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Warum wir Mozart zwei Mal aufnahmen

Interview mit Sebastian Bohren, Mai 2021 – geführt durch Oliver Fraenzke

Eine Aufnahme korrigierend zu wiederholen darf als gewagter Schritt bezeichnet werden: gerade in der heutigen Zeit, die charakterisiert wird einerseits durch eine Vielzahl an Möglichkeiten technischer Nachbearbeitung, andererseits durch eine Schnelllebigkeit und dadurch eine gewisse „Zweckmäßigkeit“ des Musikmarktes.

Der junge Schweizer Violinist Sebastian Bohren ließ sich davon nicht abhalten. Unzufrieden mit seiner Aufnahme der Violinkonzerte in G-Dur KV 216 und A-Dur KV 219 von Wolfgang Amadeus Mozart aus dem Jahr 2018, entschloss sich Bohren nach dem ersten Corona-Lockdown, die beiden Konzerte am selben Ort und mit den selben Mitstreitern erneut einzuspielen. So entstand im Juni 2020 gemeinsam mit den CHAARTS Chamber Artists unter Leitung von Gábor Takács-Nagy die nun erscheinende Neuaufnahme. Im Interview mit Oliver Fraenzke erzählt er von Mozart und dem steinigen Weg zu seiner neuesten CD.

OF: Nun gehören die Solokonzerte Mozarts ja zum viel gespielten und oft aufgenommenen Standardrepertoire, so dass bereits eine große Anzahl beachtlicher bis herausragender Aufnahmen existiert. Wieso haben Sie sich angesichts dessen entschieden, sie dennoch einzuspielen?

SB: Ja, tatsächlich. Ich glaube, ein junger Musiker muss sich zwar mit Raritäten, mit unbekanntem oder neuem Repertoire eingehend beschäftigen, darf sich aber auch nicht scheuen, die ganz großen Werke des Kanons früh und mit hohen Ambitionen anzugehen. Es geht letztlich bei jedem Repertoire um die Qualität und die Ernsthaftigkeit, die man als Interpret erreichen kann. Wie sehr schafft man es, der Musik gerecht zu werden?

OF: Allgemein gefragt, was macht Mozart so einzigartig?

SB: Mozart war die größte musikalische Begabung, die je gelebt hat. Das ist einzigartig. 

OF: Haben Sie gewisse Idole, was die Darbietung der Violinkonzerte betrifft? Und was hebt Ihre Anschauung dieser Stücke von jenen ab?

SB: Idole sind oft zu stark einschränkend, weshalb ich versuche, mich dahingehend zurückzuhalten und mich unbefangen der Musik zu nähern. Christian Tetzlaffs Spiel empfand ich im Konzert als passend zu Mozart. Ich versuche vor allem durch die Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk Mozarts einen Schlüssel zu seinen Violinkonzerten zu finden. 

OF: An Ihrer Seite befinden sich die CHAARTS Chamber Artists, ein Ensemble ausschließlich aus profilierten Streichquartettspielerinnen und -spielern. Wie wirkt sich dies auf den Gesamtklang aus?

SB: Durch ein intensiveres „Aufeinanderhören“. CHAARTS ist ein Ensemble mit sehr starken Persönlichkeiten, das schafft Profil und kommt der Musik zugute. Jeder für sich ist ein individueller Charakter mit besonderen Stärken, gleichzeitig durch das Quartettspiel fähig, den eigenen Klang in den Dienst des Ensembles zu stellen und mit diesem zu verschmelzen. Die fehlende Routine eines permanent spielenden Kammerorchesters könnte sich natürlich auch negativ auswirken zum Beispiel bei der Balance im vierstimmigen Satz und der allgemeinen Homogenität. Um dem entgegenzuwirken, versuchen wir vor gemeinsamen CD-Aufnahmen immer, Konzerte zu spielen, damit wir dann wirklich wie ein großes Streichquartett klingen. Das Streben nach Qualität in allen Aspekten steht im Zentrum. 

OF: Und auch Dirigent Gábor Takács-Nagy etablierte sich zunächst als Violinist und Primarius des Takács-Quartetts. Welche Einsichten bringt er vom Pult aus in die Musik? Welche Verbindung hat er zu Mozart?

SB: Gábor Takács-Nagy ist für mich ein musikalisches Phänomen. Er geht außerordentlich belebend an die Musik heran, was extrem gut zu Mozart passt. Die Musiker werden permanent stimuliert, aus jeder einzelnen Begleitung und jeder noch so unscheinbaren Wendung das Augenzwinkern Mozarts herauszukitzeln. Der unberechenbare, übermütige Mozart, wie wir ihn aus den Briefen kennen, wird hier lebendig. Er wird nicht zu einem Monument des Schönklangs „versteinert“.

OF: Eine Aufnahme nach zwei Jahren zu wiederholen, das ist ein wagemutiger Schritt. Was gab den Ausschlag für diese Entscheidung?

SB: Für mich war klar, dass ich keine Kompromisse in der Qualität meiner Arbeit machen werde; ich muss da meinen eigenen Ansprüchen treu bleiben. Das alles noch einmal auf die Beine zu stellen, war für mich eine ungemein kraftvolle Erfahrung. Es hat mich tief berührt, wie sehr meine Entscheidung und meine Klarheit diesbezüglich von meinem Umfeld, den Musikern und einem sehr breiten Gönnerkreis sofort verstanden und unterstütz wurden. 

OF: Wie unterscheiden sich die Aufnahmen von 2018 mit denen von 2020? Inwieweit haben Sie sich selbst in dieser Zeit weiterentwickelt?

SB: 2018 war ich – wie ich im Nachhinein feststellte – geigerisch nicht genügend vorbereitet. Entsprechend klang die Aufnahme zwar korrekt, aber nicht ausreichend durchdrungen und dadurch gezwungenermaßen angepasst. Ich wusste von meinen guten Erfahrungen mit Schubert, dass mir Mozart eines Tages liegen würde, habe die Stücke damals allerdings noch nicht zu Ende gearbeitet. Im Lockdown 2020 nahm ich das dann mit einer Vehemenz in Angriff, die mich sehr stolz macht. Natürlich ist man als Künstler niemals ganz zufrieden und denkt immer, man könnte es noch besser machen. Aber hinter dem jetzigen Resultat kann ich wirklich stehen: Da ist jeder Takt mit Liebe gespielt. 

OF: Auf welche Weise ließ sich solch ein Unterfangen überhaupt realisieren?

SB: Ich habe die Idee in Windeseile unter meinem Konzertpublikum verbreitet und innerhalb weniger Tage ca. 20’000 CHF sammeln können. Es war einfach genau der richtige Zeitpunkt. Wir hatten auch Glück, die gleichen Musiker am gleichen Aufnahmeort versammeln zu können. Das war Wahnsinn! 

OF: Sie sprechen vom „richtigen Zeitpunkt“: Wie beeinflussen die Lockdowns denn das Spielen wie auch das Hören?

SB: Ich spiele zurzeit viel lieber, weil ich weniger spiele. Auch in Zukunft will ich mehr auswählen, was ich spielen möchte: Die Qualität ist das einzige Kriterium. Wie sich das Publikum nach der Pandemie entwickeln wird, das weiß ich noch nicht. Ich bleibe aber Optimist!

OF: Was denken Sie: Wie könnte das Konzertieren nach der Pandemie weitergehen?

SB: Ich glaube, Vieles wird sehr schnell wieder sein wie vorher. Die, die gerne klagen, werden weiterklagen; dafür werden aber auch die, die immer einfach versuchen, die Dinge in die Hand zu nehmen und Lösungen zu finden, es ebenso weiter tun. 

[Das Interview führte Oliver Fraenzke]

Ein Einblick in die Welt von Grieg

Wilhelm Ohmen präsentiert in seinem Band „Mein erster Grieg“ die laut ihm „leichtesten Klavierwerke“ von Edvard Grieg mit einer Auswahl aus den Lyrischen Stücken (op. 12: 1, 2, 3, 4, 6, 7, 8; op. 38: 2, 5, 7; op. 43: 1, 2; op. 47: 3; op. 54: 4; op. 68: 1; op. 71: 3, 7) und Ausschnitte aus den Peer-Gynt-Suiten in Griegs eigenem Arrangement (Morgenstimmung vierhändig; Åses Tod; Solveigs Lied).

Kaum eine Musik wirkt so natürlich, ungekünstelt, so schillernd lyrisch und so malerisch wie die von Edvard Grieg. Besonders sein Hauptinstrument, das Klavier, bedachte er mit einer Vielzahl an Kompositionen, von schlichten Miniaturen hin zu großen Konzertwerken wie der Sonate op. 7 oder der Ballade op. 24. Um den Umfang einzuschätzen: Für seine Gesamtaufnahme teilte der Pianist Einar Steen-Nøkleberg das Klavierwerk Griegs auf 14 CDs auf. So ist es sehr zu begrüßen, einen pianistisch einfachen Einstieg in dieses Œuvre zu gewinnen, was Wilhelm Ohmen mit vorliegendem Band versucht.

In der Auswahl an Stücken orientiert sich Ohmen alleinig an den 66 Lyrischen Stücken sowie Griegs eigenen Klavierversionen der Peer-Gynt-Suiten. Schade, denn viele andere großartige Sammlungen (mit auch spielbaren und teils sogar noch leichteren Stücken) bleiben vollkommen außen vor, so unter anderem die Opera mit Volksliedbearbeitungen, wovon besonders op. 17 und op. 66 einen guten Einstieg geben würden; nicht zu vergessen die zahlreichen kleineren, weniger Popularität genießenden Opera, Einzelstücke und Liedbearbeitungen.
Die Auswahl in „Mein erster Grieg“ beginnt mit dem berühmten ersten Band der Lyrischen Stücke, dem Opus 12: Dies mag nicht verwundern, schließlich komponierte Grieg diese Sammlung zu pädagogischen Zwecken für seine Schüler. Dieses Opus wurde bis auf die Nummer fünf vollständig abgedruckt, was jedoch irritiert, ist dies schließlich die technisch einfachste und zumal eine der ansprechendsten Nummern aus dem Zyklus. Statt dieser hätte man eher verzichten können auf die sperrige Nummer acht, Vaterländisches Lied, oder die wesentlich anspruchsvollere Nummer vier, Elfentanz.
Aus dem Zweiten Band, dem op. 38, sparte Ohmen alles aus, was triolische gegen duolische Spielweise verlangt, was auch mit die Hauptschwierigkeit dieses Opus ist. Springdans ist aufgrund der Geschwindigkeit (von Ohmen immerhin von Vierteltempo 180 auf 132–140 heruntergesetzt) dennoch ein kniffeliges Stück; möglicherweise wäre die Elegie eine Alternative hierfür gewesen trotz der Konfliktrhythmik, die hier jedoch erstaunlich gut in die Hände geht.
Eine technisch neue Liga betritt der Band mit op. 43, einem Zyklus mit frühlingshaften und heimatverbundenen Charakterstücken. Hier entschied sich Ohmen für die ersten zwei Nummern, wobei ich die Wahl des Schmetterlings op. 43/1 nicht nachvollziehen kann, da es sich um eine der vertracktesten und technisch wie musikalisch diffizilsten Nummern der Lyrischen Stücke handelt. Um einen Halbton von fis nach f oder g versetzt, wäre In der Heimat op. 43/3 prädestiniert für solch eine Sammlung gewesen.
Die Auswahl aus den Bänden opp. 47 und 54 macht durchaus Sinn, hier gibt es wenig „leichte“ Stücke; höchstens das Glockengeläute op. 54/6 hätte den Band noch bereichern können: Dieses bricht erstmals in Griegs Schaffen mit der Funktionsharmonik und weist klar in Richtung Debussy, was ihm besondere Bedeutung verleiht.
Die Opera 57, 62 und 65 sparte der Herausgeber vollkommen aus, was insofern verwundert, als hier einige hinreißende wie spielbare Nummern zu finden wären: aus dem Opus 57 die Nummern zwei, drei, vier und sechs und aus 62 und 65 jeweils die Nummern zwei und fünf.
Zu den leichtesten Opera gehört neben dem Ersten Band auch das Opus 68, woraus höchstens die letzte Nummer ein höheres technisches Niveau verlangt. Hier wählte Ohmen lediglich das Eröffnungsstück.
Der von Grieg auch als solches intendierte letzte Band op. 71 endet, wie alles begann: In Nachklänge zitiert er die Arietta op. 12/1. Ohmen nahm dieses in „Mein erster Grieg“ auf, neben diesem fügte er noch den Kobold hinzu, der nicht nur technisch enorm diffizil ist, sondern zudem sechs b-Vorzeichen vorschreibt. Statt diesem hätte ich eher die Nummer sechs, Vorüber, gewählt.
Aus Griegs eigenen Klavierarrangements der Peer-Gynt-Suiten können hier Åses Tod und Solveigs Lied gespielt werden sowie, technisch im Primo komplex, im Secondo sehr leicht, die Morgenstimmung vierhändig. Diese Auswahl trifft also die „Hits“ der „Hits“ der gewichtigen Bühnenmusik, deren stärkste Passagen man leider so gut wie nie zu Gehör bekommt. So sehr die Orchesterversion schillert, so plump wirken die Bearbeitungen leider auf dem Klavier, geben selbst bei exzellenter Darbietung höchstens einen schwachen Abglanz der grandiosen Instrumentation.

Die Edition orientiert sich an der Ausgabe der Edition Peters durch Dag Schjelderup-Ebbe. Die meisten Fingersätze wurden übernommen, lediglich einige wenige ergänzt oder verändert, wobei ich bei diesen keine merklichen Verbesserungen ebenso wenig wie Verschlechterungen beobachte: beide zeigen gültige Alternativen. Auch bezüglich des Layouts wird die Edition Peters größtenteils kopiert, was die Aufteilung auf Seiten und Systeme betrifft: Der Puck wird etwas anders auf die Systeme verteilt und die Melodie teilt die Edition auf vier statt wie bei Peters auf drei Seiten auf. Insgesamt sieht diese neue Schott-Edition durch den Neusatz freilich moderner und sauberer aus als die alte, nachgedruckte Peters-Edition.
Einzige Unterschiede liegen in den Metronomangaben, die Ohmen teils merklich veränderte, sowie einer Tempobezeichnung. Der Fehlerteufel schlich sich ein beim Albumblatt op. 12/7, wo der Vorschlag in T. 6 (sowie den Parallelstellen T. 30, und 54) ein e“ statt ein fis“ abbildet, was sämtliche andere Edition negieren; ein Staccato in T. 4 wurde vergessen.

Ein kurzes Vorwort des Herausgebers leitet in die Edition ein, welches leider wenig fundiert erscheint. Zum einen wurde der Violinist Ole Bull als zentralster Einfluss Griegs und dessen Weg hin zur Nationalromantik ausgespart: Bull erst empfahl ihm, Musiker zu werden und nach Leipzig zu gehen, wo er sein Handwerk erlernte. Später war er es, der Grieg riet, sich von Nils Gade und den europäischen Komponisten fortzureißen und einen eigenen Weg zu betreten. Zum anderen heißt es, dass Grieg „bewusst einen Gegenpol zur deutschen Romantik“ bildet, was falsch ist, da er sich eben dieser Tradition bewusst war und sie pflegte, was nicht zuletzt das populäre, an Schumann angelegte Klavierkonzert a-Moll op. 16 beweist, ebenso einige klar an Mendelssohn und an Chopin gemahnende Opera.

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass sich der Band „Mein erster Grieg“ durchaus als Einführung in die Welt des Norwegers lohnt, wenn man noch überhaupt nicht vertraut ist mit dessen Werk, zumal der Band mit einem Preis von 14,50 € erschwinglicher ist als die Gesamtausgaben von Peters (Lyrische Stücke komplett: 32,95 €; op. 12 alleine: 9,95 €). Wer allerdings tiefer eindringen will und auf eigene Faust die Tiefen des Grieg‘schen Kosmos (bzw. allein der Lyrischen Stücke!) erkunden will, dort auf einige leichter spielbare und möglicherweise noch lohnenswertere Kompositionen stoßen will, der wird weiterhin nicht um die Bände der Peters-Gesamtausgabe herumkommen.

[Oliver Fraenzke, April 2021]

Schubert: depressiv, lyrisch und dann doch wieder versöhnt

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 312; EAN: 4 260052 383124

Drei Sonaten in A von Franz Schubert werden durch die Pianistin Elena Margolina für die Ars Produktion eingespielt. Sie beginnt mit der Klaviersonate a-Moll D 784 aus dem Jahr 1823, kontrastiert mit der pastoralen A-Dur-Sonate D 664 (1819) und schließt mit der umfangreichen, weitschweifenden a-Moll-Sonate D 845, die Schubert 1825 den Weg wies in Richtung seiner monumentalen, bedauerlicherweise letzten Sonaten.

Wer unbefangen dem Klavierschaffen von Franz Schubert gegenübersteht, mag zunächst verdutzt sein von den weiten Formen, dem scheinbar kontrastlosen Themengebrauch und den damit verbundenen teils eigenwillig erscheinenden Proportionen. Die Noten wirken geradezu kahl, wenn man Mozart und Beethoven gewohnt ist. So verwundert nicht, dass die bedeutenden Werke dieses Meisters erst im 20. Jahrhundert voll zur Blüte kamen, im großen Stile vor allem entdeckt durch die Pianisten Eduard Erdmann und Artur Schnabel, die zudem mit die vollendetsten Aufnahmen schufen. Und bis heute werden die meisten der Werke nur selten gespielt, höchstens die Impromptus und die letzten drei Sonaten finden regelmäßigeren Einzug in Konzertprogramme; von den pianistisch größtenteils undankbaren, schwer greifbaren und noch schwieriger auswendig zu lernenden früheren Sonaten halten die meisten Abstand.

Alfred Brendel nannte Schubert einen komponierenden Schlafwandler, was die formalen Konstruktionen durchaus griffig beschreibt: anders als Beethoven, der ein architektonisches Gerüst schuf und mit den Kontrasten jonglierte, scheint sich Schubert in seinen Kompositionsprozess zu verlieren, prozessiert sein Material immer weiter durch und führt es geradlinig fort. Mit Willkür hat das Konzept dabei nichts zu tun, die Musik schreitet geradlinig und zusammenhängend voran, spannt dabei große Bögen und wirkt in der Gesamtheit doch stimmig ausproportioniert. Nichtsdestoweniger stellt eine Adäquate Darbietung dieser Werke eine enorme Herausforderung dar: schnell können die, wie Schumann es bezeichnete, „himmlischen Längen“ langatmig wirken oder die aneinandergereihten Elemente auseinanderfallen. Schuberts Werke erscheinen als epische Erzählungen, die in die Ferne blicken und doch jedes Detail würdigen. Dies pianistisch umzusetzen, geht an die Grenzen des mental Erfassbaren.

Elena Margolina widmet sich schon lange dem Klavierschaffen Schuberts und brachte bei der Ars Produktion bereits mehrere Alben mit dessen Musik heraus. Entsprechend vertraut wirkt sie in dieser Aufnahme nicht nur mit den Stücken an sich, sondern mit der allgemeinen Stimmung und der doppelbödigen Aura, die Schuberts Musik umgibt. So handelt es sich allgemein um eine wirklich gelungene Einspielung der drei Sonaten in A, welche die Formen bewältigen und den erzählerischen Gestus stimmig vermitteln.

Eine bei Schubert komplexe Frage ist die nach den Expositionswiederholungen: Selbst bin ich der Auffassung, der vorwärtstragende Duktus und die melodiöse Geradlinigkeit verweigern das erneute Beginnen von vorne, unterstrichen durch die enorme harmonische Fortschreitung. (Den Extremfall stellt die letzte Sonate, in B-Dur, dar, bei welcher Schubert für die Wiederholung eine viele Takte umspannende Rückführung komponieren musste, um harmonisch zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es darf die Behauptung aufgestellt werden, diese Takte inklusive der Wiederholung dürfen getrost weggelassen werden, da sie nur dem Formideal der auslaufenden Wiener Klassik geschuldet sind und sich Schubert schlicht nicht traute, dieses auf dem Papier zu durchbrechen, während seine Musik doch nach ganz anderen Wegen schrie. Ausschließlich in den Impromptus wagte er, angespornt von der hierin erlangten formellen Freiheit, den Ausbruch.) Die munter-spritzige A-Dur-Sonate D 664 erlaubt es durchaus, die Exposition zwei Mal zu spielen, schwieriger wird es bei der umfangreicheren Sonate a-Moll D 845, wo durch die Wiederkehr ein deutlicher Bruch entsteht. Klar erscheint es schließlich bei der Sonate a-Moll D 784, die zum Ende der Exposition so weit prozessiert ist, dass eine Umkehr wie fehl am Platz wirkt: Hier hätte Elena Margolina eher das Tempo (Moderato!) ein kleines Stück herunterfahren, vom Alla Breve auf den vorgeschriebenen 4/4-Puls zurückkehren, und dafür die Form durch Auslassen der Wiederholung straffen können.

Den Kopfsatz der Sonate D 784 nimmt Margolina rasch und lebendig, behält stets die drohenden Elemente im Hinterkopf und bringt so eine intensive Darbietung hervor. Die Kontraste lässt sie durchaus aufklaffen, ohne dabei – und dies sei besonders hervorgehoben – im Anschlag Härte zu zeigen. Zu keiner Zeit lässt sie die Akkorde und selbst die Akzente knallen, sondern behält immer eine weiche Note, die Schuberts von der menschlichen Stimme herrührender Kompositionsweise entspricht. Schubert sprach selbst aus: „[W]eil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann.“ Damals wie heute wahre Worte, und so erfreut Elena Margolinas abgerundete Tongebung umso mehr. Auch ihr Pianissimo, namentlich gegen Ende des Kopfsatzes und im Mittelsatz, überzeugt durch lyrische Klanggestaltung und vielschichtige Dynamikabwägung. Das Finale braust voran und auf, Elena Margolina nimmt es als stürmisch-unruhige Fantasie und nimmt sich einige kleine Freiheiten, die aber der Musik sehr zugute kommen. Einzig stört die durch Pausen unterbrochene Linie nach den Fortissimo-Doppelläufen: denn sie wirkt wie auf den Taktschwerpunkt komponiert und nicht, wie in den Noten steht, eben dagegen. Gleiches fällt teils in der anderen a-Moll-Sonate auf. Solch synkopische Wendungen sind freilich nur schwerlich umzusetzen, dafür frappieren sie dann umso mehr.

Die späteste der drei hier zu hörenden Sonaten, die in a-Moll D 845, besticht unter den Fingern von Elena Margolina durch unerbittlichen Zug nach vorne ohne Rast und Halt, was eine enorme Wirkung erzielt. Besonders die brodelnden Crescendopassagen seien hervorzuheben, die sich nie voll entladen, sondern in voluminöse Forti und Fortissimi münden, was den Ausdruck unterstreicht. Der Andantesatz singt förmlich und wirkt auch in den virtuosen Variationen schlicht und zärtlich. Innerlich aufwühlend braust das Scherzo auf, das uns packt und bis zum Ende nicht mehr loslässt, obgleich es mit siebeneinhalb Minuten Spielzeit ein für das knappe thematische Material recht langer Satz ist. Ein finales Rondo rundet die Sonate ab, auch dieses drängt nach vorne, basiert auf rein introvertiertem Effekt ohne jegliche Äußerlichkeit. Elena Margolina nimmt es in einem großen Zug, spannt einen einzigen Bogen.

Gegenüber den beiden düsteren Mollsonaten fungiert die A-Dur-Sonate wie ein versöhnlicher Gegenpol: eines der ganz wenigen wirklich durchgehend friedlichen Werke Schuberts. Ein unscheinbarer Moment muss an dieser Stelle erwähnt werden, nämlich die Oktavenpassage des Kopfsatzes, die selten so stringent und lyrisch zu hören ist wie in dieser Einspielung Elena Margolinas.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Der schmale Pfad hindurch

Farao Classics, B 108108; EAN: 4 25438 081083

Hinter dem Titel „Skylla und Charybdis“ steckt eine Aufnahme von Kammermusikwerken des Komponisten und Cellisten Graham Waterhouse. Zu hören sind seine Rhapsodie Macabre für Klavier und Streichquartett, Bei Nacht op. 50 für Klaviertrio, Trilogy für Klavierquintett, Bells of Beyond für Klaviertrio, Kolomyjka op. 3a und Skylla und Charybdis je für Klavierquartett. Es spielen Katharina Sellheim am Klavier, David Frühwirth und Namiko Fuse an den Violinen, Konstantin Sellheim an der Viola und der Komponist selbst am Violoncello.

Die Kammermusik spielte für den 1962 in London geborenen und in Deutschland lebenden Komponisten und Cellisten Graham Waterhouse seit dem Beginn seiner Laufbahn eine wichtige Rolle. Die wechselnden Verhältnisse der Stimmen, das Changieren von Führungsrollen, die gegenseitige Orientierung und das generelle Wachsen aneinander inspirieren ihn zu Werken unterschiedlichster Ausrichtung. Mit dem Titel der CD „Skylla und Charybdis“ thematisiert er sein eigenes Ringen um den Kompositionsprozess. Hinter den Namen verbergen sich die Meeresungeheuer aus der Odysseus-Sage der griechischen Mythologie, zwischen denen der Seefahrer hindurchschiffen muss, ohne einem dieser zu nahe zu kommen und dadurch von ihnen in die Tiefe gerissen und verschlungen zu werden. Als Redewendung etablierte sich „Du hast die Wahl zwischen Skylla und Charybdis“ als „Du musst dich für eines von zwei Übeln entscheiden“. Für Graham Waterhouse stehen diese beiden bedrohlichen Ufer für verschiedene, jeweils gegensätzliche Aspekte des Komponierens in der heutigen Zeit: Tradition und Fortschritt, Tonalität und Atonalität, Regel und Freiheit. Wie Odysseus schifft er nun zwischen den gewaltigen Ungeheuern und bahnt sich seinen Weg. Dabei arten seine Werke vollkommen unterschiedlich aus, jedem Werk verleiht er eine andere Richtung und geht vollkommen unbefangen an es heran. Seinem facetten- und farbenreichen Kompositionsstil entspringen so ganz verschiedenartige Werke voll Frische und Lebendigkeit, die das Hören nie ermüden lassen.

Durch seine eigene rege Konzerttätigkeit als Cellist kommt Graham Waterhouse auch viel in Kontakt mit führenden Musikerinnen und Musikern, was die (für eine CD mit zeitgenössischer Musik erstaunlich) prominente Besetzung erklärt: David Frühwirth, seit diesem Monat Violinprofessor in Wien, ist ein gefragter Geigensolist und brachte durch Konzerte und Aufnahmen immer wieder auch seltenes Repertoire zu den Hörern. Die Geschwister Katharina und Konstantin Sellheim treten regelmäßig als Duo in Erscheinung, spielen altes wie neues Repertoire für Viola und Klavier; Katharina Sellheim ist zudem eine renommierte Liedbegleiterin. Namiko Fuso spielt zweite Geige bei den Münchner Philharmonikern und tritt ebenso als Kammermusikerin in Erscheinung, vor allem als Mitglied des Parnass-Quartetts.

Die CD beginnt mit der fünfsätzigen Rhapsodie Macabre, einer Art „Dialog-Klavierkonzert“ mit Streichquartett. In der Konzeption dieses Werks spiegelt sich Waterhouses Fahrt durch die Meerenge der Ungeheuer wider: Er sieht sich einerseits als Bestandteil der Tradition der Totentanzkomponisten inklusive des Einwebens der berühmten Dies-Irae-Melodie, andererseits beschreitet er innerhalb dieser gänzlich neue Wege. Als Grundelement dienen markante Motive und auch Klangfarben, die Waterhouse gegeneinander ausspielt, dynamisch auflädt und kulminieren lässt. Ein treibend rhythmisches Element zieht in seinen Bann. Interessanterweise wirkt der Tod bei aller Wildheit und Ungezügeltheit selten furchteinflößend, sondern bisweilen gar sympathisch; er scheint schelmisch zu lachen und sich diabolisch zu amüsieren.

Umso düsterer erscheint Bei Nacht op. 50, das mit dem Genre der Nocturne nichts mehr gemein hat. Inspiriert durch Kandinskys Ölgemälde Die Nacht mit deren gespenstischen Figuren schafft Graham Waterhouse eine imaginäre, furchteinflößenden Szenerie. Nicht eine Sekunde kommt Ruhe oder gar Behaglichkeit in der dunklen Landschaft auf, immer wieder überraschen flüchtige, unstete Figuren den Hörer und treiben durch ihre Unregelmäßigkeit die Spannung trotz der niedrigen Grunddynamik und der durchgehenden Introversion auf die Spitze.

Ein aufheiterndes Zwischenspiel stellt Trilogy für Klavierquintett dar, in welchem Graham Waterhouse anlässlich eines deutsch-französischen Galakonzerts die Nationalhymnen dieser beiden Länder als Material verwendet und sie in ein einträchtiges Miteinander verschmelzen lässt. Und plötzlich funkt auch die Hymne seines Heimatlandes England mit hinein und ergänzt das Stück zu einer Trilogie, einem harmonischen Zusammenspiel dreier Länder.

Bells of Beyond (Glocken des Jenseits) komponierte Waterhouse zum Angedenken an Dafydd Llywalyn, der 2013 verstarb. Es handelt sich um ein misteriös-gruseliges, dabei flächig schwebendes Werk, das die Schwingungen von Glockenklängen zum Stillstand zu zwingen scheinen. Obgleich es durch erweiterte Spieltechniken und geräuschhafte Passagen als „stilistisch modernstes“ Werk dieser Einspielung wirkt, basiert es auf melodiös-thematischem Material und führt auch die Klangflächen wie Themen durch. Erneut begibt sich Graham Waterhouse auf den schmalen Pfad zwischen den beiden Polen, zwischen Skylla und Charybdis.

Ein zweites Intermezzo stellt Kolomyjka op. 3a dar, bereits 1980 komponiert, als Graham Waterhouse gerade einmal 18 Jahre alt war. Im direkten Kontrast zu Bells of Beyond ist dies das tonalitätsgebundenste Werk dieser Einspielung, beschwingt durch seine heitere Stimmung und den tänzerischen Duktus, der die Stimmung eines polnisch-ukrainischen Tanzes evoziert.

Das titelgebende Werk Skylla und Charybdis für Klavier und Streichtrio steht an finaler Stelle dieser CD. Obgleich dem viersätzigen (jedoch in Einheit ohne Pausen vorzutragenden) Werk kein Programm zugrunde liegt, tun sich allein aufgrund des Titels sogleich abstrakte Bilder auf: Als Hörer sieht man das abgrundtiefe Meer, die sich schlängelnden Ungeheuer aufbäumen und um Vorherrschaft ringen, spürt die Gischt auf der Haut und die Furcht der Seefahrer aufwühlen. Jenseits dieser Bilder ist es vor allem die Bewegung, die den Höreindruck ausmacht; die Musik steht nie still, sondern kriecht, schlängelt, richtet sich auf, stürzt hinab, in stetigem Fluss. Dabei wägte Waterhouse präzise die Proportionen ab und schuf ein in sich völlig stimmiges, kompaktes Werk von überbordender Wirkung.

Das Facettenreichtum der Stücke spiegelt sich auch im Spiel der Musiker wider, die hingebungsvoll auf den vielseitigen Personalstil von Graham Waterhouse eingehen. In sämtlichen zu hörenden Konstellationen vom Trio bis zum Quintett agieren die Musiker im einheitlichen Atem und klanglich wohl austariert. Besonders die Rhapsodie Macabre und das Titelstück stellen das Zusammenspiel aufgrund der stetigen Führungswechsel und der vertrackten Dialogbeziehung zwischen den einzelnen Instrumenten auf eine harte Probe, welcher die fünf Instrumentalisten jedoch spielend gewachsen sind. Gerade das Klavier mischt sich fein mit dem kontrastierenden Streicherklang. Und auch die Streicher verlassen sich nicht rein auf einen homogenen Klang, sondern nutzen gerade die verschiedenartige Physionomie der Instrumente zur Herausmeißelung feinster Kontraste, die das Vielseitige im Einheitlichen hervorheben.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

[Link zum gestreamten Konzert mit CD-Präsentation und anderen Werken von Graham Waterhouse]

Ein Fenster ins Studio

Schott; ED 22116; ISBN: 978-3-7957-0872-6

In seinem Einführungswerk „Crashkurs Musikproduktion“ bringt uns Friedrich Neumann einem Gebiet näher, dass vor allem von klassischen Musikern weitgehend gemieden wird: Aufnahmetechnik. Was für einen Pop- oder Rockmusiker zumindest zu einem gewissen Teil als Alltag erscheint und dem Jazzer immerhin teilweise vertraut wirkt, mag klassische Musiker schon beim ersten Anblick abschrecken: verschiedenartige Kabel, Knöpfe, Anschlüsse, Geräte, diffizile Software und viel zu viele technische Möglichkeiten der Klangbearbeitung. Dabei will man doch nur den Instrumenten- oder Stimmklang so natürlich wie möglich festhalten! Doch dass man gerade dafür vielseitiges Wissen braucht, erklärt sich wohl von selbst. Und Friedrich Neumanns Buch darf als glänzende Möglichkeit angesehen werden, die Ängste vor diesem Gebiet zu überwinden und das Interesse an Aufnahmetechnik zu wecken.

Egal, ob man sich selbst ins Studio stellen will, oder einfach nur eine Übersicht über die gängigsten Prozesse der Musikproduktion erhalten will, dieses Büchlein stellt einen idealen Einstieg dar. Wir werden bewahrt vor einer Flut an für den Laien überflüssigen Informationen, die wir nicht verwerten könnten, sondern lesen ausschließlich über das, was für den Beginn von Nöten ist. Natürlich ersetzt der Crashkurs keine entsprechende Ausbildung in dem Bereich und gibt auch keinen Einblick in die tatsächliche Studioarbeit mit konkreten Programmen oder Geräten – doch wie Friedrich Neumann dazu schreibt: Soft- wie Hardware entwickeln sich so schnell weiter, dass das Buch veraltet wäre, bevor es überhaupt erscheinen kann. Entsprechend bleibt er bei einem generellen Überblick und schematisiert vor allem die Softwareoberflächen allgemeinverständlich, was man später in der Praxis gut auf die jeweiligen Programme übertragen kann.

Das Wissen wird kompakt und gut gegliedert vermittelt: Jedes Kapitel erhält eine andere Grundfarbe als Schema, so dass man auf den ersten Blick das Gesuchte findet. Eine Audio-CD mit einer Laufzeit von knapp fünfzehn Minuten zeigt praktisch, was theoretisch beschrieben wird. Schaubilder und schematische Darstellungen verbildlichen jeden Abschnitt, so dass eine vielseitige Informationsaufnahme gewährleistet wird. Auch als technikunerfahrener Leser versteht man jeden Schritt und jede der beschriebenen Funktionen; man muss erstaunlich wenig lesen, sondern kann vieles den Abbildungen entnehmen. Allgemein ist das Buch sehr aufwändig und wohlproportioniert gestaltet, wirkt mit einem Ladenpreis von 15,50 € im Shop von Schott gar als Schnäppchen.

Das Buch beginnt mit einem verknappten Einblick in die Aufnahmegeschichte vom Phonographen und dem Grammophon bis hin zu heutigen digitalen Medien; dabei konzentriert sich Neumann auf die wichtigen, marktführenden Apparaturen und lässt einige Versuche auf der Seite, die sich weniger etablieren konnten. Von dort steigen wir ohne Umwege in die Musikproduktion selbst ein, wobei Schritt für Schritt von der Aufnahme zum fertigen Mix vorgegangen wird. Deshalb fängt der Crashkurs mit der Mikrofonisierung an, stellt zunächst unterschiedliche Typen von Mikrofonen mit deren Eigenschaften sowie Vor- und Nachteilen vor, und widmet ein weiteres Kapitel den verschiedenartigen Aufstellungsmöglichkeiten, macht dabei vor allem auf geläufige Fehler aufmerksam. An dieser Stelle hätte ich mir noch ein paar CD-Beispiele gewünscht, auf dem Begleitmedium hören wir nur je zwei Möglichkeiten der Mikrofonisierung bei Gitarre und Kontrabass (Steg und Schallloch). Für besonders wichtig halte ich die vorgestellten Techniken zur Aufnahme mehrerer Musiker, die auch den Laien sofort vermeiden lässt, einen Teil des Klangkörpers im Schallschatten aufzustellen. Auch für gesprochenen Text lernen wir unter anderem die richtige Manuskriptaufstellung, die ansonsten wohl kaum bedacht werden würde.

Weiter geht es mit der Leitungstechnik. Wer einmal in einem Rockstudio war oder auch den Aufbau eines Stagesets beobachten konnte, weiß, wie viele unterschiedliche Kabel, Verlängerungen und Stecker es gibt. Nach nur vier Seiten dieses Buchs sind alle Rätsel diesbezüglich gelöst, wir kennen alle wichtigen Klinken und Kabeltypen, wissen sogar, welche Kabel gegen möglichen Datenverlust eine gewisse Länge nicht übersteigen dürfen.

Die Fakten über Akustik im Raum dürften wohl den meisten Musikern bekannt sein, schließlich muss der eigene Probenraum ja zumindest über ein paar der akustischen Eigenschaften verfügen, die den Klang lebendig werden lassen; dennoch inspiriert die Zusammenstellung der schnell umsetzbaren Kniffe für bessere Akustik, das Probenzimmer noch umzugestalten.

Nun verlassen wir die greifbare Ebene, denn die Signale werden an dieser Stelle digital umgewandelt, was besonders in Bezug auf das Audio-Interface besonders umfassend besprochen wird. Für sämtliche Anschlüsse wird die Leitungstechnik wiederholt, was einen sehr willkommenen Rückblick darstellt und zugleich einer praktischen Anleitung entspricht. Dem Abhören wird ein eigenes Kapitel gewidmet, wo auch auf Kopfhörertypen und die Aufstellung der Boxen im Abhörraum eingegangen wird: eine Bereicherung für jeden, der Musik hört und den Genuss durch optimierte Klangqualität erhöhen will.

Das digitale Aufnehmen von Tonspuren funktioniert über die sogenannte Digital Audio Workstation, der Friedrich Neumann das längste Kapitel zueignete. Wir lernen von den wichtigsten Bedienelementen, dem Loopen durch Kopier- und Einfügefunktionen (für die Popmusik unerlässlich), den Funktionen einer Audiospur wie Aussteuerung, Volumen, Panorama und aktuellen Status im Gesamtbild (Solo, Mute, Record). Anschließend bespricht Neumann das Midi-Recording, wobei vor allem das Quantisieren praxisrelevant erscheint, aber entsprechend einen großen Pool an Fehlerquellen bietet. Quantisieren bedeutet, dass man Midispuren automatisch den Takteinheiten anpassen kann, so dass feinste Ungenauigkeiten des Spiels (welche die Darbietung klassischer Musik und besonders das Musizieren in größeren Ensembles und Orchestern erst definiert) ausgebügelt werden und sogar eine genau taktgetreue Widergabe entstehen kann. In gewissem Maße angewandt ein großartiges Tool, bei welchem man sich jedoch vor Übertreibungen bewahren sollte. Abschnitte über den richtigen Schnitt bei einer digitalen Audiospur und über verschiedene Arten des Ein-, Aus- und Überblendens runden das Kapitel ab.

Besonders aufschlussreich fand ich das Kapitel über Abmischung. Gerne hält man diese für rein technische Spielerei, doch steckt viel mehr dahinter und selbst perfekt zusammenwirkende Bands oder Ensembles sind hierauf angewiesen, was die beigefügten Klangbeispiele unter Beweis stellen. Das Problem bei Aufnahmen ist, dass sich die Frequenzzentren der einzelnen Instrumente überlappen, wodurch gerade die gut hörbaren Bereiche überlagert werden und so vieles vom Klang verloren geht. Mit Hilfe des Equalizers werden unnötige Nebengeräusche herausgeschnitten und der Klang in den gut hörbaren Frequenzen beschränkt, so dass die einzelnen Stimmen entzerrt werden, somit besser herauszuhören sind und der Gesamteindruck erst ausgewogen erscheint. Ein weiteres Augenmerk legt Friedrich Neumann auf verschiedene Filtertypen sowie deren Anwendungsweisen vor allem zur Beseitigung unterschiedlicher Fehlerquellen wie Pfeiftöne und Netzbrummen.

Das letzte Kapitel widmet sich Signalprozessoren, also Effektgeräten, die zur Optimierung von einzelnen Klangspuren oder ganzen Aufnahmen dienen. Zunächst beschäftigt sich Friedrich Neumann mit Regelverstärkern, namentlich Kompressoren und Limitern. Der Kompressor dient dazu, die Gesamtspur in den besonders lauten Bereichen dynamisch einzudämmen, um schließlich die Gesamtlautstärke aus dem schwer hörbaren Bereich heraus anzuheben. Limiter wirken dem ersten Schritt ähnlich, nur beschneiden sie den zu lauten, übersteuernden Bereich vollkommen. Zuletzt werden Zeitprozessoren thematisiert, also Echo und Hall sowie die künstliche Version des Delays (Verzögerung). Auf der CD hören wir hierzu den gleichen Ausschnitt eines Musikstücks mit Hall aus unterschiedlichen Räumen: Einem Wohnzimmer mit etwa 0,4 Sekunden Nachhall, der Semperoper mit 1,6 und der Berliner Philharmonie mit 2 Sekunden sowie schließlich dem Kölner Dom mit 13 Sekunden Nachhall. Während die erste Aufnahme klar und deutlich klingt, wirkt das Instrument in den größeren Räumen recht verloren; im Gotteshaus schließlich versinkt die zu hörende Gitarre vollkommen im Nachhall.

So lernen wir nicht nur über die Aufnahme- und Umwandlungsprozesse, sondern auch über die Notwendigkeit verschiedener Nachbearbeitungsmethoden, die den allgemeinen Eigenschaften der digitalen Aufnahme geschuldet sind.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Bach vital

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 582; EAN: 4 260052 385821

Das Flötistenehepaar Ana Oltean und Kaspar Zehnder nimmt gemeinsam mit dem Cembalisten Vital Julian Frey Triosonaten von Johann Sebastian Bach auf. Auf dem Programm stehen die Sonaten in G-Dur BWV 1039, C-Dur BWV 1037, d-Moll BWV 1036, D-Dur BWV 1028 und g-Moll BWV 1029, als Intermezzi fungieren die Sinfonia 13 in a-Moll BWV 799 und das Präludium h-Moll BWV 869.

Die Triosonate gehörte zu den beliebtesten Gattungen der Barockära: Sie ließ sich im hausmusikalischen Rahmen aufführen, bot den Komponisten die Gelegenheit in reiner Dreistimmigkeit ihr kontrapunktisches Geschick zu zeigen, und ermöglichte den Aufführenden die Zurschaustellung ihrer Virtuosität. Trotz der Popularität des Genres komponierte Johann Sebastian Bach erstaunlich wenige solcher Trios. Tatsächlich ist nur eine der hier zu hörenden Sonaten als Triosonate belegt: BWV 1039. Und selbst ihr steht eine dreistimmige Gambensonate (BWV 1027) als Schwesterwerk nebenan, die der selben kompositorischen Quelle entspringt. Welches der beiden Werke das frühere ist, lässt sich nicht belegen, vermutlich entstanden sie zeitgleich. Andere der Triosonaten könnten Schülerwerke gewesen sein, denen Bach jedoch zumindest assistierend beistand, vielleicht ihnen sogar den entscheidenden Schliff verlieh. So geht die Forschung davon aus, die Sonate BWV 1036 entstamme eigentlich der Feder seines Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach und die folgende BWV 1037 derjenigen Johann Gottlieb Goldbergs, welchen man heute hauptsächlich durch die postum entstandene und fälschliche Benennung der „Goldberg-Variationen“ kennt (Zur Entstehungszeit der Aria mit verschiedenen Veränderungen war dieser nämlich gerade einmal dreizehn Jahre alt). Die Sonaten BWV 1028 und 1029 komponierte Bach jeweils für die Gambe. Doch erlaubt es Bachs Schreibweise in den meisten Fällen, die Werke auch für andere Besetzungen zu adaptieren, was auf dieser Aufnahme geschieht und der Qualität der Musik keinen Abbruch tut.

Die hier zu hörende Einspielungen durch Ana Oltean, Kaspar Zehnder und Vital Julian Frey strotzt vor Lebendigkeit und Vitalität. Die Musiker spielen auf historischen Instrumenten, lassen sich jedoch nicht dazu hinreißen, stur auf die historische Informiertheit zu vertrauen und die Werkdarbietung an bloßen Theorien auszurichten. Statt dessen projizieren sie die Musik in die Jetztzeit und erlauben sich durchaus subtile Freiheiten, um ihr den nötigen Schwung zu verleihen. So behält der Klang seine motorische Stringenz und den markanten Klang, den man mit der Bach-Epoche verbindet, tönt jedoch auch mal lyrisch, zögernd, innig oder gar verhalten. Ob Bach diese Emotionen in seine Musik einband? Einen Beweis hören wir hier.

Wie von der Ars Produktion Schumacher gewohnt, überzeugt die Aufnahme durch luziden und doch vollen Instrumentenklang, angenehme Abstimmung des Halls und prägnanten, greifbaren Sound. Für diese Besetzung allerdings scheint der Klang in manchen Passagen etwas zu direkt, besonders das Cembalo dröhnt teils zu stark in den Höhen hervor; beim Flötenansatz nimmt der Hörer dafür recht viel Luftdruck wahr. Doch dies ist nur ein kleines Manko, welches auch nicht auf jeder Anlage auffällt, besonders angesichts der überragenden Qualität der Musiker.

Ana Oltean und Kaspar Zender sind ein hörbar eingespieltes Team, das nicht nur jahrzehntelang auf der Bühne, sondern auch privat ein Paar bildet und in perfekter Harmonie agiert. Sie wirken wie ein einziges, zweistimmiges Instrument, das durch den gleichen Atem und den selben Puls angetrieben wird.

Aufsehen erregt das Spiel des Cembalisten Vital Julian Frey, der seinem Instrument unerhörte Klangfarben und Möglichkeiten zu entlocken weiß. Wer denkt, das Cembalo könne nur zupfen und klinge immer gleich, der solle sich diesen Musiker anhören. Durch geschicktes und stets wandelbares Arpeggieren erhält jeder Akkord eigenständigen Zusammenklang und individuellen Nachhall; die Stimmen gestaltet er auf eine im Bezug zu den eigentlichen Möglichkeiten der Tongebung magisch anmutende Weise ebenso sanglich aus. Im Zusammenspiel liefert Frey nicht nur eine solide Continuo-Basis für die beiden Melodieinstrumente, sondern agiert selbst als vollwertige dritte Melodiestimme.

[Oliver Fraenzke, März 2021]

Kleines Beethoven-Vademecum (2): Gedanken zu Artur Schnabels Beethoven-Aufnahmen

Sonaten 1-3: Naxos 8.110693; EAN 0636943169322
Sonaten 4-6 & 19-20: Naxos 8.110694; EAN 0636943169421
Sonaten 7-10: Naxos 8.110695; EAN 0636943169520
Sonaten 11-13: Naxos 8.110756; EAN 0636943175620
Sonaten 14-16: Naxos 8.110759; EAN 0636943175927
Sonaten 17, 18, 21: Naxos 8.110760; EAN 0636943176023
Sonaten 22-26: Naxos 8.110761; EAN: 0636943176122
Sonaten 27-29: Naxos 8.110762; EAN: 0636943176121
Sonaten 30-32: Naxos 8.110763; EAN 00636943176320
Eroica-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110764; EAN 0636943176429
Diabelli-Variationen und Bagatellen: Naxos 8.110765; EAN 0636943176528
Klavierkonzerte 1-2: Naxos 8.110638; EAN 0636943163825
Klavierkonzerte 3-4: Naxos 8.110639; EAN 0636943163924
Klavierkonzert 5 und Cello-Sonate 2: Naxos 8.110640; EAN 0636943164020

Artur Schnabel war der erste Pianist, der Aufführungen sämtlicher Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf Schallplatte festgehalten hat. Oliver Fraenzke, Gründer unseres Magazins, Herausgeber der Kammermusik-Reihe Beyond the Waves im Verlag Musikproduktion Jürgen Höflich und selbst Pianist, stellt diese diskographische Großtat in der zweiten Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums vor und legt dar, warum sie nach wie vor für die Darbietung Beethovenscher Klaviermusik Referenzstatus besitzt. (d.Red.)

Betrachtet man Beethovens Klavierwerk, so kommt man kaum um die Aufnahmen Artur Schnabels herum, die weit oben in der Liste der Referenzaufnahmen stehen, als Zyklus betrachtet wohl sogar mit an deren Spitze. Sicherlich gibt es zahlreiche andere großartige Aufnahmen von Beethovens Tastenwerk, so beispielsweise durch Eduard Erdmann oder Arturo Benedetti Michelangeli, doch kaum einer von den Pianisten diesen Ranges näherte sich dem Komponisten derart systematisch in der Gesamtheit seines Schaffens. Aus den 1920er-Jahren existieren Konzertprogramme Schnabels, die zyklische Aufführungen aller Beethoven-Sonaten belegen; in den 1930er-Jahren empfand Schnabel schließlich die Aufnahmetechnik als ausreichend gereift, um mit den Sonaten, Klavierkonzerten, den Diabelli- und den Eroicavariationen und einigen anderen Werken ins Studio zu gehen, wobei er die Abbey Road Studios in London für das Großprojekt auserkor.

In der Auswahl seines Repertoires galt Artur Schnabel als unerbittlich: Ausschließlich die Werke nahm er auf, die laut eigener Aussage besser sein, als ein Mensch sie spielen könne. Dies führte dazu, dass er beinahe ausschließlich Werke der Epoche um die Wiener Klassik spielte, inklusive Brahms und Schubert. Letzteren entdeckte Schnabel gemeinsam mit Eduard Erdmann wieder und konzertierte als einer der ersten mit dessen Sonaten, die zuvor wenig verstanden waren. Der Fokus auf die vergleichbar alte Musik mag vor allem deshalb verwundern, da Schnabel auch als Komponist in Erscheinung trat und dort zu den Neuerern zählte. Beeinflusst vom Durchbrechen der Tonalität und den Ideen Schönbergs schloss Schnabel sich den Fortschrittlern an, bewegte sich in den Kreisen von Ernst Křenek, Philipp Jarnach und Hans Jürgen von der Wense, der zweifelsohne zu den radikalsten Tonsetzern der Zeit zählte und in seiner ganzen Art sowie seinem vielseitigen Wirken revolutionierte. Schnabel betitelte seine Werke allgemein mit klassischen Bezeichnungen wie Sonate, Quartett oder Symphonie, doch inhaltlich hatten sie zumeist wenig mit diesen Gattungen gemein.

Geboren wurde Artur Schnabel am 17. April 1882 in Kunzendorf, Galizien, das heute zum südöstlichen Teil Polens gehört. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von drei Kindern einer jüdischen Textilhändler-Familie auf. Er zog noch als Kind mit der Mutter und seinen Geschwistern nach Wien, wo er 1890 als Pianist debütierte und dort wohnhaft blieb, selbst als seine Familie vier Jahre später wieder in die Heimat zurückzog. Er wurde Schüler von Anna Jessipowa, die als „Madame Essipoff“ bekannt war, und nach deren Scheidung Schüler ihres Exgatten Theodor Leschetizky, einer der namhaftesten Lehrer der Zeit und Mitbegründer der heute sogenannten russischen Klavierschule. Eusebius Mandyczewski unterwies Artur Schnabel in Musiktheorie und gab ihm Kompositionsunterricht; durch ihn kam er auch in Kontakt mit einigen der großen Komponisten der älteren Generation wie unter anderem Johannes Brahms, wobei scheinbar wenig Austausch zwischen den etablierten Meistern und dem jugendlichen Aufsteiger stattgefunden hat. Um die Jahrhundertwende zog Schnabel nach Berlin und heiratete 1905 Therese Behr. Therese Behr-Schnabel wirkte als Altistin, trat oft auch mit ihrem Ehemann auf. 1909 kam Karl Ulrich auf die Welt, der sich selbst als Pianist einen Namen machte und gemeinsam mit seinem Vater einen Großteil des vierhändigen Repertoires einspielte, 1912 folgte Stefan Artur, welcher in Amerika Schauspieler wurde. (Bereits 1899 war Schnabel Vater einer vorehelichen Tochter geworden, Elisabeth Rostra.) Nach Hitlers Machtergreifung 1933 flüchtete die Familie in Vorahnung unmittelbar nach England, verbrachte die Sommer jedoch in Tremezzo. Als der Krieg unausweichlich schien, emigrierten die Schnabels 1939 in die USA, die Schwestern folgten – die Mutter blieb in Österreich, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort im gleichen Jahr zu Tode. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Tremezzo zurück, Artur verlebte dort seine letzten Jahre und starb am 15. August 1951 in Morschach in der Schweiz.

Die für seine Entwicklung bedeutsamsten Jahre dürften nach der fundamentalen Ausbildung in Wien wohl diejenigen in Berlin gewesen sein, wo Schnabel in regem künstlerischen Austausch mit einigen der bedeutendsten Komponisten und Musikern gewesen ist sowie den Durchbruch als konzertierender Pianist errang. Einer der wahrscheinlich zentralsten Einflüsse dürfte der durch den vierzehn Jahre jüngeren Eduard Erdmann gewesen sein: die beiden lernten sich vermutlich 1920 kennen, als Erdmann sich gerade als einer der zentralsten Vertreter der Szene Neuer Musik etablierte, mit Aufführungen u.a. seines Lehrers Heinz Tiessens, Scherchens, Bergs, Schönbergs etc. von sich Reden machte. Erdmann sah Schnabel gewissermaßen als eine Art Lehrer, befolgte insbesondere seine Lebensratschläge und nahm wichtige Anschauungen Schnabels an. Und doch handelte es sich um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Schnabel schätzte Erdmann besonders auch als Darbieter seiner eigenen Werke und übernahm als Komponist seinerseits musikalische Inspirationen von seinem Kollegen. Schubert entdeckten sie gemeinschaftlich wieder und zurückblickend schuf sogar Erdmann die tiefgründigeren Aufnahmen dessen Klavierwerks (insbesondere der letzten Sonaten und der Impromptus). Zu Beethoven bemerkte Erdmann allerdings, dass keiner dessen Sonaten so verstand, wie Schnabel es tat, und er selbst nichts hinzuzufügen hätte. Aus diesem Grund weigerte sich Erdmann, Beethovens Sonaten aufzunehmen, solange Schnabel lebte: erst 1953 spielte er, bereits als von der Kriegszeit gezeichneter Mann mit schwindender manueller Technik, nicht aber geistiger Durchdringung, die Pathétique ein.

Schnabels Beethoven-Aufnahmen entstammen seinen reifen Jahren: Die meisten fallen in die Zeit seiner frühen 50er, als sich die Erfahrungen seiner bereits über 40 Jahre währenden Karriere längst in einem gesetzten, bewussten und ausgeglichenen Spiel manifestiert haben. Schnabel blieb durch den regen Austausch in Berlin frisch und lebendig und stand den musikalischen wie technischen Neuerungen gegenüber stets offen. Jede der Aufnahmen zeugt von intensiver und vor allem präzise detailverliebter Beschäftigung mit ausnahmslos einem jeden dieser Werke. Schnabel vertrat genaue Werktreue und so setzte er die Partituren minutiös um. Dabei spielte er allerdings nüchterner, distanzierter, als es beispielsweise Erdmann tat. Nichtsdestoweniger fehlt auch die emotionelle Seite der Werke nicht und die Musik funkelt vor Lebendigkeit und Frische. Als Zyklus betrachtet zeugen die Einspielungen vor allem von einem: umfassender Menschlichkeit. Schnabel stellt Beethoven nicht als wilden, zerzausten Berserker da, der die Regeln brach und als Raptus das Aufsehen auf sich zog, so wie man es von neueren Einspielungen viel zu leidlich kennt, sondern zeigt ihn als vielschichtige, ausgeglichene Persönlichkeit, dessen kompositorische Ausbrüche stets integriert werden in ein komplexeres Ganzes. Beethoven wird uns sympathisch.

Technisch stechen besonders Schnabels Feinheiten des Anschlags hervor, seien es die schimmernden Läufe oder die geräuschhaft schnellen Triller, vor allem aber stockt einem der Atem, sobald Schnabel Pianissimo spielt. Über lange Strecken bannt der Pianist den Höher durch sein weltfremdes, gedämpftes Spiel in den ruhigsten Passagen, hält die Spannung bis zum Zerreißen in der Schwebe und bringt die Zeit zum Stillstand. Mit dieser Basis spannt er große Kontraste und eröffnet ein gewaltiges Spektrum an Farben und Möglichkeiten, die zu einem unerhört formbezogenen Spiel führen, was uns selbst die weiten Flächen der letzten Sonaten mühelos nachvollziehen lassen.

In keiner Sekunde buhlt Schnabel dabei um Aufmerksamkeit, sondern spielt lediglich für den Komponisten, für die Noten und für den verständigen Hörer, der nicht geblendet werden will, sondern der Musik zuliebe hört. Entsprechend könnten Hörer, die sich an den Effekt neuerer Aufnahmen gewöhnt sind, irritiert werden von der Leichtigkeit, Lebendigkeit und unprätentiösen Herangehensweise an diese Werke.

In den Beethovenaufnahmen seien besonders die getragenen Sätze hervorzuheben, die Schnabel enorm langsam nimmt, dabei aber zu keiner Zeit schleppt, so dass in der Wirkung die Zeit still zu stehen scheint und dennoch in gemächlichem Maße prozessiert. Seine beachtliche Fingertechnik stellt der Pianist nie zur Schau, kehrt sie im Gegenteil teils sogar unter den Tisch, um umso mehr Platz für musikalische Ausgestaltung zu gewinnen. Natürlich gibt es kleinere Fehler oder Ungenauigkeiten im Vergleich zum neueren (auch Live-)Aufnahmen, was ich jedoch nicht als Manko sehe, denn auch sie stehen für die menschliche Seite der Musik. Zudem nimmt man sie gerne in Kauf für solch ein durch und durch musikalisches, ausgewogenes und formbewusstes Spiel, das auch die längsten Sätze als Ganzes erfasst.

In den frühen, Beethovens Lehrer Haydn gewidmeten Sonaten vollzieht Schnabel den Stilentwicklungsprozess pianistisch nach, stellt sie in Haydn’scher Feinheit des Spiels dar. Schon in der beginnenden f-Moll-Sonate sticht sein brillantes Staccato-Spiel hervor, durch das die Noten zwar sehr kurz, aber dennoch mit Hall und Volumen kommen. Auch die Sforzati wägt Schnabel sauber ab, bezieht sie stets auf die aktuelle Grunddynamik. Im Adagio hören wir bemerkenswerte Pedalisierung, das Finale gestaltet er etwas freier. Die folgende A-Dur-Sonate beginnt ausgesprochen fröhlich und locker geradlinig, was den ganzen Satz durchgeht, der in dieser Heiterkeit verweilt – hier wirken neuere Darbietungen doppelbödiger und zwiegespaltener, doch Schnabel setzt seine Ansicht stimmig um. Das Largo gestaltet er herrlich zweischichtig, nimmt die Melodie als reinen Gesang mit einer Art Streicherbegleitung. Das Finale erscheint wenig virtuos, dafür umso sanglicher mir subtilen Freiheiten, das Grazioso hären wir so wörtlich wie selten sonst. Die umfangreichere C-Dur-Sonate nimmt Schnabel klassisch fein und ausdrucksstark, intensiviert die Kontraste. Sehr sympathisch erscheint mir, dass selbst Schnabel mit der Trillerbewegung im Thema zu kämpfen hat: hieran dürfen sich alle Pianisten erfreuen, die selbst um dieses Detail gerungen haben. Im Adagio erleben wir, wie laut Pausen sprechen können und schmerzlicher rufen als die Noten an sich; der Mollteil changiert zwischen Zweifel und Hoffnung, Aufbegehren und Resignation: Momente der Gänsehaut. Das Scherzo springt gelöst herum, dabei wirkt vor allem das Trio völlig unprätentiös, was angesichts des Notensatzes einem Wunder gleicht – dafür fokussiert Schnabel sich auf die Bassführung. Wieder leichtfüßig kehrt das Finale ein, wobei Schnabel jedes der Motive in klaren Bezug setzt und so einen roten Faden durch den vielgliedrigen Satz zieht.

Schreiten wir etwas zügiger durch die darauffolgenden Sonaten, konzentrieren uns nur auf ein paar besonders auffällige Stellen. Aus der siebten Sonate op. 10/3 sticht der Largo-Mittelsatz hervor, der so enorm langsam gespielt wird, dass Schnabel jede einzelne Note mit Bedeutung füllen muss. Er setzt sie um wie eine Cellostimme; die Qualität jeden Anschlags übersteigt hierbei, so meint man zumindest, die physikalischen Möglichkeiten eines Klaviers. Im Rondo glänzt die Unterstimme, flächig klangmalerisch unterstreicht sie die Melodie, bleibt dabei in jeder Note verständlich. Die Pathétique weitet erneut die Kontraste, das Fortissimo findet seine Grenze an Robustheit und Lärmen, ohne dabei hart oder geschlagen zu wirken. Im Hin und Her, Drängen und Zurückhalten des Beginns intensiviert Schnabel die Spannung, löst sie erst im Allegro, wo er unerbittlich nach vorne zieht und ein ewiges Precipitato-Gefühl evoziert. Der Mittelsatz trumpft wieder durch seine Kantabilität auf, präsentiert romantischen Flair in klassischem Gewand. Das Finale gewinnt schließlich die lang ersehnte Leichtigkeit und Gelöstheit, auf die die ganze Sonate abzielt, beruhigt das Gemüt nach der enormen Spannung der Vorausgegangenen. Eines der wenigen Details, die mir in Schnabels Darbietungen unverständlich erscheinen, finden wir im Finale der E-Dur-Sonate op. 14/1: warum beschleunigt Schnabel auf das Crescendo? Dies unterminiert die geradlinige Fröhlichkeit des Satzes. In der folgenden G-Dur-Sonate besticht einmal mehr der Mittelsatz, trotz der kurzen Staccati hebt Artur Schnabel die Melodie in den Vordergrund und gestaltet sie kompromisslos aus. Das Scherzo avanciert zu einer aufsehenerregenden Gradwanderung zwischen operettenhafter Stimmung und düster-gespenstischem Satz, in der Kürze der Motive beinahe fragmentarisch wirkend.

Die stilistische Auswägung der mittleren Sonaten ist allgemein erwähnenswert. So ist beispielsweise die sogenannte „Mondschein“-Sonate überhaupt nicht so romantisierend gespielt, wie man sie heute viel zu oft hören muss, sondern besticht durch gehaltenes, dabei durchgängiges Tempo, das die Wirkung auf die Spitze bringt und über lange Strecken die eiserne Spannung aufrechterhält. Umso vorwärtsdrängender das Finale, welches beinahe aggressiv aufstößt und die Sforzati wie Aufschreie hervorblitzen lässt. Die folgenden Sonaten integrieren zusehends mehr orchestrale Farben in das Klavier: während das Andante der „Pastorale“ wieder einen Beweis für brillante Zweistimmigkeit mit feinsinnigem Staccato liefert, erscheint das Adagio der G-Dur-Sonate op. 31/1 bereits völlig orchestral mit Holzbläserstimmen als Melodie und dichter Streicherbegleitung. Im Finale der Pastoral-Sonate denken wir dafür, eine Harfe zu hören. In der 31/1 ist noch der Beginn zu erwähnen, der fast wie ein Scherzo daherkommt, keck virtuos, und doch ohne jegliche Form der Zurschaustellung. Wie bereits bei der Sonata quasi una fantasia, so nimmt Schnabel auch die „Sturm“-Sonate op. 31/2 keineswegs klischeehaft romantisch, er treibt die Spannung nicht durch Rubato unnötig in die Höhe, sondern lässt die Noten durch Präzision und ausgewogenen Anschlag durch sich sprechen. Das Finale stellt den bisherigen Höhepunkt von Schnabels vielseitiger Staccatokultur dar. Die Es-Dur-Sonate op. 31/3 gehört zu den Sonaten, die unbedingt mehr zu entdecken sind. Schnabel setzt sie in unendlicher Schönheit um mit augenzwinkernden Details, in springender Heiterkeit mit wohl dosierten Proportionen. Die technischen Anforderungen des Scherzos stellt er vollends in den Dienst der musikalischen Ausgestaltung; das Presto nimmt er rasend schnell, bleibt fein und technisch unscheinbar. In der „Wandstein“-Sonate op. 53 gilt es, sich die Ressourcen einzuteilen, um die Form zu bewältigen, was Schnabel durch langes Beharren in den unteren Dynamikstufen und graduellen Aufbau realisiert und so den gesamten Bogen des Satzes musikalisch ausfüllt. Im Adagio zählt dagegen jeder Ton, jede subtile Wendung wird adäquat unterstrichen, ohne sie überzubetonen. Der Beginn des Rondos schwebt förmlich über allen Wolken, so surreal wirkt das Pianissimo in Schnabels Händen.

In den späten Sonaten spreizen sich die Kontraste bis zum Zerbersten auf, dabei wird die Aussage auf ihre Weise kompakter. Ich würde mich hüten, diese Werke einer „Epoche“ zuzuordnen, denn dieser Stil ist ausschließlich später Beethoven und nichts sonst. Jede Sonate steht monumental für sich alleine in der Musikgeschichte und verlangt nach unbefangenem Herangehen, enormem Bewusstsein und musikalischer Imaginationsgabe. Schnabel blüht hier voll auf und kreiert einen Höhepunkt der Klavierkunst. Besonders die langsamen Passagen wirken wie Wunder, vollendeter Tastengesang und unendlich fein abgestufte Dynamiknuancen bereiten den Weg, die „himmlischen Längen“ zu bewältigen, die durch seine facettenreiche Artikulation und die überirdischen Pianissimopassagen (besonders -triller) bis ins Letzte ausgestaltet werden. Die flirrenden Begleitungen raunen orchestral ausgestaltet, während die Oberstimme schwebt, stets im Bewusstsein über Form und Proportion.

Die Klavierkonzerte Beethovens nahm Artur Schnabel gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung Malcolm Sargents auf. Das Klavier erscheint dabei auf das Orchester klanglich abgestimmt, verliert dabei nicht seine Distanz und seinen individuellen Klang, wirkt entsprechend wie ein wohl dosierter Kontrapunkt. Schnabel übernimmt eine reiche Palette an Orchesterfarben aufs Klavier, nutzt ebenso aber die rein klavierspezifischen Klangfarben, um das Zusammenspiel durch unterschiedliche Facetten zu bereichern.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Neues im Sinn?

Solo Musica SM 352, EAN: 4 260123 643522

Die Violin-Geschwister Marie-Luise und Christoph Dingler treten gemeinsam als „The Twiolins“ auf und präsentieren „Eight Seasons Evolution“ mit den vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi und einer gemischten Auswahl an Tangos von Astor Piazzolla, jeweils arrangiert für zwei Violinen von Christoph Dingler.

Die Idee, Piazzolla und Vivaldi zu kombinieren, ist nicht neu; die Konstellation liegt auch nahe angesichts dessen, dass Piazzolla selbst Vier Jahreszeiten komponierte und diese mit thematischem Material aus Vivaldis Violinkonzerten versah. In dieser Konstellation wurden die „Acht Jahreszeiten“ auch mehrfach eingespielt, wobei ich besonders die tief empfundene, innig jubilierende Einspielung Liv Midgals mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin wie auch die rassige, triumphierend groovende Aufnahme Lavard Skou Larsens mit den Salzburg Chamber Soloists schätze, die beide 2016 erschienen sind.

Doch da The Twiolins sich auf das Banner schrieben, neudenkerisch zu sein, können sie die vorhandenen Werke nicht so stehenlassen, sondern ersetzen Piazzollas Jahreszeiten durch elf Tangos, die je zwischen die Vivaldi-Sätze geklemmt werden. Zudem arrangierte Christoph Dingler Vivaldi für ihre Besetzung.

Das Thema Evolution wird ansonsten nicht weiter tangiert. Die Aufnahmen sind nämlich keineswegs sonderlich eigenwillig, neumodisch oder individualistisch, sondern im Gegenteil glatt gebügelt ohne sonderliche Ausreizung der Kontraste oder der schon bei Vivaldi abenteuerlichen Klangeffekte. Einen Grund für die Modernisierung dieser Meisterwerke würde ich ohnehin nicht sehen, da schließlich kaum jemand überhaupt die Modernität des Originals näher zu betrachten scheint: Die bereits erwähnte Aufnahme Lavard Skou Larsens gehört zu den ganz wenigen, die die für damalige Zeit nahezu futuristisch anmutenden Klangeffekte stimmig zu vermitteln weiß. Diese fehlen jedoch vollkommen in der Darbietung der Twiolins. Und auch ansonsten findet sich nicht viel, was bemerkenswert oder spannend wäre, die Aufnahme tröpfelt recht ereignislos vor sich hin, fasern die Form in thematische Abschnitte auf und stützen sich beinahe ausschließlich auf die berühmten Melodien und einige ruppigere Abschnitte. Piazzolla mag ebenso wenig begeistern, es kommt kein Groove auf und jede Art des Temperamentvollen, tänzerisch Beschwingten fehlt. Piazzolla beweist in seinen Kompositionen beachtliches Gespür für ausgewogenen Klang, der in jeder Besetzung umsetzbar ist, wägt die aufkommenden Stimmungen wohl ab und weiß, diese am richtigen Moment aufzubrechen. Die Essenz des Tangos bewahrend, bezieht er Elemente der zeitgenössischen Musik mit ein, moderne Effekte und herbere Dissonanzen, neue Modalitäten und formale Gestaltungsweisen. Dies musikalisch zu erkunden ist eine Gradwanderung zwischen Bewusstsein und Intuition, Fokus und Befreiung, Andacht und Schwung – kurzum, eine besondere, vielseitige Beschäftigung erscheint als zwingend notwendig. Was The Twiolins in dieser Einspielung hören lassen, stützt sich jedoch lediglich auf die oberflächlichen Klangeffekte und die lateinamerikanische Rhythmik, die geradlinig umgesetzt wird. Die Noten werden befolgt.

So verstehe ich das Motto der CD nicht, welche das Duo ins Booklet schreibt: „Um nicht in einer einfachen Kopie zu verharren, war uns klar, dass sich die Eight Seasons weiterentwickeln mussten, durch eine eigene Inperpretation, eine Transformation und Wachstum. Kurz: Eine Evolution war notwendig.“ Ich zumindest entdeckte keine, abgesehen der Arrangements.

Über die musikalische Behandlung hinaus darf jedoch nicht das präzise aufeinander abgestimmte Zusammenspiel verschwiegen werden: Fein aufeinander abgehört und vollkommen d’accord in ihrer Klangvorstellung agieren Marie-Luise und Christoph Dingler in perfekter Harmonie, im gleichen Puls.

Die zu hörenden Arrangements Christoph Dinglers zeugen von guter Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen der Besetzung. Die Stimmverteilung wirkt stimmig. Ob der Notwendigkeit solch einer Bearbeitung für zwei Violinen von Vivaldis Violinkonzerten darf hingegen diskutiert werden, zumal die Tiefen des Basso Continuos fehlen, die doch entscheidend sind für den erdigen, stellenweise beinahe naturalistischen Klang, der den Konzerten innewohnt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Neue Chefredaktion bei The New Listener

Wer The New Listener regelmäßig verfolgt hat, wird in den letzten Monaten einige Änderungen festgestellt haben. Mag es sein, dass die Artikel von meiner Seite rarer wurden, dass plötzlich ein neuer Autor dafür in gewisser Regelmäßigkeit schreibt, vielleicht auch ein paar andere graphische Feinheiten im Beitragslayout. Mit diesem Text sei der Grund erläutert und offiziell gemacht: Ich trete von meinem Posten als Chefredakteur von The New Listener zurück und übergebe dieses Amt Norbert Florian Schuck als meinen Nachfolger.

Der Übergang ist bereits seit Sommer am Laufen und erfolgte allmählich und fließend, doch schon seit einiger Zeit war es Florian Schuck, der die Artikel einstellte und die Organisation übernahm. Nun gebe ich auch die Chefredaktion endgültig weiter.

So darf ich an dieser Stelle zurückblicken auf fünfeinhalb Jahre, die ich The New Listener leiten durfte. Nie hätte ich geahnt, wo mich die Reise hinführt, die ich im Sommer 2015 begann, als ich die Seite gründete. Über 400 Artikel habe ich seit dem alleine für The New Listener geschrieben, reiste dafür mehrfach nach Norwegen, nach Luxemburg, Österreich und in die Schweiz, traf inspirierende Künstler*Innen und vor allem: erlebte prägende Musik.

Das Verlangen, Musik zu vermitteln, befeuert meine Arbeit und wird es immer tun. Kunst ist für alle da und alle sollen auf möglichst viele Kanäle an ihr teilhaben sollen. Als Musiker wie als Musikwissenschaftler wie als Journalist sehe ich meine Aufgabe darin, die Musik so durchdringend zu ergründen, wie es mir gelingen mag, sie in ihrer Gesamtheit aufzugreifen und, sofern dies ein erreichbares Ziel darstellt, sie zu verstehen. Die Resultate daraus, gleich welcher Form, sollen den Hörer*Innen und Leser*Innen helfen, dies ebenso zu tun; denn nicht jeder kann sein Leben eben dieser hinreißenden Kunst widmen, und hat dennoch ein natürliches Anrecht darauf, sie so umfassend wie möglich zu genießen.

Die Aufgabe eines Rezensenten besteht entsprechend auch nicht daraus, zu urteilen, sondern zu beschreiben. Natürlich macht auch das Präselektieren einen gewissen Teil der Tätigkeit aus, doch nicht um der Künstler*Innen Willen oder Unwillen, sondern um den der Hörer*Innen. So bestand bei The New Listener von der ersten Sekunde an die Selbstverständlichkeit der freien und unbeeinflussten Äußerung: dies bedeutet vor allem, dass die Rezension nicht durch geldwerte Vorteile, Anzeigenschaltung oder Bezahlung getrübt wird, sondern stets auf gleicher fairer, neutraler Basis beruht. Und ich weiß, dass dies auch bei Florian Schuck so der Standard bleibt, was mir die Übergabe leichtfallen lässt.

(Norbert) Florian Schuck schätze ich als einen der fundiertesten Musikwissenschaftler, die ich überhaupt kenne. Seine bedingungslose Liebe zum Detail und zur Ergründung noch der kleinsten Ungenauigkeit machen ihn aus, nie gibt es sich mit Unvollständigem zufrieden. Sowohl inhaltlich als auch stilistisch darf er als Perfektionist betrachtet werden, selbst informelle Nachrichten avancieren bei ihm zu Kleinoden der Schreibkunst. Und mehr als alles andere: Er ist ein grenzenloser Förderer der Musik, der sich selbstlos in den Dienst der Kunst stellt, ohne eigenen Vorteil für sie ins Feuer gehen würde.

In fünfeinhalb Jahren hat sich viel getan und The New Listener reifte zu einer viel beachteten Plattform heran, deren Freiheit und Hingabe, deren Ideologie von sich reden machte. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie sich weiter entwickeln kann, angereichert mit neuen Ideen und Möglichkeiten. Ich selbst schreibe gerne weiterhin für The New Listener, wenngleich mich auch neue Ideen und Projekte in ihren Bann ziehen und meine Aufmerksamkeit fordern. So nenne ich die Übergabe eine Modulation, die das gleiche Stück auf eine neue Ebene katapultiert.

Ich danke für jeden gelesenen Text, jede wohlgemeinte Reaktion und jede beflügelnde Erkenntnis, die uns gegenseitig der Musik näher bringt.

Ihr Oliver Fraenzke

Beethoven zu entdecken

Antes Edition, BM319316; EAN: 4 014513 038241

Für die Antes Edition spielt Anna Adamik Werke Ludwig van Beethovens ein. Auf dem Programm stehen die Sonaten Nr. 17 „Der Sturm“ op. 31/2 in d-Moll und Nr. 31 in As-Dur op. 110, die berühmte Bagatelle „Für Elise“ a-Moll WoO 59 sowie ein selten zu hörender Schatz: Zwölf Variationen A-Dur über den russischen Tanz aus dem Ballett „Das Waldmädchen“ von Paul Wranitzky WoO 71.

Kurz nach dem Jahreswechsel des Beethoven-Jahrs gibt es doch noch eine neue beglückende Beethoven-Aufnahme, gespielt von Anna Adamik. Sie glänzt in den berühmten Sonaten, doch der Höhepunkt bleibt die Einspielung der Waldmädchen-Variationen, ein gänzlich unbekanntes, charmantes Werk von 1796, also kurz nach den ersten publizierten Opera geschrieben. Das schlichte Thema Paul Wranitzkys verarbeitet Beethoven auf ganz heitere, kecke Art, changiert erstaunlich oft zwischen Dur und Moll und zieht aus den subtilsten Details größten Reiz. Besonders liebevoll behandelt er den unauffälligen Oktavsprung in der zweiten Themenhälfte, der ihn zur Verwendung größerer Intervalle in mehreren Abwandlungen verleitet. Obgleich virtuos, protzen die Variationen nicht durch technische Zurschaustellung, bestechen dafür durch Leichtigkeit, Beschwingtheit und Wechselhaftigkeit. Die einzelnen Variationen dauern je unter einer Minute, dafür beschließt Beethoven das Werk mit einer überdimensionalen Coda, die wie eine Phantasie das Thema auf die Probe stellt, bis es zuletzt einen friedlich-versöhnlichen Schluss findet.

Den für Beethoven geradezu untypisch lockeren, genießerischen Schwung kostet Anna Adamik in ihrer Aufnahme aus, streichelt die Tasten förmlich in den Pianissimo-Passagen und verleiht den Läufen bronzenen Glanz. Die Sprünge in den Variationen I und X schloss die Pianistin besonders ins Herz und füllt die großen Distanzen zwischen den Tönen musikalisch aus. Wie Kleinode behütet Adamik jede Variation für sich und holt ein Maximum an Leichtigkeit und Aussagekraft aus ihnen heraus in Mozart’sch verfeinerter Anschlagskultur.

Die späte As-Dur-Sonate nimmt Anna Adamik sanglich und gefühlsmäßig involviert, behält dabei die Feinheit der früheren Werke. Im Adagio findet sie enormen Tiefgang und lässt die Zeit stillstehen, die Fuge weiß sie gerade hinsichtlich der kontrapunktischen Stimmführung zu bewältigen, ohne aus ihrem geistig-emotionellen Fokus geworfen zu werden. Was ihrer Darbietung noch gut tun würde, wäre in diesem Spätwerk etwas Abgeklärtheit, möglicherweise sogar mit leichtem Hang zum Vergeistigten – denn noch wirkt die Sonate zu real und bodenständig für ihren übersinnlichen Gehalt.

Ein stetiges Hin und Her, Für und Wieder, Drängen und Innehalten durchflutet Anna Adamiks Aufnahme der Sturm-Sonate in d-Moll. Wellenförmig gestaltet die Pianistin den Strom im Kopfsatz aus, wägt die kontrahierenden Kräfte nuanciert ab und liefert so einen von vorne bis hinten stimmigen Gesamteindruck. Im Mittelsatz hält sie vollkommen inne und lässt jeden Klang für sich wirken, ohne dabei die Horizontale zu vernachlässigen: also steht die Sonate niemals still, während wir parallel jeden Akkord genießen können. Im Finale fasziniert die wiederkehrende Leichtigkeit und besonders das Staccato, das wie ein Streicher-Pizzicato die notwendige Kürze und die nachhallende Schwingung der Saiten verbindet und so orchestralen Effekt auf das Klavier zaubert.

So handelt es sich hier um eine vollkommen empfehlenswerte CD, die lediglich ein wenig hallig aufgenommen scheint, was allerdings nicht allzu sehr stören mag. Die Einspielungen überzeugen durch ihre Unbeschwertheit und ihren menschlichen Zugang, zeigen die unprätentiöse und entgegenkommende Seite Beethovens auf und zeugen so von intensiver und unbefangener Beschäftigung mit seiner Musik.

[Oliver Fraenzke, Februar 2021]

Beethoven des Jahres

Aldilà Records, ARCD 011; EAN: 9 003643 980112

Beth Levin spiele am 29. Juni 2019 ein denkwürdiges Konzert, welches aufgenommen wurde und nun bei Aldilà Records als CD erschien. Auf dem Programm dieser live-CD steht die Dritte Suite für Clavier in d-Moll HWV 428 von Georg Friedrich Händel, Carosello (Disegno Nr. 3) von Anders Eliasson und die Klaviersonate op. 106 in B-Dur von Ludwig van Beethoven, welche als Hammerklaviersonate Geschichte schrieb.

Zugegeben, das Beethovenjahr 2020 war recht enttäuschend. Wo Konzerte fehlen, mangelte es nicht an Aufnahmen vor allem im Bereich der Klaviermusik. Einige wagten sich an Gesamtzyklen, die wie so meist nur selten vollständig befriedigen; andere spielten kleinere Auswahlen, die aber doch meist aus den altbekannten Werken bestehen. Es gab zwar unter den Aufnahmen viel Gutes, nicht aber wirklich Neues, was unseren Blick auf den Jubilar nachhaltig prägen würde. Man blieb bei den Konventionen, beim Bewährten, und nahm es nicht auf sich, über den Tellerrand hinauszublicken. Die große Ausnahme stellt die CD mit Beth Levin dar, welche die Hammerklaviersonate B-Dur op. 106 in einer Liveaufnahme präsentiert.

Ein Werk wie die Hammerklaviersonate in unserer heutigen Zeit als Liveaufnahme herausgeben zu wollen, wirkt beinahe wie Irrsinn. Denn wie soll man dieses Mammutwerk mit einer Länge von etwa 45 Minuten und gespickt mit technischen wie musikalischen Hürden durchgehend auf reproduktionswürdigem Niveau bewältigen? – Oder sollten wir es umgekehrt sehen: Muss man es sogar auf eben diese Weise aus einem Guss entstehen lassen, um Geschlossenheit zu erreichen und gesamtmusikalischen Sinn zu entfalten?

Beth Levin zeigt sich vom ersten Ton an als eine der eigenständigsten, temperamentvollsten und souveränsten Pianistinnen unserer Zeit. Sie hat eine eigene Stimme am Klavier und bleibt stets sie selbst, so kann man sie beim Hören unmittelbar identifizieren – und dies ist heute mehr als außergewöhnlich. Levin durchdringt die Musik intellektuell wie menschlich, fokussiert sich dabei auf die Einmaligkeit der Darbietung und des Erlebens der Musik. Sie gibt die Musik nicht wieder als Nacherzählung oder als Berichterstattung, sondern – selbst vollständig involviert – als im Moment passierendes, unwiederbringbares, und auf diese Weise atemberaubendes Geschehen. Sofern es dabei nötig ist, greift sie in den Notentext ein; doch ist keine der Abänderungen willkürlich, sondern dient nur der Stimmigkeit und Gesamtheit der Darbietung. Jede Note sprüht vor Innbrunst und Lebendigkeit, von persönlicher Aussage. Technik, Fingerfertigkeit und Virtuosität stehen dabei im Hintergrund, sind lediglich nötige (wenngleich perfekt gelenkte) Transportmittel für den Ausdruck.

Auf ein impulsives Werk wie die Hammerklaviersonate projiziert, offenbaren sich ganz neue Facetten und Aspekte dieses Meisterwerks, die sich einer Beschreibung entziehen und nur hörbar verstanden werden können. Unvorstellbare Magie verströmt vor allem der Adagiosatz, in dem wir teilweise vollständig das Gefühl von Zeit und Raum wie den Boden unter unseren Füßen verlieren und nur getragen werden durch den fragilen Duktus der Musik. „Verweile doch, du bist so schön“, Mephisto hätte Faust nur diesen Satz vorzuspielen brauchen – doch schon ist die Musik fortprozessiert und der Moment vergangen, was hier wie kaum woanders für eine gewisse mitschwingende Melancholie verantwortlich ist.

Nicht weniger nehmen die raschen Sätze gefangen. Die Randsätze packen durch impulsive Akzente, wild aufbäumende und doch im Zaum gehaltene Klangkaskaden und herbe Kontraste, die Beth Levin fein austariert und bis an die Grenzen spannt, nie jedoch darüber hinaus. Fast zu kurz erscheint dagegen das kleine Scherzo, doch eben in der Flüchtigkeit liegt der Witz und Beth Levin triumphiert über diese Wirkung des allzu Vergänglichen.

Komplettiert wird das Programm durch zwei konträre Werke anderer Epochen: Händels d-Moll-Suite und Eliassons Disegno Nr. 3 mit dem Titel „Carosello“. Die d-Moll-Suite wirkt ganz schlicht, klar und offen, Levin spielt die Musik des unterrepräsentierten Bach-Zeitgenossen in tiefster Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Weit weniger stürmisch als bei Beethoven zaubert sie so einen gänzlich anderen Glanz auf die für das Cembalo konzipierte Musik, sonor und doch zerbrechlich in ihrer Zartheit. Bei Eliasson zeigt Beth Levin unerhörtes Gespür für Harmonik: der 2013 verstorbene schwedische Komponist schuf ein ganz eigenes Tonalitätsmodell, undurchdringbar komplex und nicht intellektuell zu verstehen – wohl aber musikalisch zu durchdringen, wie hier bewiesen wird. Und tatsächlich wird die Partitur beim Hören plötzlich verständlich und wie ganz selbstverständlich folgen wir dem Lauf der harmonischen Strukturen. Mit vollendet verfeinertem Anschlag holt Beth Levin auch die dezentesten Zwischentöne aus den Tasten hervor, farbenreich und vielseitig. Die Gesamtheit des Stücks hat sie stets im Sinn und so geleitet sie uns sicher durch die vielen Verstrickungen jedes dieser Stücke, so dass wir sie hinreißend in Gänze erleben.

[Oliver Fraenzke, Januar 2021]

Hommage und Selbstverwirklichung

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610069

Auf dem zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Klavierwerke Gordon Sherwoods von Masha Dimitrieva hören wir Stücke, die eine gewisse Hommagefunktion erfüllen: Die „Air“ der „Sieben beschreibenden Klavierstücke“ op. 6 steht im Zeichen Bartóks, die zwei „Rondos im klassischen Stil“ op. 4 greifen die Musik Haydns und Schuberts auf, die „Drei Stücke op. 22“ bekennen sich zu Hindemith. Komplexer werden solche Zuordnungen bei den längeren Werken dieser CD: Die Sonate op. 111+11 bezieht sich auf Beethoven, ist aber in Motto und Klang in buddhistischen Sphären errichtet. Die abschließenden Blues-Variationen op. 33 konzipierte Sherwood auf ein Thema von Peter Heaton, widmete das Werk Fats Waller – in seinem Innersten ist es jedoch eine Hommage auf die gesamte Ragtime-, Blues und Barpiano-Szene.

Das Unglaubliche in der Musik Gordon Sherwoods ist seine Fähigkeit, in jedem Stil er selbst zu bleiben. Mühelos, gar schwerelos, mäandert er zwischen Bach, Wiener Klassik, Romanik und Moderne bis hin zum Jazz, nimmt sich dabei das Beste aus jedem Stil heraus und fusioniert es zu einer eigenen, vielseitigen wie facettenreichen Tonsprache. Nie gleichen sich zwei Werke Sherwoods bezüglich ihrer Tonsprache und doch erkennt man eines seiner Stücke sofort anhand mancher Harmonieabfolgen, Muster oder Figurationen, die er favorisiert. In meiner Rezension über den ersten Teil der Einspielung seiner Klavierwerke vermerkte ich noch: „Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass sein Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist.“ [Zitat: siehe den Beitrag „Weltbüger und Bettler“] Heute würde ich ergänzen, dass er trotz aller Divergenzen doch einen Funken aufweist, die ihn unverkennbar macht in seiner Kompositionsweise. Wie genau sich dieser niederschlägt, das wäre ein spannender Ausgangspunkt für die Musikforschung.

Was seine Biographie angeht, so könnte man alleine viele Seiten füllen, denn Sherwood führte ein filmreich anarchisches, von allen hiesigen Konventionen befreites Leben. Er opferte eine geordnete Lebensführung als Komponist (den Erfolgen seiner frühen Jahre nach zu urteilen sicherlich als gefeierter Star der zeitgenössischen Musik) seinem Drang nach Freiheit; so das Geld es zuließ, reiste er und ließ sich in Afrika oder Asien zu neuer Musik inspirieren. Wo es finanziell fehlte, ging er nach Paris, um dort „Self-Sponsoring“ zu betreiben, also Passanten auf der Straße um eine Bezahlung für seine Musik zu bitten. Wer von den Passanten hätte wissen können, dass einer der Meisterschüler Coplands, Jarnachs und Petrassis, dessen Symphonie op. 3 durch Mitropoulos durchschlagenden Erfolg feierte, gerade um Gaben bettelte. Nur wenige Freunde und Verehrer seiner Kunst wussten um das wahre Genie Sherwoods; erst der Film „Der Bettler von Paris“ verlieh ihm in Deutschland kurzzeitig Aufmerksamkeit – auch Masha Dimitrieva sah diesen Film und versuchte sogleich, diesen wundersamen Mann zu kontaktieren. Über mehrere Ecken klappte dies schließlich und führte zu beidseitig inspirierenden Begegnungen: Gordon Sherwood erhielt den Funken, sein lang geplantes Klavierkonzert gemeinsam mit Masha Dimitrieva in die Tat umzusetzen; auch widmete er ihr andere seiner Kompositionen. Unter anderem steht sie in der Widmung der hier zu hörenden Sonate op. 111+11. Masha Dimitrieva ist es auch, die nach dem Tod Sherwoods sein geistiges Erbe verwaltet und sich als Leitfigur für seine Musik einsetzt. Nicht nur sämtliche seiner Klavierwerke spielt sie aktuell ein, sondern auch alle Lieder.

Die große Herausforderung liegt in diesem Unterfangen auf der Hand: Die Musik Sherwoods verlangt eine souveräne Beherrschung sämtlicher Stile verschiedener Epochen oder gar von Personalstilen einzelner Komponisten, darüber hinaus das Verständnis, hinter diese oberflächlichen Eigentümlichkeiten zu sehen und den Sherwood eigenen Kern zu entdecken.

Direkt nach seiner neutönerischen Symphonie op. 3, durch welche er zu einem der spannendsten jungen Tonsetzer gekürt wurde, schrieb er die Zwei Wiener Rondos op. 4. Auf den ersten Blick mögen sie wie Studienwerke klingen, geschrieben um sich den Stilen der großen Meister anzunähern, doch es steckt mehr dahinter: Sherwood präsentiert nicht nur meisterliche Beherrschung der Handschriften von Haydn und Schubert, sondern kann sie auf unvergleichliche Weise eigenständig weiterführen. Bereits hier bricht er mit den Konventionen und schreibt wissentlich wider die Art der Musik, die ihn neulich noch bekannt machte. Leichter kann man auch als Sherwood-unerfahrener Hörer seine kompositorischen Eigentümlichkeiten in den Sieben beschreibenden Klavierstücken op. 6 und den später entstandenen Drei Stücken op. 22 durchhören. Beide nähern sich zwar ebenso anderen Komponisten an, mit Hindemith und Bartók zwei Meistern der Moderne, doch können in den hier freieren, dissonanteren Tonräumen mehr von Sherwoods favorisierten Wendungen auftreten. Besondere Beachtung verdienen die Zwölf Variationen auf ein Blues-Thema op. 33. Sherwood arbeitete lange Zeit als Barpianist und machte sich so mit den tanzbaren Rhythmen vertraut, mit den Eigenheiten des Blues, aber auch damit, wie man ihn durchbrechen kann. In den Variationen nimmt er den Blues in seine Mikroteilchen auseinander und durchdringt die Form bis ins kleinste Detail, um sie auf teils gar widerborstige Weise neu zusammenzusetzen. Manche der Variationen könnten ohne Weiteres in einer Bar erklingen, andere strotzen vor Dissonanzen und gespannten Momenten, wieder andere glühen vor rhythmischer (Tanz-)Energie. Halsbrecherisch virtuos spielt Sherwood genau mit der Bruchstelle zwischen sogenannter ernster und leichter Musik, zeigt verstohlen heimlich beiden die lange Nase. Hier hört man am deutlichsten, welche Harmoniewendungen Sherwood präferiert, welche Motivschnipsel ihn beschäftigen und was seine Handschrift ausmacht. Den Höhepunkt der CD macht die halbstündige Sonate op. 111+11 aus, die in zweisätziger Faktur einen gewaltig großen Aufbau zeichnet, wie man ihn in dieser Stringenz selten in der Musikgeschichte erlebt. Die Sätze beschreiben zwei buddhistische Entwicklungsstadien: Sotapanna (Vorbereitendes Stadium des buddhistischen Heilsweges. Brodelnd vor Wut, Bitterkeit und gerechtem Zorn. Gier und Selbstsucht sind überwunden, aber noch nicht Ärger und Angst) und Arahat (Endgültiges Stadium des buddhistischen Heilsweges. Besänftigt durch tiefen inneren Frieden, Gelassenheit und Behagen. Ärger, Bitterkeit und Angst sind überwunden). Diesen Weg der Reinigung zeichnet Sherwood – selbst praktizierender Buddhist – in der Musik nach und führt uns hin zu einem verheißenden Höhepunkt. Der Weg wirkt mühsam, voller Verlockungen und Hindernissen, doch die Erleuchtung lockt und zieht uns das Stück entlang. Erzählend, beschreibend, verheißend bannt uns die Musik und lässt uns nicht los, ehe wir einen kurzen Blick auf die Freuden werfen konnten, welche der Heilsweg verspricht.

Masha Dimitrieva führt uns durch diese Musik, angetrieben von der tiefen Zuneigung zu jedem der Stücke und von ihrer Mission, die Musik des „Bettlers von Paris“ erstmalig und vollständig zugänglich zu machen. Nicht nur technisch meistert sie jede Hürde mit Bravour, sondern auch musikalisch durch tiefes Verständnis zu jedem Stil und zum Kern, Sherwoods omnipräsente Handschrift. Perlend klar und heiter klingen die Wiener Rondos, swingend leichtfüßig die Blues-Variationen, verhaltener die Air und perkussiv fokussiert die Stücke op. 22. Aus der Sonate holt Dimitrieva alles heraus, was man sich als Hörer wünschen kann. Durch den allmählichen Aufbau und die Beibehaltung eines kontinuierlichen Stroms nach vorne, der über sämtliche Abbiegungen und Ausschweifungen der Musik hinweg spürbar bleibt, bannt sie uns in die Musik und zelebriert die buddhistische Philosophie durch ihr Spiel.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2020]

Verblüffende Jugendwerke

Orfeo, C 763 093 D; EAN: 4 011790 763323

Das Stuttgarter Kammerorchester unter Michael Hofstetter nimmt alle dreizehn Kammersymphonien von Felix Mendelssohn auf drei CDs auf. Die Box erschien bei Orfeo.

Die Streichersymphonien von Felix Mendelssohn sind weit mehr als bloße Studienwerke oder Kompositionsübungen, es ist von der allerersten an eigenständige und auf ihre Art abgeschlossene Konzertliteratur von handwerklicher Beherrschung und geistiger Inspiration, wie sie viele Kollegen seiner wie unserer Zeit selbst in ihrer Reifephase nicht erreichen. Gedacht waren sie für die Aufführung im häuslichen Bereich, heute sollten sie jedoch auch öffentlich erklingen.

Eine strenge Ausbildung prägte die Kindheit Felix Mendelssohns, der ab seinem sechsten Lebensjahr in Deutsch und Französisch, Mathematik, Kunst und Musik ausgebildet wurde, ein Jahr später (1816) Violin- und Klavierunterricht erhielt. Ab 1818 erhielten Felix und seine Schwester Fanny Privatunterricht in mehreren Fächern. Die Kinder mussten in allen Bereichen hohe Bildung vorweisen können, wurden stets zum Lernen angehalten. Die musikalische Ausbildung legten die Eltern in die Hände von Carl Friedrich Zelter (1758-1832), selbst Autodidakt und hauptberuflicher Maurermeister, der jedoch durch intensive Forschung an alter Musik technische Meisterschaft entwickelte und in hohen Kreisen, vor allem mit Johann Wolfgang von Goethe, verkehrte, was ihm gesellschaftliche Prominenz sicherte. Die Meinungen über Zelter gehen weit auseinander: Als wichtigster musikalischer Bezugspunkt für Felix Mendelssohn nimmt er auf jeden Fall eine Vorrangstellung bezüglich dessen musikalischer Entwicklung ein, auch wenn das Genie des Jungen sich wohl auch „von selbst“ (?) entwickelt haben würde. Die Streichersymphonien entstanden unter seiner Aufsicht und zumindest die frühen spiegeln die Haupteinflusspunkte Zelters (CPE Bach, Händel etc.) deutlich wider.

Der Überschaulichkeit halber ordne ich die Symphonien in drei Gruppen ein, die allerdings nur gedachten Kategorien entsprechen und der organischen Entwicklung einer jeden einzelnen im Kontext nicht im Wege stehen sollten. Die erste Gruppe umfasst die ersten sechs Streichersymphonien, die alle 1821 komponiert wurden und in konsequenter Dreisätzigkeit schnell – langsam – schnell konzipiert wurden. In der Entwicklung dieser sechs Symphonien kann manch eine Gemeinsamkeit zu derjenigen der ersten sechs Klaviersonaten von Mozart gesehen werden (Mozart zählte neunzehn Jahre, als er diese Sonaten komponierte, Mendelssohn schrieb die ersten Streichersymphonien zwölfjährig). Im Umfang sind die sechs 1821 komponierten Symphonien noch recht gering, dafür dicht in der musikalischen Textur. Von der ersten Symphonie an zeigt sich fundiertes technisches Können besonders auf kontrapunktischer Ebene: Insgesamt neigt Mendelssohn noch dazu, seinen Satz zu überfrachten. Allein von der ersten zur dritten Symphonie zeigt sich eine beachtliche klangliche Verfeinerung, die sein unaufhaltsames Streben wie sein eigenes Reflektieren versinnbildlicht. Jedes einzelne Werk experimentiert mit neuen Elementen und Charakteristika. In der vierten Symphonie probiert er eine langsame Einleitung aus (was er ab der Achten dann zum Standard macht) und lässt im Andantesatz erstmalig Elemente seiner späteren, romantischeren Tonsprache durchschimmern. Mendelssohn begann allmählich, seinen Satz aufzuklären, was in der Sechsten schließlich zu klanglichen Erfolgen führte. In dieser entdeckte er zudem das Menuett als Zwischensatz für sich, was die Tore öffnete für viersätzig konzipierte Formen.

In eine zweite Gruppe ordne ich die Symphonien 7-9, diese bestehen nun je aus vier Sätzen, wobei zu der bisherigen Form an dritter Stelle je ein Menuett oder im Falle der 9. Symphonie ein Scherzo hinzutritt. Im Gegensatz zu dem Menuett der Sechsten, das als alleiniger Mittelsatz größeren Umfang benötigt und so zwei Trios besitzt, haben die der Symphonien aus der zweiten Gruppe je nur ein Trio. Zudem wachsen die Symphonien in ihrer Gesamtlänge deutlich an, verdoppeln bis verdreifachen ihre Spieldauer. Die gesamte Konzeption wirkt nun symphonischer, es gibt deutlichere Kontraste und nachvollziehbarere Wechselspiele zwischen den Stimmen: Mendelssohn operiert sparsamer mit seinen Mitteln, verteilt sie ökonomischer. Allgemein verfeinert sich sein Gespür für Klang; dies führt unter anderem dazu, dass er beginnt, die Stimmen aufzufächern, um den Gesamtklang weiter auszudifferenzieren. In der siebten Symphonie begnügt er sich damit, lediglich Celli und Bass eigenständiger zu führen. Ab der Achten experimentiert er mehr: Im Adagiosatz kommen nur Bratschen und tiefe Streicher zum Einsatz, die Bratschen jedoch unterteilt er in drei Sektionen. In der Neunten knüpft er hieran an und teilt die Bratschen in zwei Sektionen, im Andante gibt es zudem insgesamt vier Violinstimmen. Die Zweiteilung der Bratschen etablierte sich von nun an als Standard für ihn.

Da von der zehnten wie der dreizehnten Symphonie je nur ein Kopfsatz überliefert ist, können diese formal nicht eingeordnet werden. Eine dritte Gruppe bilden daher lediglich die elfte und zwölfte Symphonie, welche ich als experimentale Symphonien bezeichnen würde: Mendelssohn geht vollends an oder gar über die Grenzen des Genres, experimentiert mit neuen Formmodellen und Ideen; er ist bereit für das volle Orchester. Mit fünf Sätzen und einer Spieldauer von 40 Minuten erreicht die Elfte ganz neue Dimensionen – im Scherzo nimmt der Komponist zudem Schlagwerk (Pauken, Triangel und Becken) hinzu, schreit also förmlich nach dem Symphonieorchester. Er bleibt dabei, die Bratschen in zwei Teile zu separieren, was die Mittellage facettenreicher ausgestaltet. Die Faktur wird noch luzider und er behandelt seine Mittel noch sparsamer bis hin zur Einstimmigkeit, wodurch er ein größeres Spektrum an Klangfarben erhält. Die Besonderheit der g-Moll-Symphonie Nr. 12 liegt vor allem im Kopfsatz, welcher nach einer langsamen Einleitung in einer großen Fuge zwei Themen durchführt. Hier kehrt Mendelssohn wieder zur dreisätzigen Form zurück, wobei das Finale die Hälfte der Länge ausmacht.

Das Stuttgarter Kammerorchester liefert eine formidable Gesamteinspielung dieser insgesamt dreizehn Streichersymphonien ab, die besonders durch ihren luftig-leichten Klang begeistert. Dirigent Michael Hofstetter verzichtet auf große Geste, sondern hält die Musik schlicht und geradlinig. Er verfolgt die Entwicklung musikalisch mit und passt sein Orchester den Gegebenheiten der Musik an – vor allem behalten die Symphonien dadurch die ausgelassene Jugendlichkeit, die sie charakterisiert, trotz der grandiosen handwerklichen Leistung. Überschwänglich lebendig präsentiert Hofstetter die frühen Symphonien, verleiht den späteren dann mehr Kontrast, differenziert deutlicher aus und gibt ihnen allgemein gewisse Reflexion ganz im Sinne des reifenden Mendelssohn. Ich bewundere den heute selten anzutreffenden Mut, einige der Wiederholungen auszusparen, die in den Noten vermerkt sind: Wenn sich die Musik zu weit vom Ausgangspunkt entfernt hat, macht die Rückkehr ebendorthin oft keinen Sinn mehr, was auf Kosten der Formverständlichkeit geht. Gerade in den umfangreicheren, späteren Werken hätte ich sogar auf noch ein paar mehr Wiederholungen verzichtet. Die Tempi übersteigert das Orchester teils, so dass die Allegri vor allem der früheren Symphonien zu rasch davoneilen und fast durchgehend Alla Breve-Stimmung evozieren, während die Andante-Sätze schleppen: Hier wäre Mut zu subtileren Kontrasten wünschenswert, sich auf die Gratwanderung einzulassen, die Tempi zu relativieren, ohne dass dabei die Gegensätze verschwimmen oder die Musik in den Randsätzen stockt. Technisch bewundernswert gelingen die Unisonostellen, die brillant aufeinander abgestimmt erklingen, sowie die mehrfach separierten Stimmen, wo die Stimmgruppen auch ihr Miteinander im Gegeneinander beweisen.

[Oliver Fraenzke, November 2020]

Vier Pianisten und die Konzerte Vladigerovs

Capriccio, C8060; EAN: 8 45221 08060 4

In historischen Aufnahmen dirigiert Alexander Vladigerov (1933-1999) das Symphonieorchester des Bulgarischen Nationalradios mit den fünf Klavierkonzerten seines Vaters Pancho Vladigerov (1899-1978). Solist des Konzerts Nr. 1 a-Moll op. 6 ist Teodor Moussev (geb. 1948), Krassimir Gatev (1944-2008) übernimmt den Solopart des Zweiten Konzerts c-Moll op. 22 (und spielt quasi als „Zugabe“ noch die Fünf Silhouetten für Klavier solo op. 66). Die Klavierkonzerte Nr. 3 b-Moll op. 31 und Nr. 4 G-Dur op. 48 werden von Ivan Drenikov (geb. 1945) dargeboten und beim Konzert Nr. 5 in D-Dur sitzt der Komponist selbst an den Tasten.

Nach und nach dringt der einstige Ruhm Pancho Vladigerovs wieder zu uns nach Zentraleuropa. In seinem Heimatland Bulgarien zählt er klar als legendärer Komponist, wobei es bezeichnend ist, dass er sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg dort durchschlagende Erfolge feiern durfte. Gelitten hat durch den Krieg allerdings seine Bekanntheit außerhalb Bulgariens; er zog sich bereits 1932 gänzlich aus Deutschland zurück und verlor so eine vorrangige Stellung, geriet in Vergessenheit. Stilistisch zeichnet sich die Musik Vladigerovs durch eine kontinuierliche Verwurzelung in der Tonalität aus, die bereichert wird durch nationales Kolorit und wirkungsstarke Akkorderweiterungen. Er entwickelte früh eine eigene Handschrift, die sich zwar vor allem an slawischen Idiomen orientiert, sich jedoch durch ihren oft überschwänglich tänzerischen Gestus und die sanftere Art ihrer Lyrik von ihnen abhebt. Während bei den Slawen eine Art des entpersonalisierten Weltschmerzes durchdringt, bezieht Vladigerov das Schmerzende seiner Musik auf das menschliche Individuum direkt, verleiht den Tönen so eine packend persönliche Note.

Es verwundert nicht, dass Vladigerov dem Klavier gleich fünf ausladende Konzerte widmete, war er schließlich selbst ein gefragter Virtuose: Er selbst hob alle seine Konzerte aus der Taufe. Geboren wurde er in Zürich, wuchs aber in Bulgarien auf; später siedelte er nach Berlin, wo er sich seit 1912 als Stipendiat aufhielt und eine glänzende Ausbildung unter anderem durch Paul Juon, später Friedrich Gernsheim und Georg Schumann genoss. Dort komponierte er 1917/1918 auch sein Erstes Klavierkonzert op. 6 in a-Moll, das ihm bei der Uraufführung in Sofia den Durchbruch bescherte. Seine Landsleute bejubelten die spürbar bulgarische Note in den Tönen, die in ein gewaltig dimensioniertes Werk eingebunden war. In diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das Publikum schlicht bereit für diese Musik, die traditionsverbunden und doch modern tönte, die Altes mit Neuem verband und dazu orchestrale Mächte entfesselte, die an Leid und Schmerz des Krieges gemahnten. Der Erfolg dieses monumentalen Erstlings bleibt nachvollziehbar; im Bezug auf Vladigerovs spätere Konzerte fällt rückblickend jedoch auf, dass sich hier noch keine eindeutige Handschrift abzeichnete. Vladigerov hält sich an seine Idole, übernimmt viel von Rachmaninoff und Medtner, bedient sich im Finale deutlich bei den Konzerten und dem Totentanz von Franz Liszt. Klanglich überfrachtet er das Werk teils haltlos, erschlägt den Hörer mit Wucht und Brutalität. Dies wird gerade in der vorliegenden Aufnahme deutlich, in der Teodor Moussev am Klavier die Gewalt noch unterstreicht und besonders wild in die Tasten greift. Durch sparsamere Krafteinteilung hätte man dem Konzert sicherlich mehr entlocken und auch das ethnologische Element besser vermitteln können.

In den folgenden Jahren untermauerte sich Vladigerovs Ruf als Tonsetzer wie als Pianist, seit 1922 betreute ihn die Universal Edition und die Wiener Philharmoniker führten einige seiner Orchesterwerke auf. 1930 kehrte Vladigerov zum Klavierkonzert zurück, schrieb sein Zweites in c-Moll mit der Opuszahl 22. Der kompositorische Fortschritt bleibt unübersehbar: Stringenter konzipiert, einheitlicher ausgearbeitet und formal geschlossener als der Erstling belegt es ein gesteigertes Bewusstsein für Wirkung und Ökonomie, ohne dabei seinen mit dem a-Moll-Konzert betretenen Pfad zu verlassen. In Krassimir Gratev fand man einen geeigneten Pianisten für die Aufnahme, der eine enorme Anschlagsvielfalt präsentiert, den Kern der Musik erfasst sowie dem Hörer vermittelt. Er bringt subtile Sinnlichkeit in seinen Part hinein, die nicht nur im Mittelsatz entscheidenden Gewinn bringt.

1932 ging Vladigerov zurück nach Bulgarien, wohl in erster Linie aufgrund der allmählichen Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Er verfeinerte seinen Stil und setzte gerade mit dem Dritten Klavierkonzert b-Moll op. 31 (1937) einen Meilenstein. Dieses ist das wohl leichtfüßigste, luzideste der Konzerte und gleichzeitig das kürzeste: Hier beschränkte sich Vladigerov auf ein Minimum, um doch die volle Wirkung zu entfalten. Als Höhepunkt beschließt das b-Moll-Konzert die Trias der drei Mollkonzerte. Im kommenden Jahr wurde Vladigerov als Professor in Sofia berufen, wo ihn entsprechende Pflichten in Schach hielten – der dadurch entstehende Einschnitt wurde verstärkt durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs.

Siebzehn Jahre vergingen bis zum Vierten Konzert in G-Dur op. 48, das er 1953 komponierte. Das Dur wird zwar gerade im Kopfsatz in Frage gestellt und durch wilde Figuren herausgefordert, dennoch bleibt es vorherrschend und schafft einen gänzlich anderen Charakter, als er in den ersten drei Konzerten dominierte. Man könnte es freilich so deuten, als dass dies ein kleines „Opfer“ gegenüber dem neu gegründeten kommunistischen Regime war, doch würde ich mich davor hüten: schließlich verschaffte ihm allein sein legendärer Status beinahe gänzliche Immunität vor den Restriktionen der Regierung – davon abgesehen, dass seine Musik wohl auch so gut angekommen wäre aufgrund der Tonalitätsbasis und des Einbezugs nationaler Elemente. Das Dritte wie das Vierte Konzert spielt Ivan Drenikov, klar in seinen formalen Vorstellungen und präzise im Anschlag, der vielgestaltig daherkommt und zu keiner Zeit unnötig brutal wäre. Drenikovs Spiel besitzt Volumen und ein Gespür für Kontraste, Verständnis für die melodiösen Linien.

Sein letztes Klavierkonzert komponierte Pancho Vladigerov 1963 in der Tonart D-Dur und gab ihm die Opuszahl 58. Es ist das Strahlendste und Freundlichste aus dem Zyklus, das Dur-Gemüt wird zelebriert. Im Umfang knüpft der Komponist nun wieder an seinen Erstling an, doch gerade im direkten Vergleich fällt auf, wie unbeschwert er nun die Form erfüllen kann und wie elegant er innerhalb dessen überleitet, moduliert und thematisch vernetzt – kurz, welch eine Entwicklung sein Talent über fünf Konzerte und 54 Jahre vollzog. Seine Grundideen, tief verwurzelt in den klassisch-romantischen Traditionslinien, behielt er bei: Im Kopfsatz dürfen sich Orchester wie Solist kraftvoll virtuos präsentieren, Kontraste werden ausgekostet und Extrema ausgelotet. Der Mittelsatz lindert durch pure Lyrik, zarte Melancholie und Sentiment – wenngleich auch er oft Austragungsort für Konflikte ist, die zu regelrechten Eruptionen führen. Der Schlusssatz trumpft in tänzerischem Gestus auf, gerade hier werden die bulgarischen Elemente deutlich, und führt das Konzert zu einem beschwingten, versöhnlichen Ende.

In der Aufnahme des 5. Klavierkonzerts hören wir den Komponisten Pancho Vladigerov selbst am Klavier. Welch ein Erlebnis! Hier bestätigt sich Vladigerovs Ruf als einer der ausgezeichnetsten Musiker seiner Generation, ausgestattet mit einmaligen musikalischen Qualitäten. Bezeichnend für Vladigerovs Spiel ist die Kompaktheit seiner Akkorde, von denen jeder Ton eigenen Stellenwert erhält und mit den anderen Tönen des Griffs präzise abgewogen wird. Vladigerov verzichtet vollkommen auf Härte, verleiht dafür den Tönen Volumen und „kreist“ im Spiel, anstatt anzu“schlagen“: Mit dieser Eigenschaft beschrieb Franz Liszt seinen Kollegen Frédéric Chopin als den vorzüglichsten Pianisten jener Zeit. In der Linie denkt Vladigerov orchestral, diversifiziert so die Tongebung.

[Oliver Fraenzke, November 2020]

Schillernde Geschichten

Wergo, WER 5127 2; EAN: 4 010228 512724

Die Musik von Enjott Schneider erzählt Geschichten ohne Worte und ohne dezidiertes Programm, entsprechend nannte er die CD mit seinen Flötenkonzerten „Flute Stories“. Solist des Schlesischen Philharmonischen Symphonieorchesters und des Schlesischen Kammerorchesters ist Łukasz Długosz, die Orchester werden geleitet von Mirosław Jacek Błaszczyk. Auf dem Programm stehen „Water – Element of Infinity“ für zwei Flöten und Orchester, wo Agata Kielar-Długosz das zweite Flötensolo übernimmt, „Worlds of Tree“ für Flöte, Streicher und Harfe (Agnieszka Kaczmarek-Bialic spielt die Harfe und Dariusz Zboch das Geigensolo), sowie „Pictures of Yang Guifei“ für Flöte und Symphonieorchester.

Anlässlich des 70. Geburtstags des in München wirkenden Komponisten Enjott Schneider wurde nicht nur ein Buch der Reihe „Komponisten in Bayern“ herausgegeben, sondern auch Wergo bereichert seine eh umfangreiche Diskographie um mehrere Titel. (Geboren wurde der Komponist übrigens als Norbert Jürgen Schneider, später änderte er seinen Namen in die ausgesprochene Version der Anfangsbuchstaben seiner beiden Vornamen NJ.) Die hier vorliegende CD umfasst drei Flötenkonzerte in unterschiedlichen Konstellationen.

Enjott Schneider ist ein Polystilist, der sich frei in den musikalischen Wortschätzen sämtlicher Gattungen und Epochen bedienen kann und dies ausnutzt. Dabei behält seine Musik durchweg schillernden Farbenreichtum, Anmut und Schönheit. Bekannt wurde Schneider durch sein Wirken als Filmmusikkomponist, künstlerisch ist dies aber nur die Spitze des Eisberges, welches sein Schaffen darstellt: auch fernab der filmtypischen Klangelemente kann er sich genuin ausdrücken. Die auf „Flute Stories“ zu hörenden Werke konzipierte Schneider genau auf den klaren, hellen Ton der Flöte, die dankbar leuchten darf. Das Geschichtenhafte wird vor allem im Doppelkonzert erlebbar, welches das Element Wasser und dessen formbar-plastische Unendlichkeit skizziert. Bildlich erleben wir die Änderung der Aggregatszustände, das Aufbrausen und Abflauen – wieder auf ganz andere Weise als Debussy uns dieses Element näherbrachte und uns gar das Gefühl einer Gischt auf der Haut herzaubern konnte. In der Darbietung von „Water“ durch Łukasz Długosz und Agata Kielar-Długosz verschmelzen die beiden Flöten zu einem großen Instrument, einander ergänzend und umspielend. Sie kontrastieren zueinander, folgen aber durchgehend dem gleichen Atem und der gleichen Intention: eine grandiose Leistung der beiden Solisten, die sich in der unverbrauchten Reinheit des Klangs laben, ohne darin zu versinken. „Worlds of Tree“ kreiert schon etwas abstraktere Bilder, die durch die kleinere Besetzung besondere Intimität erhalten. Die Instrumente mischen sich fein ab und besonders der Harfenistin Agnieszka Kaczmarek-Bialic gebührt große Bewunderung für ihren bescheidenen, dabei vollends aufmerksamen Einsatz, der eine perfekte Symbiose mit den Streichern eingeht. Tontechnisch steht in diesem Konzert die Flöte etwas zu sehr im Vordergrund, eine kammermusikalisch-gleichberechtigte Abmischung hätte noch mehr Facetten hervorgelockt. „Pictures of Yang Guifei“ wirkt pompöser, erdverankerter als die anderen beiden Werke, nutzt den Orchesterapparat bis ins Letzte aus. Hier kommt Dirigent Mirosław Jacek Błaszczyk voll auf seine Kosten und spielt mit den Klanggewalten des Schlesischen Philharmonischen Symphonieorchesters, das er plastisch zu gestalten weiß.

Die Musik von „Flute Stories“ spricht den Hörer an und präsentiert sich verständlich. Schneider gelingt es, anspruchsvolle Musik zu schreiben, die aber nicht den Intellekt, sondern eben die Emotionen anspricht, die vordergründig für unser Empfinden verantwortlich sind. Gezielt mischt er sie ab und zaubert uns so in fantastische Welten purster Imagination.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2020]