert Op. 102 mit dem Orchestre National de la Radiodiffusion Française unter Leitung des belgisch-deutschen Dirigenten André Cluytens. Diese genannten Platten sind absolut maßstabsetzend, kein Wunsch bleibt offen bei dem harten, präzisen und vor allem kernigen Anschlag Schostakowitschs, der es genau versteht, einen fülligen und vielschichtigen Klang zu erzeugen frei von jeder unnötigen Gewalt und Versteifung, und der jenes unablässige Precipitando-Grundgefühl erzeugt, ohne tatsächlich davonzueilen. Natürlich gilt es nicht, dieses absolut einmalige und unverwechselbare Spiel des Komponisten blind nachzuahmen, doch sollte es einen gewissen Anhaltspunkt geben im Bezug auf den Charakter, die Klanglichkeit der Klavierstimme sowie auf die stimmige Zusammenarbeit mit dem Orchester.

Eben diese Faktoren berücksichtigt Anna Vinnitskaya bei ihrem Spiel, das als höchste Grundprinzipien Klarheit, Präzision und Durchhörbarkeit zu haben scheint. Dennoch findet sie ihren eigenen Stil, nimmt den Konzerten somit an Härte und lässt stattdessen mancherorts einen leichten romantisch angehauchten Schleier über die Melodielinien sinken. Die Kremerata Baltica und die Bläser der Staatskapelle Dresden passen sich der Solistin an und lassen sogar in engen tiefen Lagen jede einzelne Stimme heraushören, was in zahlreichen anderen Interpretationen in ein undurchsichtiges Gebräu abgleitet. Besonders erstaunlich ist das gute Zusammenspiel beim ersten Konzert für Klavier, Trompete und Streicher, welches die Solistin vom Klavier aus dirigiert, was üblicherweise zu weit größeren Auffassungsdifferenzen und Asynchronitäten führt, hier jedoch eine detailgetreu abgestimmte Ausgestaltung des Orchestersatzes nicht verhindert.

So gut das Konzept ihres ausgefeilten Anschlags auch aufgehen mag, so fällt im Vergleich zu den Aufnahmen des Komponisten selbst doch teilweise auf, dass der oft eher weiche und vornehmlich zurückhaltende Tastendruck manche Kulminationen verharmlost und bei Weitem friedlicher, gezähmter dastehen lässt. Auch geht ihr die Fülligkeit des Schostakowitsch’schen Anschlags ab, weshalb passagenweise ein recht dünner Klang entsteht, was allerdings auch zum anpassungsfähigen und somit ebenso Zurückhaltung übenden Orchester passt. Diese Feingliedrigkeit und sanfte Präzision birgt jedoch auch zweifelsfrei einen ganz eigenen Charme und eröffnet neue Räume zur Entfaltung. Und dass sie auch harte Klänge mit nur geringem Maß an Gewaltanwendung beherrscht, beweist Anna Vinnitskaya mehr als einmal, vor allem im vierten Satz des ersten Konzerts. Ein wenig scheint ihr in diesem Satz dennoch der Witz zu fehlen, der der Musik eigentlich so spürbar innewohnt, da hier die Lockerheit im Rausch der Perfektion auf der Strecke bleibt. Der Stil bleibt dabei jedoch durchgehend konstant und so verliert das Konzert nicht den großen Bogen, der alle vier Sätze des Op. 35 zusammenschweißt und ein einheitliches, aus einem einzigen Guss entstehendes Ganzes sich entfalten lässt.

Tobias Willner an der Solotrompete erweist sich als sehr vielseitig und klangfarbenreich, etliche Nuancen kann er seinem Instrument entlocken. Auch er dämpft meist lieber etwas ab, als allzu extrovertiert herauszuspielen, weiß dafür auch die dunklen Klangspektren auszukosten. Auch Omer Meir Wellber als Dirigent im zweiten Klavierkonzert stellt sich als eine vortreffliche Wahl heraus, sehr auf die energetische Spannung fixiert arbeitet er kleinste Orchestermelodien vielgesichtig heraus und schafft eine deckende Fülle, die den Bezug zum Klavier zu keiner Zeit verliert. Bei solch einem Zusammenspiel ist besonders der Eröffnungssatz des Konzerts Op. 102 von farbenprächtiger Differenziertheit und auch der berühmt gewordene Mittelsatz hebt sich deutlich durch das Wahrnehmbarmachen aller Einzelstimmen in dieser Aufnahme ab. Lediglich der Finalsatz erscheint ein wenig eintönig im Vergleich zu dem Rest, was bei den gleichförmig durchgehenden Sechzehntelläufen und den stetig wiederkehrenden Motiven auch schwerlich zu vermeiden ist und fast nur von Schostakowitsch selbst wirklich überzeugend gelöst wurde. Durch ausgeklügelte ausgefeiltes Spiel lenkt Vinnitskaya allerdings die Aufmerksamkeit recht erfolgreich von diesem nicht allzu erheblichen Mangel ab.

Es folgen noch zwei Werke für zwei Klaviere, die Anna Vinnitskaya zusammen mit Ivan Rudin darbietet. Es handelt sich um das häufig in Kombination mit den Klavierkonzerten eingespielte Concertino Op. 94 sowie die fast nie zu hörende Tarantella, die Schostakowitschs letztes Klavierwerk sein sollte. Über beide Werke lassen sich verschiedene Sekundärquellen nur wenig aus, und auch der kurze, aber informative und konzentrierte Bookletttext von Tobias Niederschlag kann außer den Interpreten der ersten Aufführung des Conertinos (Maxim Schostakowitsch, Sohn des Komponisten, und seine Mitschülerin Alla Maloletkowa) keine nennenswerten Informationen bieten. Ebenso wenig allerdings auch die lesenswerte Monographie von Krzysztof Meyer. Beide Werke gehören nicht zu den herausragenden Schöpfungen Schostakowitschs, doch rundet gerade die kurze und virtuose Tarantella die CD gelungen ab, als wäre sie die Zugabe nach einem Konzert. Die beiden Pianisten können sich auch gut aufeinander einstellen und ihr Spiel wirkt zu keiner Zeit stilistisch divergierend. In perfekter Synchronizität sind sie bestens aufeinander eingespielt. Wie auch in den Konzerten findet der Hörer bei weitem weniger Härte als in anderen historischen Aufnahmen wie jenen des Komponisten und auch ein geringeres Maß an Trockenheit, doch gewöhnt man sich schnell an diesen etwas weicher gezeichneten Anschlag, mit dem beide Pianisten trefflich zusammenwirken.

[Oliver Fraenzke, August 2015]