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Interview Beth Levin 2015

Die neueste CD der amerikanischen Konzertpianistin Beth Levin mit dem Titel „Inward Voice“ und Musik von Robert Schumann, Anders Eliasson und Franz Schubert wird ab 8. Januar auch in Amerika erhältlich sein. Für „The New Listener“ spreche ich mit ihr über sie, die einzigartige Art ihres Klavierspiels und ihre Neuerscheinung.

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[Zum englischsprachien Original]

[Oliver Fraenzke:]
Zunächst würde ich gerne etwas über Ihre Grundlagen sprechen sowie über Ihre Einflüsse. Ihre Art des Klavierspiels ist nicht die übliche, wie wir sie meist zu hören bekommen, Sie entwickelten einen komplett einzigartigen Stil, der eher mit den großen Meistern der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist als mit zeitgenössischen Pianisten. Was waren Ihre wichtigsten Lehrer und sonstige musikalische Einflüsse für Ihren Stil? Und wie beziehungsweise warum kamen Sie zu dem Entschluss, etwas Neues auszuprobieren, anstatt lediglich wohlbekannte und vor allem erfolgreiche Gewohnheiten des Spiels zu kopieren?

[Beth Levin:]
Ich habe das Gefühl, meine eigene Stimme am Klavier zu haben und wenn das so unverwechselbar ist, bin ich froh darum, aber ich habe mich nicht darum bemüht, anders zu sein.

Meine Lehrer Marian Filar, Rudolf Serkin und Leonard Shure und deren Klangpalette, mit der ich aufgewachsen bin, hatten natürlich einen Einfluss auf mein Spiel. Aber noch einmal, jede/r von uns hat seine/ihre eigene Stimme auf dem Instrument. Ob gut oder schlecht, wir können es nicht ändern. Ich denke, wir versuchen alle, den Anforderungen der Musik gerecht zu werden und wir nutzen dazu alles, was wir haben – Ohr, Technik, Kenntnis, Erfahrung.

Das heißt, wir sind nicht in der Lage, unseren naturgegebenen Klang zu verändern, der jedem unveränderlich gegeben ist. Aber wenn nicht daran, woran dann können wir arbeiten, um unser Spiel zu verbessern?

Also ich bin der Ansicht, dass Begierde eine große Rolle in der Entwicklung unserer Technik und Kunstfertigkeit am Klavier spielt. Je mehr wir von und für die Musik wollen, desto mehr werden wir daran wachsen.

Sei nie zu sehr zufrieden. Bemühe dich, zu erreichen, was du dir in der Musik ausmalst und erhoffst in Begriffen wie Klang, Struktur, Phrasierung, Gefühl, Farbe – und du wirst, denke ich, als Künstler daran reifen.

Leonard Shure hörte in seinen Stunden eine oder zwei Phrasen der Musik und fragte: „Warum?“. Das war oft befremdlich für den Studenten. Er erklärte niemals – du musstest selber Gründe für jede einzelne Phrase der Musik finden.

Auch glaube ich, dass Hören sehr wichtig ist – höre Sänger, Streicher und natürlich Pianisten, besonders die alten Aufnahmen. Eine einzelne Phrase einer Maria Callas kann komplett richtungsändernd für dein eigenes Spiel sein. Und lass dich von allem beeinflussen – Natur, Kunst, Literatur … Lege all dies in das Instrument.

Es ist sehr interessant, dass Sie die Meinung teilen, alte Schallplattenaufnahmen seien wichtiger als heutige Einspielungen, denn für mich wirkt Ihr persönlicher Klang auch wesentlich eher wie aus jener Zeit. Warum beeindrucken Sie die alten Aufnahmen am meisten? Was machten frühere Pianisten „besser“ als heutige Musiker?

Es mag ein Mangel an mir selbst sein, aber diese alten Aufnahmen ziehen mich sehr stark an. Für mich ist die Darbietung meist wesentlich freier im Ganzen, mit tiefem Gefühl, und auch übermitteln sie das Gefühl, dass die Werke als Ganzes aufgenommen wurden anstatt zusammengestückelt worden zu sein.

Sicherlich haben wir auch jetzt brillante Musiker, aber der Druck der Perfektion dominiert manchmal die Kunstfertigkeit.

Ist das der Grund – „Kunst“ zu machen anstelle von kopfloser „Perfektion“ – warum Sie so lange gezögert haben, internationale Konzerte und Ruhm zu erlangen? Oder ist der Grund dafür eher die Angst, neben all den weltweiten Konzertverpflichtungen kein Leben mehr für sich selbst zu haben?

Ich weiß nicht … Lassen Sie mich etwas länger darüber nachdenken …

Vielleicht bin ich einfach schon glücklich, wenn ich ein bevorstehendes Konzert oder irgendein Musikprojekt habe, auch wenn es um die Ecke stattfindet. Wissen Sie, was ich meine? Ich suche keinen internationalen Ruhm, aber bin allerdings auch beflügelt von der Aufmerksamkeit, die ich derzeit erhalte.

Ich habe das Gefühl, ein großartiges musikalisches Leben zu haben, auch wenn es in einer kleineren Dimension stattfindet. Außerdem wollte ich unbedingt Kinder und errichtete mir ein Leben, das sowohl erlaubt, in der Musik zu sein, als auch Mutter zu sein. Ich glaube, das könnte mein Musikleben ein wenig in den Grenzen gehalten haben.

Sie nannten bereits drei Namen Ihrer wichtigsten Lehrer. Ist es möglich, den Fokus einmal darauf zu legen, was Sie von diesen gelernt haben, was sie so bedeutungsvoll für Ihre Art des Spielens macht? Vielleicht können Sie etwas über sie sagen, wer sie waren und warum Sie ausgerechnet sie ausgewählt haben.

Marian Filar war seinen Studenten gegenüber wie ein Vater und ermöglichte es uns, aufzublühen. Er war so ein feinfühliger Künstler, und wenn er spielte, hatte er eine hinreißende Gesangslinie und eine besondere Finesse. Seinem Spiel zuzuhören war eine Ausbildung. Er und ich hatten denselben Geburtstag!

Er betonte Intonierung, Stil, Fingersatz und er pflegte die tiefste Musikalität in einem. Als ich am Curtis Institut vorspielte, war ich von Filar brillant vorbereitet gewesen. Außerdem führte ich mit dem Philadelphia Orchester zwei Beethovenkonzerte unter seiner Leitung auf.

Meine Zeit mit Rudolf Serkin war wie eine Art musikalische „Pubertät“, denn ich entdeckte neues Repertoire und Kammermusik. Ich veränderte mich als junge Künstlerin und war nicht einmal sicher, was ich gerade tat. Meine Technik war vollkommen natürlich, aber jetzt analysierte ich sie und wollte mehr von ihr, um einem größeren, anspruchsvolleren Repertoire zu entsprechen. Er war ein großer Inspirator am Curtis Institute und in Music from Marlboro.

Ich hörte bereits von Freunden vom brillanten Musiker Leonard Shure und wusste, dass er in Boston lehrte. Ich klopfte buchstäblich an seine Tür und bat ihn, für ihn spielen zu dürfen. Er akzeptierte und nahm mich als Studentin an. Er hatte eine ästhetische Nähe zu Serkin, aber war noch fordernder. Ich wusste von einigen, die in den Stunden niemals über vier Takte hinauskamen. Für mich war die Struktur, welche er in seinen Darbietungen errichtete, unvergesslich und eine große Lektion für uns, als wir Werke von Beethoven, Schubert, Schumann und anderen studierten. Außerdem war er ein großartiger Kammermusikcoach.

Dorothy Taubman lebte in meiner Nachbarschaft in Park Slope, Brooklyn, und ich wurde ihre Studentin, nachdem ich nach New York gezogen bin. Damals waren meine Kinder sehr jung. Sie war ein Guru mit einer Technik, zu welcher wir unsere glaube ich alle ausweiten und wachsen lassen wollen. Sie konnte ihren Studenten ein tolles Gefühl von Freiheit, Abenteuer und Neugier einflößen.

Es scheint, als hätten Sie großartige Lehrer für Ihren persönlichen Weg hin zur Musik gefunden. Ihren Ausführungen zufolge wirkt es, als hätten Sie die Möglichkeit bekommen, sowohl in Kontakt mit etabliertem Repertoire als auch mit komplett neuen und unbekannten Stücken zu kommen. Auf Ihrem neuen Album, Inward Voice, hören wir einen dieser (noch) unbekannten Komponisten, den schwedischen Meister Anders Eliasson. Wo und wann hörten Sie erstmals von ihm, war es mit Rudolf Serkin?

Der Dirigent Christoph Schlüren führte mich an Eliasson heran – ich kannte seine Musik vorher nicht. Mittlerweile habe ich zwei seiner Klavierwerke eingespielt und hoffe, ein drittes nächstes Jahr folgen zu lassen.

Mich zieht der spirituelle Aspekte dieser Musik an, die rhythmische Vitalität, die expressiven Ideen, und ihre hintergründige Qualität.

Warum war es ausgerechnet Anders Eliasson, der Sie so begeistern konnte? Was macht ihn so besonders und einzigartig?

Es bereitet mir große Freude, neue Komponisten zu entdecken, und Eliasson ist beides: sowohl einfach als auch schwierig zu verstehen. Diese Herausforderung ist die eine Sache, warum mich seine Musik anzieht. Mir gefällt es, dass seine Sprache so modern ist und trotzdem in den westlichen Musiktraditionen wurzelt, was es dem Spieler ermöglicht, sich heimisch zu fühlen, obwohl die Musik ungewohnt ist. Ich habe eine Zeit lang gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass ich ausdrucksstark sein kann, eine lange Linie machen kann und mir meine Zeit in den Noten nehmen kann. Eigentlich bin ich noch immer auf der Reise mit Eliasson, wenn ich an seinem Disegno 3 arbeite. Ich habe großen Respekt vor seinem symphonischen Werk und hoffe sehr, mehr von seinem Schaffen zu hören. Heute arbeite ich an seiner Musik und spüre dabei eine unausweichliche, organische, omnipräsente Qualität.

In Amerika sind Sie vor allem dafür bekannt, zeitgenössische Musik aufzuführen. Sind Sie der Ansicht, es ist alles in allem einfacher, mit dem Spiel von moderner Musik bekannt zu werden (in einem entsprechenden, speziellen Kreis)? Und welche Art der neuen Klangkunst bevorzugen Sie am meisten?

Ich habe das große Glück, viele ausgezeichnete Komponistenfreunde zu haben, deren Musik ich gerne aufführe. Es hat etwas tolles, ein neues Werk in der Post zu erhalten, bei welchem die Tinte kaum trocken ist. Und die Möglichkeit zu haben, das Werk mit dem Komponisten zu erarbeiten und die Musik von erster Hand zu diskutieren.

Erfolg ist nichts, was man vorhersagen kann oder was zu entschlüsseln wäre. Man sollte einfach nach den besten Absichten arbeiten, immer mit den reinsten Impulsen, und einige Aufmerksamkeit kann daraus folgen. Oder auch nicht. Wenn es die Musik des 21. Jahrhunderts ist, was du am meisten liebst, dann solltest du diesem Pfad folgen. Ich würde nicht sagen, dass es unbedingt Ruhm mit sich bringt.

Ich glaube, ich spiele das, was ich am besten spiele – aber experimentiere manchmal mit dem Unbekannten und sehe dann, wohin es führt.

Neben Ihrer Ausrichtung zu zeitgenössischen Komponisten wie Scott Wheeler, Andrew Rudin, Yehudi Wyner, David Del Tredici, Mohammed Fairouz oder dem bereits genannten Anders Eliasson haben Sie auch eine Leidenschaft für einige etablierte Meister, vor allem Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert oder Robert Schumann. Warum ist es ausgerechnet diese Epoche, die Sie so sehr gefangen nimmt?

Ich habe ebenso auch viel russisches und französisches Repertoire, aber habe es nicht aufgenommen.

Aber manchmal denke ich, ich tue am besten daran, wenn es eine großartige Struktur und Disziplin in der Musik gibt wie bei Schubert, Beethoven, Brahms und Schumann. Ich mag es, wenn persönliche Gefühle in einem strengen Rahmen funktionieren. Das Ergebnis kann ergreifend und mächtig sein. Meine Lehrer, vor allem die großen Künstler Serkin und Shure, lebten in diesem Repertoire und konnten ein Gespür für diese spezielle Epoche übertragen.

Haben Sie denn vor, auch einmal russische oder französische Musik aufzunehmen?

Hauptsächlich haben Sie außergewöhnlich lange Werke eingespielt wie Bachs Goldberg-Variationen, oder Beethovens Diabelli-Variationen ebenso wie seine letzten drei umfangreichen Sonaten. Bedeuten diese Werke ein besonderes Wagnis der Form für Sie, das Sie inspiriert und anzieht?

Ja – ich hoffe, mehr und mehr einzuspielen und französisches und russisches Repertoire einzubeziehen.

Ich glaube, ich bin unbewusst der Art der Programme meiner Lehrer gefolgt, die immer lange Werke eingeschlossen haben. – Ich mag die „Mount Everest“-Werke als Herausforderung und das allumfassende Gefühl, das man von Werken wie den Goldberg- oder Diabelli-Variationen empfängt.

Gibt es einen bevorzugten „Mount Everest“ für Sie?

Ich wage weiterhin, Beethovens Op. 106 zu studieren, die Hammerklavier-Sonate. Aber manchmal muss man einfach glücklich sein, dass andere es so gut gemacht haben und es loslassen.

Das Konzert in B-Dur von Brahms ist ein anderer „Mount Everest“ für mich – ich würde es unglaublich gerne eines Tages aufführen.

Ich halte auch einige unentdeckte neue Musik für einen Mount Everest. Ich hoffe, es wird einige bisher ungeschriebene Werke geben, die in der Zukunft auf mich warten.

Schlussendlich, nichts ist einfach. Sagen wir, eine Mozart-Fantasie – die Einfachheit und Ehrlichkeit zu erreichen, ist eine andere Art von Everest.

Das ist ein Schlüsselsatz, jedes kleine Stück Musik kann ein Mount Everest sein. Wenn es mir erlaubt ist zu fragen, was ist für Sie der härteste Gipfel, den es zu erreichen gibt, für welche Art der Technik oder des musikalischen Anspruchs haben Sie am meisten zu üben?

Generell gesprochen strebe ich nach einem musikalischen Ziel in jeder gegebenen Phrase und wenn die Technik nicht hinreicht, worauf ich aus bin, suche ich wirklich nach Lösungen. Ich denke nicht viel an Technik – das kann ein Makel sein. Ich weiß es nicht. Ich verlange nach Dingen in der Musik und strebe nach einem technischen Weg, diese zu erreichen. Niemals anders herum.

Technik ist in Wahrheit unser Diener, aber ohne sie können wir nicht viel tun. Ich bewundere Technik bei anderen Spielern, aber niemals mehr als das Erreichen eines musikalischen Ziels. Lieber höre ich falsche Noten, wenn jemand offensichtlich nach etwas Göttlichem strebt.

Das ist natürlich eine gute Position. Könnten Sie mir bitte ein Beispiel dazu geben: Also wenn Sie an Beethovens Sonate Op. 111 arbeiten, was macht es so schwierig und so besonders? Was wäre denn Ihr musikalisches Ziel beim Spielen der Sonate?

In Op. 111 von Beethoven beispielsweise ist die Musik mehr ein Entwurf. Du musst darauf hinarbeiten, die Gesamtheit der Noten zu erreichen oder seine Ansprüche zu treffen. Schaue hinter die Noten (nimm die vollen Hände im Finalsatz) hin zu Farbe, Bewegung und Struktur, die die Noten erzeugen.

In einem Werk wie Op. 111 reist Beethoven an einen besonderen Ort und der Pianist muss ebenfalls die Reise auf sich nehmen.

Es ist eine große Herausforderung und eine Freude.

Ich bin der Überzeugung, in Werken wie Op. 111 führt die Aufführung selber zu neuen Ideen und öffnet neue Türen zum Klang …

Heute dachte ich, eigentlich nichts Bestimmtes betreffend, was für eine wichtige Idee die Eloquenz doch in der Musik ist. Sehr wie beim Schauspiel – wenn du einem großartigen Schauspieler zuschaust, wie eloquent er oder sie eine Seite umblättert, aufsteht oder seine/ihre Stimme und Mimik benutzt. Und wie er/sie etwas abbildet.

Auch in der Musik müssen wir etwas abbilden – nimm die Noten und Phrasen und sage etwas. Ich erinnere mich, wie ich die Appassionata von Beethoven als junge Person gespielt habe und mich ihr so nahe fühlte – ich wusste, ich konnte sie abbilden, weil ich diese Gefühle in mir hatte. Wir müssen ein großes Repertoire an Emotionen haben, denke ich, um ein Stück Musik abzubilden.

Wie auch immer, wie wir eine Musikphrase spielen, ist wichtig – wie eloquent wir sie aussagen.

Gerade sprachen wir über eine technisch wirklich schwierige Sonate von Beethoven, aber was ist mit einem technisch wesentlich einfacheren Werk von Mozart? Schlagen Sie den selben Weg ein, solch ein Stück zu lernen, oder ändert das etwas – oder alles?

Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied gibt – Du hältst danach Ausschau, was die Musik macht, nach Richtung, Gefühlskontext, Struktur. Einfaches führt einen üblicherweise in die Irre, ist trügerisch einfach.

Das letzte Stück auf „Inward Voice“ ist Franz Schuberts Sonate Nr. 19 in c-moll D 958. Es ist eine der drei letzten großen Sonaten des früh verstorbenen Komponisten, die eine Art Zyklus bilden, obwohl jede Sonate für sich schon sehr lange ist. Warum haben Sie diese Sonate aus der Dreiergruppierung ausgewählt? Und würden Sie dem zustimmen, dass die Sonaten eine besondere Verbindung untereinander und eine bezwingende zyklische Form aufweisen? Oft kann man lesen, der letzte Satz von D 958 sei viel zu lang, eine zehnminütige Hetzjagd ohne Sinn, die den Hörer verwirrt über das Geschehen zurücklässt – würden Sie dieser Anschuldigung zustimmen? Was sehen Sie hinter dieser Hatz und was ist Ihre Aussage?

Ich arbeite derzeit an D 959 – vielleicht werde ich die Erfahrung machen, alle drei zu spielen und die Verbindung klar zu sehen. Wie Sie wissen, habe ich die drei letzten Beethovensonaten aufgenommen und dies wäre für mich ein perfekter nächster Schritt, ein perfektes Gegenstück.

Der Einfluss Beethovens scheint stark – bis hin zur Tonart c-Moll. Vielleicht beeinflusste der Tod Beethovens Schubert tief und öffnete ihm den Weg, diese drei Sonaten so zu schreiben, wie er es tat. Ich denke, hier ist der meiste Kontrast – hell und dunkel – und der letzte Satz geht im Galopp. Die richtige Tempowahl könnte den Schlüssel darstellen, Erfolg in dieser Tarantella zu haben. Ich stimme nicht zu, dass er zu lang sei.

Schubert starb vier Monate nach der Fertigstellung dieser letzten drei Sonaten – eine Dunkelheit durchdringt D 959, also vielleicht wusste er, dass er nicht mehr lange auf dieser Erde hatte.

Neben Schubert und Eliasson gibt es ein drittes Werk auf „Inward Voice“, Robert Schumanns zyklische „Kreisleriana. Fantasien Op. 16“. Mit diesem machten Sie etwas, was wirklich besonders und ungewöhnlich ist: Sie nahmen den ganzen Zyklus in einem langen Take auf, anstatt ihn in die einzelnen Sätze aufzuteilen. Was war der Grund dafür?

Ich glaube, wenn du beginnst, die Kreisleriana zu studieren, fühlst du, dass bestimmte Stücke zusammengehören und dass das Timing zwischen den Sätzen ausschlaggebend für die Aufführung ist. Als ich Kreisleriana live aufführte, war das Timing die Quintessenz und ich wollte versuchen, dies in der eingespielten Version zu behalten.

Vielen Dank für all Ihre Antworten, Frau Levin. Als letztes möchte ich noch fragen, was Sie gerne Künstlern von heute sagen möchten. Gibt es etwas, was Sie kritisieren wollen in unserem Musikleben, haben Sie Ratschläge für aufsteigende Künstler und für ihren Weg oder gibt es etwas, das Sie gerne einfach aussprechen möchtest?

Verliere niemals deinen Sinn für Besessenheit und Bescheidenheit. Ich bin der Ansicht, heutige junge Musiker suchen meist ausschließlich Ruhm und Geld und enden schnell darin, vom Geschäftsleben gefangen genommen zu werden. Als ich mit Shure und Serkin studiert habe, waren unsere Vorbilder anders. Wir gingen nach der Kunst und danach, großartige Musik zu machen, und weniger nach äußerlicher Belohnung. Sei immer ein guter Beobachter und Zuhörer. Befrage die Musik und nutze jeden Einfluss in Natur, Kunst und Leben, um als Musiker besser zu werden.

Die Musiker, die ich am meisten mag, sind die demütigsten. Ich meine, ich sah Rudolf Serkin ein Rezital geben und dann in einen Proberaum gehen, um an den Sachen zu arbeiten, von denen er fühlte, sie hätten besser gehen können. Stellen Sie sich das vor!

Vor allem am Klavier – entwickle dein Ohr! Hören ist fast alles, und auf etwas Hören ist gar noch besser – die Sehnsucht!

Interview und Übersetzung: Oliver Fraenzke
Alle Antworttexte: Beth Levin

Beth Levin: Inward Voice
Aldilà Records ARCD 005
EAN: 9 003643 980051
[zur Rezension der CD]

An den Rand gedrängte Bühnenwerke

NAXOS 8.573341; EAN: 7 47313 33417 9

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Nachdem bereits eine beachtliche Anzahl der Orchestermusik aus Bühnenwerken von Jean Sibelius in dieser Reihe erschienen ist, gilt nun die neueste Aufnahme von Leif Segerstam und dem Turku Philharmonic Orchestra Svanevit (Schwanenweiß) und Ödlan (Die Eidechse) sowie den beiden kurzen Melodramen Ett ensamt skispår (Eine einsame Skispur) und Grevinnans konterfej (Das Portrait der Gräfin).

Gegenüber den bekannten sieben großen Symphonien, der frühen Kullervo-Symphonie, den Lemminkäinen-Legenden, einer stattlichen Anzahl symphonischer Dichtungen, der Karelia-Musik, der Valse triste und dem omnipräsenten Violinkonzert des überragenden finnischen Komponisten Jean Sibelius sind unzählige weitere Werke für Orchester unbekannt geblieben. Unter ihnen auch die Bühnenmusiken, von denen – mit Ausnahme von Pelléas et Mélisande und besagter Valse triste aus Kuolema – keines hierzulande regelmäßig aufgeführt wird. Der finnische Dirigent, Komponist, Violinist und Pianist Leif Segerstam will dies nun mit einem groß angelegten Projekt für NAXOS ändern und hat bereits viele der selten gespielten Stücke mit neuesten Aufnahmestandards auf CD festgehalten. Nach unter anderem Kuolema, König Kristian II, Pelléas et Mélisande, Belsazars Gastmahl und Jedermann folgen nun Svanevit und Ödlan. Ersteres, Schwanenweiß, ist ein märchenhaftes, dem Symbolismus verschriebenes Schauspiel des wohl eigentümlichsten Autors der schwedischen Literaturgeschichte, August Strindberg, in welchem eine junge Prinzessin sich statt in den König, dem sie versprochen ist, in den als Boten gesandten Prinzen verliebt. Sibelius erhielt als junger Mann den Auftrag, zur Premiere eine Bühnenmusik zu schreiben, welche zusammen mit dem Schauspiel zur Uraufführung kam. Mikael Lybeck war der Verfasser des Schauspiels Ödlan, die Eidechse, in welchem ein Graf zwischen dem Guten in Person seiner Verlobten und dem Bösen in Form eines inneren Widersachers im Eidechsenanzug zu kämpfen hat, wobei alles recht unwirklich und traumhaft erscheint. Sibelius’ Musik zu den beiden literarischen Vorwürfen erscheint sehr divergierend: Für Svanevit schreibt er dreizehn kurze und eingängig-zarte Nummern sowie einen kurzen Hornruf und einen zweimalig erscheinenden an- und abschwellenden Akkord, der den Schwanenflug abbilden soll. Ödlan ist im Gegensatz dazu eine ziemlich düstere Musik, die in zwei ungleich lange Szenen unterteilt ist und suggestiv auf das Bühnengeschehen Bezug nimmt.

Der CD ist ein englischsprachiger Booklettext von Dominic Wells beigegeben, der einige wissenswerten Informationen über die beiden Schauspielmusiken mitteilt, dem ich allerdings inhaltlich in einigen Punkten nicht zustimmen würde und der auch erstaunlich nahe an die Strukturierung und Wortwahl der offiziellen Texte auf Sibelius.fi angelehnt ist.

Das Turku Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam hat bei Sibelius einen natürlichen Heimvorteil und spürbar viel Erfahrung mit der Musik seines großen Landsmannes. Oft lässt sich ein ganz eigener Klang feststellen, der einmalig die Gefühlslage dieser Stücke widerspiegelt und von kaum einem anderen Orchester so natürlich und unverfälscht zu erwarten wäre. Der Klangkörper weist einen vollen und robusten Ton auf, der mit Einheitlichkeit und Zusammengehörigkeit aufwarten kann. Es entsteht auf diese Art ein gewisses Gefühl von Wärme. Dynamisch hingegen wirkt bedauerlicherweise alles viel zu flächig gleich und streckenweise gar abwechslungslos und langwierig. Auf feine melodische und harmonische Veränderungen wird schlicht nicht eingegangen, wodurch der technische dem musikalischen Aspekt gegenüber gewichtiger bleibt. Im Allgemeinen überwiegt ein kräftiger und pathetischer Ton, der das Sangliche und Lyrische verdrängt – wie es vor allem im zarten, märchenhaften Svanevit deutlich wird. Und dies trotz durchgängig kleiner Besetzung in den Werken, in Ödlan (welches ursprünglich für nur neun Musiker geschrieben ist) und Grevinnans konterfej gar mit reiner Streicheraufstellung. Grund für all das ist wohl, dass Segerstam doch nach wie vor hauptsächlich auf Opulenz aus ist, und auf Quantität, wie sowohl im Komponieren von mittlerweile über 250 Symphonien als auch in Bezug auf die Anzahl seiner Einspielungen deutlich wird, durch die sein Name fast monatlich in den Neuheiten erscheint. Da bleibt selbstverständlich wenig Zeit, die Musik auch musikalisch minutiös mit einem Orchester einzustudieren, und so währt hohles Pathos mit Fixierung auf die Hauptstimme als Ausweg fort statt sorgfältiger Ausarbeitung der Unter- und Nebenstimmen sowie dynamischer und artikulatorischer Nuancen – die jedoch an sich erst das wahre musikalische Denken offenbaren würden.

Im Anschluss an die beiden Schauspielmusiken folgen noch zwei Miniatur-Melodramen: Ett ensamt skispår, Eine einsame Skispur, und Grevinnans konterfej, Das Portrait der Gräfin. Diese schwedischsprachigen Stimmungsbilder mit nur dezenter Dramatik in der feingliedrigen Musik sind für mich persönlich der Höhepunkt dieser CD. Sie sind von solch einer herrlichen, edlen Zurückhaltung geprägt und wirken doch so unmittelbar und frei, in größter Naturbelassenheit und Ausdruckskraft! Riho Eklundh erweist sich hierbei als ein gelassener Erzähler, der sich nicht zu übermäßig identifiziertem oder übertrieben akzentuierendem Erzählstil hinreißen lässt, dem aber diese Texte doch offenkundig aus der Seele sprechen. Tontechnisch ist er zwar ein klein bisschen zu präsent abgebildet vor dem hier erfreulicherweise ungewohnt lyrisch agierenden Instrumentalkörper, wobei dennoch die Orchesterstimmen gut durchhörbar bleiben.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]

Identitäten des Umbruchs

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 189; EAN: 4 260052 381892

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Sonaten für Violine und Klavier aus der großen Umbruchszeit um 1900 sind auf der neu erschienenen CD „Identity“ von Noé Inui und Mario Häring zu hören. Auf dem Programm stehen Werke von Karol Szymanowski, Claude Debussy, Erwin Schulhoff und Leoš Janáček.

Lange Zeit war der Sonate eine recht klar definierte Form zugesprochen, doch irgendwann schien das alte Formmodell ausgeschöpft und nicht mehr zeitgemäß – so wurden neue Wege gesucht. Den berühmten Umsturz initiierte wohl die h-Moll-Sonate für Klavier von Franz Liszt, die erstmals die zyklische Einsätzigkeit erprobte, welche später vielfach weitergeführt wurde, beispielsweise von Alexander Scriabin und Dmitri Schostakowitsch. Andere Möglichkeiten bieten die hier präsentierten Komponisten: Karol Szymanowski schuf ein eher klassisch anmutendes, hoch virtuoses Sonatenmodell mit drei Sätzen, dessen Kopfsatz der längste und gewichtigste ist. Claude Debussy arbeitete an sechs dezidiert „französischen“ Sonaten, die sich von der „deutschen“ Form absetzten, unter denen die Violinsonate die dritte und zugleich das letzte Werk vor seinem Tode war, ohne dass er sein Projekt hätte vollenden können. Erwin Schulhoffs zweite Violinsonate entzieht sich einer klaren Beschreibung, sie steht wie so manches seiner Werke zwischen den Stilen und weist gleichsam intensive Auseinandersetzung mit Komponisten wie Richard Strauss oder Béla Bartòk auf wie auch einschlägige Volksmusikelemente, wohingegen der bei Schulhoff oft festzustellende Jazzeinfluss hier fast vollständig zurückgedrängt ist. Die vielleicht eigensinnigste Sonate dieser Aufnahme ist diejenige von Leoš Janáček, der uns heute bedauerlicherweise nur mit sehr wenigen Werken vertraut ist wie der depressiven Klaviersonate 1. X. 1905, von welcher nach der Vernichtung durch den Komponisten zwei der drei Sätze rekonstruiert werden konnten, der Sinfonietta dank der einzigartigen Besetzung mit 14 Trompeten, dem eigenwilligen Concertino für Klavier und Kammerensemble und natürlich einigem aus seinem großen Opernschaffen. Seine einzige Violinsonate sucht vollständig neue Wege des Zusammenspiels der Duopartner, der Komponist spielt neben der mehr als ungewohnten und vorzeichenreichen Tonartenwahl mit minutiösen Verschiebungen, ungewohnten Motivübernahmen, intensivem Mit- und Gegeneinander der Melodielinien sowie solistischer Behandlung, was alles im furiosen Finale aufgipfelt und ein wahrhaft einzigartiges Modell der Formbewältigung zeugt. Zuletzt folgen Notturno e Tarantella Op. 28 von Szymanowski, was einen virtuos-repräsentativen und auch eingängigen Abschluss der CD bildet.

„Identity“ wurde nach höchsten technischen Standards aufgenommen und besticht mit einem nahezu wie ein Liveerlebnis wirkenden Klangbild von größter Unmittelbarkeit. Dem prägnant-informativen Booklettext sind Zitate der Musiker im Gespräch mit Sarah Grossert eingeflochten.

Der Violinist Noé Inui erweist sich als ein technisch ausgezeichneter Solist mit farben- und nuancenreichem Ton. Sein Klang ist recht robust. Er kann durchaus kräftig und bestimmt spielen mit Hang zur akzentuierten Rhythmisierung, vernachlässigt aber auch nicht die zarten Linien. Das Vibrato verwendet er zwar relativ häufig, und konsequent auf langen Tönen, jedoch macht er es sehr dezent mit kleinem Ambitus, so dass es zu keiner Zeit als essentiell störend oder aufdringlich empfunden wird. Sehr überzeugend bei Inui ist sein voller und strahlender Ton mit klarer Aussagekraft. An seiner Seite wirkt der durch enorme Anpassungsfähigkeit überzeugende Pianist Mario Häring mit äußerst klarem und feinem Anschlag. Sein Spiel ist leicht und schillernd, wobei auch er gegebenenfalls durchaus „in die Vollen“ gehen kann, ohne dadurch jedoch die Geige zu überdecken. Auffällig bei ihm ist eine enorme Fähigkeit, die Oberstimme über der anspruchsvollen linken Hand herauszumeißeln und auszugestalten, was ihr herrliche Singkraft verleiht. Darunter leidet jedoch in manchen Fällen leider die Unterstimme, die eigentlich auch vielerorts bemerkenswerte melodische Wertigkeit besitzt und von den hohen Lagen vollständig übertönt wird, wodurch einiges an wesentlicher Kontrapunktik verloren geht. Außergewöhnlich ist seine Makellosigkeit an den extrem leisen Stellen, wo jeder Akkord sauber abgestimmt und jede rasche Begleitbewegung noch immer huschend und rhythmisch exakt erscheint.

Als Duett sind die beiden Musiker minutiös aufeinander abgestimmt und können sich gegenseitig gut zuhören, was ihre Stimmen vielerorts verschmelzen lässt. Das Zusammenspiel ist meist ideal, nur an wenigen Passagen im Kopfsatz der Debussy-Sonate und in der bis auf 32stel-Ebene agierenden Janáček-Sonate sind die Instrumente rhythmisch minimal auseinander. Inui und Häring nehmen sich einige Freiheiten in der Partitur, was Dynamik – gerade bei Szymanowski – und Rubato angeht. Alle Veränderungen im Notenbild wirken aber natürlich und passen in den Kontext, ohne als Willkürlichkeiten aufzufallen. Insgesamt nehmen die Solisten den Titel „Identity“ sehr ernst und bringen auch ihre Persönlichkeit stark in die Aufnahme ein – alle Stücke sind mit einer individuellen Note aufgenommen und verströmen das Gefühl des innerlich Empfundenen, auf dass dem Hörer sogleich bewusst wird, wie sehr die Werke den Musikern am Herzen liegen. Das Streben nach Höherem und nach etwas „hinter“ der Musik wird deutlich und lässt das Hören zu einer sehr interessanten Entdeckungstour werden.

[Oliver Fraenzke; Januar 2016]

[The New Listener international:] Interview Beth Levin 2015

The CD „Inward Voice“ with music of Robert Schumann, Anders Eliasson and Franz Schubert of the American concert pianist Beth Levin will be published in America on the 8th of January. For „The New Listener“ I’m asking her about herself, the way of her unique style of playing and her new CD.

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[Oliver Fraenzke:]
First of all I would like to talk about your origin and your influences. Your way of playing the piano is not the usual way we hear mostly, you developed a completely unique style that is more comparable with great masters of the early second half of the 20th Century than with contemporary pianists. Who have been your most important teachers and what have been other significant musical impacts? And why did you come to the decision of trying something new instead of just copying the well-known and fashionable habits of playing?

[Beth Levin:]
I feel that I have my own voice at the piano and if it is distinctive I am glad, but I haven’t set out to be different.

Having Marian Filar, Rudolf Serkin and Leonard Shure as teachers and growing up with the sound-palette they created naturally impacted my own playing. But again, each of us has his/her own voice at the instrument. For better or worse we cannot change it.
I think we all try to meet the demands of the music, and we use everything we have – ear, technique, knowledge, experience – to fulfill it.

So we can’t change our natural given sound, that everybody has unalterably. But what is it than we can work on to improve our playing?

Well I think that desire plays a large role in developing our technique and artistry at the piano. The more we want for the music the more we will grow.

Don’t be too satisfied. Reach for what you imagine and hope for the music in terms of sound, structure, phrasing, emotion, color- and you will grow as an artist I think.

In lessons Leonard Shure would listen to a phrase or two of music and ask „why?“. This was often disconcerting to the student. He never explained – you had to come up with reasons for each phrase of music.

Also I think that listening is so important- listen to singers, to strings and of course pianists especially the vintage recordings. One phrase of a Maria Callas can be life changing for your own playing. And let everything affect you- nature, art, literature…put it all into the instrument.

It is very interesting that you share the opinion that vintage recordings are more important than contemporary recordings, because for me your personal sound is also much more as if it were from that time. Why is it the vintage recordings that impresses you most? What do earlier pianist play „better“ than today’s musicians?

It may be a flaw of my own, but I am very drawn to the old recordings. I find the performances much freer on the whole, deeply felt and also that they relay a sense that the works are being recorded as a whole rather than pieced together.

Of course we have brilliant musicians now but the pressure to be perfect sometimes overtakes the artistry.

Is this the reason – to do „artistry“ instead of mindless „perfection“ – why you hesitated so long to reach fame and become an international concert star? Or is it more the fear of not having any life left beneath giving concerts all over the world?

I don’t know….let me think about this more…

Maybe I’m just happy when I have a concert coming up or any musical project, even if it’s happening around the corner. You know? I didn’t seek international fame, but I’m certainly thrilled at some of the attention I’m currently receiving.

I feel I have a great musical life, even if it is on a smaller scale. Also I wanted children very much and fashioned a life that would allow me to be in music and be a mother. I think that might have kept my musical life in check a bit.

You already mentioned three names of your most important teachers. Is it possible to focus the most important things you learned from them, what made them so significant for your own way of playing? Maybe you can say something about them, who they were and why you chose exactly them.

Marian Filar was like a father to his students and really allowed us to blossom. He was such a sensitive artist and when he played he had a gorgeous singing line and a special refinement. Listening to him play was an education. He and I shared the same birthday!

He stressed voicing, style, fingering and he fostered one’s deepest musicality. When I auditioned at Curtis Institute I had been brilliantly prepared by Filar. Also I performed two Beethoven concerti with the Philadelphia Orchestra under his guidance.

My time with Rudolf Serkin was almost a kind of musical adolescence because I was discovering new repertoire and chamber music. I was changing as a young artist and was not at all sure of what I was doing. My technique had been totally natural but now I was analyzing it and wanting more from it to match the larger, more demanding repertoire. He was a great inspiration at Curtis and at Music from Marlboro.

I had heard about the brilliant musician Leonard Shure from friends and knew he was going to be teaching in Boston. I literally knocked on his door and asked to play for him. He agreed and took me on as a student. He had an aesthetic close to Serkin’s but was even more demanding. I know many people who never got beyond four bars of music in lessons. I think the structure he built in a performance was unforgettable and a great lesson to us as we studied works of Beethoven, Schubert, Schumann, et cetera. And he was a great chamber music coach.

Dorothy Taubman lived in my neighborhood in Park Slope, Brooklyn and I became her student after moving to New York. I had young children at that point. She was a guru with technique which I think we always want to see to widen and grow. She could instill a great sense of freedom, adventure and curiosity in her students.

It looks like you have chosen splendid teachers for your way towards the music. After your explanation it seems you had the possibility of getting in contact as well with standard repertoire as with completely new and unknown pieces. On your latest cd, Inward Voice, we can hear one of the (yet) unpopular composer, the swedish master Anders Eliasson. Where and when have you heard of him first, was it with Rudolf Serkin?

The conductor Christoph Schlüren introduced me to Eliasson- I hadn’t known his music before. Now I’ve recorded two of his works for piano and hope to record a third next year.
I’m drawn to the spiritual aspect of his music, the rhythmic vitality, expressive ideas and its enigmatic quality.

Why was it among all composers Anders Eliasson that could enthuse you so much? What is it that makes him so special and unique?

I enjoy discovering new composers and Eliassson is both easy and difficult to understand. So the challenge of it is one thing that attracts me to his music. I like that his language is modern and yet there are roots to the western musical traditions which enables a player to feel somehow grounded even when the music is not familiar. It took me a while to see that I could be expressive and make a long line and could take my time inside of the score. I’m actually still on that journey with Eliasson as I work on the Disegno 3. I’m awed by his symphonic work and little by little hope to hear more of his output. I am working on his music today I also feel an inevitable, organic quality always present.

In America you are especially known for performing contemporary music. Do you think, all in all it is easier to become famous (corresponding in a special circle) by playing modern music? And what kind of the new art of sound do you prefer most?

I’ve been fortunate to have many fine composer friends whose music I like to perform. There is something great about receiving a new work in the mail with the ink barely dry. And to be able to work with the composer and discuss the music first hand.

Fame isn’t something to really predict or to try to decipher. One should simply work from the best intentions, always from the purest impulses and some notice may follow. Or it may not.
If 21st-century music is something you love most then you should follow that path. I wouldn’t say it necessarily brings fame along with it.

I think I play what I play best- but sometimes experiment with the unknown and see where it leads.

Beneath your steering towards contemporary composers like Scott Wheeler, Andrew Rudin, Yehudi Wyner, David Del Tredici, Mohammed Fairouz or the already mentioned Anders Eliasson you also have a passion for some etablished masters, especially for composers of the early 19th century like Ludwig van Beethoven, Franz Schubert or Robert Schumann. Why is it this epoch that draws you so much into it?

I have played much Russian and French repertoire as well, but have not recorded it.

But I think sometimes I do best when there is a great deal of structure and discipline to the music as in Schubert, Beethoven, Brahms and Schumann. I like when one’s emotions can work inside of a strict framework. The result can be very poignant and powerful. My teachers, especially the great artists Serkin and Shure, lived inside that repertoire and could relay a sense of that particular epoch.

And are you going to record the Russian and French music one day?
Mainly you have recorded extraordinary large works such as Bach’s Goldberg Variations or Beethoven’s Diabelli Variations as well as his last three and extensive Sonatas. Do those works mean a special challenge of the form for you, that inspires and attracts you?

Yes- I hope to record more and more and include French and Russian repertoire.

I think I have unconsciously followed my teacher’s kind of programming that always included large works- I like the „Mt. Everest“ works for the challenge and the all-encompassing feeling one receives from working on say the Goldberg Variations or Diabelli Variations.

Is there one favourite „Mount Everest“ for you?

I keep daring myself to learn Op. 106, Hammerklavier, of Beethoven. But sometimes you just have to be happy that others have done it so well and perhaps let it go.

The B flat piano concerto of Brahms is another „Mt. Everest“ for me- I’d love to perform it some day.

I think of some of the unexplored modern music as Mt. Everests. I hope there will be as yet unwritten ones waiting for me in my future.

In the end, nothing is easy. A Mozart Fantasy, say- to reach its simplicity and honesty is another kind of Everest.

This is a very true sentence, that also a little piece of music can be a Mount Everest. If I’m allowed to ask, what is the hardest peak to reach for you, on what kind of technique or musical demand do you have to practice most?

Generally speaking I’m aiming for a musical goal in any given phrase and if the technique doesn’t achieve what I’m after I really search for solutions. I don’t think about technique very much- that may be a flaw. I don’t know. I desire things in the music and reach for a technical way to create them. Never the other way round.

Technique is truly our servant, but without it we can’t do much. I admire technique in other players, but never above reaching for a musical goal. I’d rather hear the wrong notes if someone is obviously aiming for something divine.

Could you please give me an example: So if you are working on Beethoven’s Sonata Op. 111, what makes this one so difficult and so special? What is your musical goal playing this sonata?

In Op. 111 of Beethoven for example the music is almost more of a blueprint. You have to aim to meet the fullness of score, or match its demands. See behind the notes (take the fistfuls in the final movement) to the color, motion, and structure that the notes create.

In a work such as Op. 111 Beethoven is traveling somewhere special and the pianist must take that journey.

It’s a great challenge and a joy.

I think in works such as Op. 111 the performance itself leads to new ideas and opens new doors to sound…

I was thinking today, apropos of nothing really, how eloquence is such an important idea in music. Much like acting- when you watch a great actor and see how eloquently he or she turns a page, or stands up or uses his/her voice and facial expressions. And how he/she portrays something.

In music too we have to portray the music- take the notes and phrases and say something. I remember playing the Appassionata sonata of Beethoven as a young person and feeling so close to it- I knew I could portray it well because I had those emotions in my being. We have to own a large repertoire of emotions I think to portray a piece of music.

Anyway, how we play a phrase of music is important-how eloquently we state it.

Now we have been talking a little bit about a technically really difficult sonata by Beethoven, but what about a technically more easy work by Mozart? Do you take the same way to learn such a piece or is there anything different – or everything?

I don’t think there is a difference- you’re looking to find out what the music is doing, its direction, emotional context, structure. Easy usually winds up being deceptively easy.

The last piece of „Inward Voice“ is Franz Schubert’s Sonata No. 19 in C minor D 958. It is the first of the great three last sonatas of this short-lived composer, they build like a cyclical entirety even though each of these sonatas is very long. Why have you chosen this sonata out of the three? And would you agree that these sonatas have a special connection and a compelling cyclical form? Often you can read that the last movement of D 958 is much too long, just a ten minutes hunt without purpose that leaves the listener irritated and confused about what just occured – would you agree with this allegation? What do you see behind this coursing and what’s its message?

I’m working on D 959 now- perhaps I’ll get to experience playing all three and see the connections clearly. As you know I recorded the final three piano sonatas of Beethoven and for me this was a perfect next step, a perfect foil.

The influence of Beethoven seems strong – even down to the key of C minor. Perhaps Beethoven’s death affected Schubert deeply and opened the way for him to write these last sonatas in the way he did. I think there is the most contrast here – light and dark- and the final movement does gallop. Picking the right tempo might be the clue to succeeding in the
Tarantella. I don’t agree that it is too long.

Schubert died four months after completing the last three piano sonatas – a darkness permeates D 959 so perhaps he knew that he was not long for this earth.

Apart from Schubert and Eliasson there is another great work on „Inward Voice“, Robert Schumanns cyclical „Kreisleriana. Fantasien Op. 16“. You made something with this that is really special and unusual: You recorded the whole cycle in one long take instead of splitting it up in its movements. What was the reason for this?

I think when you study Kreisleriana you begin to feel that certain pieces belong together and that the timing between movements is very crucial to the performance. When I performed Kreisleriana live the timing was at the essence of the thing and I wanted to try to keep that in the recorded version.

Last but not least I would like to ask what you want to say to today’s artists. Is there anything you’d like to criticize in our music life, are there any advices you want to give to upcoming artists on their way, or is there something else you just would like to say?

Never lose your sense of obsession or your humility. I think young musicians today seek only fame and fortune and get caught up too soon in the business end of things. When I studied with Shure and Serkin our role models were different. We went after the art of making great music and less the outward reward. Always be a great observer and a great listener. Question the music, and use every influence in nature, art and life to better yourself as a musician.

The people I like most in music are the humblest. I mean I used to watch Rudolf Serkin give a recital and then go into a practice room to work on things he felt could have gone better. Imagine!

Specifically at the piano – develop your ear. Listening is almost everything and listening for something is even better – the desire!

Beth Levin: Inward Voice
Aldilà Records ARCD 005
EAN: 9 003643 980051
[to the German review]

Interview: Burkard Schliessmann (Dezember 2015)

Am 8. Januar 2016 erscheint die neueste CD-Einspielung des deutsch-amerikanischen Konzertpianisten Burkard Schliessmann, „Chronological Chopin“. Auf drei CDs spielt Schliessmann für Divine Art viele der Höhenpunkte aus dem Schaffen des polnischen Komponisten vom ersten Scherzo Op. 20 chronologisch aufwärts bis zur Polonaise-Fantasie Op. 61, inbegriffen alle Balladen und Scherzi, die 24 Préludes sowie einige Einzelwerke.

Bereits im Vorfeld der Veröffentlichung durfte ich für „The New Listener“ das neue Tripelalbum hören und den Pianisten zu Chopin, zu seiner Art der Darbietung, zur Programmauswahl sowie natürlich auch über sich und sein Künstlertum interviewen.

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[Oliver Fraenzke:]

In Ihren bisherigen Einspielungen widmeten Sie sich bereits einigen sehr zentralen Komponisten rund um Chopin, so wie Johann Sebastian Bach, der durchaus gewichtigen Einfluss auf die Musik Chopins hatte, oder Alexander Scriabin, welcher sich in seinem Frühwerk hauptsächlich den polnischen Komponisten als Idol erwählt hatte. Doch auch mit Musik Frédéric Chopins erschien bereits unter anderem 2003 eine CD von Ihnen. Nun folgt ein wahres Mammutprogramm, wo Sie auf gleich drei CDs etliche seiner Hauptwerke wie die Balladen, die Scherzi, die Préludes und weiteres veröffentlichen, teils zum wiederholten Male. Aber warum Chopin? In Ihrem Booklettext nannten Sie ihn als Ihren „Lieblingskomponisten“. Was macht ihn zu diesem und was ist so einzigartig an seiner Musik, dass Sie ausgerechnet ihn auserwählten für dieses große Projekt?

[Burkard Schliessmann:]

Chopin kann man nur verstehen und begreifen, wenn man verinnerlicht hat, dass er und seine Musik ein „ganzes Leben“ sind. So ist es eine Frage der Ästhetik, auf welch unverwechselbare Art und Weise seine Musik eine einzigartige Balance zwischen ‚Bedeutung des Moments und Forderung der Sache sind’. Hier geht es nicht um bloße ‚schöne Gefühlsduselei’, sondern um ‚kontrollierte Emotionalität’, basierend auf einem tiefen Verständnis der ‚klassischen Formen’ und deren inneren Strukturen.

In einer relativ kurzen Schaffenszeit von etwa 20 Jahren hat er die Grenzen der romantischen Musik neu definiert, wie er auch in der Beschränkung auf das Medium der 88 Tasten eine ästhetische Konzentration der Klaviermusik schlechthin sublimierte. Es war die völlige Identifizierung mit dem Instrument, welche in der radikalen Hervorbringung von Lyrik und Dramatik, Phantasie und Leidenschaft und deren einzigartiger Verschmelzung eine Tonsprache von aristokratischem Stilempfinden, formaler, klassischer Schulung und Formempfinden sowie Strenge vereinte. Chopins punktgenaues Denken erlaubte keine Experimente, weswegen er bezüglich seines stilistischen Denkens auch nicht »umherirrte«, wie Scriabin es getan hat.

Vergegenwärtigen wir uns: Alexander Scriabin äußerte einmal, dass Chopin sich in seiner gesamten Schaffenszeit so gut wie überhaupt nicht weiterentwickelt habe. Oft wurde ihm auch vielerseits die Konzentration auf das Klavier als »Einseitigkeit«, bisweilen »Einfallslosigkeit«, angeheftet und fehlgedeutet.

Alexander Scriabins innerer und äußerer Schaffensweg war der eines ausgesprochenen Kosmopoliten. Mehrere Schaffens- und Reifungsprozesse prägten sein künstlerisches Wirken als Komponist, Pianist, aber auch als Philosoph, ausgehend von einer – fast möchte man sagen – epigonalen Nachfolge der Werke Chopins bis hin zur Vorwegnahme der frühen Atonalität und seriellen Epoche, wofür seine letzten Sonaten und Préludes als Pionierleistungen die Landschaft dieses kompositorischen Denkens nachhaltig prägten und beeinflussten. So wie der von ihm auf Basis des Tritonus geschaffene »accord mystique« die Energiefelder seiner symphonischen Großwerke, aber auch der späten Sonaten als elektrisierendes Zentrum – und somit als Grundlage zur Abspaltung kompositorischer Raffinessen dienend – in den Mittelpunkt seines eigenen dodekaphonischen Denkens rückte, so wurde dieser Akkord zum Focus der tatsächlichen seriellen Idee und revoltierte somit in der gesamten kompositorischen Welt. Unter diesem Blickwinkel vermag Frédéric Chopin, der stets zurückgezogen lebte und kaum Einblicke in sein Künstler- und Privatleben gewährte, (scheinbar) zu verblassen.

Frédéric Chopins Rang als Komponist ist heute, mehr als 150 Jahre nach seinem Tod, unbestritten. Man dürfte sich auch endlich darüber einig geworden sein, dass er kein Salonkomponist, sondern ein wirklich »großer« Komponist war.

Ähnlich wie Mozart, Schubert und Verdi gehört Chopin zu den begnadeten Melodikern. Kaum ein anderer Musiker schuf Melodien von solcher Feinheit und Noblesse, von solchem Adel. Seine Balladen, Scherzi, Etüden, Polonaisen, die 24 Préludes, die b-moll- und h-moll-Sonate, mit deren Finalsatz – wie Joachim Kaiser es einmal formulierte – »ein todkrankes Genie einen herrlichen, grandios überhitzten Hymnus auf die Gewalt des Lebens komponiert hat«, gehören zum festen Konzert- und Schallplattenrepertoire.

Chopins Biographie hingegen liegt weitgehend im Dunkel. Er, der sich zeitlebens »entzog«, der Weltoffenheit eines Franz Liszt diametral entgegengesetzt, vermittelte stets den Eindruck eines Leidenden, beinahe möchte man sagen: eines Märtyrers, fast schon so, als ob dies Teil oder gar Grundlage seiner Inspiration sein sollte. Nicht umsonst stempelte die belletristische Literatur ihn zum »tuberkulösen Schmerzensmann« und »schwindsüchtigen Salonromantiker«. Nach kristalliner Vollkommenheit strebend, residierte er stets im eigenen Schneckenhaus. Seine charakterliche Kompro­misslosigkeit zwang ihn letztlich auch zum Bruch seiner jahrelangen Bindung zu George Sand und deren Tochter Solange. Ein Einsamer, gewiss elitär, aber eben auch ein Leidender. Der Vergleich mit dem dänischen Philosophen Søren Kierkegaard erhellt das Gemeinte. Dieser soll als Kind den Berufswunsch »Märtyrer« geäußert haben. Zweifelsohne hatte auch Chopin etwas vom Kult dieses »Pater dolorosus«.

Obwohl bereits zu Lebzeiten eine europäische Berühmtheit, umgab ihn schon damals die Aura des Geheimnisvollen. Auch als ausübender Pianist nahm er eine Sonderstellung ein. Sein Spiel wird von allen Zeitgenossen als etwas einzigartig Individuelles geschildert. Äußerst selten erschien er auf dem Konzertpodium, fieberhaft erwartet von seinen Anhängern, »denn der, auf den man wartete, war nicht nur ein geschickter Virtuose, ein in der Kunst der Noten erfahrener Pianist; es war nicht nur ein Künstler von hohem Ansehen, er war das alles und mehr noch als das alles – es war Chopin«, schreibt Franz Liszt 1841 in der Rezension eines Chopin-Konzertes. Liszt äußert sich weiter über Chopins Zurückgezogenheit: »Was aber für jeden anderen der sichere Weg ins Vergessenwerden und in ein obskures Dasein gewesen wäre, verschaffte ihm im Gegenteil ein über alle Capricen der Mode erhabenes Ansehen. […] So blieb diese kostbare, wahrlich hohe und überragend vornehme Berühmtheit verschont von allen Angriffen.«

Den Grund für seine Zurückgezogenheit und sein seltenes Erscheinen auf dem Podium erklärt Chopin selbst, und seine Bemerkung zu Liszt, dessen Virtuosität Chopin stets bewunderte, ist entsprechend aufschlussreich: »Ich eigne mich nicht dazu, Konzerte zu geben; das Publikum schüchtert mich ein, sein Atem erstickt, seine neugierigen Blicke lähmen mich, ich verstumme vor den fremden Gesichtern. Aber Du bist dazu berufen; denn wenn Du Dein Publikum nicht gewinnst, bist Du doch imstande, es zu unterwerfen.«

Franz Liszt charakterisierte Chopin in seiner Chopin-Biographie von 1851:
»Wenn auch diese Blätter nicht ausreichen, von Chopin so zu reden, wie es unseren Wünschen entsprechen würde, so hoffen wir doch, daß der Zauber, den sein Name mit vollem Recht ausübt, all das hinzufügen wird, was unseren Worten fehlt. Chopin erlosch, indem er sich allmählich in seiner eigenen Glut verzehrte. Sein Leben, das sich fern von allen öffentlichen Ereignissen abspielte, war gleichsam ein körperloses Etwas, das sich nur in den Spuren offenbart, die er uns in seinen musikalischen Werken hinterlassen hat. Er hat sein Leben in einem fremden Lande ausgehaucht, das ihm nie zu einer neuen Heimat wurde; er hielt seinem ewig verwaisten Vaterland die Treue. Er war ein Dichter mit einer von Geheimnissen erfüllten und von Schmerzen durchwühlten Seele.«

Wesentlich ist auch für das Verständnis und die Interpretation von Chopin und seiner Musik der Begriff der „Askesis“ im Sinne der griechischen Ethoslehre: „Askesis“ nicht etwa im Sinne von “Verzicht“ oder „Entsagung“, sondern gerade dem Gegenteil, nämlich des unabingbaren „Dran-Bleibens“ an der Sache: Eine Eigenschaft, die ihn auch mit wenig anderen Großen der Musikgeschichte verband: Bach, Mozart – um nur zwei zu nennen: Niemals nachlassende Energie, die ein Kunstwerk bis zu seiner letzten Form prägte. Verfolgt man die Entstehung der großen Werke Chopins, so sieht man die ungeheure Entwicklung. Selbst an Verzierungen arbeitete er unerbittlich, entwarf mehrere Versionen, um letztendlich zu einer ganz bestimmten Version zu finden, die er als bindend ansah.

In diesem Zusammenhang ist auch seine tiefe Bindung zu Bach zu verstehen.

So hatte Chopin Das Wohltemperierte Klavier, die neue Pariser Ausgabe, mit nach Mallorca gebracht und widmete sich einem besonderen Studium des Hauptwerkes von Johann Sebastian Bach.

Die Liebe für Bach verbindet ihn mit Felix Mendelssohn, auch mit Ferdinand Hiller. Mit Hiller und Liszt hatte Chopin Bachs Konzert für drei Klaviere aufgeführt. Bach bedeutet für Chopin Größe und Ordnung und Ruhe. Bach bedeutet auch Geborgenheit in der Vergangenheit. Nach der sehnt er sich immer und überall zurück. Bereits in frühester Jugend wurde Chopin durch seinen Warschauer Lehrer Wojciech Żywny auf Bachs Werke aufmerksam gemacht – für den damaligen Zeitgeschmack höchst ungewöhnlich. Seine Schüler lässt Chopin im Wesentlichen Bachs Präludien und Fugen studieren, und in den beiden Wochen, in denen er sich einmal im Jahr auf ein Konzert im größeren Rahmen vorbereitet, spielt er ausschließlich Bach. Bereits in seinen Études hat Chopin gezeigt, wie gut er selbst jene Gesetze der Logik und Konstruktion beherrscht, die er bei Bach bewundert. Nun komponiert Chopin seine 24 Préludes op. 28 und knüpft erneut an Bachs Tradition an. Zwar folgt keinem seiner Préludes eine Fuge, dennoch ist jedes Stück in sich geschlossen und birgt eine eigene Aussage. Wie Bachs Wohltemperiertes Klavier ist Chopins Zyklus auf vierundzwanzig Einheiten angelegt und umfasst alle zwölf Töne in Dur und Moll; allerdings sind sie gemäß dem Quintenzirkel angeordnet und nicht in einer chromatischen Fortschreitung der Tonarten.

In einer Rezension in der Revue et Gazette musicale vom 2. Mai 1841 schreibt Franz Liszt über Chopins Konzert vom 26. April 1841: »Die Préludes von Chopin sind Kompositionen von ganz außergewöhnlichem Rang. Es sind nicht nur, wie der Titel vermuten ließe, Stücke, die als Einleitung für andere Stücke bestimmt sind, es sind poetische Vorspiele, ähnlich denjenigen eines großen zeitgenössischen Dichters [gemeint ist vermutlich Lamartine], die die Seele in goldenen Träumen wiegen und sie in ideale Regionen emporheben. Bewundernswert in ihrer Vielfalt, lassen sich die Arbeit und die Kenntnis, die in ihnen stecken, nur durch gewissenhafte Prüfung ermessen. Alles erscheint hier von erstem Wurf, von Elan, von plötzlicher Eingebung zu sein. Sie haben die freie und große Allüre, die die Werke eines Genies kennzeichnet.«

Robert Schumann stimmten die Préludes op. 28 hingegen ratlos: »Es sind Skizzen, Etudenanfänge, oder will man, Ruinen, einzelne Adlerfittige, alles bunt und wild durcheinander. Auch Krankes, Fieberhaftes, Abstoßendes enthält das Heft; so suche jeder, was ihm frommt.«

Möglicherweise erkannte Schumann hier bereits eigene Wesenszüge. Zumindest sah er sich Vorwürfen dieser Art auch schon ausgesetzt. So schreibt der Kritiker Rellstab 1839 in der Rezension von Schumanns Kinderszenen von »Fieberträumen« und »Seltsamkeiten«.

Chopin selbst reagierte hingegen ärgerlich, als George Sand von »nachahmender Tonmalerei« sprach, und er protestierte mit aller Kraft gegen theatralische Deutungen. »Er hatte recht«, gestand später George Sand einsichtig. Ebenso hätte ihn wütend gemacht, wie sie über das Prélude in Des-Dur schrieb und es in mystische Erlebnisse und Sphären transferierte: »Das Prélude, das er an jenem Abend komponierte, war wohl voll der Regentropfen, die auf den klingenden Ziegeln der Kartause widerhallten; in seiner Fantasie aber und in seinem Gesang hatten sich diese Tropfen in Tränen verwandelt, die vom Himmel in sein Herz fielen.« Tatsächlich komponierte Chopin auf Mallorca nicht anders als sonst: nobel, majestätisch, elegisch.

Zu meiner eigenen Interpretation: ALLE Interpretationen dieser neuen Edition sind Neu-Aufnahmen, die in mehreren recording-sessions in den teldex-studios in Berlin gemeinsam mit den Produzenten Friedemann Engelbrecht, Tobias Lehmann und Julian Schwenkner entstanden sind. Das Instrument, einer meiner eigenen Steinways ist ein ganz besonderes Instrument, das von Georges Ammann stets meisterhaft intoniert wurde. Das Arbeiten mit diesem Team vollzog sich in einer regelrechten Trance, kennen wir uns seit vielen Jahren und vertrauen einander. Bereits die Goldberg-Variationen hatte ich mit Engelbrecht und Schwenkner (erschienen 2007 auf Bayer) eingespielt, ebenso die‚ Chopin-Schumann Anniversary Edition’ von 2010 (erschienen auf MSR-Classics, USA, im Jahre 2010). Bezieht man die von Ihnen erwähnte Einspielung von 2003 der Balladen und anderen großen Werken (erschienen auf Bayer) mit ein, handelt es sich in der nun vorliegenden Edition also bereits um die dritte Version einiger Interpretationen. Beispielsweise der Balladen, der Fantaisie op. 49, der Barcarolle op. 60 und der Polonaise-Fantaisie op. 61. Gerade in der Barcarolle und der Polonaise-Fantaisie spürt man ganz besonders meine persönlich-künstlerische Entwicklung an und mit den Werken. Insgesamt ist es ein Leben ‚mit’ jenen Werken, die meine letzten Jahre der Beschäftigung mit Chopin prägten. Man kann aber hier auch deutlich die Unterschiede der Akustik und den damit verbundenen Einfluss auf Interpretation sehen: Während die Einspielung von 2003 in der Friedrich.Ebert-Halle in Hamburg entstand, wurden die Einspielungen 2010 in einem ganz besonderen Saal, dem altehrwürdigen Rundfunkzentrum in der Nalepastraße in Berlin realisiert. Auch jeweils unterschiedliche Steinways (ebenfalls mein Eigentum) sind hier zu hören. Die hier aktuell vorliegenden Einspielungen sind allesamt in den teldex-studios entstanden. Wahrheit der Musik, Wahrheit des Klanges und Wahrheit der Interpretation bilden für mich ein „untrennbares Ganzes“. Darin sehe ich die Verwirklichung meiner persönlichen „Askesis“ …

Vielen Dank für diese ausführliche und weitschweifende Antwort, die bereits einige meiner weiteren geplanten Fragen beantworten konnte und die auch vieles beinhaltet, was in Ihrem Booklettext ausgeführt wird.

Doch entsprechend bieten Ihre Worte auch viele Anknüpfungspunkte für neue Fragen. Zunächst interessant ist natürlich das Paradoxon, Chopin habe die Grenzen der Romantik neu definiert, sei aber gleichzeitig einseitig gewesen und habe sich nicht weiterentwickelt. Ist also diese Neudefinition Ihrer Ansicht nach ein spontaner Glücksgriff, ein ganz persönlich geborener Stil, der ohne Entwicklungsprozess sofort voll ausgereift und dergestalt für künftige Generationen richtungsweisend war? Anders lassen sich aus meiner Perspektive die zwei widersprechenden Thesen nicht kombinieren – oder sehen Sie eine n dieser beiden divergierenden Aussprüche als unzutreffend an?

Und was hat es mit der Beschränkung auf das Klavier auf sich? In allen Werken Chopins tritt das Klavier auf, hinzugenommenes Orchester, Cello, Singstimme oder andere Mitstreiter sind die absolute Ausnahme. War diese Einseitigkeit entscheidend für den Individualstil und die (sofern doch existierende) Entwicklung Chopins? Wäre seine Musik überhaupt für andere Besetzungen denkbar?

Man muß unterscheiden und deutlich voneinander trennen: Zum einen sehen wir uns mit Alexander Scriabin und dessen Haltung zu Chopin konfrontiert. Selbstverständlich war Scriabin (im übrigen auch einer meiner Favoriten!) in seiner ersten kompositorischen Schaffensperiode ein Epigone Chopins. Boris Pasternak, einst ein väterlicher Freund Scriabins – schrieb: „… auf den Fenstersimsen lagen die verstaubten Archive Chopins …“. Seine erste Schaffensperiode steht deutlich unter dem Einfluss Chopins. Besonders die Préludes op. 11 drücken jenes Spannungsfeld. Mit der Sonate Nr. 3 in fis-moll op. 23 schloß Scriabin die Orientierung an der „Tradition“ ab. Von nun an geht sein Denken in eine völlig andere Richtung. Ich bin sicher, ohne Scriabin und besonders der dritten Schaffensphase hätte die gesamte Musikgeschichte eine andere Entwicklung genommen. ER war es, der die Zwölftontechnik begründete: Der „accord mystique“, im Zentrum der Werke stehend, war Energieträger für sämtliche Ideen. Scriabins früher Tod – musikgeschichtlich zweifelsohne tragisch – birgt dennoch ein versöhnliches Fazit, erscheint eine kompositorische Weiterentwicklung nach seinen letzten Werken fast unmöglich. Zumindest schwer vorstellbar wie Scriabin hätte weiterverfahren sollen, wäre ihm ein längeres Leben gegönnt gewesen. Unter diesem Blickwinkel ist auch zu versehen, dass Scriabin in einem Interview vom 28. März 1910 äußerte: „Chopin ist ungemein musikalisch, und darin ist er all seinen Zeitgenossen voraus. Er hätte mit seiner Begabung zum größten Komponisten der Welt werden können; aber leider entsprach sein Intellekt nicht seinen musikalischen Qualitäten. […] Merkwürdigerweise hat sich Chopin als Komponist so gut wie überhaupt nicht entwickelt. Fast vom ersten Opus an steht er als fertiger Komponist da, mit einer deutlich abgegrenzten Individualität“. Scriabin stand für eine völlig andere kompositorische Entwicklung, nämlich derjenigen, die sich an „Experimentierung“ orientierte. Chopin hingegen vertraute der „klassischen Tradition“ und entwickelte aus deren Energiefelder jene puristische Form der Musik, die andere,,unter anderem auch Robert Schumann, in der damaligen Zeit missverstanden.

Friedrich Nietzsche beschreib in „Menschliches, Allzumenschliches II“ von 1877– 79 sehr gut das „Festhalten“ in der Tradition, welches er als „Konvention“ deutet: „Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat, gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche – alle vor ihm und nach ihm Gekommenen haben auf dies Beiwort kein Anrecht – Chopin hatte dieselbe fürstliche Vornehmheit der Konvention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichsten einfachsten Farben zeigt, – aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese ließ er gelten, als geboren in der Etikette, aber wie der freieste und anmutigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend – und zwar ohne sie zu verhöhnen“. Insofern in konkreter Beantwortung Ihrer Frage: Ja, eindeutig ein „Glücksgriff“, ein ganz persönlicher Stil, der ohne Entwicklungsprozess voll ausgereift war und für Generationen richtungsweisend war, ein Zusammentreffen vieler Parameter und Kräfteballungen sowie Energiefelder, aber auch soziologische Aspekte, die jene Konzentration ermöglicht haben.

So ist jene Beschränkung auf das Medium der 88 Tasten als eine ästhetische Konzentration zu verstehen. Durch die völlige Identifizierung mit dem Instrument, welche in der radikalen Hervorbringung von Lyrik und Dramatik, Phantasie und Leidenschaft und deren einzigartiger Verschmelzung eine Tonsprache von aristokratischem Stilempfinden, formaler, klassischer Schulung und Formempfinden sowie Strenge vereinte, ist eine „Besetzung“ für anderes Instrumentarium schwerlich vorstellbar. Chopins punktgenaues Denken erlaubte daher auch keine Experimente, weswegen er bezüglich seines stilistischen Denkens auch nicht »umherirrte«, wie Scriabin es beispielsweise getan hat. Umgekehrt gilt, dass „Transkriptionen“ seiner Werke ebenso ins Leere laufen und die innere Essenz niemals zur Geltung bringen kann.

Bezeichnend ist, dass Anton Rubinstein, selbst Pianist und Virtuose, in Die Musik und ihre Meister, 1891 jene „Konzentration“ auf das Klavier folgendermaßen charakterisierte: „Alle bisher Genannten [aufgeführt waren u. a. Mozart, Beethoven, Schubert, Weber, Schumann, Mendelssohn] haben ihr Intimstes, ja, ich möchte beinahe sagen ihr Schönstes dem Clavier anvertraut, – aber der Clavier-Barde, der Clavier-Rhapsode, der Clavier-Geist, die Clavier-Seele ist Chopin. – Ob dieses Instrument ihm, oder er diesem Instrument eingehaucht hat, wie er dafür schrieb, weiß ich nicht, aber nur ein gänzliches In-einander-Aufgehen konnte solche Compositionen ins Leben rufen. Tragik, Romantik, Lyrik, Heroik, Dramatik, Phantastik, Seelisches, Herzliches, Träumerisches, Glänzendes, Großartiges, Einfaches, überhaupt alle möglichen Ausdrücke finden sich in seinen Compositionen für dieses Instrument und alles Das erklingt bei ihm auf diesem Instrument in schönster Äußerung“.

Scriabin ist zweifelsohne ein sehr interessanter Fortführer Chopins und leitet ja tatsächlich auch direkt über in die freie Tonalität. Aber darf ich fragen, wieso ausgerechnet der mystische Akkord oder Prometheusakkord (ein von Scriabin gefundener sechsstimmiger Quartenakkord, der statt einer Grundtondefinition ein Klangzentrum bildet; auf dem Zentrum C lauten seine Töne C-Fis-Ais-E-A-D) Initiator der 12-Ton-Technik sein soll? Natürlich weicht er vom klassischen Tonalitätsempfinden ab, doch schafft er noch immer Zentren, die ja gerade im Prometheus auch lange Zeit stabil bleiben, und sucht nicht die völlige Auflösung von Bezügen, sondern das Schaffen neuer Verbindungen.

Jedoch zurück zu Chopin. Sie machten bereits einige Aussagen, wie Frédéric Chopin selber am Klavier gespielt und wie er seinen Schülern doch ganz andere Sachen beigebracht haben muss. Gibt es genauere Quellen, die auf sein Spiel und seine Lehrmethoden eingehen und was ist uns überliefert? Und wie sieht es heute aus, sollten wir uns an sein Spiel halten, oder an seine gelehrten Methoden – oder sollten wir doch davon Abstand nehmen und einen eigenen Zugang zu Chopins Musik suchen?

Wir finden bei Scriabin anfangs bei mit erstaunlich eigener Gestik eine vermengte subtile Chopin-Nachfolge, die Elemente Liszts, Schumanns und Brahms ebenso integrierte wie neutrales Salonpathos – und das alles unter Vermeidung folkloristischer Anklänge. Von hier aus gelangte er zu einem exakt kalkulierbaren harmonischen System von transponierbaren Quartenakkorden. Von hier aus erreichte sein Denkstil immer mehr elitär-arrogante Bereiche individualspekulativer Selbstüberhöhung auf der Basis einer regelrecht verformten Theosophie. Seine Tagesbuchnotizen lesen sich wie eine riesige Kluft zwischen seinem bedeutsamen künstlerischen Schaffen einerseits und jenen merkwürdigen persönlich-denkerischer Züge andererseits. Seine Charakterzüge waren geprägt von Fatalismus, Egozentrik, Aktionswahn, Idealismus, Mystik, Prophetie und Hybris. Am Ende seines Lebens sah er sich sogar als Messias, der der Menschheit mit einem geplanten musikalisch-kultischen Riesenopus das Medium zur Läuterung vermitteln sollte. Auch wenn sein Versuch, die Musik zu erhöhen, sie mit Farben, Düften und Worten zu einem im Kern tief humanen Gesamtkunstwerk von bleibender Wirksamkeit zu geschalten, gescheitert ist, gehört rein musikalisch aber zu den geistigen und erregend differenziertesten Beständen der Kulturwelt. Hierdurch weist sich Scriabin als Persönlichkeit aus, die Scriabin als Persönlichkeit der um 1870 geborenen Komponisten die stilistisch-harmonische und tonale Landschaft des anbrechenden 20. Jahrhunderts neu definierte.

Auch wenn bei Schönberg die 12-Tonreihe am Anfang eines Werkes das entscheidend-strukturelle Medium darstellt, so ist es gerade bei Scriabin der im Zentrum eines Werkes sehende Prometheusakkord, der von hier aus Energien nach vorne und hinten ausstrahlt, serielle Techniken bzw. Variations- und Montagetechniken bildet und im übrigen eine kleine Sekund nach oben – also chromatisch – transponiert alle 12 Töne der Skale repräsentiert.

Versucht man Scriabin zu „erklären“, so findet man bei Boris Pasternak folgende Zeilen: „Das war die erste Ansiedlung des Menschen in Welten, die Wagner für Fabelwesen und Mastadons entdeckt hatte, Paukensachläge und chromatische Wasserfälle aus Trompeten, die so kalt klangen wie Strahl einer Feuerspritze, scheuchten sie hinweg … über dem Zaun der Symphonie glühte die Sonne van Goghs. Auf ihren Fenstersimsen lagen die verstaubten Archive Chopins … ich konnte diese Musik nicht ohne Tränen anhören.“

Bei Chopin wissen wir über seine zahlreichen Schüler – hauptsächlich davon verdiente er sein Geld – genau, wie und was er unterrichtete. Beispielsweise Karol Mikuli: Mikuli studierte zuerst in Wien Medizin, ging aber 1844 nach Paris und wurde Schüler Chopins – später war er dessen Assistent – und Rebers in der Komposition. Die Revolution 1848 vertrieb ihn in seine Heimat. Nachdem er sich als Pianist durch Konzerte in verschiedenen österreichischen, russischen und rumänischen Städten bekanntgemacht, wurde er 1858 zum künstlerischen Direktor des Galizischen Musikvereins zu Lemberg (Konservatorium, Konzerte und so weiter) gewählt. 1888 trat er von der Leitung des Musikvereins zurück und leitete nur noch eine Privatschule. Er veröffentlichte die erste Gesamtausgabe der Werke Chopins, deren unübertroffener Interpret er bis zum Ende seines Lebens war. Mikulis Ausgabe von Chopins Werken (Kistner) enthält viele Korrekturen und Varianten nach Chopins eigenhändigen Randbemerkungen in Mikulis Schulexemplar. Sie sollten für uns bindend sein. Auch ich orientiere mich an ihnen.

Moscheles, selbst einer der bedeutendsten Pianisten des 19. Jahrhunderts, findet 1839 die vielleicht aussagekräftigsten und schönsten Worte zu Chopins pianistischem Rang und Können: »Sein [Chopins] Aussehen ist ganz mit seiner Musik identificirt, beide zart und schwärmerisch. Er spielte mir auf meine Bitten vor, und jetzt erst verstehe ich seine Musik, erkläre mir auch die Schwärmerei der Damenwelt. Sein ad libitum-Spielen, das bei den Interpreten seiner Musik in Taktlosigkeit ausartet, ist bei ihm nur die liebenswürdigste Originalität des Vortrags; die dilettantisch harten Modulationen, über die ich nicht hinwegkomme, wenn ich seine Sachen spiele, choquiren mich nicht mehr, weil er mit seinen zarten Fingern elfenartig leicht darüber hingleitet; sein Piano ist so hingehaucht, daß er keines kräftigen Forte bedarf, um die gewünschten Contraste hervorzubringen; so vermißt man nicht die orchesterartigen Effecte, welche die deutsche Schule von einem Klavierspieler verlangt, sondern läßt sich hinreißen, wie von einem Sänger, der wenig bekümmert um die Begleitung ganz seinem Gefühl folgt; genug, er ist ein Unicum in der Clavierspielerwelt.«

 

Viel diskutiert blieb auch die Art und Weise seines Rubatos, wo die Aussagen seiner Zeitgenossen ein völlig unterschiedliches Bild ergeben. »Sein Spiel war stets nobel und schön, immer sangen seine Töne, ob in voller Kraft, ob im leisesten piano. Unendliche Mühe gab er sich, dem Schüler dieses gebundene, gesangsreiche Spiel beizubringen. ›Il (elle) ne sait pas lier deux notes [Er (sie) weiß nicht, wie man zwei Töne miteinander verbindet]‹, das war sein schärfster Tadel. Ebenso verlangte er, im strengsten Rhythmus zu bleiben, haßte alles Dehnen und Zerren, unangebrachtes Rubato sowie übertriebenes Ritardando. ›Je vous prie de vous asseoir [Bitte, bleiben Sie sitzen]‹, sagte er bei solchem Anlaß mit leisem Hohn.« Diese Aussage einer Schülerin polarisierte ganze Generationen von Klavierprofessoren im Bemühen um den Begriff »Rubato«, vor allem aufgrund auch anderslautender, gewichtiger Worte, beispielsweise denjenigen von Berlioz, die in Chopins Spiel übertriebene Freiheit und allzugroße Willkür sahen: »Chopin ertrug nur schwer das Joch der Takteinteilung; er hat meiner Meinung nach die rhythmische Unabhängigkeit viel zu weit getrieben. […] Chopin konnte nicht gleichmäßig spielen.« Offenbar gestattete er seinen Schülern jene Freiheiten nicht, die er für sich selbst relativierte.

Weitere Schüler/Schülerinnen waren u.a. Marcelina Czartoryska, Émile Decombes, Carl Filtsch, Adolphe Gutmann, Maria Kalergis, Georges Mathias, Delfina Potocka, Charlotte de Rothschild, Jane Stirling, Thomas Tellefsen und Pauline Viardot.

Chopin selbst arbeitete am Schluß seines eigenen Lebens noch an einer eigenen Klavierschule, die, wie man nach Aufzeichnungen weiß, Methodik (er komponierte ja auch eigens „pour la Méthode des Méthodes de Moscheles et Fétis“, die in zweiseitigen Übungen 1841 von Maurice Schlesinger ohne Opuszahl veröffentlicht wurden) und Technik neu definieren sollte. Leider kam es zur finalen Fertigstellung nicht mehr …

Die Tradition und Stilistik des Chopin-Spiels hat sich ja auch stetig verändert. Paderewski, Cortot, Rubinstein, Pollini, Zimerman, Pogorelic, Schliessmann …

Sicher eine jeweilige Frage der Zeit des jeweiligen Zeitgeistes und der damit verbundenen Erkenntnisse …

Wie Sie so klar formulierten, verändert sich das Chopinspiel immer weiter und viele Pianisten bringen neue Aspekte ans Licht. Wo sehen Sie sich in dieser Tradition der Chopinrezeption? Versuchen Sie sich an das zu halten, was über Chopins eigenes Spiel bekannt ist oder doch eher an das, was er gelehrt hat? Oder wollen Sie einen neuen Weg einschlagen und die Entwicklung der sich verändernden Traditionen weiterführen?

Kaum ein Spiel bzw. eine Stilistik hat sich im Laufe der Jahre immer wieder derart stark verändert, wie diejenige des Chopin-Spiels. Tatsächlich hat man auch früher von regelrecht typischen „Chopin-Spielern“ gesprochen. Cortot war zum Beispiel ein solcher. Auch wenn ich ihn unglaublich schätze und verehre, gerade wegen seines intuitiv-inspirierten und improvisatorischen Spiels, war sein Spiel am Schluss, bestimmt auch wegen seiner Krankheit und des damit verbundenen Morphinismus, außerordentlich manieriert und entmaterialisiert. Die unmittelbare „Antwort“ darauf war Rubinstein: Sein Spiel männlich-kraftvoll, die klassizistische Note und damit Strenge von Chopin hervorhebend (Beethoven sah er als Romantiker!), war er der Gegenpol zu Cortot. Er „rückte gerade“, was Cortot entmaterialisiert hatte. Man muß sich dies ähnlich vorstellen wie die vielen Bach-Interpretationen nach der Wiederentdeckung durch die Wiederaufführung der Matthäuspassion Bachs durch Mendelssohn: Wie viele regelrechte Entstellungen mußte Bach seit diesem Zeitpunkt „erfahren“, so dass eine Wiederherstellung der Ordnung durch Rosalyn Tureck und insbesondere Glenn Gould mehr als notwendig war. „Interpretations-Kultur“ – bezeichne ich jenes Phänomen. Es ist die Verantwortung eines Interpreten, die Antwort auf die Errungenschaften eines Kollegen zu geben. Anders wären auch Persönlichkeiten in der Chopin-Tradition nach Rubinstein wie Argerich, Pollini, Zimerman, Pogorelich etc. nicht denkbar.

Sie führen viele der auf „Chronological Chopin“ eingespielten Werke bereits seit längerer Zeit im Repertoire und haben viele davon schon einmal auf einer CD festgehalten. Wie verändert der zeitliche Abstand die Art, Chopin zu spielen? Gibt es dabei Grundtendenzen, werden die Werke beispielsweise langsamer, weil nun mehr zwischen den Tönen entstehen kann, oder verändert sich die Art und Ausführung des Rubatos?

Ich selbst sehe mich in jener Tradition, Altes mit Neuem zu verbinden, lese ständig unterschiedliche Texte und setze mich extrem mit den »Verzierungen« auseinander, da diese einem ganz besonderen Augenmerk bedürfen. Im Anhang der ‚Paderewski-Edition‘ beispielsweise kann man viel lernen … Dies ist durch seine eigenen Handschriften überliefert und bindend. Am Rubato kann man auch wenig ändern: Willkürliches gibt es bei Chopin nicht, dafür hat er selbst viel zu lange an seinen Handschriften gesessen. An einem Werk wie der F-Dur Ballade saß er von 1836 – 1839. Den Schluss änderte er mehrmals: Noch Robert Schumann hörte ihn in F-Dur, bevor ihn Chopin endgültig in fahles a-moll abdunkelte und das Werk balladesk beendete.

Dennoch: Ihre Frage beantworte zumindest ich – ich denke, es steht mir zu – mit einem klaren Ja: Selbstverständlich habe ich eine Vision und möchte die Weiterentwicklung der Chopin-Interpretation vorantreiben. Insbesondere klanglich: Jener Aspekt ist mir heilig, an jener Komponente weder ich ein Leben lang arbeiten. Ich bin Synästhetiker und sehe die Welt der Klänge in Farben. Insbesondere deshalb blicke ich sowohl über 88 Tasten und über ein Orchester hinaus …

Generell denke ich über Grenzen hinweg und sehe ausschließlich jene Komponente, die als Transzendenz jenseits einer Komposition zu finden ist. Es ist eine Vision, von der ich geleitet werde, eine Vorstellung, die selbst die Kräfte (m)einer Intuition bei weitem überschreitet.

Auf keinen Fall werden die Werke im Laufe der Zeit langsamer beziehungsweise sind langsamer geworden, im Gegenteil. Heute betone ich eher sogar die virtuose Linie. Aber die „objektive Richtigkeit“ hat sich verändert. Wenn man derart intensiv wie ich das Leben mit den Werken verbringt, so weiß man auch schnell, wo die „Durchlässigkeit“ für Freiheiten liegt und wo diese gestattet sind. Ich selbst kann über mich und meine Interpretationen sagen, dass die »innere Stimmigkeit« „runder“ wird. Der angestrebte, große Bogen wird deckungsgleicher mit meiner Vision …

Auch diese Antwort bietet wieder sehr viele Anknüpfungspunkte. Dazu interessiert mich zunächst, was Sie damit meinen, es gäbe kein willkürliches Rubato? Oder anders gefragt, wie und an welchen Stellen hat dann das Rubato zu sein und wie genau sollte es ausgeführt werden?

Sie haben vor allem den Klang betont und dass Sie über den Rand des Konzertflügels hinaus blicken. Welchen Klang streben Sie denn an, wie hat dieser zu sein und an was orientiert er sich?

»Rubato« ist ein musikalisches Phänomen, was niemals „willkürlich“ sein darf, etwas, was minuziös geplant sein muß und auch exakt – falls man den Text genau liest und ihn versteht – im Text direkt und indirekt verankert ist bzw. daraus hervorgeht. Bei ‚Chopin‘ darf Rubato niemals willkürlich eingesetzt werden. Bereits Artur Schnabel (von mir hochverehrt) hat Rubato bei Chopin „gelehrt“. Gerade ER war es ja auch, der Notentexte generell intellektuell verstanden hat und erst danach seinem Gefühl vertraute. Auch für mich ist das „Chopinsche-Rubato“ klar: Die Gestaltung beruht auf der „Linienführung des Basses“: Bleibt diese gleich bzw. liegt sie auf einem repetierenden »Orgelpunkt«, so darf das Tempo in keiner Weise verändert werden. Erst mit der Veränderung der melodischen Linienführung des Basses dass (auch) das Tempo variieren. Ein Effekt von ungeheurer Wirkung, die, entsprechend eingesetzt, beklemmend sein kann.

Umso geplanter und sparsamer »Rubato» eingesetzt wird, umso bedeutungsvoller ist jedes Detail. »Rubato« unterliegt der inneren Struktur und Gesetzmäßigkeit einer Komposition.

Genauso ist es mit »Klang«: Ich habe eine absolut konkrete Vorstellung von jedem einzelnen Ton: Sowohl demjenigen, den ich selbst spiele, aber auch vom Instrument selbst. Letztlich ist es eine Einheit. Der Ton eines Instruments beruht aber auch auf dessen mechanischen Regulierungen, auch hier konvergieren alle Kräfte zu einem großen Ganzen. Der »Klang«, den ich anstrebe und bevorzuge, ist ein sonorer, runder und tragfähiger Klang ohne jegliche Härte. In jedem Ton lebt eine eigene Welt. Seit vielen Jahren (genau gesagt seit 1984) arbeite ich mit Georges Ammann, jenem berühmten Techniker von STEINWAY & SONS, der ebenso exakte Vorstellungen von Klang und Regulierung eines Instruments hat und dies als Einheit sieht. Bei meinen Aufnahmen ist er ständig an meiner Seite – wir sind ein absolut verläßliches Team …

Den Konzertflügel fasse ich als „Streichinstrument“ auf. Perkussion ist mir fremd und ein völlig methodisches Missverständnis: Einzig die »Streichergruppe« ist in der Hervorbringung eines Tones und dem Nachzeichnen des horizontalen Verlaufs eines Notentextes methodisch verwandt. Und hierin liegt das große Missverständnis, pädagogisch-methodisch insbesondere der Asiaten: Da das perkussive Element die gesamte Technik beherrscht, ist deren „Klang“ (?) metallisch hart.

Ich selbst orientiere mich am ‚Cello‘: Das Cello verfügt über jenen sonoren-tragfähigen Klang, wird ja auch als „Verlängerung der menschlichen Stimme“ bezeichnet. Hinzu kommt eine sexuell-erotische Komponente dieses Instruments.

„Wenn wir uns die vom Tanz dominierte Musik Bachs anhören, wird uns unweigerlich bewußt, dass er, wiewohl er von der barocken Sicht des Tanzes als menschliche und weltliche Ordnung ausgegangen sein mag, dessen alte religiös magische Implikationen wieder heraufbeschwor“. So beginnt das Kapitel mit der Überschrift „Stimme und Körper: Bachs Solocellosuiten als Apotheose des Tanzes“ in Wilfrid Meilers‘ Buch Bach and the Dance of God. Meilers legt in der Folge nahe, dass wir „wenn wir uns das Zeitalter des Barock als den Triumph des Humanismus nach der Renaissance vorstellen, die sexuelle Symbolik von Bogen und Saite als allumfassend akzeptieren [können]. Das Instrument ist weiblich passiv, der Bogen männlich aktiv; zusammen führen sie zur Schöpfung“. Außerdem stellt er fest, dass „Bachs Musik für Solovioline und für Solocello die vollendetste Manifestierung dieser Vermenschlichung eines Instrumentes [ist]“ und dass das Cello, noch mehr als die Violine, den gesamten Menschen widerspiegelt. Der Grund dafür ist, behauptet er, dass „sein Timbre von allen Instrumenten dem einer männlichen Stimme mit großem Umfang am ähnlichsten [ist]; was das Körperliche anbelangt, so erfordert es Bewegungen der Arme, des Rumpfes und der Schultern, was bedeutet, dass man beim Cellospielen gleichzeitig im Takt singt und tanzt“.

… und exakt so fasse ich den Konzertflügel auf. …

Bezüglich der »Methodik« meine ich die Einbeziehung des gesamten Armes (von der Handwurzel bishin zum Oberarm und der Schulter) und dessen Linienführung sowie des gesamten Körpers zur Hervorbringung eines Tones sowie des Nachzeichnens der horizontalen Linie des Notentextes.

Sie hoben hervor, die virtuose Linie mittlerweile mehr zu betonen, aber war Chopin nicht eher der vordergründigen Virtuosität abgeneigt und nutzte sie rein zum Ausdruck seiner Musikalität? Warum sollte dann eben dieses Element hervorgehoben werden?

Mit der „virtuosen Linie“ möchte ich nicht missverstanden werden: Natürlich ist hier keine „vordergründige Virtuosität“ gemeint, sondern jene Ebene der Allumfassenheit, der Selbstverständlichkeit, der alle Bereiche der objektiven, aber auch subjektiven Richtigkeit miteinschließt. Jene von mir angesprochene Virtuosität beschreibt eben jene bereits angesprochene Transzendenz, wo Schwerelosigkeit und Bedeutungsvolles sowie Ebenmäßigkeit des Ablaufs zu einer Einheit verschmelzen … Bedeutung des Moments und Forderung der Sache …

Der Pianist Artur Schnabel, ein hochgeschätzer Beethovenapologet, bezeichnete Chopin spöttisch als einen rechtshändigen Melodiker. Andererseits schätzte Brahms, bekanntlich ein ausgewiesener Kontrapunktiker, Chopin und dessen Werke außerordentlich, setzte sich für sie ein und verlegte sogar einige. Was für eine Bedeutung als Komponist würden Sie Chopin innerhalb dieses Meinungsdisputes attestieren?

Ein hochspannender Themenkomplex. Tatsächlich war Artur Schnabel ein hochgeschätzter Beethovenapologet, der in dieser Generation und in dieser Zeit eine Revolution bzgl. der Interpretation der ‚Klassischen Klaviermusik‘, insbesondere der Beethoven-Interpretation, begründete. Seine Art, »Text« zu lesen und zu verstehen, war einzigartig und bahnbrechend. Spannungsfelder nach unterschiedlichen Parametern – melodische, harmonische, metrische und rhythmische Artikulation – entsprechend zu analysieren und zu einer neuen Einheit zusammenzufügen, blieb beispiellos.

In einer früheren Frage hatte ich Ihnen unter anderem geantwortet, dass es einst „typische Chopin-Interpreten“ wie beispielsweise Alfred Cortot gab. Es ist eine regelrechte „Charakter- und Stil-Frage“. Ich bin ganz sicher, dass Schnabel ein typischer „klassischer Interpret“ war; und so war er auch insbesondere für die Interpretation der Musik von Mozart, Beethoven und Schubert berühmt. Das, was er in der Musik „suchte“ – stilistisch und charakterlich – konnte er mit seinem Verständnis bei Chopin schwerlich finden. Zumal man in „seiner“ Zeit Chopin primär als „romantischen“ Komponisten verstand und das „klassische Element“ in seinem Œuvre noch nicht erkannt hatte. Unter diesem Aspekt ist dann auch seine Abwertung, Chopin sei ein „rechtshändiger Melodiker“ gewesen, zu verstehen und zu relativieren.

Ebenso wie es immer wieder zur Diskussion kommt, ob Brahms selbst denn ein guter oder eher mäßiger bisweilen klobiger Pianist gewesen war. Zweifelsohne verfolgte Brahms eine komplett andere Stilistik, aber ich bin ganz sicher, jemand, der ein derart elegantes und hochvirtuoses Werk wie die Paganini-Variationen komponierte, muß pianistisch hochgeschult und stilistisch regelrecht revolutionär-modern gewesen sein. Insofern kann man seine Bewunderung für Chopin, der sich aus ästhetischen Gründen – wie bereits ausführlich dargelegt – auf das Medium der 88 Tasten konzentrierte, nachvollziehen und verstehen.

Wir sprachen bereits über musikalische Einflüsse und Werke, die Chopin besonders geschätzt hat. Doch wie sieht es mit persönlichen Bezügen aus? Welche Personen aus dem Leben des Komponisten haben ihn besonders inspiriert zum Komponieren? Hauptsächlich seine Liebschaften oder doch andere Begegnungen – oder hat er sich mit seiner unzweifelbar innerlichen und persönlichen Musik doch ganz von menschlichen Einflüssen gelöst?

Chopin hat Bach ganz besonders geschätzt. Das Wohltemperierte Klavier, die neue Pariser Ausgabe, hatte er mit nach Mallorca gebracht und widmete sich einem besonderen Studium des Hauptwerkes von Johann Sebastian Bach.

Alle Menschen, die Chopin nahe gestanden hatten, wußten, wie sehr er Mozarts Requiem geliebt hatte, dass er den Klavierauszug, ob auf Mallorca oder in Nohant, immer bei sich haben wollte und er in seinem Salon griffbereit auf Pergolesis Stabat Mater lag. Eugène Dalacroix war einer jener Freunde, die im Leben Chopins eine ganz besondere Rolle spielten. In einem letzten Gespräch mit ihm am 7. April 1849 war es um die Logik in der Musik gegangen: Chopin hatte damals Delacroix Harmonie und Kontrapunkt erklärt und den Aufbau einer Fuge verdeutlicht. Dann war das Gespräch auf Beethoven und Mozart gekommen. Beethoven lasse oft zeitlose Prinzipien außer Acht, hatte Chopin gesagt, Mozart niemals. Bei ihm hat jede einzelne Partie ihren Verlauf, aber immer in Zusammenhang mit den anderen; so entsteht die vollkommen gestaltete Melodie; das ist der Kontrapunkt, der punto contra punto.

So war auch sicher, dass bei Chopins Beerdigung beziehungsweise der Totenfeier in der Kirche St. Madeleine in Paris Mozarts Requiem aufgeführt werden sollte. Jeder wußte, wie sehr Chopin den weiblichen Gesang und Sängerinnen vergötterte, so hatten auch seine Schüler und Schülerinnen noch den Satz im Ohr: Sie müssen mit den Fingern singen. Viele Schülerinnen und Schüler hatte er zum Gesangsunterricht geschickt: Wenn Sie Klavier spielen wollen, müssen Sie singen lernen. Wer die vollkommen gestalteten Melodien singen sollte, stand auch schnell fest: Außer Chopins Freundin Pauline Viardot-Garcia hatten die Sopranistin Jeanne Castellan, der Tenor Alexis Dupont und der Bassist Luigi Lablache zugesagt. Siebzehn Jahre zuvor wurde Chopin von Lablache in Paris mit der Aufführung von zwei Rossini-Opern inspiriert: Otello und L’Italiana in Algeri.

Chopins engste Freunde, die ihn und sein Werk stets inspirierten, begleiteten ihn auch auf seinem letzten Weg: Auguste Franchomme, Eugène Delacroix, Adolf Gutmann, Hector Berliox, auch seine Verleger, waren gekommen und Camille Pleyel, der größte Teil des polnischen Exiladels, die Clésingers, seine Schüler und Schülerinnen … Finanziert wurde alles von Jane Starling, jener Schottin, die auch Chopin in den letzten Jahren nach der Trennung von Goerge Sand maßgeblich unterstützte und auch die Konzertreise 1848, jener „Ochsentour“, nach England sponsorte. So war es auch möglich, dass Chor und Orchester des Conservatoire zugesagt hatten und als Dirigent Narcisse Girard berufen werden konnte. Er hatte in den Jahren 1832 und 1834 in der Salle de Conservatoire am Dirigentenpult gestanden, als Chopin sein e-moll Konzert spielte.

Getragen wurde Chopins Kunst insbesondere durch eine gesellschaftliche Komponente, die maßgeblich durch George Sand und das Leben auf Nohant ermöglicht wurde. Hier traf man sich zum gegenseitigen Austausch. Zentral war hier immer wieder Augène Delacroix.

Wenn andere Komponisten der damaligen Zeit, beispielsweise Liszt, zu ihren eigenen Lebzeiten „Berühmtheits-Status“ erreichten, so war es sicherlich etwas Besonderes. Chopin allerdings erlangte zu Lebzeiten allerdings den Status von etwas „Legendärem“: Am 1. April 1847 fahren George Sand und Chopin in die Rue de Vaugirard in Paris. Sie steigen aus vor dem Renaissancepalast, den Maria de Medici als Witwe hatte erbauen lassen. Ein Palazzo mit Buckelquadern, wie sie ihn aus ihrer Kindheit in Florenz kannte. Für die Franzosen ist das seit langem nur ihr „Palais de Luxembourg“. Verschiedene Funktionen hatte er gehabt: Als Kunstausstellungen hatte er gedient, als Waffenmanufaktur, als Gefängnis für Danton, Desmoulin und David … Seit 1834 ließ ihn die Regierung erweitern, ein Parlamentsaal wurde angebaut, auch eine Bibliothek. Deren zentrale Kuppel malte Delacroix seit 1845 aus. In jenem Gemälde kommen George Sand und Chopin als Personen vor: Delacroix hatte hier Chopin als Dante verewigt, George Sand wurde als Aspasia, der zweiten Frau des Perikles, dargestellt.

Die Besonderheit jener Verkörperung kann insbesondere vor jenem Hintergrund verstanden werden, dass Marie d’Agoult sich sehr geärgert haben muß, hatte sie selbst Franz Liszt als Dante gesehen, und zwar zu jener Zeit, als sie und Liszt noch ein Paar waren … Jenen verewigten Rang nahm nun mit spielerischer Leichtigkeit Frédéric Chopin ein …

Seit Sommer 1845 leidet Chopin an einer Krankheit, die er als bereits überwunden zu haben glaubte, nun aber zu einem echten Schmerz heranwächst und fortan wesentlich sein künstlerisches Schaffen wesentlich beeinflusst, nämlich dem Heimweh. Ausgelöst wurde jene Krankheit insbesondere durch einen Besuch Ende Mai/Anfang Juni von George Sand und Chopin einer Veranstaltung in der Salle Valentino in der Rue Saint-Honoré, wo die Bilder des Amerikaners George Catlin, einen m fünfzigjährigen Juristen, der seit langem nur noch für die Rechte der Indianer kämpfte und deren Leben in Zeichnungen, Aquarellen, Stichen und schriftlichen Aufzeichnungen dokumentierte. Chopin bewegte hier vor allem das Schicksal einer der jungen Indianerinnen, dass er seiner Familie in Polen ausführlich davon berichtete. Nicht DASS sie gestorben, sondern WORAN sie gestorben war, beschäftigt ihn. Die Frau von einem, der Kleiner Wolf hieß, sie hieß Oke-we-mi … Die Bärin die auf dem Rücken einer anderen marschiert, ist an Heimweg gestorben (das arme Geschöpf) -, und auf dem Friedhof Montmartre (dort wo auch Ja begrabren liegt) setzt man ihr ein Denkmal. Vor dem Tod hat man sie getauft, das Begräbnis fand in der Madelaine statt, so Chopin an seine Familie. Sogar das geplante Denkmal schildert Chopin genau im Schreiben an seine Familie. Der offiziellen Nachricht zufolge war die Indianerin zwar an Schwindsucht gestorben. Sind die Grenzen – oder auch Übergänge – zwischen Heimweh und Schwindsucht für Chopin nicht etwa fließend? Jaṥ, sein polnischer Freund, starb in der Fremde an Schwindsucht, und auch Carl Filtsch, Chopins genialster Schüler, aus Siebenbürgen stammend, ist fern seiner Heimat an derselben Krankheit gestorben. Consomption, Verzehrwerden, Auszehren, sind die Symptome. „Verzehrt“ sich auch auch Chopin in seinem Wehmut an das Ferne, Verlorene? Werden seine Kräfte für die Gegenwart durch die Trauer um das Verlorene aufgefressen? Chopin selbst weiß um seine Situation und schreibt seiner Familie: Ich bin immer mit einem Fuß bei Euch, mit einem anderen bei der Herrin des Hauses, die im Nebenzimmer arbeitet. Klar, wer Heimweh leidet, lebt nie ganz im Hier und Jetzt, sondern zu einem wesentlichen und bestimmenden Teil im Dort und Damals, in espaces imaginaires, wie Chopin selbst dies nannte.

Dass Chopins Totenfeier in der Madelaine stattfinden sollte, geht im Wesentlichen auf jene Assoziation mit der an Heimweh gestorbenen Indianerin zurück, deren Totenfeier ebenfalls hier abgehalten wurde.

Chopins Werk ist inspiriert von jenem Weltschmerz, die seine Kompositionen in einer ganz besonderen Form von Sehnsucht bestimmen. Erfüllung und Erlösung fand er erst im Tod. Ich bin jetzt an der Quelle des Glücks, waren seine letzten Worte …

Zentral für Ihren Klang wird selbstverständlich wohl auch Ihre synästhetische Wahrnehmung sein, die Sie bereits ansprachen. Als Synästhesie wird ja die Kopplung eigentlich getrennter Bereiche der menschlichen Psyche bezeichnet, meist in Form der Verbindung von zwei Sinnen. Am bekanntesten ist wohl die Form der Verbindung zwischen opischen und akustischen Phänomenen, sprich das „Hören von Farben“ zu bestimmten Tönen. Welche Ausformung hat Ihre Synästhesie beziehungsweise (da in den meisten Fällen mehrere parallel vorliegen) haben Ihre Synästhesien? Sehen Sie auch Farben beim Erklingen von Musik, gibt es dabei Besonderheiten wie unechte Farben (manche sehen anscheinend Farben, die es in der Natur auf diese Art nicht gibt) und haben Sie auch sonstige unwillkürlichen Sinnesverknüpfungen, die musikbezogen sind? Wie beeinflusst die Synästhesie Ihren Sinn für Klang und Wirkung, also auch Ihren Anschlag?

Für mich besteht die gesamte Musik und jeder einzelne Ton aus vielen einzelnen Farben. „Unechte“ Farben gibt es dabei nicht, zwar allemöglichen Mischformen, diese beruhen aber – wie allemöglichen Klänge – auf der Basis und dem Verhältnis reeller Farben. So, wie ich Musik primär unter „harmonischer Artikulation“ empfinde (das heißt, bei entsprechenden Klängen habe ich ‚Gänsehaut‘), so sind es auch „harmonische Farben“, die mich in „Einklang“ mit der subjektiven Richtigkeit einer Interpretation und eines Klanges bringen. Selbstverständlich steht dies alles in direktem Zusammenhang mit dem »Anschlag« und dem damit hervorzubringenden »Klang«. Daher resultiert ja auch mein ungeheurer Anspruch an die Instrumente bzw. Techniker: Exakte Vorstellung eines Tones → Klang → Instrument ↔ Interpretation → Werk(vollendung) → Wahrheit bilden schließlich eine untrennbare Einheit beziehungsweise ein »Gesamtkunstwerk«. Jeder Faktor baut auf den anderen auf beziehungsweise ist von ihm abhängig. Endet schließlich alles in einer »Katharsis«, so ist es ein großes Glück …

Des öfteren hörte ich davon, man könne die Synästhesie kurzzeitig „überlisten“ durch eine Art Überflutung an parallelen Höreindrücken, so beispielsweise durch eine rasche, freie Akkordfolge, wie bei Prokofieff häufig zu finden, oder eine Clustermusik wie bei Ligeti. Was sehen Sie bei solch einer diffizilen Musik? Entscheidet so auch die Synästhesie über Ihren Musikgeschmack und entsprechend Ihre Programmwahl?

»Synästhesie« ist niemals „überlistbar“ beziehungsweise „trügbar“. Es ist eine emotionale Wahrnehmung, die durch keinerlei Programmwahl oder Musikgeschmack beeinflusst werden kann. Ob man Chopin in der Interpretation von Arturo Benedetti Michelangeli oder einen Song dargestellt von Helene Fischer wahrnimmt, erlebt und erfährt: Sicher, nicht zu vergleichende Extreme, aber dennoch Gefühlswelten, die letztendlich ähnlich sein können. Ob Atonalität oder Clustermusik: Die Frage ist, ob Ihr Inneres eine neue Definierung erfährt oder nicht.

Nun möchte ich noch auf die Programmauswahl Ihrer neuen Tripel-CD „Chronological Chopin“ eingehen. Darauf befinden sich alle Balladen und Scherzi, die 24 Préludes, die Fantasie f-Moll, die Berceuse Des-Dur, die Barcarolle Fis-Dur sowie die Polonaise-Fantasie As-Dur. Aus welchen Gründen fiel Ihre Wahl gerade auf diese Stücke? Was sprach beispielsweise gegen die Aufnahme einiger bekannter Einzelstücke aus den Walzern, Nocturnes, Mazurken oder von berühmten anderen Werken wie dem Fantasie Impromptu Op. 66 oder Andante spianato und Grande Polonaise op. 24?

Auf den drei Platten sind die Werke chronologisch aufgereiht, doch ist sich ja schon lange die Kritik einig darüber, Chopin habe wenig Entwicklung durchlebt und Sie nannten sein Spiel von Anfang an einen „Glücksgriff“, der keine Herumirren nötig hatte. Wieso dann diese zeitlich geordnete Aufstellung?

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Mit dieser Edition ist meine „Chopin-Orientierung/Beschäftigung“ noch lange nicht abgeschlossen. Eine nächste Einspielung wird sich insbesondere mit den »Drei Sonaten« beschäftigen – und auch die von Ihnen angesprochenen Werke einschließen.

Vor allem die Mazurken bedürfen einer eigenen Beschäftigung und Darstellung: Mit keiner anderen Form als dieser hat sich Chopin länger auseinandergesetzt und beschäftigt als mit dieser, keine andere Form ist ein längeres Spiegelbild der lebenslangen kompositorischen Beschäftigung als dasjenige der Mazurken, dem Spiegelbild der Reminiszens an seine polnische Heimat.

Die vorliegende Edition beschäftigt sich mit den außerordentlichen Werken Chopins. Werke, an denen er – wie in anderen Darlegungen bereits beschrieben – immer wieder und viele Jahre gearbeitet hatte. Ob Chopin wenig Entwicklung durchlebt hat, möchte ich bezweifeln, im Gegenteil – auch dies habe ich in meinem Booklet-Text bereits eingehend dargelegt. Sicherlich, ein „Glücksfall“: Ferruccio Busoni, in seinem Vorwort zu Bachs Wohltemperiertem Klavier, 1894: „Chopins hochgeniale Begabung rang sich durch den Sumpf weichlich-melodiöser Phrasenhaftigkeit und klangblendenden Virtuosentums zur ausgeprägten Individualität empor. In harmonischer Intelligenz rückt er dem mächtigen Sebastian [Bach] um eine gute Spanne näher.“

Und seinen Zürcher Programmen, 1916, ist zu entnehmen: „Chopins Persönlichkeit repräsentiert das Ideal der Balzacschen Romanfigur der 30er-Jahre: des blassen, interessanten, mysteriösen, vornehmen Fremden in Paris. Durch das Zusammentreffen dieser Bedingungen erklärt sich die durchschlagende Wirkung von Chopins Erscheinung, der eine starke Musikalität das Beständige verleiht.“

Die Werke Ihrer Einspielung nennen Sie die außerordentlichen Werke, an denen Chopin besonders lange arbeitete. Wie genau habe ich das Wort „außerordentlich“ zu verstehen, was hebt dieses Programm von sämtlichen anderen Stücken ab, was macht sie so außerordentlich?

Über die Kompositionsweise Chopins ist ja einiges bekannt, besonders sein minutiöses Feilen an jeder noch so unscheinbaren Note, so dass das Resultat zeitgleich improvisatorisch wie auch letztgültig in die Form gepasst erscheint. Haben Sie über diesen Vorgang noch näheres Wissen, Details oder unbekanntere Erkenntnisse, die Sie mit uns teilen könnten?

Es steht außer Frage, dass pianistisch wie auch in der kompositorischen Anlage die Vier Balladen die Krönung des Chopin’schen Schaffens bilden. Ausgehend vom Opus 23, der ersten Ballade, bishin zur vierten, dem Opus 52, erstrecken sich diese Tongedichte in ihrer Entstehung über einen Zeitraum von elf Jahren (1831–1842) und sind somit ein Spiegel hinsichtlich der Art und Weise bezüglich der Vereinigung von poetischer Ausdruckskraft mit meisterlicher, großformatiger Gestaltung sowie pianistischer Fülle. In ihrer musikalischen Aussage sind sie jeweils eine Welt für sich, wobei jede Spekulation, ob diese Werke denn durch literarische Vorlagen des polnischen Schriftstellers Mickiewicz inspiriert wurden oder nicht, sich erübrigt. Bestimmend für den gesamten Stimmungsgehalt sind nämlich die zwingenden Übergänge der jeweiligen Episoden untereinander, die in ihrer frappierend starken und überzeugenden Wirkung Betrachtungen der eigenwilligen formalen Anlage schon beinahe vergessen lassen. Während die zweite Ballade in ihrem drastisch-dramatischen Wechsel der Passagen von idyllisch-pastoraler Beschaulichkeit und plötzlich hereinbrechendem Sturm vorüberzieht, faszinieren die anderen Balladen mit ihren sanften und gleitenden Übergängen und verleihen den Werken somit eine einzigartige Organik.

Aber auch die anderen Werke zeichnen sich durch eine bislang nicht dagewesene „Dichtigkeit“ in der kompositorischen Anlage aus.

Die Musikgeschichte kennt die Gattung und Form des Scherzos seit Langem. Beethoven hatte in seinen Sonaten, Symphonien und in seiner Kammermusik bereits mehrmals das Scherzo an Stelle des bis dahin üblichen Menuetts gesetzt; und auch Schubert betitelte einige seiner kleineren Stücke mit »Scherzo«, ebenso Mendelssohn (beispielsweise op. 16 und op. 21). Chopin übernahm diesen Begriff, gestaltete ihn in Form und Struktur aber frei nach seiner Intuition. In seinen Scherzi könnte man vielleicht sein Bestreben erkennen, die herkömmliche Anlage der Sonate aufzulösen und einzelne Teile daraus zu verselbständigen.

Die anderen Werke rücken beinahe schon in Bereiche der sogenannten „Absoluten Musik“. Die „Abgrenzung“ hierbei liegt darin, dass insbesondere die Balladen literarisch inspiriert sind, wohingegen Berceuse, Barcarolle und Polonaise-Fantaisie, um nur einmal drei zu nennen, keine literarischen Vorlagen haben und als wirkliche Monolithen dastehen.

Als ein Kabinettstück von nirgends sonst erreichter Delikatesse des Klangs gilt beispielsweise die Berceuse Des-Dur op. 57. Bewundernswert der geniale Einfall, wie sich über einer ostinaten Bassfigur, einer Chaconne vergleichbar, Akkordbrechungen, Fiorituren, Arabesken, Triller und kaskadenartige Passagen als Variationen aufbauen und entwickeln, die sich aus anfänglich träumerischer Ruhe in immer schnellerer Koloratur und brillantem Schillern zu einem virtuosen Mittelteil steigern, um dann wieder zu jener visionären Ruhe zurückzufinden, wenn der Achtelrhythmus mit der wiegenden Figur der linken Hand verschmilzt.

Die Neue Zeitschrift für Musik schrieb am 16. September 1845: „Die linke Hand beginnt mit einer einfachen, wiegenden zwischen Tonica und Dominante abwechselnden Begleitungsfigur. Im 3ten Tacte setzt die rechte ein mit einer schwebenden Melodie, wie sie wohl eine Mutter, die, selbst halb wachend, halb träumend, ihren Liebling in den Schlaf lullt, vor sich hinschlummern mag. Eine zweite Stimme gesellt sich bald hinzu; und während die Linke wiegend fortfährt, variirt die Rechte das Schlaflied auf mannigfache, träumerisch spielende Weise. Die letzte graziöse und schmiegsame Veränderung zieht sich aus der Höhe, mehr nach der Mitte der Klaviatur. Allmäßig verstummt das zarte Lied. – Wohl selig mag das Kindlein träumen!“

Von sublimer Schönheit geprägt ist die Barcarolle op. 60. In ihrer Ausdrucksskala, ihrer fluoreszierenden Farbenpracht, dem wiegenden Rhythmus wie auch ihrer vollendeten formalen Gestaltung ist sie eines von Chopins Meisterwerken. Carl Tausig über die Barcarolle: »Hier handelt es sich um zwei Personen, um eine Liebesszene in einer verschwiegenen Gondel; sagen wir, diese Inszenierung ist Symbol einer Liebesbegegnung überhaupt. Das ist ausgedrückt in den Terzen und Sexten; der Dualismus von zwei Noten (Personen) ist durchgehend; alles ist zweistimmig oder zweiseelig. In dieser Modulation in Cis-Dur (dolce sfogato) nun, da ist Kuß und Umarmung! Das liegt auf der Hand! – wenn nach 3 Takten Einleitung im vierten dieses im Baß-Solo leicht schaukelnde Thema eintritt, dieses Thema dennoch nur als Begleitung durch das ganze Gewebe verwandt wird, auf diesem die Cantilene in zwei Stimmen zu liegen kommt, so haben wir damit ein fortgesetztes, zärtliches Zwiegespräch.«

Die Allgemeine Musikalische Zeitung begeisterte sich am 17. Februar 1847:Die schaukelnde Bewegung der Barcarole lässt sich zwar nur durch ein zweitheiliges Maass, das den Schlag und Widerschlag der Wellen auszudrücken vermag, repräsentiren, jedoch erhöht es den Charakter, wenn die einzelnen Tactglieder in dreitheiligem Rhythmus, also in Triolen gehalten sind. Am Ruhigsten gleitet das Ganze aber dahin, wenn der Zwölfachteltakt den doppelten Schlag und Widerschlag ausdrückt, und besonders bei grösserer und ausgedehnterer Form des ganzen Musikstückes ist dies ein treffliches Mittel, um die Tactgruppen zu stetigem Flusse zu verbinden. Den Rhythmus, von dem das Gepräge des Ganzen abhängt, lässt Chopin zuerst als Begleitungsfigur, wie wir sie in vielen seiner Etuden finden, auftreten, und baut auf dieselbe die zweistimmige Melodie, so dass man sich die Wasserfahrt irgend eines zufriedenen und glücklichen Paares dabei wohl denken kann. In diesem ganz behaglichen Zustande belässt der Componist die Sache nicht, sondern zieht Wendungen, die der Barcarole fern liegen, herein, lässt endlich ein durch Rhythmus und Tonart scharf abstechendes Alternativ Platz greifen. Das Stück steht in Fis dur, dieses nun in A; natürlich leitet sich dies nach Fis, und damit auch in die eigentliche Barcarole wieder zurück. Doch hat sie eine neue Gestalt gewonnen. Sie wird durch Verdoppelung der Intervalle, durch mancherlei Passagenwesen ein Salonstück, das seinem ursprünglichen Wesen untreu erscheint, wenn es auch, gut, vor allen Dingen rein gespielt, recht schön klingt. Dieses wirklich und gewissenhafte rein und sauber Spielen wird durch die zahlreichen Vorzeichnungen, die Chopin, weil er so gern auf den Obertasten spielt, so häufig anzuwenden genöthigt ist, vielen Dilettanten erschwert. Zugleich aber ist dies eine nicht zu verachtende Uebung.

Die Polonaise-Fantaisie op. 61 ist Chopins letztes großes Klavierwerk. Im Grunde kann sie nicht zu den Polonaisen im eigentlichen Sinn gezählt werden. Vielmehr ist sie eine Fantasie, deren eigenwillige Form einer symphonischen Dichtung beziehungsweise symphonischen Großanlage entspricht. Ihr musikalisch-programmatischer Gehalt ist eher balladesk als tänzerisch. Überhaupt, als Spätwerk von Chopin, ist hier die Frage statthaft, ob denn die durchgehaltene Stimmung innerer Beschaulichkeit durch Koketterien gestört werden sollte. Der einkomponierte Maestoso-Charakter (so auch die Tempobezeichnung »Allegro-Maestoso«) ist bestimmend für die Stimmung des gesamten Werkes und bedingt etwas »tragend-ebenmäßig-schwereloses«. Als Hauptrepräsentant gehört sie zu den letzten Werken Chopins, welche von fieberhafter Unruhe geprägt und keineswegs kühne und lichtvolle Bilder zu finden sind.

Franz Liszts poetische Darstellung mutet uns heute, vor allem im Zusammenhang mit seinen eigenen Werken, seltsam an: »Es sind dies Bilder, die der Kunst wenig günstig sind, wie die Schilderung aller extremen Momente, der Agonie, wo die Muskeln jede Spannkraft verlieren und die Nerven, nicht mehr Werkzeuge des Willens, den Menschen zur passiven Beute des Schmerzes werden lassen. Ein beklagenswerter Anblick fürwahr, den der Künstler nur mit äußerster Vorsicht aufnehmen sollte in seinen Bereich.«

Bewegende Worte, sicherlich, wobei ich glaube, dass Liszt mit der formalen Anlage dieses Werkes in Konflikt geriet, möglicherweise auf ähnliche Art und Weise, wie seinerzeit Eduard Hanslick die h-moll-Sonate von Franz Liszt mit derben Worten als »immer leerlaufende Genialitätsdampfmühle« aburteilte.

Daher bleibt für den Interpreten die große gestalterische Aufgabe an diesem Werk: Überzeugende, ebenmäßige Organik im gesamten Ablauf, mit Blick auf das Große, der Gefahr trotzend, sich auf die beschränkte Ausführung der wundervoll hinreißenden Einzelheiten zu verlieren.

Über sie schrieb die Allgemeine Musikalische Zeitung am 17. Februar 1847: „Ganz frei, rhapsodisch und gleichsam nur präludirend beginnt der Componist, geht dann in vagen Harmonieen in das Maass eines Alla Pollacca über, und lässt dann ein Tempo giusto (As dur) eintreten, das einen thematischen Charakter bat. Wir brauchen diesen Ausdruck, um anzudeuten, dass zu einem eigentlichen Polonaisenthema im gewöhnlichen Sinne es doch nicht kommt, so frei und phantastisch ist auch dieses zur witeren Entwickelung bestimmte Thema beschaffen. Von einer strengeren Durchführung ist auch nicht die Rede. Eine zweite Melodie in der Dominante ist schärfer begränzt, cantabler, und um so wohthätiger, als bis hieher schon sehr viel modulirt worden ist. Nun aber beginnt erst die Fantasie herumzuschweifen, aus Es geht es weiter nach B, nach G moll und H moll und nun in einen selbständigen Satz H dur, der durch ähnliche rhapsodische Figuren als im Anfange sich nach F moll und dann wieder in die Grundtonart As zurückwirft. Diese wird eigentlich erst zuletzt dauernd und planvoll festgehalten. Das ganze Stück schillert in einer gewissen Unbestimmtheit der Tonarten, die freilich bei Chopin so oft ihre Reize hat, doch aber diesmal sehr weit geht. Der Name Fantasie ist wohl eben mit Rücksicht auf die Kühnheit dieser Conturen gewählt. Die Theorie fragt hier nach den Gränzen solcher Freiheit, über der sehr leicht die Wirkung des Ganzen verloren gehen kann. Mancher wird nach zwei Seiten diese Polonaise muthlos weglegen. Bei genauerem Verweilen wird manche Einzelnheit freilich Genuss verschaffen, indessen können wir nicht umhin, zu bemerken, dass Chopin, gerade in seiner blühendsten Kraft, es auch am Meisten verstand, seine Erfindung zu beschränken, zu zügeln. Vermöchte er noch dies über sich gewinnen, so würde er durch seine oft so merkwürdigen Combinationen allgemeineren und stärkeren Eindruck erreichen. Der Gedanke, den er hinwirft, ist fast immer glücklich, warum verschmäht er nun so sehr seine feste Gestaltung, besonnene Entwickelung?“

Gerne möchte ich noch eine recht persönliche Frage zu Ihrem Spiel stellen. Wenn Sie spielen, Chopin oder andere Komponisten, wie sehen Sie „Ihre Rolle“ in der Darbietung? Steht für Sie nur das Werk im Vordergrund und versuchen Sie, sich rein als Vermittler möglichst weitgehend auszuschalten, oder beziehen Sie aktiv Ihre Persönlichkeit und Ihre subjektive Wahrnehmung mit in den Moment ein?

Ich sehe generell die Funktion eines Interpreten in der Rolle eines „Dieners am Kunstwerk“. Die großen Komponisten haben ihre Texte so eindeutig verfasst und dargelegt, dass deren Intention und Aussage unverwechselbar ist. Diese hervorzubringen, ist primär die Aufgabe eines Interpreten. Dabei ist es die große Kunst, hinter dieser Aufgabe zurückzutreten, und dennoch seine eigene Persönlichkeit als Identität miteinzubringen, ohne die einkomponierte Aussage der Komposition zu verfälschen. Wenn wir uns die Geschichte der großen Interpreten ansehen, können wir erfahren, dass exakt darin die große Kunst bestand, eben dass Interpret und Komposition zu einer großen allumfassenden Einheit verschmolzen. Schon nach wenigen Tönen war jeder Interpret mit seiner ureigenen Persönlichkeit, quasi als Visitenkarte, erkennbar. Und dennoch blieb die Aussage einer Komposition unverfälscht erkennbar. „Subjektive Wahrnehmung“ blieb als inspiratives Element für den letzten Moment der Erfahrung als „Erlebnis“ reserviert. Hierbei entstand für den Zuhörer die Situation einer „Katharsis“. Er, der Zuhörer, erfuhr, dass Musik und deren Interpretation letzten Endes eine „Sprache“ waren. Subjektivität und Objektivität bildeten eine neue Ebene der Erfahrung. An anderer Stelle habe ich bereits gesagt, dass „Bedeutung des Moments“ und „Forderung der Sache“ zu einer einzigen Komponente der Gratwanderung entwuchsen. Darin sehe ich auch meine Funktion als Vermittlung und Hervorbringung des Aspektes einer „Wahrheit“.

In Thomas Manns Alterswerk »Doktor Faustus«, „jener an das alte Deutsche Volksbuch vom Teufelsbeschwörer Dr. Faustus sich anlehnenden Künstlerbiographie, in welcher das Schicksal der Musik als Paradigma der Krisis der Kunst selbst, der Kultur überhaupt, behandelt ist …“ – so die Worte des Autors – steht im Mittelpunkt die Romanfigur Adrian Leverkühn und seine in syphilistischer Ekstase entstandenen atonalen Kompositionen als Beispiele notwendig gewordenen dodekaphonischen Denkens. Dabei wird auf geradezu bewegende Art und Weise dessen exemplarische Kunst mit der Sichtweise des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer in Verbindung gebracht, dessen Idealvorstellung einer nach berückender Versinnlichung strebenden Interpretation im Sinne von Wahrheit darin bestand, das ureigenste Anliegen großer Musik darin verwirklicht zu sehen, deren Wesen im Jenseits des Gemüts und der Sinne zu vernehmen und anzuschauen.

Was Schopenhauer damit meinte, bezog sich letztlich auf eine »Allumfassenheit«, einer Ebene gleichend, auf der die Ausleuchtung verschiedenster Parameter in Werk und Interpretation allen Anforderungen standhielt. Einen Prozess »historischer Kreation« nannte er dies.

Gestatten wir uns hier eine Reflexion über die Bedeutung und den Grund des Wandels der Interpretation großer Kunstwerke und vor allem des (fälschlicherweise) immer mehr in den Hintergrund gedrängten Phänomens der »Emotion«:

Wenn große und zu Recht berühmte – mittlerweile leider nicht mehr unter uns weilende – Interpreten im Konzert ihre Ansichten mitteilten, erfuhren wir Musik als das, was sie eigentlich war: SPRACHE. Sprache in der Auslotung von Details, in der Hervorkehrung und Deutung einkomponierter Reibungen und Schroffheiten, quasi als Spiegelbilder in der Entstehung ihrer jeweiligen Zeit, widerspiegelt an der eigenen Identität, dem intuitiven Wissen um große Zusammenhänge und der Persönlichkeit des Künstlers. So entwuchs ein Kunstwerk, dessen Aussage stets einzigartig, charismatisch, authentisch, aber auch – im positiven Sinne – nicht wiederholbar war, einem einzigen großen Wurf gleichend, eigenwillig – bisweilen eigensinnig – jedoch stets die Balance wahrend zwischen Bedeutung des Moments und Forderung der Sache, ein Spannungsgefühl, das bisweilen ein neues Schönheitsideal entstehen ließ. Interpretation nicht aus klassisch-plakativer Draufsicht, sondern als ein sich unerbittlich dynamisch entrollender Prozess. Ein solcher Reifungsprozess setzt jedoch eine Entwicklung im ureigensten Sinne voraus, eine Entwicklung, die Zeit benötigt, Zeit, um zu einer „eigenen Spache“ zu gelangen.

In einem renommierten deutschen Musikmagazin hatte ich mich vor vielen Jahren in einem Interview der Frage zu stellen, was ich jungen Pianisten empfehle, um eine eigene Identität zu finden. Ich antwortete, dass ich große Probleme und direkt eine große Gefahr für die Kunst in der Schnelllebigkeit unserer heutigen Zeit sehe. Jungen Pianisten bleibt oft nicht die Zeit der Rückbesinnung und Ruhe für einen inneren Reifungsprozess. Bereits in der Schule setzt sehr schnell eine Spezialisierung ein (Kollegstufe), die eine eigentliche Ausweitung einer Allgemeinbildung verhindert. Diese Entwicklung stelle ich in Frage.

Dann sehe ich das Problem der internationalen Wettbewerbe, bei denen es allesamt um den Wettlauf um das schnellste und lauteste Spiel; anstelle um die Musik an sich und deren Hervorbringung geht.

Auch die Wahl eines entsprechenden Lehrers ist von höchster Wichtigkeit: Ich lehne entschieden bestimmte Talentschmieden ab, die quasi guruhaft ihre Schüler auf die vorderen Plätzen der Wettbewerbe platzieren anstelle den tiefergehenden Gehalt der Kunst zu lehren.

Ich wünsche jungen Pianisten die Kraft, dieser Maschinerie zu widerstehen und die Fähigkeit, in sich selbst hineinzuhören: Wenn sich Begabung und Talent, Fleiß und härteste Arbeit, Intelligenz und die entsprechende Ausweitung einer allumfassenden Bildung die Waage halten, dann ist die Voraussetzung für die Schaffung und Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit geschaffen.

Zu dieser Entfaltung ist eine heutzutage leider immer mehr in den Hintergrund tretende Eigenschaft notwendig: Mut. Mut, sich nicht zeitlich-kurzlebenden Strömungen zu unterwerfen oder gar unterwerfen zu lassen, Mut zur Unabhängigkeit, Mut, eigene Konzepte zu entwickeln und dahinter zu stehen. Mut zur Eigenständigkeit; Mut, sich vom Trend der Anpassung zu lösen.

Und überdies steht für mich die Bewahrung einer Natürlichkeit und menschlichen Einfachheit in Form menschlicher Größe an zentraler Stelle: Wenn die Blickrichtung über alle intellektuellen Bezüge hinaus geht, droht die Gefahr, den Blickwinkel zum Inneren, womit ich diesbezüglich das normale Leben meine, zu verlieren: Große Kunst wurde nämlich aus dem Leben, dessen Menschlichkeit , dessen Einfachheit und auch dessen Niederungen geboren. Arroganz ist hier fehl am Platz.

Interpretation als ein Aspekt humaner Wirklichkeit also, womit der Kreis der Intuition geschlossen wäre.

Ich selbst bekenne mich zu meinem künstlerischen Credo, der Ästhetik des deutschen Philosophen Hegel entstammend, welche nicht nur Überzeugung, sondern quasi Verpflichtung meines eigenen künstlerischen Wollens, Denkens und Wirkens ist: „Denn in der Kunst haben wir es mit keinem bloß angenehmen oder nützlichen Spielwerk, sondern … mit einer Entfaltung der Wahrheit zu tun.“

Sich entführen zu lassen in die inneren Bezirke großer Musik und Musik als Offen-Legung zu begreifen, vor allem auch in Kenntnis der Abgrenzung gegenüber kurzweiliger, vordergründiger Effekthascherei, dies dürfte die Aufgabe und Verpflichtung von Interpret, Hörer, Konzertagenten, Veranstaltern, Musikkritikern und insbesondere der Schallplattenindustrie, welche zum Erhalt von Kulturgut beiträgt, für die nächsten Jahre sein.

Interview geführt von: Oliver Fraenzke, Dezember 2015
Alle Antworttexte: © Burkard Schliessmann, 2015

Burkard Schliessmann: Chronological Chopin
divine art, DDC 25752
EAN: 8 09730 57522 8

Jazzige Klaviermusik aus der Slowakei

ISMN:
979-0-68504-030-9 (Jazz piano II)
979-0-68504-017-0 (Harlequin)

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Aus der großen Auswahl an Klaviermusik des slowakischen Jazzkomponisten und -pianisten Ludo Kuruc liegen mir zwei Bände vor: der zweite Teil seiner Klavierschule „Jazz Piano“ und die Suite für Soloklavier „Harlequin“ in fünf Sätzen.

International bekannte Komponistennamen aus der Slowakei sucht man lange und vergebens, kaum ein Tonsetzer ist über die Grenzen des Landes regelmäßig im Konzertprogramm aufzufinden. Nur in wirklichen Ausnahmefällen lässt sich auf Namen stoßen wie Eugen Suchoň, Ján Cikker, Alexander Moyzes, Ján Šimbracký, Šimon Jurovský, Bartolomej Urbanec, Ottokar Nováček und vielleicht noch ein paar noch Unbekanntere (auch Franz Schmidt und Ernst von Dohnányi sind im damaligen Preßburg, heute Bratislava, geboren). Umso schöner, nun einmal etwas von einem bisher noch ganz im Schatten stehenden jungen Komponisten zu hören: Ludo Kuruc. Neben dem Schaffen großer Kompositionen wie den Musicals Pinocchio und Alice in Wonderland oder Jubilate Schola für Chor und Orchester ist Kuruc auch als Bandleader und Sänger aktiv, außerdem ist er Gründer und Dramaturg des Jazzfestivals in Vráble und des One Day Jazzfestival in Nitra, die jeweils seit mehreren Jahren bestehen.

Aus Kurucs Œuvre für Klavier gingen mir die Schule „Jazz Piano II“ von 2012 und „Harlequin“ Suite für Klavier solo von 2010 zu, jeweils erschienen bei Ps. Publisher in der Slowakei. Der zweite Teil der Jazz-Piano-Schule besteht aus vierzehn Stücken aufsteigenden Schwierigkeitsgrads. Die ersten kurzen Miniaturen sind durchgehend sehr leicht zu spielen und bieten einen wunderbaren Einstieg in die harmonisch aufgeladene Welt der Jazzmusik. So lässt sich davon ausgehen, dass der vorangehende erste Band wirklich bei den Grundlagen startet und auch für völlige Anfänger am Klavier geeignet ist. Nach und nach treten kleine rhythmische Finessen hinzu wie Offbeat und Triolen, bis zu der doch recht vertrackten linken Hand von Fontána: bestehend aus einem fortlaufenden Metrum von zwei punktierten Vierteln und einer Viertelnote, über die die rechte Hand entgegengesetzte Rhythmen spielt. So hebt der Band recht schnell die Ansprüche an den Schüler an, bis hin zum Gruß an Dmitrij Schostakowitsch, der mit ungeraden Takten, entgegengesetzter Rhythmik und kleinen Sprüngen der linken Hand vom technischen Anspruch her weit von der ersten Nummer entfernt ist. Jedes einzelne Stück ist sehr ansprechend komponiert, weist sowohl einprägsame Melodien als auch interessante Harmoniekonstellationen auf, die einen genauen Blick wert sind. In aller Kürze sind diese Titel markant und einzigartig, nichts wird unnötig im Kreis herumgeführt oder in anderen Stücken wiederaufgegriffen, so dass auch die Freude beim kompletten Durchspielen erhalten bleibt. Angenehm ist vor allem auch, dass gerade in den letzten Beiträgen gewisse harmonischen und rhythmischen Experimente stattfinden, ohne jedoch dabei allzu komplex oder gar undurchsichtig zu werden. Mir scheint hier oft, als hätte Kuruc sich nicht alleine auf den Jazz verlassen, sondern auch einen gewissen slowakischen Tonfall mit in seine Jazzschule einfließen lassen, der dieser zusätzlich eine ganz persönliche Handschrift verleiht.

Nicht länger als die einzelnen Stücke aus Jazz Piano II sind die fünf Sätze der Suite für Soloklavier Harlequin. Bei dem Namen kommen wohl unvermittelt Erinnerungen an Strawinskys Ballett Petruschka auf, doch steht Kurucs Harlequin in keiner Weise damit in Verbindung. Der Stil der Suite ist wieder ein recht eigener, ein jazziger Ton ist ebenso anzutreffen wie ein traditionell-volksmusikalischer Einschlag. Von der technischen Schwierigkeit her wäre die Suite ein klein wenig über den letzten Stücken der Jazzschule anzuordnen, sollte aber geübten Klavierspielern keine sonderlichen Probleme bereiten, ist also auch gut für Laien geeignet, ohne dass diesen aufgrund von Vertracktheiten die Spielfreude daran verginge. Mir persönlich hat es vor allem der vierte Satz sehr angetan, das heiter lustige Stück Žonglér (Gaukler, Jongleur) nach der schlichten Weise „Melanchólia“, wo man geradezu bildlich gesehen beim Spielen des Jongleurs mit seinen einzelnen Bällen zusehen kann. Hier wie auch allgemein bei Kuruc sind die Melodien sehr einfach gehalten, sie setzen sich aus puzzleartig aneinandergereihten kurzen Motiven zusammen. Dieses Prinzip spricht zwar gegen eine groß angelegte Entwicklung thematischen Materials, ist aber gerade für diese kurzen Sätze eine gute Methode, memorables Potential zur Verfügung zu stellen, und auch für eine gewisse kecke Sprunghaftigkeit und Kurzatmigkeit zu sorgen, die recht typisch zu sein scheint für diesen Komponisten.

So liegen hier zwei wirklich schöne und spielenswerte Bände slowakischer Klavierliteratur vor von einem Komponisten, dessen Name es unbedingt verdient, dass man ihm mehr Aufmerksamkeit schenkt. Die Musik ist gut spielbar, eingängig und trägt einen ganz eigenen Stempel, der durchaus auch einen analytischen Blick verdient hat. Für alle, die bereit sind, auch einmal etwas Neues auszuprobieren und einen ausgesprochen fesselnden und hinreißenden Personalstil kennenzulernen, der sich unmittelbar erschließt, eine absolute Empfehlung!

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Ein überlauter Schrei der Begeisterung

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Eine vollkommen neue Methode versprach Otto Viktor Maeckel 1938 mit seinem Buch „Das organische Klavierspiel“, welche er nach jahrelanger Unterrichtserfahrung hier niederschrieb. Zu einer Überarbeitung kam es nie, da Maeckel bereits im Jahr darauf verstarb und somit nicht auf Kritik oder eventuell selbst festgestellte Defizite eingehen konnte. Der STACCATO-Verlag gibt nun den Reprint des Werkes des mittlerweile in Vergessenheit geratenen Pädagogen heraus, versehen mit einem Vorwort und kritischen Anmerkungen des Klavierprofessors Gregor Weichert.

Sein ganzes Leben verbrachte O. V. Maeckel mit der Suche nach der „perfekten“ Methode der Klaviertechnik, wie sie laut dem Autor alle großen Pianisten – allen voran Franz Liszt – von Natur aus anwenden, aber nicht in der Lage sind, diese zu beschreiben und somit zu lehren. Ziel soll sein, mit möglichst wenig Kraftaufwand und unter völligem Verzicht auf unnötige Energievergeudung das Klavierspiel zu verbessern und die Technik vollkommen werden zu lassen. Dazu soll der kürzeste, schnellste und natürlich auch einfachste Weg gewählt werden. In der festen Ansicht, schließlich erfolgreich die perfekte Technik entschlüsselt zu haben, bot Otto Viktor Maeckel vierwöchige Kurse an, in denen er seinen Schülern die Grundlagen der Methode in intensivem Training darlegte. Nach diesen vier Wochen sollten die wichtigen Aspekte verinnerlicht sein und die Schüler sie von selbst ausbauen und vertiefen können. 1938 schließlich, nach etlichen Jahren der Unterweisung in seiner Methode, ließ er sich darauf ein, diese auch schriftlich zu fixieren.

O. V. Maeckel gliedert seine Schule in acht Kapitel: Alle Möglichkeiten des einstimmigen Spieles auf dem Klavier; der gleichzeitige Anschlag mehrerer Tasten auf dem Klavier; Triller, Tremolo und Sprünge; die Anwendung der Pedale; die geteilte Hand; das polyphone Spiel; der Unternormalton; das virtuose Klavierspiel.

Der eigentliche Kern der Methode liegt allerdings bereits vollständig im ersten Kapitel vor, der Rest lässt sich vollständig von selbst aus dem einstimmigen Spiel erschließen (vor allem, da es immer wieder mit den selben Anschlagsarten erklärt und weitergeführt wird) oder ist nicht sonderlich neuartig, ja nicht einmal relevant oder wissenswert. Im entscheidenden ersten Kapitel erläutert Maeckel nach einigen Freiübungen ohne Klavier drei Anschlagsarten, die die zentrale Aussage der Methode sind: der „Normalton“, ein ausschließlich durch die natürliche Schwere der von der Gravitationskraft nach unten gezogenen Hand erzeugter Ton; die „schnelle Fingerbewegung“ aus dem Knöchelgelenk; und der „singende Ton“, welcher durch eine Beschleunigung des Fingers während des Anschlags den Dämpfer früher als gewohnt heben lässt und somit die Obertöne früher mitklingen lässt, was wiederum für einen klangschöneren und sanglicheren Ton sorgen soll.

Als zentrale Grundlage für diese Methode sieht der Autor vor allem, wie etliche Male betont, den „federleichten Arm“ an, womit er sich deutlich vom Gewichtsspiel distanziert. Statt sich zu verkrampfen und Kraft anzuwenden, soll nur die genannte „schwere Hand“ eingesetzt werden, so dass der Ruhepunkt der Fingerspitze eigentlich der unterste Punkt der Taste ist; Die Kraftaufwendung betrifft lediglich das Obenhalten der Hand über den Tasten, von wo aus beim Anschlag die Natürlichkeit der Gravitation den Finger sinken lässt. All dies erklärt Maeckel möglichst wissenschaftlich begründet und immer wieder auf die Physik verweisend, stets auf einen sicheren Beweis aus. Auch wenn einige seiner Wissenschaftsbezüge recht vage erscheinen und auch nicht immer richtig sind, ist doch ein Großteil recht sinnvoll und lässt die Methode gut mitvollziehbar erscheinen. Alles in allem ist der Aufbau recht stringent, wodurch das jeweilige Kernthema aus dem Vorherigen erklärbar und logisch ist.

Der Grund dafür, warum die an sich wahrhaft lesenswerte und spannende Methode sich bis heute niemals durchsetzen konnte, ist die Hybris O. V. Maeckels, die ihn immer und immer wieder aufs Neue dazu bringt, zu betonen, wie toll und neuartig seine Methode ist und dass alle anderen Methoden doch komplett unnatürlich und falsch seien. Zu lange wird belegt, warum die eigene Schule so fantastisch ist, und dass auch Liszt allen Augenzeugenberichten nach eigentlich nur diese wiedergefundene Methode angewandt haben kann. Weichert schreibt darauf allerdings versöhnend eingehend in seinem Beschluss über das Buch sehr trefflich, man müsse damit Nachsehen haben, denn Maeckel geriet nach 32 Jahren der Suche sein „Heureka“ eben ein wenig überlaut.

Die Methode an sich zu bewerten, fällt – wie wohl verständlich sein dürfte – schwer. Natürlich war es mir nicht möglich, in der Zeit seit Erhalt des Buchs die gesamte Methodik selbst zu erproben, auch wenn ich mich recht zeitintensiv an den drei Hauptanschlagsarten versucht habe. Diejenigen Quellen, die sich intensiv mit „Das organische Klavierspiel“ auseinandergesetzt haben, also sowohl seine Schüler (nach eigenen Aussagen Maeckels) als auch 1938 sein Verleger Franz Hanemann und der Neuherausgeber Gregor Weichert, sind allesamt überzeugt davon. Und auch ich würde mich nach meinen bisherigen Studien davon keineswegs distanzieren. Zwar sollte der Pianist diese Methode nicht als alleingeltendes Heiligtum ansehen und jede nicht in dem Buch beschriebene Technik a priori verteufeln, aber gerade die Grundlagen sind nicht zu widerlegen, und die drei Hauptanschlagsarten sind das bewusste Erlernen und Anwenden wert. Besonders überzeugen kann die Annahme, dass die heruntergedrückte Taste der Ruhepunkt ist und das Niederschlagen selbst nicht der Moment des Kraftaufwands ist. Bei Beachtung dessen erhält der Musiker automatisch ein deutlicheres Gespür dafür, wie viel Energie überhaupt anzuwenden sei, und verbraucht diese nicht unnötig, was sowohl dem Spiel an sich als auch dem Körper und Geist des Spielers nur zu Gute kommen kann. In wie weit auch der „singende Ton“ perfektionierbar ist, lässt sich schwer sagen, doch ist die Technik tatsächlich gut anwendbar, um entsprechenden Passagen einen runden und vollen Ton zu verleihen.

Sowohl Vorwort als auch Bemerkungen zu „Das organische Klavierspiel“ von Gregor Weichert sind kurz, prägnant und wohlüberlegt geschrieben. Sofort wird Weigerts intensive Beschäftigung mit vorliegendem Werk bemerkbar, und seine kritische Auseinandersetzung damit. Er nickt nicht alles einfach ab, sondern gibt an entsprechenden Stellen nützliche Kommentare hinzu und ist sich auch im Beschluss ganz genau im Klaren, welche Aspekte besonders nützlich und welche eher vernachlässigbar sind.

Weder die Kurse O. V. Maeckels noch sein 1938 erschienenes Buch schafften es, seiner Methode bleibende Bekanntheit zu verschaffen – vielleicht gelingt es nun mit dieser Reprint-Ausgabe. Wert wäre, zumindest einmal davon bewusst Kenntnis genommen zu haben und sich die wesentlichen Aspekte nicht nur durch den Kopf gehen zu lassen.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Ein Leben in Symphonien

NAXOS, 8.501111; EAN: 7 30099 11114 0

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Das gesamte Symphonieschaffen des großen russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch mit dem Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie dem Royal Liverpool Philharmonic Choir (in den Symphonien Nr. 2, 3 und 13), der Huddersfield Choral Society (in der Symphonie Nr. 13) und den Solisten Alexander Vinogradov (in den Symphonien Nr. 13 und 14) als Bass und Gal James (in der Symphonie Nr. 14) als Sopran unter dem Dirigat von Vasily Petrenko ist nun als 11 CD-Box bei NAXOS erhältlich mit Einspielungen aus den Jahren 2009 bis 2014.

Kein anderes Genre zieht sich so sehr durch das Leben von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch wie das der Symphonie: 1924/25 schrieb der 1906 geborene Komponist sein frühes Erstlingswerk und verstummte schließlich symphonisch 1971 mit seiner fünfzehnten Symphonie, vier Jahre vor dem Herzinfarkttod des bereits schwer Krebskranken 1975. Sein utopisches Ziel war zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht erreicht, – 24 Streichquartette und 24 Symphonien wollte er schreiben, ähnlich dem von so vielen Komponisten wie auch ihm selbst verfassten Zyklus von 24 Präludien und Fugen durch alle Tonarten – lediglich 15 konnte er vollenden, sowohl Symphonien als auch Streichquartette.

Jeder Versuch, das gesamte symphonische Werk Schostakowitschs auf einen Nenner zu bringen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn zu divergierend sind sie doch alle. Bereits zwischen der eingängigen ersten und der undurchschaubaren, mit bis zu dreizehnstimmigem Fugato verstrickenden, höchst komplexen zweiten Symphonie liegen Welten, auch die Längen der Werke schwanken insgesamt zwischen knapp 20 und 80 Minuten, ebenso ist die Besetzung sehr wechselnd. Sucht man doch nach Verknüpfungspunkten zwischen Schostakowitschs Symphonien, so sollte sein Gespür für beißende Ironie und todernsten Sarkasmus ins Zentrum gerückt werden – bei kaum einem anderen Komponisten wird noch immer so heftig spekuliert, was er aussagen wollte mit solchen fast frivol-markanten Passagen, sei es der plötzliche überlang auftrumpfende Schluss der Fünften, sei es das verstümmelte Rossini-Zitat in der Fünfzehnten, sei es der Höllentanz der Malagueña als zweiter Satz der Vierzehnten, der erst in den letzten Takten sein wahres Gesicht zeigt, sei es die Umfunktionierung der Loreley in selbigem Werk, die sich von ihrem Felsen stürzt und im unmittelbaren Anschluss als scheinbar andere Person schließlich über ihr eigenes Grab spricht, verbunden mit zwei identischen Glockenschlägen, die einen parallel grinsen und Gänsehaut machen, oder sei es die ganze fast an Haydn erinnernde Form der „Neunten“, die statt Ruhm und Götterfunken in aller Kürze alles Militärische veralbert, karikiert und dem System die lange Nase zeigt. Tausendfach diskutiert man seit jeher, ob Schostakowitsch nun für oder gegen das System war, ob er seine Meinung zeitweise änderte und wie sich dies in seinem Schaffen abbildet – Extremfall die nach Stalins Tod geschriebene Zehnte, die heute meist als „Befreiung aus dem System allgemein und im Einzelschicksal“ angesehen wird. Bezeichnend auch für alle Werke ist die unglaubliche Kunst Dmitri Schostakowitschs, mit seinen Motiven zu spielen, sie obsessiv in durchgängigem Precipitato-Empfinden in die Höhe zu treiben, militärische Anklänge einzubeziehen und diese wieder in der Beklommenheit und Stille versinken zu lassen. Und dies in einer Verbindung mit ausgefeiltester kontrapunktischen Fertigkeit und einem einmaligen Gespür für Instrumentierung, die das gesamte große Orchester einbezieht und unzählige Soli gebiert.

Vasily Petrenko wagt sich nun an die Gesamteinspielung dieses zwölfstündigen Marathons, der ihn von 2009 bis 2014 beschäftigte. Damit tritt er in die Fußstapfen einiger sehr namhaften Dirigenten wie Kirill Kondraschin, Gennadi Roschdestwensky, Valery Gergiev, Rudolf Barshai oder Mariss Jansons, bei dem Petrenko auch einige Zeit lernte und dessen Gesamteinspielung meiner Meinung die alles in allem vielleicht gelungenste ist, auch wenn einige Symphonien beispielsweise unter Gergiev noch etwas mehr Glanz und Unmittelbarkeit versprühen. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra dirigiert der noch recht junge Orchesterleiter in einer nahezu unwirklich erscheinenden Synchronizität, die bis in die verzwicktesten Rhythmen vollkommen makellos ist. Das Orchester erhält einen trockenen Anstrich, der jedoch nicht ins Spröde und vor allem zu keiner Zeit in romantischen Kitsch verfällt, was gerade bei den ausgedehnten langsamen Sätzen das unumstößliche Todesurteil für die Musik darstellen würde. In den meisten Symphonien erreicht es Petrenko, die verzweigten Stimmengeflechte alle hörbar werden zu lassen und für eine gute Transparenz zu sorgen, nur in manchen Einzelfällen fehlt mir eine zentrale Instrumentalstimme, die von Bedeutung gewesen wäre und nun in der Klangmasse verloren geht. Dynamisch hält sich das Orchester zwar nicht zwangsläufig an alle vorgegebenen Feinheiten, schafft aber dennoch oder eben sogar damit stets ein lebendig pulsierendes Klanggebilde mit Respekt für die Bogenlinie und die verschiedenen Dynamikebenen in der Partitur. Ein wenig in die Extreme geht Vasily Petrenko bei der Tempofrage, die schmetternden Höhepunkt in größter Pracht drängen unglaublich nach vorne, während die eh schon teils überlangen ruhigen Tempi noch mehr in die Breite gezogen werden. Das Drängen ist alles andere als störend, weil dadurch kein qualitativer Verlust der Musik zu beklagen ist, nach wie vor bleibt alles sauber und durchsichtig, nur die langsamen Sätze zerbröckeln teils etwas und verlieren dadurch ihre an sich schon gedehnte Form – besonders deutlich wird dies zum Beispiel bei der sechsten Symphonie, deren erster Satz hier eine Länge von knapp 20 Minuten aufweist (bei Jansons im für mein Empfinden perfekten Tempo 15 Minuten). Es wäre so lange nichts gegen dieses Tempo zu sagen, wenn auch musikalisch entsprechend Fülle und Dichte bestünde, wie dies bei einem Celibidache die Grundeigenschaft einer jeden Darbietung war, doch ist eben dies bei Konzerten für den Besucher durch die Wirkung des anwesenden Orchesterapparates wesentlich leichter nachvollziehbar als auf nie an die Klangqualität und Unmittelbarkeit eines Livekonzertes reichende Aufnahmen, die deshalb nicht selten (sogar bei dem großen Meister Celibidache manchmal) für den Nachhörenden unter übermäßig gedehnten Tempi leiden.

Die Musiker des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sind allesamt von beeindruckendem technischen Können und mit genauestem Verständnis für Hintergründe und Zerklüftungen in dem Symphonieschaffen vertraut, mit dem sie sich sichtlich jahrelang beschäftigten, wodurch sie es auch angemessen vermitteln können. Die Solisten sind allesamt präzise, können sich gut vor das Orchester stellen und werden problemlos mit ihren größtenteils wirklich anstrengenden Solopassagen fertig. Lediglich der Konzertmeister nimmt manch ein Solo ein wenig zu spröde abgehackt und der Piccoloflötist kann nicht durchgehend die unschlagbare Wirkung erzielen, die von der enormen Höhe ausstrahlen kann und in manch einer Vergleichseinspielung oder im Livekonzert für Atemlosigkeit sorgt. Hervorzuheben sind vor allem die Soli von Fagott, Klarinette und Oboe sowie die gediegenen Bläserchoräle wie im zweiten Satz der letzten Symphonie. Nicht weniger das vielstimmige Schlagwerk ist positiv zu erwähnen, zu keiner Zeit überdeckt es das Orchester und ist dennoch immer in gutem Maße präsent.

Neben der Orchesterleistung darf auch die des Royal Liverpool Philharmonic Choir, teils unter Verstärkung von Männerstimmen der Huddersfield Choral Society, nicht vergessen werden. Der Chor ist sehr bodenständig mit solidem und kräftigem Klang, er kann in allen Dynamikstufen frei gestalten und schafft in jeder Umgebung eine durchdringende Wirkung und Atmosphäre. Wenngleich nicht mit der selben faszinierenden Synchronizität wie das Orchester agierend, ist diese ins Orchester eingepasste Stimmvielfalt wirklich eindrucksvoll und dem großartigen Instrumentalkörper angemessen. In zwei Symphonien wirkt Alexander Vinogradov als sonorer Bass mit dunkler Stimme und sehr angenehmem, ruhigem Timbre. In der Vierzehnten steht ihm zudem die Sopranistin Gal James zur Seite, die ihre hektischen und selbstzerstörerischen Partien so glaubhaft herüberbringt, dass man meinen könnte, sie selber sei das lyrische Ich, das sein wahres Schicksal besingt. Trotz der so unterschiedlichen Rollen und Stimmfärbungen mischen sich die beiden Solisten gut und haben eine langgeprobte Übereinstimmung mit dem restlichen Klangkörper, der seinerseits untrennbar mit dem Vokalpart verbunden scheint.

Mit neuester Aufnahmetechnik eingespielt herrscht eine phänomenale Klanglichkeit, die einen fast live ins Geschehen zu versetzen vermag. Der mehr als ausführliche Booklettext von Richard Whitehouse auf Englisch gibt einen guten Einblick in jedes einzelne dieser großartigen Werke und bietet eine nützliche Verständnisgrundlage für die Umstände dieser doch oft subjektiv konnotierten Musik. Ein zusätzlicher Kommentar zu jeder Symphonie vom Dirigenten Vasily Petrenko lässt auch ein wenig dessen Gedanken zu den Symphonien durchscheinen.

Alles in allem eine sehr empfehlenswerte Gesamteinspielung des gesamten Symphonieschaffens Dmitri Dmitijewitsch Schostakowitschs. Persönlich kenne ich auch allgemein keine Gesamteinspielung irgendeines großes Œuvres, wo es nichts zu kritisieren gäbe und wo alle Aufnahmen vollendet gelungen wären. Dies kann man denn auch nicht erwarten, doch liegt hier eine mehr als beeindruckende Sammlung auf 11 CDs mit absoluten Spitzenmusikern und einem wirklich verständigen Dirigenten vor, die dem Hörer diese fantastische Musik vermittelt.

[Oliver Fraenzke; Dezember 2015]

Ungesucht sich versenkende Gelassenheit

Wiesensee Süllberg 2015-12

Diesen Namen muss man sich merken: Der 1993 in Würzburg geborene, in München lebende Pianist Amadeus Wiesensee begeisterte das Publikum einer Weihnachts-Matinée in der Kulinarik-Hochburg Süllberg in Hamburg-Blankenese mit einem so vielseitigen wie anspruchsvollen Recitalprogramm. Ich hatte schon mehrfach zuvor Kollegen von ihm schwärmen gehört: Den musst du hören. Der wird seinen Weg machen. Eine ganz und gar außergewöhnliche Begabung. – Ich kann dem nach diesem Auftritt nur zustimmen. Anscheinend handelt es sich übrigens bei Amadeus Wiesensee mindestens um eine Doppelbegabung: Derzeit Student in der Klasse von Antti Siirala an der Münchner Musikhochschule, kann Wiesensee auch bereits ein abgeschlossenes Philosophiestudium vorweisen und wurde mit dem prestigeträchtigen ‚Amalia-Preis für neues Denken’ ausgezeichnet. Sein Spiel zeigt sich geprägt durch Reflexion, Diskretion, Balance, Wohlklang und Liebe fürs Detail, und nie hat man den Eindruck, dass ihm zwischendurch einmal gedankenlos exekutierte Passagen oder gar Anflüge von Selbstdarstellung unterlaufen würden.
Wiesensee begann sein Recital, für welches ihm ein nuancenreicher, wohlintonierter Bechstein-Flügel der besseren Sorte zur Verfügung stand, mit Johann Sebastian Bachs Englischer Suite in e-moll. Schon hier fiel sofort sein Augenmerk für Durchsichtigkeit, klare Hervorhebung der Hauptstimmen, melodische Kontinuität und über alledem eine wohltuende Balance der Kräfte auf, ein durchgehendes Bedürfnis nach stimmiger Proportionierung und eine geschmacksichere Sorgfalt im Stilistischen. So gespielt, entsteht die oft gestellte Frage, ob man Bach auf einem modernen Flügel spielen solle, erst gar nicht. Man findet bei ihm keine Gould’schen Extravaganzen, bei aller gefassten Innigkeit auch keine romantisierende Sentimentalität oder neoklassizistische Biederkeit, und fast überall ist der durchgehende, natürliche Fluss der Musik gewährleistet.
Es folgte Beethovens Es-Dur-Sonate Opus 27 Nr. 1, das Geschwisterwerk der sogenannten Mondschein-Sonate. Auch hier herrscht Ausgewogenheit allerorten, klare Orientierung innerhalb der verschränkten Gesamtarchitektur, bewusst abgewogener Wohlklang, und eine alles durchdringende Redlichkeit der Auffassung, der nichts so fremd ist wie der törichte Schein der Prätention.
Amadeus Wiesensee ist kein typischer Virtuose, sondern vor allem ein Musiker, der alles zu erfassen und umzusetzen sucht und darin einen wunderbar zauberhaften, poetischen Zugang vermittelt. Bei Beethoven darf das Drama noch vehementer, bei aller bereits vorhandenen Leidenschaftlichkeit noch entschiedener in den Konflikt getrieben werden. Doch schon hier, wie auch später bei Brahms und vor allem natürlich Skriabin, erweist er sich in stürmischeren Momenten und resolut vorwärtsdrängenden Passagen auch als trefflicher Tastentiger mit kraftvoller Pranke, die allerdings fast immer sehr dosiert und kultiviert zum Einsatz kommt.
Von Skriabin kombinierte Wiesensee die Neunte Sonate, die sogenannte ‚Schwarze Messe’, mit dem Poem ‚Vers la flamme’, also zwei himmlische Höllentrips. Erstaunlich, wie lange er vermochte, die Dynamik wie fast schon illusorisch vorgeschrieben auf niedriger Flamme zu halten, bevor die Entfesselung des Geschehens so zugespitzt war, dass er alle Zurückhaltung aufgab. Hier liegt unendliches Verfeinerungspotential, und es ist Wiesensee zuzutrauen, dass er uns künftig mit einer feinnervigen Sensibilität beglückt, wie sie allenfalls Sofronitzky in dieser Musik zu übermitteln vermochte – und außerdem mit einem Bewusstsein der zugrundeliegenden Struktur, das sich in dieser Musik fast nie dem Hörer mitteilt.
Den Schlussteil bildeten die 1892 komponierten sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms. Die meisten Pianisten, seien sie noch so arriviert, sind musikalisch in diesen Stücken hoffnungslos verloren und ergehen sich in willkürlichen Manierismen, Aufwallungen und Verdämmerungen jenseits aller metrischen Fassbarkeit. Wiesensee geht einen anderen Weg – den der Klarheit, Aufrichtigkeit, Natürlichkeit und weitgehenden Verinnerlichung. Auch wenn vieles noch charakteristischer, noch klarer erstehen, das Korrelieren der einzelnen Phrasen zu übergeordneten Bögen noch vertieft werden kann – er ließ hier, wo die Beherrschung des Pianistischen alleine so offensichtlich nicht ausreicht, alle seine jungen Kollegen weit hinter sich – jedenfalls alle die, die ich in den letzten Jahren gehört habe.
Als Zugaben waren der November aus Tschaikowskys ‚Jahreszeiten’ und ein Arrangement von Bachs Choralvorspiel ‚Nun komm der Heiden Heiland’ zu hören – letzteres wahrhaft ergreifend in der ungesucht sich versenkenden Gelassenheit und puren Schönheit der Darbietung.
Amadeus Wiesensee hat alle Anlagen, inklusive einer gerade für sein Alter erstaunlichen und weit überdurchschnittlichen Reife, um sich zu einem der im positivsten Sinne prägenden Musiker seiner Generation zu entwickeln. Bereits jetzt vermag er, auf durchaus unspektakulär fesselnde Weise ein Publikum einen ganzen Abend lang in Bann zu halten, zu berühren und auf eine poesiedurchtränkte Reise mitzunehmen.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley; Dezember 2015]

[The New Listener international:] Well-known and unkown music personalities

The anniversary concert of the Blutenburg Kammerphilharmonie München orchestra had Haydn’s final symphony No. 104 in D major, also known as the “London” symphony, and Egon Wellesz’s first symphony in C major, Op. 62 in its programme. On the evening of 25 October 2015, Jörg Birhance, conductor from the founding years, took up the baton again for the 10th anniversary concert in Maria-Ward-Straße 5, near Nymphenburg Palace in Munich.

The Blutenburg Kammerphilharmonie München selected a very daring programme on various levels for its anniversary. Will the audience like the unknown symphony awaiting its third performance on this evening? And will the orchestra manage to rise to the occasion of this musical battleship that even demands an intense period of preparation from professional orchestra players? The symphony Op. 62 with its first and last movement in c minor ending in C major and the second movement in g minor is, no doubt, one of the greatest challenges for the musicians and the conductor. The prima facie seemingly pompous first movement, if approached superficially with its catchy theme, reveals unforeseen dense and intricately channelled lower voices. Understanding and then also conducting these intricacies is a virtual Sisyphean challenge. The second movement comes up with perpetual quintuplets, demanding utmost virtuosity and finesse from all parties. The finale, that seems like the Abgesang of all previous hustle and bustle and simultaneously contains major points of culmination, opens up completely new spheres of sound; it could obviously be reminiscent of Mahler‘s later work or of Bruckner’s ninth, albeit more cohesive in terms of formality and more concise than Mahler thanks to its brevity. This is where the whole cast of brass comes into play, filling the stage with four French horns, three trumpets and trombones each, and a tuba. The reason why Wellesz’s outstanding first symphony, as well as the composer himself are still unknown remains a true enigma. Wellesz, who can boast excellent teachers both in musicology with Guido Adler and in composition with Arnold Schönberg, completed nine symphonies (how could it be otherwise!) in spite of entering into the genre quite late (he was almost sixty); at this stage, however, he had already written a large volume of orchestral work and operas, and a plethora of chamber music. As an expert in Byzantine music and even though he studied with Schönberg, Wellesz’s style was by no means dedicated to dodecaphony; instead, he concentrated on a highly interesting and still very appealing free tonality, appearing in all possible textures thanks to his exceptional orchestration gift. The first symphony was performed two years after its completion by Sergiu Celibidache and the Berlin Philharmonic Orchestra in 1947, followed one year later by Joseph Krips and the Wiener Symphoniker; this is where the history of reception ends, apart from one rather poor CD recording that was neither preceded by a proper performance nor by proper rehearsals – to this very day!

All in all, the Blutenburg Kammerphilharmonie München gave a strikingly superior performance. Of course one could find the odd inaccurate tone, asynchronicity or little squeaks few and far between; in general, however, the overall performance of this amateur orchestra was outstanding. The great man of the evening, however, was Jörg Birhance, who founded the orchestra in 2005 and conducted it until 2011. His distinctive work with the orchestra can be felt in every single bar of music, redeeming with a consciousness for chamber music all the instrumentalists‘ technical imperfections. What he as a conductor can make of the orchestra is nothing less than astounding! His air in his generous gesture of Haydn is very clear and reveals the symphony‘s form in all its clarity; even the compositional intricacies of the master’s last symphony become very clear. With Wellesz, he places an emphasis on the multitude of lower voices of which a considerable proportion is exquisitely balanced in texture, again allowing the shape to become perfectly sculpted: The fugue in the middle of the first movement commences with such clarity, leaving no doubt it could have been otherwise. In contrast to Haydn, that seemed to be easier, the enormous efforts of rehearsing are clearly discernible in this first movement and reap a bountiful harvest with even more precise intonation in spite of all difficulties. The second movement is particularly captivating and diverse with repeated pleasant surprises. For those who were not inclined to take their hats off to the orchestra earlier, this point definitely was the most compelling; the quintuplets pearl in an impressively clear manner and the askew and seemingly free-tonal voices are arranged at a high level with freed expression. It is last but not least the conductor to whom we should take off our hats after this modern and seemingly most peculiar movement of the symphony – the well-nigh folly of rhythmical polyphony and the interchange of the main voice between four instruments sometimes in each bar is revealed in splendid precision. Even the surprising twists appear spontaneous and fresh, new acoustic landscapes emerge unexpectedly and disappear in the same way they appeared. Unfortunately, an outbreak of audience coughing disturbed the third movement; the conductor and the Kammerphilharmonie, however, remained concentrated and provided a dignified finish to this great work.

It is a striking charisma with which Jörg Birhance steps in front of the orchestra, creating the central point of concentration ab initio. Once he has found his way into the happening, he remains “one” with the soundscape, leading his musicians in a suggestive manner. Birhance conducts with perfected technique, standing tall with a sophisticated beat that principally emerges from his elbow and sometimes expands to the entire arm and shoulder with which he inadvertently picks up the instrumentalists and joins them in unison. His actions are fully dedicated to music and his profound devotion to the works of music can be felt in every single moment.

It is merely two questions that have yet to be answered after this evening: Why is Egon Wellesz still so fameless in view of such impressive work that is still catchy in spite of free tonality and would surely appeal to many people? And why has Jörg Birhance not fared better than the master whom he favours with such devotion? Even after so many years of excellent work, Jörg Birhance is still only known among experts. He conducts small orchestras and amateurs instead of well-known orchestras where he would – no doubt – more than enrich their selection of programmes and range of expression.

[To the german review of this concert]

[Oliver Fraenzke, October 2015 / Translation: Remains anonymous]

Wenn die Engel singen

OUR Recordings 6.220615 (Vertrieb Naxos); EAN: 7 47313 16156 0

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Europäische Weihnachtslieder vom 13. bis zum 18. Jahrhundert aus vielen Ländern wurden von Michael Bojesen zusammengetragen und arrangiert für die Besetzung Chor und Blockflöte. Er dirigiert das Danish National Vocal Ensemble mit der Blockflötenvirtuosin Michala Petri.

Keine andere Zeit des Jahres verbinden wir heute so sehr mit Gesang wie die Zeit um Weihnachten, die Feier zur Geburt Christi. Schon in den frühesten Choralsammlungen sind immer wieder Adventsgesänge zu finden; Das Kirchenjahr beginnt mit dem 1. Advent, der stets mit dem berühmten „Ad te levavi“ eingeläutet wird. Doch nicht nur in der Kirche gehört der Gesang zu Weihnachten, auch im Bereich der Volksmusik ist er wesentlicher Bestandteil dieser Zeit der Feierlichkeit, und uns sind zu diesem Anlass aus vielen Ländern unzählige Melodien und Texte überliefert.

Siebzehn dieser Weihnachtslieder nahm sich der Dirigent Michael Bojesen für diese Anthologie vor, wofür er baskische, franziskanische, tschechische, englische, holländische, deutsche, polnische und französische Lieder sowie solche aus den „Piae Cantiones“ auswählte. Diese, mit einer Entstehungszeit zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert, bearbeitete er für sein internationale Reputation genießendes Danish National Vocal Ensemble und Michala Petri, die berühmte Blockflötistin, die sowohl in alter als auch in zeitgenössischer Musik zu Hause ist und bereits über 150 Werke uraufgeführt hat. Die Bearbeitungen von Michael Bojesen sind äußerst vielseitig, gut abgestimmt und können die herrlichen Volks- und Kirchenmelodien gleichzeitig pietätvoll untermalen wie auch durch die Vielstimmigkeit bereichern. Der Chorsatz ist mit sichtlicher Erfahrung und Geschick gesetzt, alle Stimmen haben ihre besonderen Einsätze und wechseln sich in der Führung ab. Manch ein polphon versetzter Stimmeinwurf lässt aufhorchen, und zu keiner Zeit läuft die Musik Gefahr, zu langweilen durch einen gleichförmigen oder nichtssagenden Satz. Nicht weniger kunstvoll ist die Soloflöte Michala Petris eingewoben, die sich trotz des natürlich immer hervorstechenden Instrumentaltons erstaunlich gut in die Chorstimmen integrieren kann, sie auch teils solistisch umspielt und mit einem lamettaartig feinen Hauch versieht. Auch manch einen solistischen Auftritt gibt Michael Bojesen seiner grandiosen Blockflötistin.

Das Danish National Vocal Ensemble, bestehend aus fünf Sopran- und vier Altstimmen, sechs Tenören und fünf Bässen, die im achtstimmigen Chorsatz jeweils zweigeteilt auftreten, besticht mit größter Sauberkeit und einem sehr entspannten, ruhigen Ton. Zu keiner Zeit lassen sie sich die Schwierigkeiten der teils vertrackten Stimmpolyphonien vernehmen, nie kommt Hektik und Unsicherheit auf. Ob alle Stimmen am aktiven melodiösen Verlauf beteiligt sind oder ob die einen Sänger eine solide Basis bilden, über der andere frei schweben können, ist in dieser Hinsicht vollkommen gleich, stets singt jeder Mitstreiter mit höchster Inbrunst und Freude an der Musik. Der gesamte Chor wirkt trotz der geringen Stimmenzahl sehr robust und stabil mit großem Volumen und reicher Fülle. Sehr angenehm ist auch die gute Textverständlichkeit ohne die so zur Mode gewordene Überakzentuierung eines jeden Konsonanten. Der Arrangeur Michael Bojesen tritt hier auch als Dirigent auf und hält sein Werk zusammen. Er erreicht erstaunliche Synchronizität und achtet auf genaueste Abstimmung seiner Sänger, darauf, dass stets die zentralen Stimmen im Vordergrund stehen, ohne dass die anderen Linien im Hintergrund verloren gehen, auch schafft er ein tragfähiges Kontinuum des Spannungsverlaufs, das in einem großen Bogen jedes Stück zusammenhält.

Eine besondere Rolle kommt natürlich Michala Petri mit der Blockflöte zu. Ihre ergänzende und ausschmückende Position als einzige Instrumentalistin verlangt einiges von der Dänin, indem sie ihre Flöte auch sehr sängerhaft einzusetzen hat, um nicht aus dem Gesamtkonzept zu fallen. Ihre Stimme passt sich nun wunderbar in das Gesamtbild herein, sämtliche virtuosen Höchstschwierigkeiten auf ihrem Instrument lässt sie locker vergessen. Es klingt tatsächlich so, als wäre die Blockflöte untrennbar mit diesen alten Melodien verbunden und als hätte es nie eine andere Möglichkeit gegeben, den Chor zu verzieren. Der Hörer wird kein anderes Instrument vermissen und beglückt sein über die zarte Blockflöte, die sich über dem stimmungsvollen Chor zu freudigen Höhenflügen hinreißen lässt.

„Let The Angels Sing“ ist eine durch und durch empfehlenswerte CD für alle, die auch einmal andere Melodien zu Weihnachten zu hören wünschen als diejenigen, die eh jedes Jahr rauf und runter gespielt werden, auch wenn auch hier das eine oder andere Lied durchaus nicht unbekannt ist. Es ist eine schöne Sammlung unterschiedlichster Stücke aus verschiedenen Ländern und Epochen, dargeboten von einem wahren Spitzenensemble. Nach dem Hören dieser CD ist für mich klar, was es dieses Jahr beim Zusammensein um den Weihnachtsbaum als musikalische Begleitung geben wird.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3c] Über das unergründliche Leben von Jean Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

Die zweite Buchpublikation von Volker Tarnow führt den Leser zu Finnlands bekanntestem Komponisten Jean Sibelius. Auf 288 Seiten erläutert der Autor für Henschel Bärenreiter das lange und vielseitige Leben des Nationalkomponisten, gibt Einblicke in dessen Werk und verschafft einen Überblick über das aktuelle Zeitgeschehen.

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Zweifelsohne gehört Jean Sibelius zu den besonders unergründlichen Komponistengenies sowohl des späten 19. als auch des 20. Jahrhunderts. Das lange Leben des Komponisten, vom 8. Dezember 1865, vor exakt 150 Jahren, bis zu seinem Tod am 20. September 1957, ist uns bis heute in vielerlei Hinsicht ein großes Rätsel voller Unklarheiten und Spekulationen. Wie beginnt die musikalische Laufbahn von Johan Julius Christian Sibelius, der später nur noch Jean oder Janne genannt wird, bis er plötzlich seinen monumentalen Kullervo ans Licht der Welt bringt? Wieso verwirft er diesen Koloss direkt wieder und lässt ihn bis nach seinem Lebensende in Vergessenheit geraten? Welch einen starken Wandel vollzieht seine Musik und markiert ist jede der sieben Symphonien einen von Grund auf vollkommen neuen Stil? Wieso vernichtet er schließlich seine achte Symphonie und warum veröffentlicht er Jahrzehnte lang nicht ein einziges weiteres Werk? Diesen Fragen über das gewaltige Schaffen des Nationalhelden und vielen weiteren um unter anderem Leben, Gewohnheiten, Familie, Ängste oder Zwänge widmet sich Volker Tarnow in seiner neu erschienenen Biografie „Sibelius“.

Tarnow gliedert sein Buch in neun Kapitel, die für ihn die verschiedenen Lebensabschnitte charakterisieren mit den Titeln „Das klassische Niemandsland“, „Aus dem wird was“, „Karelische Träume“, „Freiheit für Finnland!“, „Sinfonie des Südens“, „Innere Stimmen“, „Thors Hammer“, „Die Schatten werden länger“ und „Beredtes Schweigen“. Auch wenn diese Einteilung nicht direkt auf sein kompositorisches Schaffen abgestimmt erscheint, ergibt sich hier doch eine gewisse Stringenz und Sinnhaftigkeit dieser Ordnung, die sein Leben von frühester Kindheit unter Einbezug seiner familiären Geschichte bis zu der langen Schaffenshemmung zum Ende seines Lebens umfasst.

Volker Tarnow schreibt in einem äußerst flüssig lesbaren Stil, seine Wortwahl ist fein abgestimmt und von hohem feuilletonistischen Wert, wird dabei zu keiner Zeit unverständlich oder übermäßig elitär. In dieser Schreibart, die seine langjährige Erfahrung im Bereich des Musikjournalismus widerspiegelt, ist immer wieder Platz für gut angebrachten Charme und Humor, so dass der Leser ein um’s andre Mal ins Schmunzeln gerät angesichts der trefflichen Formulierung. An vielen Stellen gelingen sprunghafte Übergänge von einem Thema zu einem anderen, wo dies als Erläuterung für Folgendes von Nöten ist, ohne dass diese Sprünge sonderlich auffallen, womit eine gute Durchgängigkeit des Leseflusses gewahrt wird trotz wechselhaft beschrittenen Stoffgebiets.

Es steckt eine enorme Recherchearbeit in dieser Biografie, was schnell ins Auge fällt. Nicht nur, dass Volker Tarnow eine ungeheure Menge an Informationen über das Leben und Wirken von Jean Sibelius in seine Biografie packen konnte, sondern auch über alles drum herum. Politische Entwicklung, Verbindungen zu etlichen anderen Künstlern seiner Zeit und interessante Hintergrundinformationen finden ebenso ihren Platz. Besonders eingegangen wird unter anderem auf die Geschichte Finnlands, dessen Erlangung der Unabhängigkeit und die Kriege, die Sibelius miterleben musste. Von des Meisters Gewohnheiten interessiert sich Volker Tarnow vor allem für seinen gehobenen Lebensstil, der besonders in Form von Alkohol und Zigarren einen roten Faden durch die gesamte Schaffenszeit des Komponisten zieht, sowie seinen ewigen Drang zum Reisen und die damit verbundene Vernachlässigung seiner familiären Pflichten. Besonders spannend für den Leser ist, dass Tarnow neben den großen Hauptwerken auch auf die vielen eher unbekannten Stücke von Jean Sibelius eingeht, die normalerweise nicht im Konzertsaal zu hören sind, besonders auch auf die frühen Werke aus Studienzeiten. Somit ergibt sich ein erzählerisches Kontinuum in der Frage um den Stil Sibelius‘, was anhand der großen Werke alleine unmöglich darzustellen wäre.

Eine inhaltliche Schwäche der Biografie sind hingegen die Erklärungen musiktheoretischer Grundlagen: Der Autor scheint nicht davon auszugehen, dass der Leser Begriffe wie „Sonatenhauptsatz“ oder „Sinfonie“ kennt und versucht, diese möglichst ohne Voraussetzung irgendwelchen Grundwissens zu beschreiben. Doch diese Erläuterungen misslingen teils phänomenal, weder darf der Eingeweihte hier komplette Richtigkeit der genannten Regelfälle erwarten, noch sind sie für einen Unwissenden wirklich verständlich. Der Sinn dieser teils seitenlangen Definitionen ist höchst fragwürdig, denn diese schränken ganz nebenbei auch die Zielgruppe erheblich ein: Eine Biografie, die so minutiös auf Details eingeht und solche geballte Informationshäufung liefert, wird üblicherweise von Musikinteressierten mit Vorwissen gelesen, denen musikalische Grundbegriffe bereits geläufig sind, die jedenfalls eine Einführung in allgemeine Musiklehre nicht lesen wollen. Diejenigen, die eine solche brauchen würden, werden mit konventionellen Erörterungen ohne Blick auf die dahinterliegenden Prinzipien abgespeist.

Ein zweiter Punkt, der bedauerlicherweise immer wieder die Freude an der Ausführlichkeit und Wortgewandtheit zu trüben vermag, ist die Tendenz, andere Komponisten aus seinem näheren und ferneren Umfeld ständig mit Sibelius zu vergleichen. Während Sibelius immer wieder in alle Himmel gelobt und stets mit Superlativen gerühmt wird, ergeht es vielen anderen herausragenden Musikern hier recht schlecht und sie werden entweder klischeeüberladen in eine Schublade mit Aufschriften wie „komponiert nur in Mundart“ gesteckt oder als unwichtige „Helferleinchen“ des großen Finnen abgestempelt. In einer sachlichen Biografie haben solche Rangordnungsaufstellungen (selbstverständlich mit dem titelgebenden Komponisten als alle übertrumpfende Lichtgestalt) eigentlich nichts verloren und lassen das ein oder andere Mal am Willen zur Objektivität erheblich zweifeln.

Ungeachtet dieser beiden unerquicklichen, da unnötigen und nicht zweckdienlichen Mängel liegt hier eine wirklich hervorragende Biographie vor, die einen tiefen und engagiert persönlichen Zugang zu Jean Sibelius vermittelt. Viel bisher komplett unbeachtetes Wissenswertes floss in Volker Tarnows Werk ein und gibt umfassend und breit gefächert sowohl einen großen Überblick als auch minutiöse Detailauskunft über den großen Finnen. Viele ungeklärte Fragen erhalten einen plausiblen Lösungsansatz, woran Forschung in Zukunft sicherlich gewinnbringend anknüpfen kann. Das letzte Wort zu solch einem Menschen und Komponisten kann wohl nie gesprochen werden, doch anlässlich des Jubiläums sind hier viele Dinge niedergeschrieben, die auch eingefleischte Sibelius-Kenner noch mit einigem Wissen über diesen grandiosen Menschen bereichern können.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2015]

Mit Wort und Ton

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Die junge italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini spielt am 28. November 2015 im Bürgerhaus Eching ein Klavierrezital, welches aufhorchen lässt. Sie beginnt mit der hochvirtuosen Fantasie C-Dur Op. 17 von Robert Schumann und lässt die erste Ballade in g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin folgen. Nach der Pause gibt sie eine weitere Fantasie in C-Dur, nämlich die „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760, von Franz Schubert, und der Kreis schließt sich mit „Les cloches de Genève“ und „La Vallée d’Obermann“ aus „Les Années de Pélerinage“ von Franz Liszt, dem die Schumann-Fantasie gewidmet ist.

„Die Suche nach einer neuen Art des Hörens“ nimmt sich Ottavia Maria Maceratini zur Aufgabe, wie sie in ihrem kurzen, sehr inspirierenden Vorwort zu ihrem Rezital im Echinger Bürgerhaus verlautbart. Auf diesem Weg will sie experimentieren und Neues ausprobieren. So macht sie es auch an diesem Abend, wo sie neben der Musik auch die Bühnenatmosphäre stimmig ausgestaltet: Nach hinten ist die Bühne mit schwarzen Vorhängen ausgekleidet und das Licht im gesamten Saal ist extrem heruntergedimmt, dafür leuchtet oberhalb des Flügels für jedes Stück ein neues Zitat aus dem Mund des jeweiligen Komponisten auf, welches sie sorgfältig dafür ausgewählt hat.

Das Programm macht staunen, gleich zu Beginn fesselt eines der ganz großen Werke von Robert Schumann, seine Fantasie C-Dur Op. 17. Zwischen 1836 und 1838 komponiert, zählt die dreisätzige Fantasie zu den bekanntesten Werken Schumanns und verlangt neben höchster Virtuosität auch ein genauestes Verständnis des musikalischen Verlaufs und ein gewisses untergründiges Gespür für die Musik Beethovens, die er mehrfach zitiert. Ottavia Maria Maceratini beweist eine unglaublich gute Kenntnis aller einzelnen Stimmen in dieser Fantasie, die jede zum Leben erweckt wird und deren keine zur bloßen Begleitfloskel degradiert ist – besonders anschaulich lässt sich dies im Intermezzo „Im Legendenton“ des Kopfsatzes erkennen, welches mit einer überwältigenden Stimmpolyphonie in vollkommen unterschiedlichen Spielweisen aufwartet. Die Pianistin besitzt einen äußerst feinfühligen, gesanglichen Ton und lässt ihre Kantilenen in höchsten Sphären schweben, ist aber auch ebenso in der Lage, machtvoll in die Tasten zu langen und ein markerschütterndes Fortissimo hervorzubringen. Dieses wirkt zu keiner Zeit geschlagen oder gewalttätig akzentuiert, sondern folgt viel eher einer natürlichen Energieübertragung aus dem Körper, was Maceratini wohl ihrem intensiven Training von asiatischen Kampfsportarten zu verdanken hat, wo genau diese Weiterleitung der Kraft aus dem Körperzentrum oberste Priorität besitzt.

Bei dem folgenden Werk, der Ballade Nr. 1 g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin, hatte ich bereits häufiger das große Glück, es mit der dieser Musikerin hören zu dürfen. Auch spielte sie es dieses Jahr in Bild und Ton ein und ließ es auf YouTube erscheinen, womit sie geradezu einen absoluten Maßstab setzte. Nun hat die Darbietung dieses Meisterwerks direkt noch einmal an musikalischer Substanz gewonnen, es wirkt als komplette Einheit in fließender Stringenz ohne einen Moment des Spannungsabfalls. Noch nie habe ich die donnernden Schlussläufe so schreiend wild und gleichzeitig so niederschmetternd erlebt wie jetzt, so fokussiert drängten sie auf ihren Abschluss hin (ein Gestus von vergleichbar starker Wirkung findet sich auch noch in der Etüde Op. 33 Nr. 8 von Sergej Rachmaninoff, die ebenfalls in g-Moll steht). Deutlich wahrnehmbar sind auch die Walzeranklänge, die immer wieder durchbrechen und in so vielen Darbietungen komplett verlorengehen. Obwohl Ottavia Maria Maceratini vermutlich erheblich mit dem schwerfälligen Instrument zu kämpfen hatte, waren keine Einschränkungen zu spüren.

Gleich nach der Pause erklang ein weiterer Gigant der Musikgeschichte, Franz Schuberts so beliebte wie gefürchtete „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760. Es wirkt, als wäre sie nicht aus Schuberts Zeit, so fortschrittlich modern erscheint die Gestaltung und Fortspinnung des Materials. Die Themen und Motive lässt Ottavia Maria Maceratini auch inmitten des dichtesten Notenbildes noch hervorglänzen und gestaltet alles in feinster Manier aus, die virtuosesten Läufe und Figuren kommen perlend brillant und ohne den geringsten Hauch einer vernehmbaren Anstrengung, und stetig bleibt der große Zusammenhang durch diese Gesamtform in mehreren Teilen hindurch gewahrt. Zwar möchte sich auch hier der Flügel wieder wehren gegen das Donnern der mächtigen Akkordpassagen, doch wird er gebändigt und das Maximum an nur erdenklichen Klangfarben herausgezaubert. Nach dem Konzert eröffnet mir die Solistin, sie übe bereits seit einem Jahr an diesem großen Werk, doch sei ihr Weg damit noch lange nicht an einem Ende – auch wenn der heutige Abend nur eine Zwischenstation auf diesem Weg ist, so liegt auf jeden Fall ein größerer Weg bereits hinter ihr, als ihn die meisten Pianisten jemals beschreiten werden.

Zwei Werke des großen Klaviervirtuosen Franz Liszt, des Paganini auf dem Klavier, bilden den letzten Teil des Klavierrezitals. Die Nocturne „Les choches de Genève“ ist ebenso wie die Wanderer-Fanzasie komplett der Zeit voraus und wirkt eher wie ein Werk des französischen Impressionismus. „La Vallée d’Obermann“, ebenfalls aus Les Années de Pélerinage (Die Pilgerjahre), einem dreibändigen Werkzyklus bestehend aus 26 Stücken, bildet den Abschluss. Das letztere ist ein mit circa 15 Minuten Spielzeit auch recht umfangreiches Werk und wird vor allem durch Akkordrepetitionen und später auch Oktavparallelen bestimmt. La Vallée d’Obermann zu verstehen ist keine einfache Aufgabe, denn es ist sehr dicht und in einer nur schwerlich heraushörbaren Form gestaltet. Ottavia Maria Maceratini gelingt es allerdings, für beide Liszt-Stücke ein tiefgehendes Verständnis zu entwickeln und die beiden so grundverschiedenen Konzepte dahinter zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln. Auch wenn mir selber La Vallée d’Obermann noch etwas sehr donnernd und über manche Strecken recht langatmig erschien, so scheint mir das doch hauptsächlich am Stück zu liegen und nicht an der Solistin.

Als Zugabe gibt es noch Aram Khachaturians Toccata in es-Moll von 1932. Auch dieses Bravourstück nahm Ottavia Maria Maceratini vor längerer Zeit bereits auf Video auf und es ist heute auf YouTube zu bewundern. Akzentuierte Rhythmik und ständige Tonrepetitionen treiben diese Toccata einem Motor gleich an, nur unterbrochen von einem konfliktrhythmenreichen kurzen Mittelteil. Das unaufgelöste Ende auf einem stark dissonanten Akkord hinterlässt den Hörer fragend, doch eine Antwort kann es nicht geben. Ottavia Maria Maceratini nimmt die Toccata schwungvoll und fast scherzhaft, ohne zu viel Kraft in die Motorik hineinzugeben, was ihr etwas Leichtes, fast Tänzerisches verleiht. Diese Leichtigkeit verliert sie auch zum Ende hin zu keiner Zeit und lässt unvermittelt in die Schlussakorde hereinbrechen, die sie nicht auskostet, sondern vielmehr den Hörer verdutzt zurücklässt. Diese Art des Zuendekommens habe ich bei dem Stück so noch nie gehört und mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was es so einzigartig machen konnte – doch wie das Stück selber gibt auch diese Frage keine Antwort her.

Am Ende ist wohl jeder Hörer im Bürgerhaus Eching im positiven Sinne überrumpelt, erschöpft und glücklich über einen so intensiven musikalischen Abend mit einer absoluten Ausnahmepianistin, die mit einer so freudigen und hellen Art an die Werke geht und immer voll dabei ist, ohne nur den Bruchteil einer Sekunde etwas anderes im Kopf zu haben als die Musik. Sie sucht einen neuen Weg des Hörens und diesen beschreitet sie auf ganz eigentümliche, phänomenale Weise. In einem Alter, wo sich die meisten nur an hochvirtuosen Höchstschwierigkeiten abschinden und die Geschwindigkeit ihrer Finger präsentieren, ist Ottavia Maria Maceratini bereits so gereift und ihrer selbst bewusst, dass sie all das nicht nötig hat; sie vertraut der Musik und sie vertraut ihrer Suche, die sie wohl immer weiter führen wird in das Herz der Musik. Da bleibt nur, gespannt zu sein, mit was noch allem sie uns überraschen wird, welche Pläne sie als Nächstes hat und welch einen unverwechselbar unmittelbaren Zugang sie uns noch schenken wird hinein in die wahre Musikalität.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

Ein Engel im Jetzt

 

Isotopia Records; isotopia 001; EAN: 5 060268 640887

0012

Constance Hauman wagt einen ganz neuen Stil in ihrem Album Falling Into Now, welches die erste Veröffentlichung ihres neu gegründeten Labels Isotopia Records im Vertrieb Naxos ist. An der Seite der singenden und klavierspielenden Constance Hauman agiert der Schlagzeuger Ross Pederson, der neben Drums und Percussion auch Bass, Gitarre und Midi übernimmt.

Falling Into Now in eine Genreschublade zu stecken, würde dem Album alles andere als gerecht werden. Die Sängerin Constance Hauman ist ein wahres Chamäleon auf dem Gang durch die Musikgeschichte: Bekannt geworden durch ein spontanes Einspringen in Bernsteins Candide und heute vor allem respektiert durch die erste Live-Einspielung von Alban Bergs Lulu, wo sie in Koppenhagen in der Titelrolle zu hören ist, kann Constance Hauman auch anders. In Falling Into Now experimentiert sie vor allem mit elektronischen Klängen und atmosphärischen Klangwolken, aber ebenso mit Improvisation. Dieser Musik einen eindeutigen Stempel aufzudrücken oder der Versuch, sie möglichst umfassend unter eine allgemeingültige Beschreibung zu zwängen, würde ihre Unmittelbarkeit und ihre offene Vielschichtigkeit ignorieren. Jeder Titel für sich fordert eigentlich eine individuelle Besprechung.

Constance Hauman erweist sich auch in dieser experimentellen Musik als eine Musikerin ersten Ranges. Sie kann sich flexibel in jeder Stimmung und jedem Stil zurechtfinden, ohne dass es zu irgendeiner Zeit gekünstelt oder gespielt wirkte. Ihre Stimme ist klar und lupenrein, kann jedoch bei Bedarf auch sehr düstere Timbres annehmen und mit spontanen Umschwüngen verblüffen. Besonders zeichnet sich Haumans Stimme durch einen oft eingesetzten leichten Hauchton aus, der ihr immer etwas frivol Lockendes sowie Selbstsicheres verleiht. Bei jedem Ton fühlt der Hörer ihre Verbundenheit mit ihren Liedern und den Rollen, in die sie zu schlüpfen vermag; sie fühlt sich durchgehend wohl in ihrer Haut und blüht in der Musik auf, als gäbe es für sie nichts schöneres auf der Welt, als gerade eben genau dieses Stück zu singen. Hinzu kommt eine unbestechliche Sauberkeit aller Noten bis in die ungünstigsten Lagen und in allen Dynamikabstufungen, die sie so voll auszunutzen vermag. Äußerst angenehm fällt auch auf, dass Constance Hauman nicht zu denen gehört, die über jeden Ton ein ausgebreitetes Vibrato legen müssen, sie benutzt dieses sowie auch andere Klangeffekte nur dann, wenn es ihr auch wirklich sinnvoll erscheint und lässt sie somit nicht zur bloßen mechanischen Routine werden.

Relativ randständig genannt auf diesem Album wird Ross Pederson, der abgesehen vom Klavier für alle Instrumentals zuständig sowie für Aufnahme und Mix verantwortlich ist. Pederson schafft ein dichtes Klanggewebe, über dem Constance Hauman sich frei entfalten kann, ohne darin unterzugehen oder isoliert auf einer hohlen Begleitung zu schweben. Stets besitzt das Instrumental eine rhythmische Prägnanz und vielseitige Anlage. Insgesamt ist es recht effektgeschwängert und immer wieder durchsetzt von elektronischen Klangspektren oder Echoeffekten, welche jedoch auch nicht zu standardisiert und vor allem nicht zu übertrieben herüberkommen.

Die Programmauswahl mit vierzehn Titeln auf von Constance Hauman geschriebene Texte deckt ein breites Spektrum an verschiedensten Welten ab, die alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Kein Lied fällt auf irgendeine Art und Weise negativ aus dem Rahmen. Selbst die Improvisationen sind äußerst stringent und werden zusammengehalten durch einen bewussten Spannungsbogen, sowohl vom Gesang her als auch hinsichtlich der Begleitstimmen. Direkt vom ersten Einsatz in Dark Angel an, welches für mich sofort an erster Stelle ein absolutes Highlight darstellt, wird der Hörer gefesselt und lässt sich in alle Bereiche der menschlichen Gefühlswelt mitschleifen. Bei jedem neuen Track fiebert man aufs Neue, was nun folgen mag, und auch innerhalb der Stücke bleibt man so oft im Ungewissen, was einen als nächstes erwartet, dass einen die Spannung und die Konzentration nicht verlassen.

Ein Booklettext ist leider nicht beigegeben, und so sind alle Informationen über die Musiker, die ja doch recht aufschlussreich wären, aus dem Internet zusammenzusuchen. Dafür bietet das Begleitheft eine ausgesprochen künstlerische Aufmachung, jede Seite ist in einem neuen und stets stimmigen Stil gelayoutet und passt vollkommen zu den jeweilig abgedruckten Liedtexten. Die Sängerin stellt sich auf den beigefügten Fotos immer wieder in verschiedenem Licht dar, und so hüllt sich auch um sie eine künstlerisch geheimnisvolle Aura, die das ganze Album charakterisiert. Aufgenommen wurde die Musik zwischen 2012 und 2014 in New York City und Paris – hier steckt eine lange und ausgereifte Arbeit dahinter, und diese wird hörbar!

[Oliver Fraenzke, November 2015]

Musikalische Transzendenz

Das TenHagen Quartett spielt Schwarz-Schilling, Beethoven, Bach und Lilburn

In der Marienkirche Büdingen überraschte am Freitagabend in einem Sonderkonzert das TenHagen Quartett aus Köln mit einem so ungewöhnlichen wie anspruchsvollen Programm als Streichquartett höchsten Karats.

Die Altstadt im hessischen Büdingen zählt zu den schönsten mittelalterlichen Kulturdenkmälern Deutschlands, und mit der gotischen Marienkirche beherbergt sie einen Konzertraum von erlesener Akustik und außergewöhnlich erhabener Schönheit. Natürlich ist so ein hoher Kirchenraum nicht ohne Tücken, wenn im schnellen Tempo manches Detail in tieferen Registern erst dann ans Ohr dringt, wenn bereits der nächste hohe Ton erklingt. Da überwiegend getragene Stücke vorgetragen wurden, waren jedoch die auratischen Vorteile der Akustik weit mehr zu genießen als manche kleine Undeutlichkeit durch Überlappen des Nachhalls stören konnte. Und die vier Musiker verstanden es, spontan damit umzugehen und extremste Durchsichtigkeit und Deutlichkeit walten zu lassen.
Ein solches Quartettspiel hört man heute eigentlich nirgends. Die Musik wird mit einer logischen Verständlichkeit erfasst, die an legendäre Vorbilder wie das Busch Quartett oder das Budapest Quartet denken lässt. Und dann ist da eine Innigkeit und organische Entfaltung des Tonsatzes, die niemals auch nur die Gefahr trockener Gelehrtheit entstehen lässt. Das TenHagen Quartett besteht aus vier Geschwistern, die in der Reihenfolge ihres Alters vor uns sitzen: Primaria Kathrin ten Hagen, die bereits als Solistin am Beginn einer vielversprechenden Karriere steht (sie hat eine exzellente Aufnahme des sehr herausfordernden Violinkonzerts von Anders Eliasson vorgelegt); Leonie ten Hagen als höchst engagierte, energische und zugleich vor allem im Lyrischen aufblühende zweite Geige; Borge ten Hagen als gemütsmäßiger Ruhepol der Formation, ein umsichtig, auf Balance des Gesamten bedachter Bratschist, der manchmal akustikbedingt ein wenig im Nachteil war; und der Cellist Malte ten Hagen, ein feines Beispiel an Ernsthaftigkeit, Akkuratesse und Tonschönheit bietend, und vor allem fast durchweg mit der seltenen Gabe ausgestattet, zwar deutlich vernehmbar seine Funktion wahrzunehmen, jedoch nicht aufgrund der größeren Klangmacht seines Instruments die anderen Stimmen zu verdecken – auch dann nicht, wenn es so richtig zu Sache geht!
Mochte man bei den drei Kontrapunkten (Nr. 1, 10 und der unvollendete letzte) und dem Schlusschoral aus Bachs Kunst der Fuge noch Wünsche offen haben bezüglich der durchgehenden bezwingenden Entwicklung der Gedanken im so unglaublich komplexen vielstimmigen Satz, so ist doch zu sagen, dass dies zum Schwersten gehört, was die abendländische Musik aufzubieten hat, und dass diese Aufführung qualitativ weit über dem agierte, was wir sonst auch von sehr prominenten Ensembles zu hören bekommen. Und wie der Abbruch des unvollendeten Kontrapunkts gestaltet wurde, ließ einem geradezu den Atem stocken: kein Ausblenden der Dynamik, sondern ein Abreißen inmitten einer soeben noch unaufhaltsam scheinenden Entwicklung, als nähme der Tod dem Komponisten den Stift aus der Hand. Wenn die Musiker weiter an dieser Musik arbeiten, könnte ihnen gelingen, diese Stücke in nicht allzu ferner Zeit exemplarisch auf Weltniveau vorzustellen, und ihr Beispiel würde Schule machen.
Es folgte die extrem düster klingende Fassung des Komponisten für Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schillings letztem, 1985 komponiertem Werk, der knappen, konzis konzentrierten Studie über B-A-C-H, ein geradezu beklemmendes Bekenntnis zu einer Tradition, das gegen die Epoche des Klangeffekts um seiner selbst willen gerichtet ist und sich darin eine alle Äußerlichkeit abweisende Welt geschaffen hat. Von Leonie, Borge und Malte ten Hagen wurde dieses kompromisslose kurze Stück, das keine technischen Ansprüche stellt und nur aus der Energie der Intervalle und ungeschönten Dissonanzen lebt, mit bohrend fokussierter Strenge vorgetragen, aber auch mit einer tiefgründigen Schönheit, die suggestiv fesselte.
Danach geschah etwas, das sich mit Worten nicht beschreiben lässt. Das Adagio aus Beethovens zweitem Rassumovsky-Quartett op. 59 Nr. 2, in welchem sich auch Permutationen des B-A-C-H aufspüren lassen, gelang in einer Vollendung, wie ich es noch nie gehört habe. Die Zeit blieb stehen in einem breiten Tempo, das niemals auch nur den Anflug von Statik vermittelte, sondern mit einer verfeinerten, subtilst abschattierten und noblen sanglichen Emphase vorgetragen wurde, dass sich alle herrlichen Details zu einem unwiderstehlichen Ganzen fügten. Die Hörer folgten den Musikern in eine entrückte Welt, die eben nicht Flucht aus der Realität ist, sondern den Menschen an sein Innerstes führt. Es war ein Akt purer Transzendenz. Vielleicht, so meinten manche in der Pause, haben wir ja hier an einer Initiation teilgenommen, die uns das stilprägende Beethoven-Quartett einer wahrhaft vielversprechenden Zukunft entdecken ließ (noch haben die TenHagens keine offizielle Aufnahme gemacht, aber sie sind ja auch noch jung, und man kann nur staunen, welche Reife und selbstlose Hingabe an die Musik sie bereits jetzt auszeichnen, woran die Kurse beim legendären Altmeister Eberhard Feltz gewiss einigen Anteil haben).
Nach der Pause spielten Leonie und Borge ten Hagen zunächst die Canzonetta No. 1 vom großen Neuseeländer Douglas Lilburn, dessen hundertster Geburtstag am 2. November gefeiert wurde. Hier war es nun die vollendete Schlichtheit des Gesangs der zweiten Geige, begleitet von durchgehenden Pizzicato-Arpeggien der Bratsche, die die Hörer nach dem Beethoven-Himmel in einen neuseeländischen Himmel (man kann es kaum anders beschreiben…) mitnahmen – von einer tiefen, anrührenden und eben nicht sentimentalen Verinnerlichung des Ausdrucks getragen, und dabei leicht wie ein sanfter Windhauch, der zwischendurch etwas kräftiger wird und dann in die Stille mündet. Danach spielte Kathrin ten Hagen die Chaconne von Johann Sebastian Bach – würdig einer großen Geigerin, die keinen Vergleich zu scheuen braucht. Von manchen Traditionen und überlieferten Konzepten kann sie sich mit der Zeit noch befreien, doch hat sie alles Zeug, um zu einer überragenden Gestalt heranzureifen, und möge ihre Charakterstärke ihr helfen, mit der Bewunderung, die ihr Spiel auslöst, auf natürlichste und davon nicht zu beeindruckende Weise umzugehen.
Wie sollte nach all dem noch der Höhepunkt des Konzerts folgen? Ja, er folgte, und man kann es nur als ein Wunder bezeichnen, denn die Musiker hatten erst einen Monat zuvor erfahren, dass sie mit dem 1932 entstanden Streichquartett in f-moll von Reinhard Schwarz-Schilling eines der kompliziertesten, herausforderndsten Werke der Quartettliteratur spielen sollten, als „Einspringer“! Diesen gutwilligen Bonus brauchten sie nicht, als sie das vierzigminütige, dreisätzige Werk, eine auf die Tomsatz-Essenz reduzierte Symphonie für vier Instrumente, einem Publikum nahebrachten, in dem viele Kenner und durchaus auch einige Skeptiker saßen. Introduktion und Fuge als Kopfsatz, dann ein großes, am ehesten als brucknerisch zu bezeichnendes Adagio, und ein höchst komplexes, zyklisch verbundenes Finale. Nicht ein Hörer, der diesmal nicht begriffen hätte, dass es sich hier um ein zeitloses Meisterwerk handelt, um ein Gipfelwerk abendländischer Tradition, wie eine gewaltige Zusammenfassung der Elemente Bachs, Beethovens, Bruckners und Kaminskis in einer zwar Dur-Moll-tonalen Sprache (stark molldurchtränkt!), jedoch in der dramatischen Expressivität zugleich unbestreitbar Dokument der expressionistischen Epoche mit intensiv tragischer Tönung, und mit einer archaischen Kraft und Erzählkunst, die manchen an eine antike Tragödie denken ließ. Hier werden alle Aspekte der Quartettkunst gefordert, extreme Selbständigkeit der vier Stimmen und zugleich vollkommene Verschmelzung, heroischer Ausdruck und lyrische Intimität, romantische Breite und Schönheit und präzise-musikantische Zuspitzung der rhythmischen Komplikationen, kollektives Rubato in eng verzahntem Kontrapunkt, kraftvoll flammende Melismatik mit fast orientalischer Eleganz, wuchtigstes Pesante und überirdische Leichtigkeit, und über all dem die Entwicklung der durchgehenden organischen Formung, des bezwingenden Zusammenhangs.  Die Konzentration hielt bis zum Schluss bei Ausübenden und Zuhörenden, schien fast noch zuzunehmen, mit zum Bersten ausgereizter Spannung an den Höhepunkten, mit Phasen meditativer Versenkung, die einige an Arvo Pärt (!) erinnerten, in unerhörtem Wechsel vom Explosiven zum Schwerelosen, vom stringent Drängenden zum momentweisen Erreichen eines Elysiums. Großartiger kann Quartettkunst eigentlich nicht sein, und doch bin ich sicher, dass dieses Quartett, macht es so offenen Ohrs und Gemüts weiter, uns noch ungeahnte Dimensionen des Ausdrucks und darüber hinaus eröffnen wird. Ein so erschütterndes wie anrührendes und beglückendes Erlebnis transzendenten Musizierens.
Nicht vergessen seien zwei Orgelwerke im ersten Teil – zu Beginn des Konzerts Bachs Fuga sopra Magnificat und (nach der B-A-C-H-Studie) Schwarz-Schillings nichts weniger als großartiges Präludium und Fuge –, die von der jungen, hochbegabten Organistin Geraldine Groenendijk in erfrischend klarer, erstaunlich innerlich erfasster Weise und mit geschmackvoll-prächtiger Registrierung vorgetragen wurden.
So sollten unsere Konzertprogramme öfter zusammengestellt und aufgeführt werden.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, November 2015]