Alle Beiträge von Oliver Fraenzke

Aus der weiblichen Perspektive

Im Rahmen des Festivals Art in Perspective spielt Yamilé Cruz Montero ein Programm mit „Komponistinnen aus aller Welt“. Die meisten der gespielten Werke sind Uraufführungen, die für das Festival in Auftrag gegeben worden sind. Die Komponistinnen sind Miriel Cutiño und Keyle Orozco aus Kuba, Tania León aus Kuba / USA, Elena Tarabanova aus Russland / Deutschland, Verena Marisa aus Deutschland, Anna Korsun aus Ukraine / Deutschland, Leticia Armijo und Lilia Vázquez aus Mexiko und Diana Syrse aus Mexiko / Deutschland.

Die Frauen in der Zeitgenössischen Kunst, darum dreht sich das neu gegründete Festival „Art in Perspective“ von Diana Syrse und Eva Schabatin. An zwei Tagen werden Frauen in vielen Bereichen der Kunst präsentiert sowie ihre Probleme und Benachteiligungen dargestellt. Im Pyramidensaal des neuen Gebäudes der KHG-TUM in der Karlsstraße 32 in München gibt es Tanz, Musik, Ausstellungen und Podiumsrunden.

In der ersten Programmhälfte am 11. März besteht der Ablauf hauptsächlich aus einer großen Podiumssitzung, in der Frauen aus verschiedenen Zweigen der Kunst vorgestellt werden und über ihre Probleme und Herausforderungen als Künstlerinnen sprechen sowie darüber, warum sie trotz der schwierigen Voraussetzungen ihr Leben der Kunst widmen. Zuvor werden allerdings von Diana Syrse noch zwei CDs der Reihe „Colección Murmullo de Sirenas“ beworben, welche ausschließlich Musik von Komponistinnen Mexikos beinhalten. Leider ist die Zeit nicht ausreichend, um in die Musik auch hineinzuhören, doch kann man sie direkt an der Abendkasse erwerben und nach ausgiebigem Hörgenuss derselben lässt sich sagen, dass darauf wirklich interessante und einprägsame moderne Musik zu hören ist, die sich auch empfehlen lässt. Auch gibt es noch ein kurzes Klavierintermezzo, bei welchem die elfjährige Viktoria Vanninger eine kurze popmusikalische Eigenkomposition vorträgt, die schon im jungen Alter ein erstaunliches Gespür für Harmoniechangierungen aufweist.

Nach der Pause beginnt das Klavierrezital von Yamilé Cruz Montero, die sich der extremen Herausforderung stellt, zehn ganz neue Werke an einem Abend zu spielen, ohne auch nur ein etabliertes und allgemein bekanntes Werk hinzuzufügen. Das Konzert beginnt mit der „Pieza Rapsodiosa“ von Miriel Cutiño (Kuba), einem virtuosen und zerrissenen Stück von höchster Schwierigkeit, das sich als klangschön und eingängig zeigt, wenngleich auch ohne die erwarteten kubanisch-rhythmischen Elemente und ohne besonderen inneren Zusammenhang. „Der Kranke“ von Elena Tarabanova (Russland/Deutschland) folgt, ein noch zersprengteres Werk über den Zwiespalt eines sterbenden Körpers und der auch nach dem Tod noch unruhigen Seele, wobei die Musik zwischen Popmusikelementen und herben Dissonanzen hin und her schwankt. Die vergleichsweise anerkannteste Musik stammt von Tania León (Kuba/USA), heute bereits eine Komponistin älterer Generation, die sich zumindest in ihrem Heimatland einer breiteren Bekanntheit erfreut: „Tumbao“, eine knackig prägnante Miniatur von brillantem Rhythmus, beißendem Witz und Humor, sowie „Momentum“, etwas ruhiger, doch in ähnlichem Stil. Das nächste Stück ist quasi ein Heimspiel, Verena Marisa studierte in München Komposition und Filmmusikkomposition, ihr „between lives“ zeigt entsprechend eine besonders hohe handwerkliche Beherrschung auch der neuesten Klangerzeugungsmöglichkeiten, es ist das freieste und geräuschlastigste Stück des Abends. Ganz das Gegenteil ist „De Chismes y Confidencias“, das eher durch Traditionsverbundenheit aufwartet. In dieser Komposition von Keyla Orozco (Kuba) herrscht auch der musikalische Scherz vor, denn sie bildet nicht nur ein Orchesterkonzert ab, sondern auch die Geräusche des Publikums davor sowie das Auftreten und Anklopfen des Dirigenten. Für die Pianistin wohl das anstrengendste Werk des Abends ist „Acqua“ von Anna Korsun (Ukraine/Deutschland), ein aus spärlichem Material zusammengepuzzeltes Stück aus nicht enden wollenden Glissandi und eher willkürlichen gesetzten Akkorden. Wieder traditionsverbunden und eine das typische Landesgefühl evozierende Musik ist „Andiamos“ der Mexikanerin Leticia Armijo, welches in herrlicher Verträumtheit den Hörer in den Bann zieht. „Scratch Cat!“ ist eine rockige Toccata der Festivalveranstalterin Diana Syrse, voll von vorwärtstreibenden Rhythmen und wohl die interessanteste der Uraufführungen des Abends. Für die letzte Komposition, „Destellos des Alba“ der Mexikanerin Lilia Vásquez, holt sich die Pianistin noch einige Mitglieder des Ensemble Zeitsprung unter dem Dirigat von Markus Elsner ins Boot (Dirigent, Violinist und Flötist sind die einzigen drei Männer, die heute auf der Bühne stehen). Das Ensemble ist von höchster Qualität und von einer besonderen Klangverliebtheit, die jede Phrase auf natürliche Weise entstehen lässt. Gemeinsam schweben die Musiker in den harmonischen Phantasien dieser Morgenidylle, die den heutigen Abend beschließt.

Eine wahre Entdeckung ist die Pianistin Yamilé Cruz Montero, die durch hochmusikalisches und sehr feinfühliges Klavierspiel beeindruckt. Trotz des leicht schepprigen und nicht ganz lupenrein gestimmten Flügels erschließt sie ungeahnte Nuancen in der Musik. In all den divergierenden Kompositionen und bei dem ganz unterschiedlichen musikalischen Gehalt sucht und forscht sie, um überall das Bestmöglichste entstehen zu lassen. Sogar dem glissandoüberlaufenden Acqua entlockt sie feinste Schattierungen und eine perlige Geschmeidigkeit, die ihresgleichen sucht. Fantastisch ist Cruz Monteros Gespür für Rhythmik, die stechend scharf und trotz immenser Herausforderungen vollkommen präzise ist. Respekt gebührt ihr auch alleine schon für die Tatsache, sich so sehr für Neues und Unbekanntes einzusetzen, eine solche Anzahl an Uraufführungen von hoher Komplexität auf sich zu nehmen für einen Auftritt in kleinem Rahmen.

So ist der Abend des elften März eine wahre Fundgrube von Neuentdeckungen und interessanten Erfahrungen. Gerade die Stücke von Tania León und Diana Syrse werden mir persönlich noch länger im Kopf bleiben – und natürlich die wunderbare Pianistin.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Ein Programm, zwei Dirigenten

Das erste Programm der Munich Young Classical Players wird gleich an drei kleinen Spielstätten in München dargeboten, am 6. März in der Moor Villa, am 10. März im Bürgersaal Fürstenried sowie am 17. März im Kleinen Theater Haar. Für The New Listener höre ich die zweite Vorstellung mit einem Programm bestehend aus Joseph Haydns Ouvertüre in D Hob. Ia:7 und seiner Symphonie Nr. 87 in A-Dur Hob. I:87, der Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 von Wolfgang Amadeus Mozart und der 5. Symphonie in B-Dur D 485 von Franz Schubert. In der ersten Hälfte wird das Dirigat von Sergey Lunev übernommen, die Symphonien von Haydn und Schubert leitet Maximilian Leinekugel.

Die Munich Young Classical Players wurden dieses Jahr erst gegründet von den beiden Dirigenten Sergey Lunev und Maximilian Leinekugel aus Studenten der Münchner Musikhochschule und anderen Musikern mit (beziehungsweise: in) hoher musikalischer Ausbildung. Ziel ist es, auch in kleinen Konzerthäusern Musik auf spieltechnisch hohem Niveau aufzuführen – Zentrum dabei soll vorerst München bleiben.

Spieltechnisch liegt die Qualität tatsächlich recht weit oben, die Musiker sind größtenteils auf einem beachtlichen Niveau und halten trotz der kurzen Zeit, die das Kammerorchester besteht, erstaunlich gut zusammen. Die Besetzung ist ziemlich klein, es gibt nur je drei erste und zweite Geigen, die Kontrabasssektion besteht gar aus nur einem einzigen Spieler, dafür ist ein ziemlich vollständig besetzter doppelter Bläsersatz vorhanden. Diese Ungleichheiten der Aufstellungen werden jedoch gut kaschiert, so dass das Verhältnis erstaunlich ausgewogen erscheint. Der Klang ist entsprechend recht trocken, da sich drei Geigen pro Stimme schlecht mischen, was durch große Präsenz und größtenteils reine Intonation wettgemacht wird. Besonders hervorzuheben ist zweifelsohne der grandiose Kontrabassist, der dem ganzen Streicherapparat eine solide Klanggrundlage schenkt, sein spiel ist exakt und sauber, auch gehört er zu den wenigen Streichern, die das Vibrato einmal vernünftig einsetzen (ein übermäßiges Vibrato ist bekanntlich der ständige Begleiter von vor allem hohen Violinen und Celli, letztere meist mit noch größerem und störenderem Ambitus). Auch der gesamte Bläserapparat glänzt durch Präzision und durch einen gediegenen Klang.

Nach der kurzen, aber typisch Haydn’schen Ouvertüre in D wagt sich das frisch gegründete Orchester unter Leitung von Sergey Lunev direkt an Mozarts Symphonie Nr. 40 in g-Moll, ein vielgespieltes und somit mit hohen Erwartungen versehenes Stück mit hohen technischen und inhaltlich-musikalischen Anforderungen. Dieses Werk des späten Mozart wird durch seinen dunklen und teils doppelbödig erscheinenden Charakter ausgezeichnet, es wirkt nur bei genauestem Verständnis von Dynamik, Phrasierung und Tempi. Sergey Lunev dirigiert es vor allem aus den Unterarmen heraus, dennoch mit ausladenden Gesten, und spornt das Orchester damit immer wieder an; seinem Schlag ist leicht zu folgen. Das Tempo gerät jedoch immer wieder ins Bröckeln und weist Inkonsistenzen auf, das Andante ist um einiges zu schnell, dafür fällt die Geschwindigkeit im Trio des Menuetts rapide ab. Das eh schon schnell begonnene Finale (eine Herausforderung vor allem für die Streicher) wird immer noch rasender, was es den Kammerorchestermusikern nicht einfach macht, da noch mitzuhalten. Obgleich die hohen Fähigkeiten der Musiker hier deutlich werden, macht das Stück stellenweise den Eindruck, nur auf Durchkommen geprobt zu sein. Einen schönen Klang macht dafür vor allem der Kopfsatz her, und auch das Allegretto-Menuett gerät knackig und frisch.

Nach der Pause steht Maximilian Leinekugel am Dirigentenpult. Der 1995 geborene Student, der bereits zwei Jahre Gaststudent in Dirigieren an der Musikhochschule war, leitet Schubert und erneut Haydn. Die Haydn-Symphonie avanciert zum Höhepunkt des Abends, hier wird die intensive Arbeit auch an musikalischer Struktur, dem atmenden und pulsierenden Bogen und vor allem an nuancierter Dynamikabstufung deutlich. Leinekugels Leitung geschieht hauptsächlich aus dem Oberarm, seine Gesten sind ausgearbeitet und sehr schwungvoll mit vielen kleinen Schnörkeln. Er geht viel mehr als Lunev auch aus seiner aufrechten Position heraus, mal krümmt er sich und geht in die Knie, mal bewegt er sich förmlich auf sein Ensemble zu. Die Orchestermusiker folgen gerne seiner Einladung zur aktiven Gestaltung dieser Symphonie und holen das beste heraus, was einem so frisch gegründeten Ensemble nur irgend möglich ist.

Abschluss des Abends ist die fünfte Symphonie von Franz Schubert, ein Werk von subtiler Komplexität und Vielschichtigkeit, das von den meisten leider unterschätzt und fast immer sehr oberflächlich dargeboten wird. Wahrhaftig wirkt das Werk bereits nach kurzer Übezeit, doch ein kurzer Blick in die Partitur genügt, um festzustellen, wie viel mehr doch dahinter steckt. Auch hier wird wieder viel Arbeit an Details sichtlich, wenn auch das Orchester teilweise an seine Grenzen stößt mit den hohen Anforderungen Schuberts, beispielsweise den Anfang tatsächlich Pianissimo zu spielen, die Stimmpolyphonie im zweiten Satz glaubhaft zur Geltung zu bringen oder auf kürzeste Distanz viele Sforzati einzeln aus der Melodie herauszumeißeln. Doch werden gerade die Randsätze sehr prägnant genommen, und auch das Allegro molto-Menuett hat beschwingten Charme.

Die jungen Musiker der Munich Young Classical Players sind auf einem hohen Niveau und werden sich unter guter Leitung sicherlich sehr bald zu einem Kammerorchester mit starkem Zusammenhalt und Liebe zum Detail entwickeln können. Sie schlagen bereits bei ihren ersten Konzerten einen ausgezeichneten Weg ein, den fortzuführen sich lohnen wird.

[Oliver Fraenzke, März 2016]

Bedrohliches und Humoreskes

Fagottkonzerte von Jolivet, Tomasi, Françaix und Villa-Lobos
Matthias Rácz (Fagott)
Stuttgarter Kammerorchester, Johannes Klumpp

Jean Françaix: Concerto pour basson et 13 archets (1979)
Henri Tomasi: Concerto pour basson et archets avec harpe (1961)
André Jolivet: Concerto pour basson, archets, harpe et piano (1954)
Heitor Villa-Lobos: Ciranda de sete notas für Fagott und Streicher (1933)
Jean Françaix: Divertissement pour basson et archets (1942)

Ars Produktion ARS 38174 (EAN: 4260052381748)

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Vier Französische Konzerte für Fagott und kleine Besetzung – teils nur Streicher, teils ergänzt durch Harfe (Tomasi) oder Harfe und Klavier (Jolivet) – hat Matthias Rácz mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter Johannes Klumpp eingespielt, zuzüglich Villa-Lobos’ ‚Miranda de sete notas’ von 1933. Rácz beherrscht sein Instrument in seltener Vollendung, er ist ein wirklicher Erzähler auf dem Fagott, und auch das Virtuose ist bei ihm in besten Händen. Das Fagottkonzert ist – nach prominenten Vorläufern wie Mozart oder Weber – eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts (in der romantischen Epoche hatten die Bläser als Solisten mit Orchesterbegleitung allgemein einen schwachen Stand, wenn man von Webers Klarinettenkonzerten einmal absieht; da ist man schon froh über ein Oboenkonzert von Klughardt, ein Flötenkonzert von Reinecke, das erste Hornkonzert von Richard Strauss). Die Anordnung vorliegenden Programms ist etwas seltsam, indem das mit Abstand unbedeutendste, trivialste Werk am Anfang steht: das Konzert von Jean Françaix von 1979, also auch das am spätesten entstandene. Es ist deshalb etwas peinlich, weil zwar erlesenste technische Fertigkeit von allen Beteiligten gefordert wird, jedoch der Gehalt und die expressive Spannweite nicht über das Niveau von Charlie Chaplin oder Zirkusmusik hinausgeht. Die Ecksätze sind ungefähr so anspruchsvoll wie ‚Mein Hut, der hat drei Ecken’, und so etwas hat schon Darius Milhaud (etwa in ‚Le Bœuf sur le toît’) schon viel besser und origineller gemacht. Einzig der langsame Satz hat eine andere Substanz, doch wird er hier schlicht zu zügig genommen (mit zusätzlichen  Beschleunigungen zwischendurch, die der Komponist nicht vorsah), und irgendwie wissen hier alle Beteiligten nicht so recht, was sie außer Andacht in diese Musik ‚hineininterpretieren’ sollen… Natürlich wusste Françaix genau, was er tat, und hat seine Aufgabe technisch in jeder Hinsicht makellos gelöst, solange wir nicht darauf achten, ob die größere Form irgendwie bezwingend sei. Um wieviel besser ist sein frühes Divertissement von 1942, ursprünglich mit Bläserquintettbegleitung komponiert und damals verloren gegangen, später von Graham Waterhouse rekonstruiert – mit dieser launigen, kurzweiligen Musik klingt die CD so amüsant wie feinsinnig ironisch aus. Man hört: Françaix war ein Mann der kleinen Formen, die beherrschte er vollendet, ob man seine meist absichtlich belanglose Musik mag oder nicht, und für ein Konzert von gut 23 Minuten Länge (in vier Sätzen) reichte die Spannung einfach nicht aus, jedoch sehr wohl für ein gleichfalls viersätziges Divertimento von neun Minuten Dauer. Den Musikern hat jedenfalls beides eine Menge Spaß gemacht, was man auch auf Schritt und Tritt hört, und der untadelige Solist hat seinen durchweg großen Auftritt.
Alles andere hat weit mehr Substanz. Villa-Lobos ist noch zu akademisch europäisch verstanden, da ist vor allem mehr schwereloser Groove drin. Doch muss man in allen Stücken bemerken, wie sehr das Orchester unter Klumpp rhythmisch „auf Zack“ ist. In diesem Werk dominiert das Fagott unangetastet und darf unentwegt singen. Insgesamt eine Freude, das zu hören.
Eine für mich großartige Entdeckung ist das 1961 entstandene Konzert des korsisch-stämmigen Henri Tomasi (1901-71), der vor dem Krieg einige Jahre das französische Radio-Kolonialorchester in Vietnam leitete und später das Orchestre National de France. Heute ist er vor allem durch sein Trompetenkonzert und die Flötenkonzerte bekannt. Er schrieb aber unzählige weitere Konzerte, eigentlich nur das Cello hat er nicht bedacht. Sein Fagottkonzert besticht mit einer unergründlichen Mischung aus Bedrohlichem und Humoreskem, das niemals in jene Gefilde der Belanglosigkeit abgleitet, vor welchen französische Musik gelegentlich nicht sicher ist. Auch die Orchestration ist von erlesenster Finesse, und durch alles führt ein energetischer roter Faden, der die Spannung nicht abreißen lässt. Solist und Orchester meistern die virtuose Faktur mit bemerkenswert präziser Leichtigkeit. In dieser Musik kommen unterschiedlichste Einflüsse zusammen, bis hin zu niemals plakativ zur Schau gestellten Exotismen, und dabei klingt sie stets distinguiert südfranzösisch. Und: sie kreiert einen imaginären ‚Film noir’. Man könnte an Truffauts ‚Geheimnis der falschen Braut’ oder ‚Die Braut trug schwarz’ denken – an jeder Ecke lauert eine unheimlich verführerische und gefährliche Deneuve oder Moreau… Danach dürfte es kaum jemanden geben, der nicht gerne mehr von Tomasi hören möchte.
Die Krone gebührt freilich immer noch André Jolivet für sein grandioses Konzert von 1954. Nur ein Klavier tritt zu Streichern und Harfe hinzu, und was für eine wilde Farbigkeit, was für eine magische Alchimie! Das zweisätzige Werk ist zurecht ein Klassiker geworden, und Matthias Rácz darf nun zu den feinsten Musikern seines Fachs gezählt werden. Es ist aber auch (wie Tomasi übrigens in nicht geringerem Maße) herrlich dankbar für sein Instrument geschrieben. Jolivet schafft es sogar, eine ‚Fuge’ frenetisch obsessiv klingen zu lassen, sozusagen eine Transzendenz des Akademischen mit einer fast schon rohen Schroffheit, einer archaisierenden Auslegung moderner Klangmittel herzustellen. Und er lotet das ganze Spektrum von mystischer Introspektion bis zu frenetischer Überdrehtheit aus. Jazz und Orient begegnen sich hier in einem Geist, der die Abgründe liebt und doch stets eine französische Rationalität auf der Hinterhand hat, die bei aller systematisch betriebenen Enthemmung nicht den Klischees von Pathos, Sentimentalität oder prätensiös neutönerischem Bruitismus aufsitzt. Großartig – wie vieles von Jolivet, das heute fast kein Mensch kennt (man denke nur an seine drei Symphonien, das Klavierkonzert, die Cellokonzerte). Und wieder glänzen alle Beteiligten mit Geistesgegenwart und Präzision. Natürlich gibt es auch Fehlleistungen wie das pompös vierschrötige Ritardando am Ende des ersten Satzes, das überhaupt nicht passt, sondern im letzten Moment den resoluten Charakter sabotiert. Gemessen an dem, was wir kennen, ist es insgesamt jedoch auf sehr hohem Niveau. Das gilt auch für die durchsichtige und ausgewogene Aufnahmetechnik und den Bookletessay, den sich Daniel Knaack und der Dirigent in simuliertem Zwiegespräch teilen.
[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, März 2016]

Das Atmen der Stille

primTON Thomas Hammer Label & Musikverlag, pT-1132; EAN: 4 250523 311329

 2.0. Reflexions

Der deutsche Komponist Martin Torp spielt auf einer CD für das Label primTON seinen Klavierzyklus Reflections, 64 miniatures for piano ein, den er von 2009 bis 2012 komponierte.

Direkt nach Veröffentlichung seines Klavierzyklus „Still-Leben“, welche ein großer Erfolg wurde, machte sich Martin Torp an seinen nächsten Klavierzyklus, Reflections – Reflexionen. Der Zyklus aus 64 Stücken, in vier Teile zu je 16 Stücken – also jeweils vier Mal vier – geteilt, sollte drei Jahre seiner Schaffenszeit in Anspruch nehmen und mit über 70 Minuten Spielzeit der bisher längste Zyklus des Berliner Komponisten werden. 2015 erschien die Aufnahme mit Martin Torp selbst am Klavier bei primTON.

Die vierundsechzig Stücke von Reflections haben allesamt einen äußerst ruheverströmenden, ja gar meditativen Charakter. In aphoristischer Kürze stellt sich jede der Miniaturen gleich einem kleinen Kristallsplitter vor, durch den sich eine fragmentarische Welt auftut, die sofort wieder in sich zusammensinkt. Fast alle Stücke sind in langsamem Grundtempo und von behutsam-ruhigem Gestus, schnelle Notenwerte sind die absolute Ausnahme, ebenso Anwachsen der Dynamik über mezzoforte hinaus. Jedoch sind Ausdruck und musikalischer Stil der Miniaturen vollständig verschieden, äußerst vielseitig, obgleich sie alle aus der Stille kommen und wieder dorthin gehen langsamen Atemzügen gleich (interessant, dass Martin Torp diese Assoziation, die mir sogleich beim Anhören kam, auch im Booklet ganz zentral herausstreicht). Die Musik bewegt sich weitestgehend im tonalen Bereich, weist Einflüsse von alter Musik ebenso wie von Minimalmusic auf und erhält in vielen Miniaturen einen deutlichen Popmusikanstrich durch die schlichte wie doch changierende Harmonik und die handwerklich exquisite Einfachheit des Satzes. Freilich werden auch andere Einflüsse „reflektiert“, so beruft sich Torp namentlich auf Brahms, Messiaen, Schönberg, Glass und Strawinsky, an die jeweils in einer Miniatur angelehnt wird bis hin zum Grenzbereich einer Stilkopie, welcher allerdings zu keiner Zeit überschritten wird; und in manchen Stücken stützt sich der Komponist auch auf orientalische Einflüsse. Zudem lassen sich meines Erachtens deutliche Parallelen zu französischen und spanischen Impressionisten sowie Postimpressionisten heraushören. Sollte versucht werden, alle Stücke auf einen einzigen Nenner herunterzubrechen, so muss zweifelsohne der meditative bis spirituelle Aspekt genannt werden, der alle Nummern einem roten Faden gleich durchzieht, die 64 Stücke zusammenhält, die Fragmente auf einer übergeordneten Ebene zu einer Einheit verschmelzen lässt.

Auch als Pianist kann Martin Torp eine große Gelassenheit verströmen, er nimmt seine Miniaturen mit einer enormen Leichtigkeit und Lockerheit. Er kann die feinen Dynamikabstufungen wunderbar abschattieren und erreicht ein immenses Spektrum klanglicher Feinheiten, was bei solch einer nur im unteren Lautstärkenbereich sich abspielenden Musik auch von zentraler Bedeutung ist. Sein Spiel ist sogar im äußersten Pianissimobereich noch voll, rund und leicht hallig, das Pedal verwendet er allerdings zu keiner Zeit übermäßig lang und lässt nichts verschwimmen, soweit es nicht ausdrücklich so beabsichtigt ist. Man spürt deutlich ein großes Verständnis für den musikalischen Fluss und für das durchgehende Wechselprinzip von Spannung und Entspannung, das im Spiel Martin Torps plastisch zum Ausdruck kommt. Reflections ist eine Einspielung von tiefgehender spiritueller Erfahrung, wahrlich Balsam für die Seele, beruhigend und dennoch nicht nur auf schlichten meditativen Formeln beruhend, sondern stets echten musikalischen Gehalt aufweisend.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Jubiläum in Regensburg

Sein 30jähriges Bestehen feiert das Regensburger Amateur-Orchester am Singrün mit drei Konzerten, am 20. Februar in Nittenau, am 21. in Viechtach und am 28. im heimischen Audimax der Universität Regensburg. Lutz Landwehr von Pragenau dirigiert Ludwig van Beethovens Egmont-Overtüre f-Moll Op. 84, das Cellokonzert h-Moll Op. 104 von Antonín Dvořák sowie die Erste Symphonie in c-Moll Op. 68 von Johannes Brahms. Der Solist ist Johannes König.

Gerade nach den Konzerten des Musica-Viva-Wochenendes in München ist es wieder eine angenehm klingende Wohltat, ein Programm hören zu dürfen wie das am 28. Februar im Audimax der Universität Regensburg. Nach ihren letzten Programmen mit teils nicht ganz so im Konzertleben etablierten Werken von Sergej Prokofieff oder Nino Rota gibt es am heutigen Abend ausschließlich Standardwerke der Konzertliteratur. Die Ouvertüre zu Goethes Egmont ist eine der ersten reinen Konzertouvertüren, sie fasst die gesamte Handlung des Dramas musikalisch zusammen und nimmt dabei noch die Siegessymphonie der Schauspielmusik vorweg. Nach der Enthauptungspassage schwenkt die bisher so bedrohlich-düstere Musik in überschwänglichen Jubel um und das Opfer Egmonts wird durch die Freiheit des Landes belohnt, wobei die Piccoloflöte ihren vielleicht ersten großen wie zentralen Auftritt der Musikgeschichte erfährt. Das späte Cellokonzert Antonín Dvořáks zählt als Königswerk der Gattung, blieb allerdings ein Einzelkind – ein früherer Versuch wurde vom Komponisten weder orchestriert noch veröffentlicht. Das Konzert zeichnet sich durch die Dvořák-typische Zelebrierung seiner eingängigen Themen und Motive wie durch einen sehr dichten und die Möglichkeiten des Instruments vollkommen ausnutzenden Solopart aus, der in den Ecksätzen keine Solokadenz erhält. Nach der Pause gibt es dann die erste Symphonie c-Moll von Johannes Brahms, dem diese Leistung erst nach jahrzehntelangem Ringen gelingen mochte, mehrfach unter der Last, es Beethoven gleichtun zu wollen, einknickend. Und wie auch in dessen Symphonien, Extremfall in der Neunten, ist Brahms‘ erstes symphonisches Werk absolut finalfokussiert und erfährt dort eine in strahlendem C-Dur ausmündende Apotheose, die thematisch sogar ein wenig an „Freude schöner Götterfunken“ erinnert, diese Ähnlichkeit aber geschickt – fast schelmisch – sogleich durch leichte Variation kaschiert.

Charakteristisch für das Orchester am Singrün ist ein recht trockener Klang ohne übermäßig viel Vibrato in den Streichern. Die Laienmusiker agieren auf recht beachtlichem Niveau und sogar das sonst bei Laienorchestern meist sehr risikobehaftete Blech spielt heute ziemlich sauber. Dynamisch kann das Orchester viele fein abgestufte Nuancen hervorbringen, was den Werken einen bezaubernden Ausdrucks- und Farbenreichtum verleiht, und was zweifellos das Verdienst des Dirigenten Lutz Landwehr von Pragenau ist. Erfreulich sind bei diesem Klangkörper vor allem die tiefen Streicher, die einen angenehm warmen und präzisen Klang haben und mit dem Vibrato sparsam umgehen, was gerade im Vergleich mit der üblichen Streicherpraxis wohltuend erscheint. Auch die Holzbläser spielen exakt, feinfühlig und mit viel sanglicher Anteilnahme.

Mit einem markigen und ebenso trockenen Klang kann sich Johannes König gut dem Orchester gegenüber behaupten im Violoncellokonzert von Antonín Dvořák. Mit dem hochvirtuosen Solopart und dessen technischen Schwierigkeiten kommt der junge Cellist bestens zurecht und spielt mit hoher Dichte und Konzentration. Jedoch nimmt er die Tempi gern um einiges zu schnell, wodurch die Sätze teilweise etwas bröckeln – gerade der letzte trotzige Finalaufbau droht, zu zerfallen. Die Tempi sind allerdings auch allgemein ein wenig wackelig an diesem Abend, schon bei Egmont irritiert, dass er teilweise auf Viertel genommen wird anstatt auf die vorgeschriebenen Halben, und auch bei Brahms hätte teilweise etwas mehr Ruhe nicht geschadet. Als Zugabe gibt Johannes König zusammen mit einigen Musikern des Orchesters noch den Schwan von Camille SaintSaëns aus dem Karneval der Tiere. Hier zeigt er, bei fast schon ulkig uhrwerkhaft-mechanischer Begleitung unter Führung des recht humorfrei erscheinenden Konzertmeisters, dass neben der halsbrecherisch-virtuosen Höchstleistung auch das lyrische Moment eine seine Stärken ist.

Der Mann des Abends ist zweifelsohne Lutz Landwehr von Pragenau, der bereits als Gründungsmitglied des Orchesters mitwirkte und auch heute wieder an dessen Spitze steht. Ihm gelingt es nicht nur, das Laienorchester gut zusammenzuhalten und zur Gestaltung auf artikulatorischer wie dynamischer Ebene anzuregen. Seine Bewegungen sind eine wirkliche Kunst für sich, alles ist sehr zentral aus dem Körperzentrum heraus empfunden in einem einzigen großen Fluss, der die Musik direkt bildlich zu beschreiben vermag. Mit seinen ausladenden Gesten animiert er die Musiker zu größter Anteilnahme. Wenn zwar an diesem Abend einige kleinere Pannen im Orchester passieren und es einige Stellen gibt, die nicht ganz so vollendet erklingen, so zeigt sich doch, welch eine gewaltige Leistung in der Arbeit dieses Dirigenten steckt und wie ein solches Orchester von dieser Leistung anhängt. Lutz Landwehr von Pragenau gehört definitiv nicht zu den Dirigenten, die ihre Assistenten die Arbeit machen lassen, um danach auf der Bühne eine große Show abzuziehen, wie man es bei manchen A-Orchestern oft erleben muss – sieht man den Vergleich, fällt dies schon bei den ersten Takten ins Auge. Es würde mich wirklich einmal interessieren, auch eines seiner eigenen Orchesterwerke live zu hören!

Als Zugabe gibt es noch den Ungarischen Tanz in g-Moll von Johannes Brahms, der besonders schwungvoll gelingt und wo das Orchester in höchster Motivation noch einmal zeigen kann, wie viele dynamische Nuancen sie aus der kurzen Miniatur herausholen können.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Der Klang Okinawas

Pingipung 48, EAN: 880319731525

Der deutsche Schlagzeuger und Produzent Sven Kacirek brachte von einer Reise ins japanische Okinawa mit Mina Mermoud und Agnieszka Krzeminska verschiedenste Volkslieder mit und fügte ihnen neue Instrumentalbegleitungen hinzu. Das Album erschien bei Pingipung.

Nach seinem so erfolgreichen wie originell mitreißenden Album „The Kenya Sessions“ verschlägt es Scen Kacirek nun nach Japan, mit dem Ziel, die Erschließung uns unvertrauter Musikkulturen nun mit Volksmusik aus Okinawa fortzuführen. Im fernen Osten nimmt Kacirek Lieder mehrerer ortsansässiger Volksmusiksänger auf – seine Begleiterin Mina Mermoud konnte mit vielen Künstlern Treffen organisieren. Die Sänger, größtenteils wohl unausgebildet, singen teils Solo und teils begleitet von einem Sanshin, einem dreiseitigen Instrument, welches gerne mit dem Banjo verglichen wird. Diesen Liedern fügt der Perkussionist neue Instrumentalstimmen hinzu, Marimba, Bassmarimba, Besen auf verschiedenstem Material und Klavier sind zu hören.

Credo von Sven Kacirek ist es, die ursprüngliche und seit etlichen Generationen bis heute im aktiven Musikgebrauch überlieferten Lieder nicht zu verfälschen, sondern lediglich zu bereichern mit seiner Rhythmus- bzw. Instrumentalkunst. Das Prinzip ist wohl so zu verstehen wie das der frühen westlichen Mehrstimmigkeit, die den Gregorianischen Choral als gottgegebenes Heiligtum behandelte und ihm durch neue Stimmen lediglich zu mehr Glanz verhalf. Zwar nimmt sich der Schlagzeuger durchaus auch die Freiheit, eigene Vor-, Zwischen- oder Nachspiele hinzuzufügen, doch bereiten diese hauptsächlich auf den Eintritt der Singstimme vor bzw. umranken diese. Äußerst stimmungsvoll gerät direkt der Beginn des Albums, in welchem Naturgeräusche langsam mit Perkussionsbegleitung versehen werden, bis nach längerem Aufbau der Sänger einsetzt.

Sven Kacirek erfüllt mit größtem Feingefühl und sichtlichem Geschick sein Vorhaben, die perkussiven Elemente passen sich so exakt in die vorgegebenen Stimmen ein, dass es geradezu so wirkt, als wären die Lieder niemals in anderem Kontext erklungen. Man käme auch nie auf die Idee, hier einen westlich ausgebildeten Schlagwerker zu hören, so angepasst ist sein Spiel dem japanischen Klang – wobei ich mich hier auf mein „westliches“ Gehör berufen muss: wie die Zusammensetzung für einen Japaner aus Okinawa klingt, lässt sich für mich nicht beurteilen. Für mich jedoch kann Sven Kacirek den eigentümlichen Sound des östlichen Landes unverstellt vermitteln und diesen eigentümlichen pentatonischen Klang mit seinem Instrumentalspiel noch deutlich bereichern. Er greift die teils rauen und unsauber erscheinenden, ja teils recht kratzigen Stimmen auf, überträgt die Melodien auf seine Instrumente und spinnt sie eigens weiter, reichert aber auch mit zusätzlichen Stimmen an und schafft ein klares, aber doch dichtes Geflecht.

Der kurze Begleittext von Mina Mermoud klärt prägnant über die Vorgehensweise des Ausnahme-Schlagzeugers auf und fasst kurz die Musikhistorie Okinawas zusammen. So erhält der Hörer Einblick in diese faszinierende Welt, die mit einem Mal im eigenen Wohnzimmer erklingt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Klassik und Klassizistik im Prinzregententheater

Am Abend des 21. Februar 2016 spielt Jan Lisiecki im Münchner Prinzregententheater zusammen mit dem Zürcher Kammerorchester unter Leitung seines Konzertmeisters Willi Zimmermann die Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467 von Wolfgang Amadeus Mozart. Außerdem gibt das Orchester Mozarts Marsch D-Dur KV 249 sowie die fünfte Symphonie B-Dur D 485 von Franz Schubert. Der Veranstalter ist MünchenMusik.

Diese beiden Werke sind untrennbar miteinander verbunden, trotz ihres extrem divergierenden Charakters: Wolfgang Amadeus Mozarts Klavierkonzerte Nr. 20 d-Moll KV 466 und Nr. 21 C-Dur KV 467. Die zwei Konzerte wurden 1785 innerhalb weniger Wochen hintereinander komponiert und werden bis heute auf etlichen Aufnahmen kombiniert, so auch auf dem Debütalbum des damals 17-jährigen Jan Lisiecki, der heute kurz vor seinem 21. Geburtstag steht. Das C-Dur-Konzert funkelt in strahlender Ausgelassenheit, einem strukturell komplexen Kopfsatz folgen zwei durchweg inspirierte und stringente Sätze, von denen vor allem der Mittelsatz große Beliebtheit erlangt hat. Ganz anders das düstere und unheilverkündende d-Moll-Konzert, das jeden Ausbruch ins Dur sofort wieder in den Abgrund zu reißen vermag: sogar das liebliche Romanzenthema des Mittelsatzes bricht im Mittelteil ein und bäumt sich mit aller Gewalt in donnerndem Moll auf. Neben diesen beiden unvergänglichen Werken Mozarts kann das Orchester sich mit Schuberts Symphonie Nr. 5 präsentieren, die häufig als erste klassizistische Symphonie der Musikgeschichte beschrieben wird. Tatsächlich besinnt sie sich auf überlieferte, Mozart‘sche und Haydn‘sche Ideale, ist die kürzeste und ohne Pauken, Klarinetten und Trompeten am sparsamsten besetzte Symphonie Schuberts. Dessen ungeachtet enthüllt auch sie eine ganz eigene und unverwechselbare Tonsprache im klassischen Korsett und geht furchtlos eigene Wege, modulatorisch und hinsichtlich der Themenentwicklung. Diese Symphonie hat eine freundliche und beschwingte Grundattitüde und brilliert durch eine von Schubert eher ungewohnte uneingeschränkte Leichtigkeit und Heiterkeit, einmal ohne den für ihn so bezeichnenden doppelten Boden.

Es ist durchaus erstaunlich, mit wie viel Liebe zum Detail Jan Lisiecki an die beiden ausgereiften Klavierkonzerte von Wolfgang Amadeus Mozart geht. In einem Alter, in dem heute die meisten Pianisten lediglich auf schnelle Finger und automatisierte Perfektion achten (was – welch ein Teufelskreis! – vom Publikum peinlicherweise meist auch noch durch besonders laute Bravo-Rufe und noch tosenderen Applaus honoriert wird), nimmt Lisiecki die Musik selbst unter die Lupe. In größter Detailverliebtheit gestaltet er jede Phrase und jede Stimme farbenreich aus. Beim C-Dur-Konzert mag es dadurch noch teilweise etwas steril und gewollt wirken sowie der Bezug zum großen Ganzen etwas fragmentarisch erscheinen, doch im d-moll-Konzert geht dies voll auf. Hier beweist er ein unerschütterliches Verständnis für die Musik, was auch beim Konzert in C-Dur schon durchaus ersichtlich wurde, und kann die Zerrissenheit und Untergründigkeit der Musik dem Hörer sinnhaft vermitteln. In beiden Konzerten glänzt sein Spiel durch klare und schlichte Tongebung mit technischer Brillanz und wohldosiertem Pedaleinsatz. Die Ausfeilung der Melodieführung bringt mit sich, dass Lisiecki auch die Gesetze von Spannung und Entspannung erfühlt und die Linien dynamisch aus den ihnen innewohnenden Kräften entstehen lässt.

Ein klein wenig geschmälert wird die furiose Wirkung der Konzerte bedauerlicherweise durch die Zugabe, die Träumerei aus Robert Schumanns Kinderszenen. Zwar formt Lisiecki auch hier die Melodie plastisch aus und bringt sie durch eine außergewöhnliche Abmischung der einzelnen Stimmen zum Strahlen, doch läuft ihm die hochromantische Musik strukturell vollkommen aus dem Ruder. Er „verträumt“ sich in der Träumerei, lässt das Tempo vollständig auseinanderfallen und somit den Hörer ohne jeden Sinn für Zusammenhang oder zentrale Aussage des Stückes zurück. Mit einem weiteren Stück von Mozart oder einem seiner Zeitgenossen hätte sich Jan Lisiecki einen größeren Gefallen getan – oder mit einem weiteren Satz eines anderen Klavierkonzerts von Mozart oder auch Haydn, wo außerdem das ausgezeichnete Orchester sich noch einmal hätte beteiligen können. Trotzdem wird anhand von Mozart deutlich, welch herausragender Musiker Jan Lisiecki bereits jetzt ist – einer, der früh schon einen guten Zugang zur Musik hatte und der einzelnen Tönen und deren Verbindungen spürend nachforscht anstatt sich auf zirkushafte Fingerfertigkeit zu verlassen – ein gehaltvoller Weg, den weiter zu beschreiten wahrlich lohnt, und der zweifellos von großem Erfolg gekrönt sein wird!

Das Zürcher Kammerorchester unter Willi Zimmermann, der nebenbei noch als Konzertmeister die ersten Violinen anführt, zeigt sich von seiner besten Seite. In der kleinen Besetzung begeistert das Ensemble durch seinen enormen Farben- und Artikulationsreichtum, durch Durchhörbarkeit und spürbare feinsinnige Abstimmung. Es ist offenkundig, wie wach sich die Musiker gegenseitig zuhören und ihren eigenen Klang in das Gewebe einpassen können. Das intime Gefühl, das durch die Nähe des Publikums zur Bühne ohne einschüchternde Erhebung oder großen Abstand im Münchner Prinzregententheater entsteht, kommt dem Kammerorchester zusätzlich zu Gute, in Kombination mit seinem warmen und frischen Klang wirkt alles sehr vertraut, gar heimisch. Die Begleitung der beiden Klavierkonzerte gerät hinreißend (abgesehen von der kurzen Panne, als die Musiker nicht genau zu wissen scheinen, wann denn die Kadenz im Kopfsatz des KV 466 nun endet und wann folglich ihr Einsatz folgt – was aber angesichts der doch recht eigenwillig gewählten Kadenzen in diesem Konzert im Gegensatz zu den angenehmen und sich gut einpassenden Kadenzen in KV 467 nicht allzu sehr zu verwundern vermag) und auch der eher unbekannte Marsch zu Beginn des Konzerts ist bereits ein musikalisches Erlebnis. Doch am meisten können die Musiker des Zürcher Kammerorchesters mit der fünften Symphonie von Franz Schubert verzaubern, die eine besonders schillernde Lebendigkeit erhält und stets atmend pulsiert. Zu keiner Zeit entstehen lähmende Längen und die Zeit verfliegt wie im Flug. Eine höchst bemerkenswerte Leistung dieses renommierten Schweizer Ensembles.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Der andere Wieniawski

NAXOS 8.573404; EAN: 7 47313 34047 7

Wieniawski

Liv und Mairan Migdal spielen für NAXOS die Sonate für Violine und Klavier in d-Moll Op. 24 von Józef Wieniawski sowie Allegro de sonate g-Moll Op. 2 und Grand Duo polonais G-Dur Op. 5, eine Zusammenarbeit der Brüder Józef und Henryk Wieniawski, ein.

Tochter und Vater spielen die Werke zweier Gebrüder; die Tochter an der Violine am Anfang ihrer verheißungsvoll beginnenden Karriere, der Vater am Klavier mit diesen letzten Aufnahmen vor seinem Tod im Frühjahr 2015 am Ende seiner Laufbahn: der eine Bruder ein noch heute weltbekannter Violinist und Komponist, der andere als Pianist und ebenso als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten – sowohl seine Violinsonate als auch die in Kollaboration der beiden Brüder entstandenen Werke für Violine und Klavier wurden bisher noch nie eingespielt.

Warum Józef Wieniawski nach wie vor keine Beachtung in der Musikwelt findet, ist ein großes Rätsel. Zu Lebzeiten war er ein gefragter Pianist, der 1855 bei Franz Liszt und danach bei Adolf Bernhard Marx studiert hat und nach Liszt der erste Pianist war, der alle Chopin-Etüden öffentlich aufführte. Er begleitete eine große Anzahl der größten Künstler seiner Zeit wie unter anderen Joachim, Sarasate und Vieuxtemps. Auch als Komponist schuf er gewichtige Werke, so unter anderem eine Symphonie in D-Dur, ein Klavierkonzert in g-Moll, eine Klaviersonate, 24 Etüden in teils recht interessanten Formen wie „Fantasie und Fuge“ und etliche andere Solo- und Kammermusikstücke.

Einigen dieser Werke widmeten sich nun Liv Migdal und ihr Vater Marian Migdal in einem bereits seit längerer Zeit geplanten Projekt. In ihrer Kindheit komponierten die beiden Brüder, Henryk und der zwei Jahre jüngere Józef Wieniawski, einige Stücke zusammen: Auf dieser CD zu hören ist das beschwingte, mit kindlicher Leichtigkeit und (im positiven Sinne) Naivität durchtränkte Allegro de sonate g-Moll Op. 2 (Józef war zu diesem Zeitpunkt erst elf Jahre alt) und das fünf Jahre später entstandene Grand Duo polonais G-Dur Op. 5, ein wesentlich größeres und ernsteres Werk, mit spürbarem kompositorischen Geschick von beiden Seiten. Trotz des jungen Alters der Komponisten sind die Werke durchaus ausgereift und technisch für beide Partner mit hohen Schwierigkeiten versehen. Das gewichtigste Werk der Aufnahme ist die große Violinsonate in d-Moll Op. 24 von Józef Wieniawski, die Ende seiner zwanziger Jahre entstand. Die viersätzige Sonate beginnt mit einem großformatigen und ziemlich düsteren Kopfsatz, auf den ein zwielichtiges Andante religioso folgt, in welchem das Klavier immer wieder Trost bieten will, was allerdings von der Violine oft genug verneint wird und die Stimmung wieder in dunkle Gefilde wirft, wobei der Satz schließlich doch eher versöhnlich endet. Ein heller Lichtblick wird durch den dritten Satz erreicht, ein knackiges und prägnantes Scherzo von größter Eingängigkeit, worauf ein wildes, kaum zu bändigendes Allegro appassionato, ma non troppo presto die Sonate schwungvoll beendet.

Das Spiel von Liv und Marian Migdal ist vollendet abgestimmt, Tochter und Vater hören einander exakt zu und reagieren auf das musikalische Geschehen in der Stimme des Partners. Hier wird jahre- oder jahrzehntelange Erfahrung im gemeinsamen Spiel deutlich und lässt die beiden Solisten zu einer Einheit verschmelzen. Zwar sind beide recht kontinuierlich eine Dynamikstufe zu laut und vertrauen etwas zu selten auf die Farbnuancen des leicht oder hauchend gespielten Tones, doch kommt dies auch einer großen Expressivität und Extrovertiertheit zu Gute, die die Musik unmittelbar an den Hörer heranträgt. Und auch die wirklich lauten Passagen sind zu keiner Zeit bloß hart geschlagen oder mit nicht in Relation zum Resultat stehender Kraft gespielt, sondern stets volltönend und warm. Solch eine Wärme macht auch insgesamt den Klang von Liv und Marian Migdal aus, so dass man sich komplett heimisch fühlen kann in der Ausdruckswelt der beiden Musiker.

Fast könne man meinen, der Ton von Liv Migdal möchte explodieren, so erfüllt mit innerem Gefühl und Aussage ist er. Er wird in enormer Spannung gehalten und sogar noch weiter ausgebaut, anstatt dem Auflösungsbestreben nachzugeben, was einen ungeheuer fesselnden und in allen verzweigten Wegen der Musik Wieniawskis mitreißenden Effekt verleiht. Mehr als angenehm ist auch ihre Art des Vibratos, das in eleganter und zarter Manier dem Ton Singkraft verleiht, ohne durch zu starken oder quantitativ zu häufigen Gebrauch die Wirkung zu nivellieren.

Seinen ganz eigenen Weg hat auch Marian Migdal am Klavier gefunden. Er versuchte, sich als Spieler weitestgehend auszuschalten und nur die Musik für sich sprechen zu lassen. Resultat ist eine vollkommen natürliche und frei von Manierismen geführte Linie mit einem ausgewogenen Verhältnis von Spannung und Entspannung in einem klaren wie verständlichen Tonfall, der umgehend verständlich ist. In den vorliegenden Aufnahmen mit anspruchsvollen wie dankbaren Stimmen für beide Spieler kann auch Marian Migdal als Begleiter sich voll entfalten und sein enormes Können noch einmal unter Beweis stellen. Nach unzähligen brillanten Aufnahmen mit Hauptwerken bekannter Komponisten wie Haydn, Mozart, Grieg, Liszt und Chopin sowie eher unbekannten Größen wie Adolf Wiklund oder Franz Berwald ist die CD mit der Musik Józef Wieniawskis ein würdevoller Abschluss seiner Diskographie – und wie hätte man so ein Ende besser vollbringen können als im Kreise der Familie.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Gipfel der romantischen Soloviolinliteratur

Henri Vieuxtemps
Werke für Solovioline
Aus den 36 Etüden op. 48: Nr. 6 ‚Erzählung’, Nr. 7 ‚Qual’, Nr. 25 Tarantella, Nr. 27 Agitato, Nr. 28 Moderato, Nr. 32 Corelli-Variationen
6 Morceaux op. 55
La Chasse op. 32 Nr. 2
6 Études de concert op. 16
Reto Kuppel (Violine)
Naxos 8. 573339 (ISBN: 747313339778)

Lucien0002Der Belgier Henri Vieuxtemps (1820-81) war nicht nur der überragende Violinvirtuose seiner Generation, sondern vor allem ein ganz großer Musiker und wunderbarer Komponist. Bei Charles de Bériot als Geiger ausgebildet, lernte er Louis Spohr kennen, hörte Niccolò Paganini und erwarb sein kompositorisches Rüstzeug bei dem so gestrengen wie eigenwilligen Kontrapunktmeister Antonín Reicha. Die Violinkonzerte Nr. 4 und 5 von Vieuxtemps gehören zu den schönsten Gattungsbeiträgen der Epoche, werden bis heute gerne gelegentlich von all jenen Virtuosen dargeboten, die den puren romantischen Ausdruck in seiner Pracht und Schönheit lieben, und genießen die volle Ignoranz der intellektuellen Kritik. Das besagt in diesem Fall nichts außer dass es sich um sinnlich bestrickende Musik handelt, die außerdem vortrefflich komponiert ist und auch architektonisch – anders als die meisten Virtuosenkonzerte der Zeit – anspruchsvoll und stimmig, ja sogar interessant für das begleitende Orchester ist. Schande über die Ignoranten!

Wer die Qualitäten von Vieuxtemps’ Musik kennt, wird von diesen Solowerken nicht überrascht sein. Wer sich bisher nicht damit befasst hat, umso mehr. Die meisten – auch Geiger – denken nämlich, dass in der Sololiteratur für ihr Instrument zwischen den Capricen von Paganini und den Sonaten von Ysaÿe eine Etüdenwüste liegt, die außer Pierre Rode, Rodolphe Kreutzer, Charles de Bériot und ähnlichen für den Unterricht nach wie vor höchst verdienstvollen Meistern nichts Nennenswertes hervorgebracht habe. Diese Einschätzung beruht einzig auf Unwissen, und vorliegende Aufnahme korrigiert sie in schönster Weise. Reto Kuppel ist Münchner Konzertgängern als langjähriger Konzertmeister des neben den Berliner Philharmonikern führenden Orchesters der Nation, des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks, bekannt. Warum seine solistische Karriere bisher nicht ganz nach oben geführt hat, darf nach dem Hören dieser Aufnahme als Rätsel bezeichnet werden. Hier liegt zweifellos ein Album vor, das prädestiniert ist, alle internationalen Preise – inklusive des lokalen Preises der Deutschen Schallplattenkritik – abzuräumen. Ob es bei letzterem Gremium, das fast immer nur auszeichnet, was bereits allerorten etabliert ist, dazu kommen wird, ist allerdings äußerst fragwürdig, denn wahrscheinlich werden sich die in Ehren ergrauten Juroren diese Scheibe gar nicht erst anhören. Lassen wir sie also einfach links liegen und widmen uns kurz und knapp dem wertvollen Gegenstand der Besprechung.

Man kann hier vorzüglich die Reifung des Stils von Vieuxtemps, wenngleich nicht chronologisch angeordnet, mitvollziehen – von den noch insgesamt, bei aller Noblesse und Satzkunst, etwas salonhafteren und technischer orientierten sechs Konzertetüden op. 16 (1845) und der obsessiven Studie ‚La chasse’ aus op. 32 über die sechs großartigen Nummern aus den Etüden op. 48 aus den 1870er Jahren zu den sechs erlesen verfeinerten und dabei in der Vitalität kein bisschen verringerten, sechs postum publizierten Stücken op. 55. Vieuxtemps verschmilzt die Einflüsse seiner Vorgänger Bach, Viotti, Paganini und Bériot, aber auch anderer großer Komponisten aus Klassik und Romantik, die keine Meistergeiger waren, zu einem absolut authentischen, schwärmerisch empfindsamen, melodisch tragfähigen, harmonisch substanziellen, motivisch und rhythmisch hochlebendigen Ganzen. Ja, hier vereinen sich Bach und Paganini, bevor sein geistiger Nachfolger Ysaÿe in späten Jahren seine neue, eigene Fusion schuf. Sollte bei Ysaÿe das impressionistische Element neu sein, so war es bei Vieuxtemps das romantische. Wir dürfen nicht vergessen, dass er nur ein Jahrzehnt nach Chopin, Mendelssohn, Schumann und Liszt geboren wurde! Das war damals die Avantgarde!

Sowohl die furios virtuosen Paradestücke wie Torment, Tarantella oder Agitato aus op. 48 als auch die eher meditativ lyrischen Miniaturen zeugen von hoher kompositorischen Meisterschaft und beherrschter Leidenschaft. Die postumen Stücke erklimmen einen weiteren Gipfel, der sich zum Beispiel in einem herrlich stilisierten, geigerisch mehr als reizvollen Menuett oder in einer an Bach gemahnenden großen Fuge ausdrückt.

Reto Kuppel spielt all das nicht nur mit einer exzeptionellen Liebe und Sorgfalt, sondern überdies mit überall überlegenster geigerischen Meisterschaft. Herrlich, wie er auch die unteren Noten der gebrochenen Akkorde stets klar resonieren lässt, wie sein Spiel bei allem Feinsinn und aller nie verkünstelten Raffinesse stets eine Klarheit und Entschiedenheit ausstrahlt, den Mut des Spontanen, der sich in seiner natürlichen Emphase niemals gehen lässt. Das ist vorbildlich und wegweisend. Auch die Klangtechnik ist ausgezeichnet, und der Booklettext von Bruce Schueneman fasst kompetent das Wesentliche zusammen. Eine ideale Vorzeigeproduktion, die in schönster Weise den Weg in unbekannte Musik weist, die längst in den Konzertsälen in aller Welt heimisch sein sollte.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Februar 2016]

Hungary for Music

Im Festsaal an der Maria-Ward-Straße 5 findet am 12. und 13. Februar das diesjährige Konzert des Münchner Internationalen Orchesters, des MIO, mit dem unmissverständlichen Titel „Hungary for Music“ statt. Auf dem Programm des von Michael Mader geleiteten Klangkörpers steht das Vorspiel zu „Die Königin von Saba“ Karl Goldmarks neben Béla Bartóks drittem Klavierkonzert, sodann die Ruralia Hungarica von Ernst von Dohnányi sowie aus der Feder von Franz Liszt Les Préludes. Solist des Abends ist Gerold Huber.

Gleich mit zwei Raritäten wartet das Münchner Internationale Orchester an diesem Konzertabend des 13. Februar (sowie am Vortag, am 12. Februar) auf. Die Königin von Saba, eine biblische Figur, ist ein beliebter Stoff: Eine bekannte Erzählung von Knut Hamsun trägt diesen Titel ebenso wie das Ballett Belkis, Regina di Saba von Ottorino Respighi, außerdem tritt die Figur in Händels Oratorium Solomon im dritten Akt auf. Wenig bekannt hingegen ist die Oper von Karl Goldmark auf dasselbe Sujet. Der ungarische Komponist Karl (in Ungarn bis heute Károly) Goldmark erlebte zu Lebzeiten große Erfolge, einige Opern des Autodidakten wurden von Gustav Mahler dirigiert und auch bekannte Größen erhielten Unterricht von ihm, so etwa Jean Sibelius. Später verschwand der Komponist vollends in Versenkung, vor allem zur Zeit der Nationalsozialisten wurde er aufgrund seiner jüdischen Abstammung geächtet. Der Grund für das Verschwinden von Ernst (Ernő) von Dohnányi, Klavierlehrer von Berühmtheiten wie György Cziffra und Géza Anda, liegt anders: Er wurde als spätromantischer Emigrant in Amerika vergessen. Sein Sohn wurde von den Nationalsozialisten als Kollaborateur Stauffenbergs hingerichtet, seine Enkel machten als Dirigent (Christoph) und Hamburger Oberbürgermeister (Klaus) Karriere. Dohnányis Ruralia Hungarica sind eine Suite aus dem Jahr 1923 in sieben Sätzen für Klavier solo mit der Werkkennung Op. 32a, aus der er zum fünfzehnjährigen Bestehen der zusammengesetzten Stadt Budapest fünf Sätze orchestrierte (Op. 32b, eine Fassung 32c für Violine und Klavier sowie 32d für Violoncello und Klavier sollten auch noch folgen).

Das Münchner Internationale Orchester zeigt an diesem Konzertabend eine große Freude am Musizieren und einen vollen, ausgewogenen Ton. Die Musiker, bunt gemischt durch alle Altersklassen und Professionalitätsstufen, sind hochmotiviert und größtenteils auf einem wahrlich beachtlichen Niveau. Bei der Musik von Goldmark scheinen sich manche noch etwas warmzuspielen und die Synchronizität ist nicht durchgängig vorhanden, doch schon hier zeigt sich ein warmer Klang und es wird deutlich, wie intensiv das Orchester an einigen Feinheiten geprobt hat und verborgene Details ans Licht bringen konnte. Auch der in den Orchesterstimmen höchst anspruchsvolle Bartók gelingt größtenteils, nur an wenigen Stellen wirken einzelne Stimmen mit dem komplexen Zusammenspiel ein wenig überfordert. Spätestens nach der Pause kommen die Musiker voll zum Zug und können ihre Qualitäten präsentieren. Die Ruralia Hungarica Dohnányis erhalten schwungvollen Glanz und sanfte Kantabilität zugleich, das Blech darf wie überall kraftvoll schmettern und das Holz besticht durch virtuose Solopassagen. Darbietungstechnisch das Highlight sind dennoch zweifelsohne Les Préludes von Franz Liszt, in diesem bekannten Stück in vertrauter Tonsprache kommt eine Freude an dieser Musik auf, wie ich sie so von großen reinen Profiorchestern nur selten gehört habe. Das Zusammenspiel komplettiert sich nun vollends zu einer mitreißenden Einheit und die divergenten Teile der Préludes werden in feiner Stringenz zusammengehalten. Die Musiker geben durchwegs ihr Bestes und überzeugen mit hoher Qualität. An dieser Stelle seien nur wenige von ihnen besonders hervorgehoben, dies wäre zum einen die hochvirtuose Klarinette, die ihre seiltänzerischen Solopassagen mit größter Lockerheit und spürbarem musikalischen Verständnis präsentiert, das Schlagwerk, welches dynamisch stets auf das restliche Orchester abgestimmt agiert, ohne darin unterzugehen oder sich in den Vordergrund zu drängen, sowie die Basssektion. Lediglich zwei Kontrabässe spielen an diesem Abend – und das bei acht Celli -, dennoch können die beiden Spieler stets vernehmbar bleiben und zeigen eine Klangfülle, die ein solides Fundament für den Klangkörper bildet. Obgleich beide Kontabassisten vollständig unterschiedliche Techniken verwenden, mischt sich der Klang und sogar bei Bartók passen sie sich im Wechselspiel mit dem Pianisten an dessen dominierenden Tonfall an.

Den für seine enormen Schwierigkeiten bis heute respektgebietenden Solopart in Béla Bartóks 3. Klavierkonzert übernimmt Gerold Huber, der bisher vor allem als Liedbegleiter von Christian Gerhaher Aufmerksamkeit erlangte. Auch den Anforderungen an einen Orchestersolisten wird Huber gerecht, die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten in dem Konzert gelingen ihm in gelassener Lockerheit. An diesem Abend steht das Klavier in der Mitte vor dem Dirigenten und teilt das Orchester quasi in zwei Teile, wodurch in dem akustisch angenehmen Saal ein interessantes Klangexperiment entfacht wird, welches größtenteils gelingt – abgesehen davon, dass das tiefe Holz bei mir auf der rechten Seite etwas schwer hörbar ist in manchen Passagen. Doch ist dazu zu sagen, dass Gerold Huber stets zu laut und hart spielt und das Orchester damit an ruhigeren Stellen übertönt. Anstelle von formbarer Klangfülle durch aktiven Anschlag aus dem Körperzentrum heraus erhalten die Akkorde eine kühle und granitene Härte und Trockenheit durch reinen Armeinsatz. So mag sich der Klang auch wenig in das warm und voll klingende Orchester einpassen. Erst im dritten Satz gelingt die Synthese zwischen Solist und Orchester besser, hier wird auch ein gewisses Verständnis für die Musik merklich.

Michael Mader hält den Klangapparat vom Dirigentenpult aus gut zusammen. Mit Sicherheit lässt sich behaupten, dass die Musiker ihn schätzen und respektieren, jeder folgt intensiv seinem Wink. Mader hat hörbar viel Arbeit in die Proben gesteckt und erhält an diesem Abend seinen Lohn dafür, das Orchester ist trotz Unterbesetzung in einigen Instrumentengruppen beziehungsweise Überschuss in anderen sorgsam abgestimmt und präsentiert ein erstaunlich einheitliches Klangbild.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Mit böhmischen Pauken und Trompeten

Die Münchner Philharmoniker spielen am 04., 05. und 06. Februar 2016 in der Philharmonie des Gasteig München unter Juraj Valčuha Werke aus Tschechien, auf dem Programm stehen „Vodník“ (Der Wassermann) von Antonín Leopold Dvořák, das Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken von Bohuslav Martinů sowie die Sinfonietta von Leoš Janáček. Für The New Listener besuche ich die dritte und letzte der Vorstellungen.

Nur schlecht besucht ist die Philharmonie im Gasteig am Abend des 06. Februar, das rein böhmische Programm scheint kein besonderer Publikumsmagnet zu sein. Es ist sehr bedauerlich, dass diese Werkauswahl auf kein größeres Interesse stößt, ist sie doch mehr als spannend und vielseitig: Der Wassermann, Vodník, die erste der (nach der letzten Symphonie entstandenen) fünf späten Tondichtungen Dvořáks, ist ein mitreißendes Werk in ausgereiftem und vollendetem Personalstil, das durch absolute Ausreizung des einprägsamen Grundmaterials lange Zeit im Kopf zu bleiben vermag. Doppelbödige Kantabilität und schroffe Gewalt wechseln einander ab in einer wilden Handlung, die im Mord an der Tochter gipfelt. Einen ganz anderen Weg beschreitet Martinů in seinem an das barocke Concerto Grosso angelehnten Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, das mit rhythmischer Durchschlagskraft und voller orchestraler Wirkung trotz kleiner Besetzung besticht. Stets ein klanglicher Höhepunkt ist die Sinfonietta Janáčeks, in deren Randsätzen neben der eh bereits großen Orchesterbesetzung noch dreizehn weitere Trompeten, zwei Tenortuben und zwei Basstrompeten zum Einsatz kommen (später hat Chatschaturian in seiner bombastischen Dritten Symphonie etwas Vergleichbares versucht). Die Sinfonietta ist ein monolithisches Spätwerk voll sanglicher Melodik, mit virtuoser Instrumentation, als Hörerfahrung immer wieder zutiefst beeindruckend.

Mit dieser pathosbeladenen Musik gelingt es dem Dirigenten Juraj Valčuha, den Münchner Philharmonikern wieder eines zurückzugeben, was in letzter Zeit selten anzutreffen war: die Spielfreude. Man denke beispielsweise an den vollkommen unterprobten Prokofieff-Zyklus unter Gergiev oder ein erstaunlich farbloses Prélude à l’après-midi d’un faune von Debussy, wo wenig Hingabe zur Musik zu spüren war. Heute ist dies anders, das Orchester hat Lust und Spaß an dem mächtigen Programm und spielt wieder aus vollem Herzen. Besonders farbenreich erscheint die Musik Antonín Dvořáks, der schlichten und dauerpräsenten Motivik gewinnen die Philharmoniker etliche feine Farbnuancen ab und genießen immer wieder die volltönenden Höhepunkte. Das Orchester kennt und mag die musikalische Sprache des Tschechen und weiß, dies ansprechend umzusetzen. Besonders erfreulich gestalten sich die häufigen phraseninternen Instrumentenwechsel, die perfekt aufeinander abgestimmt sind und eine imaginativ räumliche Wirkung evozieren.

Weniger Verständnis zeigen die Streicher für die eigentümliche Musik von Bohuslav Martinů, dessen Stil uns noch immer unvertraut und neuartig erscheint. Was auch bei Dvořák und Janáček als Grundtendenz vorliegt, wird hier zum Extrem: Es ist stets zu laut, und wiederholt werden Pianoangaben schlicht nicht beachtet, dafür ist die Musik im Forte zu pauschal mächtig, zu wenig differenziert ausgestaltet und kontrastlos, wodurch einige Längen entstehen. Hinzu kommt eine ungünstige Aufstellung mit Klavier und Pauken hinter den Streichern, wobei der Pianist den Dirigenten frontal anschauen kann. Resultat der Kombination der beiden Aspekte ist, dass die beiden Solisten kaum hörbar sind (und das, obwohl ich einen akustisch sehr guten und mittigen Platz habe). Zwar stimmt es, dass die Pauke eher eine ergänzende Rolle spielt als solistisch hervorzutreten, aber der Klaviersolist sollte doch als zentrale Säule stets deutlich vernehmbar sein. Die grundsätzliche Aufteilung in zwei antiphonisch agierende Streichorchester wird dadurch geradezu hinfällig, und man nimmt die konzertierend wettstreitende Teilung kaum wahr. Allem Anschein nach ist den Veranstaltern der Pianist auch nicht wichtig, wird dieser (wie auch der Paukist) doch nicht einmal im Programm erwähnt. Der Pianist hat das Konzert auch scheinbar nicht wirklich als Solistenstück erarbeitet, seine Stimme klingt eher nach einem soliden Accompagnement denn nach der zentralen Rolle im Wechselspiel mit den beiden Streichorchestern als drittem Widerpart. Natürlich liegt hier kein Klavierkonzert im klassischen Sinne vor und der Flügel spielt bis auf kurze kadenzartige Abschnitte im Mittelsatz eher innerhalb des Orchesters denn solistisch hervorgehoben, doch hier wurde eine Nivellierung erreicht, die den Charakter verfälscht.

Als sich nach der Pause die dreizehn zusätzlichen Blechbläser erheben, senkt sich auch das letzte Programmheft und der „kollektive Astmaanfall“, der zwischen den Sätzen eines Konzerts nicht mehr aus dem heutigen Konzertleben wegzudenken ist, ist plötzlich ausgeblendet. Der späte Stil von Leoš Janáček wirkt so verblüffend attraktiv, so unmittelbar und so wirkungsvoll, das sich einfach keiner dieser Musik entziehen kann. Er ist schlicht und volkstümlich, aber doch enorm ausgearbeitet und von riskanter Komplexität. Hier können sich die Musiker einmal austoben, und das nutzen sie voll aus; Valčuha versucht erst gar nicht, das Orchester zurückzuhalten. Der enorme Blechapparat, der normalerweise auf die ersten Kiekser nur warten lässt, intoniert absolut lupenrein und gibt sich freudig schmetternd, das Holz wartet mit virtuosen Läufen auf (immer wieder herrlich, wenn Flöte und Piccolo ihre rasenden Linien ziehen, die von anderen Holzbläsern aufgegriffen werden), auch die Harfe tritt mit brillanten Einsätzen hervor, das Schlagwerk ist gut abgestimmt und die Streicher bewältigen ihre rhythmisch verzwickten Passagen mit imponierender Lockerheit. Hier zeigt sich einmal, dass die Münchner Philharmoniker doch ein wirkliches Spitzenensemble sein können, das ganz vorne mitspielen kann – schwer verständlich, dass sie dies in letzter Zeit ein paar Mal vergessen ließen. Sehr hoffe ich darauf, sie in nächster Zeit öfter mit solch hinreißender Spiellaune und musikalischem Gestaltungswillen zu hören wie heute bei Dvořák und Janáček. Juraj Valčuhas oft schon übermäßiges Pathos wirkt bei diesen Stücken teils auch recht förderlich, wenngleich er Martinů zerbröckeln lässt. Er kann durchaus für große Effekte und Prägnanz garantieren, so dass ich mich bis heute an sein Konzert mit Rudolf Buchbinder im Concerto in F von George Gershwin von 2014 zurückerinnere, das nicht zuletzt dank seines Enthusiasmus zu einem unvergleichlichen Erlebnis geworden ist. Dies tut den Münchner Philharmonikern nach wie vor gut, aber dennoch wäre es generell wünschenswert, den animierenden Vorwärtstrieb etwas im Zaum zu halten und eben wenigstens nicht durchgängig ungebändigt walten zu lassen.

Das Publikum ist am Ende des Konzertabends nicht zu Unrecht begeistert – noch immer unter der enormen Unmittelbarkeit der Sinfonietta stehend. Solch ein Werk live zu hören, ist etwas ganz Besonderes und wird mich noch einige Zeit begleiten.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Die schwedische Klassik

Naxos 8.572457, EAN: 7 47313 24577 2

Naxos 8.573378, EAN: 7 47313 33787 3

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Das Gävle Symphonieorchester spielt unter Gérard Korsten die vier fertiggestellten Symphonien des schwedischen Komponisten Joachim Nikolas Eggert für Naxos ein, ebenso die Ouvertüre aus der Schauspielmusik zu Mohrene i Spanien sowie die gesamte Schauspielmusik zu Svante Sture. Abgesehen von der dritten Symphonie und den Mohren in Spanien handelt es sich durchgehend um Ersteinspielungen.

Wieder einmal gelingt es Naxos, einen zu Unrecht vollkommen in Vergessenheit geratenen Komponisten zu entdecken und die zum größten Teil noch nie eingespielte Musik den Hörern zugänglich zu machen. Dieses Mal ist es ein besonders wertvoller Glücksgriff, denn Joachim Nikolas Eggert ist eine Generation vor Franz Berwald gewissermaßen das Bindeglied zwischen der Wiener Klassik und dem schwedischen Musikleben, außerdem ein Neuerer ungeahnten Ausmaßes.

Joachim Nikolas Eggert wurde 1779 auf Rügen geboren, das damals noch zu Schwedisch-Pommern gehörte, bevor es 1807 von den Franzosen besetzt wurde. Nachdem er von Heimatkünstlern früh als außergewöhnliches Talent entdeckt wurde und eine Ausbildung unter anderem in Stralsund absolvierte, erhielt er 1802 seine erste Anstellung als Kapellmeister in Mecklenburg-Schwerin. Im kommenden Jahr wollte er eine Reise nach St. Petersburg antreten, musste diese allerdings krankheitsbedingt in Stockholm beenden, wo er später einen Violinistenposten erhielt. In Schweden entstanden alle seine vier vollendeten Symphonien, mutmaßlich zwischen 1804 und 1810. 1807 wurde er Kapellmeister der Königlichen Schwedischen Musikakademie und baute seine Reputation von dort stark aus. Mit nur 34 Jahren starb Eggert an Tuberkulose in der schwedischen Provinz im Hause eines seiner Studenten. Besondere Verdienste erwarb er sich durch Erstaufführungen von Werken Mozarts und Beethovens in Schweden. Joachim Nikolas Eggert gehört zu den fortschrittlichsten Komponisten seiner Zeit und somit sollte auch jegliche Verwechslungsgefahr zu einem recht langweilig zu hörenden deutschen Komponisten unserer Zeit gleichen Nachnamens beseitigt sein, der abgesehen von skurrilen wie sinnlosen Ideen keinerlei hörenswerte Neuerung schuf.

Jede der vier Symphonien (eine fünfte blieb unvollendet) Joachim Nikolas Eggerts ist ein komplett eigenständiges Werk und weist einzigartige Charakteristika auf. Auffällig ist die enorme Kantabilität der Melodien, die jeden Satz geradezu zu einem Ohrwurm werden lässt. Die Satzstruktur ist schlicht und gut durchhörbar, doch fällt stets das große kompositorische Geschick Eggerts ins Auge. Sowohl in kurzen Sätzen der Symphonien und in den nie länger als drei Minuten dauernden Stücken der Schauspielmusiken als auch in den groß dimensionierten symphonischen Kopfsätzen mit einer Länge von je über zehn Minuten zeigt sich eine brillante Formbeherrschung. Stets hat der Hörer die klare Orientierung, wo gerade er sich innerhalb eines Werkes befindet, und zu keiner Zeit entsteht ein Moment einer Überstrapazierung der symphonischen Form. Während die Symphonien Nr. 1, 2 und 4 einen klassischen viersätzigen Aufbau aufweisen durch schnellen Kopfsatz mit langsamer Einleitung, langsamen Satz, Menuett und Trio sowie schnellen Finalsatz (in der 4. Symphonie eine Fuge), geht die dritte Symphonie ganz eigene und äußerst interessante Wege: Das 1807 komponierte Werk beginnt mit einem dreizehnminütigen Kopfsatz, auf den ein kurzer Marsch im Grave folgt, der von einer ebenso nicht sonderlich langen Fuge beendet wird, die wiederum einen langsamen und dann erst einen schnellen Teil hat – das ansonsten vorhandene scherzohafte (man erinnere sich an die Symphonien von Ludvig van Beethoven) Menuett fehlt. Teils nimmt Eggert auch damals noch nicht sonderlich übliche Besetzungen auf, so finden sich in der zweiten Symphonien bereits drei Trompeten (wodurch die Uraufführung sogar verschoben werden musste, da es an eben jenem dritten Trompeter mangelte), und in der vierten Symphonie erscheint in häufigem Gebrauch die Triangel, die zu der Zeit noch lange nicht etabliert im Orchester war und hauptsächlich der „Türkenoper“ zugeordnet wurde. Das musikalisch wohl am weitesten in die Zukunft reichende Werk ist der alternative zweite Satz zur vierten Symphonie, ein Largo: Zu Beginn spielt lediglich ein Solohorn, dem sich ein zweites Horn hinzugesellt. Zusammen wandern sie in feinster Zweistimmigkeit durch allerlei teils herbe Dissonanzen, die absolut nicht in die Zeit passen möchten, sondern den Hörer ins späte 19. Jahrhundert zu katapultieren scheinen (zu wagnerischen Klängen, wie der Autor des Booklettextes Bertil van Boer meint, der abgesehen von etlichen viel zu weit hergeholten und vor allem musikchronologisch vorausgreifenden Vergleichen viele wissenswerten Informationen zu Komponist und Werk bietet). Und so unscheinbar, wie er begann, endet der Satz auch wieder mit einem nur alibihaft kadenzierenden Horn, wo noch immer der Vorhalt sichtlicher in Erinnerung bleibt als die „zu“ kurze Auflösung. Ob wohl Eggert der Satz zu modern war, oder dem Publikum, und er deshalb nur als Alternativsatz überliefert ist? Über zeitgenössische Rezeption ist uns leider nichts bekannt – doch hoffentlich wird die Forschung in Bälde wissenswerte Informationen zutage fördern.

Das Gävle Symphonieorchester spielte die nun erschienen CDs größtenteils 2014 in Schweden ein, die Symphonien Nr. 1 und 3 waren allerdings schon 2009 fertiggestellt – kurz darauf erschienen bei Musikaliska Kunstforeningen in Schweden auch die Partituren aller vier Symphonien. Das Orchester beeindruckt mit farbenreich schillerndem und brillantem Klang, auch ist es in polyphonen Passagen gut aufeinander abgestimmt und lässt die gewaltige Stimmenvielfalt gut durchhörbar mitverfolgen. Der Klang ist recht volltönend und kann in den Tuttipassagen äußerst animierend wirken, dafür sind allerdings einige der eigentlich zurückhaltenden Stellen ein wenig zu voll und massiv vorgetragen. Dynamisch sind die Werke gut erarbeitet und viele kleine Details schön ausgestaltet, mit selten schwankender Qualität. Enorm stimmungsvoll gelingen dem Dirigenten Gérard Korsten vor allem die Abschnitte in kleinen Besetzungen, die er umso genauer erarbeiten ließ, um sie mit einem magischen Glanz zu umhüllen und die wenigen Instrumente feinfühlig aufeinander abzustimmen. Also liegt hier eine überaus hörenswerte Einspielung aller Symphonien des schwedischen Komponisten Joachim Nikolas Eggert vor; dieser Komponist sollte dringend verstärkt erforscht und vermehrt dargeboten werden, es handelt sich um eine der herausragenden Entdeckungen der Zeit um 1800.

[Oliver Fraenzke, Februar 2016]

Doppelte Jahreszeiten, neu erlebt

Coviello Classics COV 91514; EAN: 4 039956 915140

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Die Salzburg Chamber Soloists sind zusammen mit ihrem Gründer, Leiter und Violinsolisten Lavard Skou Larsen auf ihrer bei Coviello Classics soeben wiederveröffentlichten CD „8 Seasons“ mit Le Quattro Stagioni von Antonio Vivaldi und dem argentinischen Pendant von Astor Piazzolla, Las Cuatro Estaciones Porteñas, zu hören.

Mit Begriffen wie „hervorragend“, „ausgezeichnet“ oder „perfekt“ sollte man heute mehr denn je sparsam umgehen, denn fast keine noch so gute Einspielung hat einen dieser Begriffe wirklich verdient. Wenn jedoch einmal eine CD dieser Adjektive würdig ist, dann zweifelsohne vorliegende Einspielung der vier Jahreszeiten Antonio Vivaldis und Astor Piazzollas.

Wohl kaum ein Violinkonzert ist so häufig gespielt und aufgenommen wie die ersten vier der insgesamt acht Solokonzerte Op. 8 von Antonio Vivaldi, die zusammen die Tetralogie „Le Quattro Stagioni“ bilden. Gerade in Zeiten der so genannten historisch informierten Aufführungspraxis erlebt man bei diesen Werken immer wieder nicht sonderlich viel Neues, die üblichen Darbietungen sind weich gezeichnet ohne Sinn für Kontraste, die malerischen Effekte verschwinden unter einer alles verdeckenden Solostimme, und das Ganze ist auf rein äußerliche Schönheit (statt musikalischem Gehalt) in routiniertem Schema gespielt. „8 Seasons“ mit Lavard Skou Larsen und den Salzburg Chamber Soloists kommt in dieser ins Stocken geratenen Tradition einer Renaissance gleich, oder einer Revolution, und parallel dazu einer kompletten Neuschöpfung. Bereits die ersten Takte öffnen das Tor in eine andere Welt, wie ich sie bisher so nicht zu hören bekam. Von Anfang an erlebt der Hörer eine immens fein ausgestaltete Dynamik mit brillanter Artikulation und einem tiefen Bewusstsein für jedes noch so kleine musikalische Phänomen darin. Die Phrasen werden leicht und vornehm ohne künstliche Betonungen abgerundet und von einem spielerisch diskreten statt wie so oft aufdringlichen Cembalo gestützt. Der Einsatz des Solisten Lavard Skou Larsen wirkt ebenso unmittelbar: Wie irritiert torkelnd erscheint die technisch lupenreine und klangvolle Geigenstimme, als sie plötzlich in dieses Geschehen hineingeworfen wird. Der auf diese Art wohl bis heute einmalige Soloeinsatz, der statt solistischem Aufglänzen zu Beginn eine klar intendierte Verwirrung darstellt, ist für mich erstmalig auch genau als diese erkennbar. Die vier Jahreszeiten, wie so oft bei Vivaldi in formaler Hinsicht keine Höchstleistung, zeichnen sich vor allem durch interessante und noch heute noch neuartig wirkende Klangeffekte aus, besonders auffallend in den Mittelsätzen von Primavera und Estate. Während Skou Larsen mit feinfühlig ausgestalteten Melodien und virtuosen Läufen brilliert, lassen sich die Salzburg Chamber Soloists nicht von dem Schönklang anstecken, sondern kontrastieren gar mit teils krassen Geräuscheffekten und lassen eine leuchtend ausgekleidete Landschaft um das solistische Individuum entstehen. Alle Musiker sind bereit, auch einmal herbe Töne anzustoßen, und so können sie ungeahnt machtvoll erscheinen auch in der Kammerbesetzung. Durchgehend achten die Künstler auf Kontraste und feinste Nuancen in der Musik, die die Klangfinessen eines großen Symphonieorchesters in kleiner Aufstellung heraufbeschwören können, beispielsweise wird im dritten Satz des Frühling ein Dudelsack mit charakteristischem Orgelpunkt täuschend genau nachgeahmt. Hier werden die Noten nicht stur heruntergespielt, sondern sie sind minutiös erarbeitet, jede noch so kleine Feinheit ist abgewogen, gefühlt und bewusst, und es kommt dem Hörer vor, als würde hier dieses bekannte Werk zum ersten Mal überhaupt erklingen, so spontan, unbelastet und frei erscheint es, stets mit innigstem Gefühl und vollster Spielfreude.

Noch weiter kann die Reise kaum gehen, als zum zweiten Werk dieser Einspielung, wiewohl gewisse Parallelen bestehen: Von Europa nach Lateinamerika, vom Barock ins 20. Jahrhundert. Las Cuatro Estaciones Porteñas von Astor Piazolla wurden vom Cellisten José Bragato aus dem Ensemble Piazzollas instrumentiert, da dieser selbst ein weniger beschlagener Instrumentator gewesen sein muss, wie der Autor des informativen und eingängig zu lesenden Booklettextes, Gottfried F. Kasparek, erklärt. Sofort verschlagen die vier Stücke des Zyklus den Hörer in ein unverwechselbar argentinisches Milieu, wo einen herbe Klänge und kratzige Geräuscheffekte sowie auftreibende Rhythmen erwarten. In gleicher Besetzung wie bei Vivaldi (mit der Ausnahme, dass Elena Braslavsky nun am Klavier statt am Cembalo sitzt) entführen die Musiker nun in gänzlich neue Sphären. Der gebürtige Brasilianer Lavard Skou Larsen hat zwar einen gewissen Heimvorteil mit der Musik aus seinem Nachbarland, doch dass auch sein gesamtes Ensemble, die Salzburg Chamber Soloists, einen so natürlich lateinamerikanischen Klang vermitteln können, dass kein Zweifel zu bestehen schiene, dass alle Musiker aus diesen Landen kommen, ist erstaunlich. Die Rhythmik ist derart prägnant und griffig, der Klang wie ausgetauscht in unbändige Wildheit mit einem bewussten Hang zur Geräuschhaftigkeit, und die gesamte Atmosphäre unmittelbar glaubwürdig. Es steckt eine gewaltige Kraft und Energie in all diesen Stücken, stets gepaart mit einer äquivalenten Portion Spiel- und Lebensfreude, und dennoch werden auch die sanften Passagen intensiv durchlebt. So ungebändigt es vielleicht auf den ersten Eindruck wirken mag, ist hier doch alles minutiös ausgearbeitet und ausgestaltet, so dass die detailliert abgestimmte Synchronizität zwischen musikalisch lange einstudierter Finesse und spontaner Wirkung einfach zündet. Hier kommen alle Musiker voll zum Zuge, auch die bei Vivaldi vor allem im Hintergrund agierende Pianistin kann hier ihren gleichmäßig abgestimmten, warmen und perligen Anschlag, dem in gleichen Maßen Lyrik und Energie innewohnt, mit großem Gewinn einbringen. Angenehm ist, dass sie keinerzeit Staccati zu kurz nimmt und sich so in den Streicherkörper ideal integriert, dessen Klang sie wunderbar aufgreift und als gleichwertige Partnerin in ihr Spiel integriert.

Wenn man sich nicht gerade in München oder Köln befindet, so hat ein Jahr bekanntlich vier Jahreszeiten, und zwei solcher Jahreszyklen wurden hier für Coviello Classics in Live-Aufnahmen eingefangen. Und beide so extrem unterschiedlichen Zyklen sind in solch einer bestechenden Qualität von technischer und künstlerischer Perfektion eigentlich sonst nie zu hören. Für mich zwei absolute Referenzaufnahmen, die alle Vorgänger turmhoch überragen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]

Damrosch entsteigt in Azusa der Mottenkiste

Leopold Damrosch
Symphonie A-Dur (1878)
Fest-Ouvertüre C-Dur (1871)
Franz Schubert/orchestr. Damrosch: Marche militaire D 733 Nr. 1

Toccata Classics TOCC 0261
ISBN: 5060113442611

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Diese Kritik schreibe ich nicht nur, weil die vorliegende Aufnahme wertvoll ist, sondern auch ganz bewusst geschärft als eine Art ‚Gegendarstellung’ zu einer peinlich überheblichen, freundlich vernichtenden Besprechung in einem viel gelesenen deutschen Klassik-Online-Magazin. Hier spielt ein Studentenorchester – das Azusa Pacific University Symphony Orchestra – unter dem so engagierten wie gewissenhaften und feinfühligen Dirigenten Christopher Russell, und natürlich können wir nicht die Studio-Perfektion internationaler Glanz-Klangkörper vom Schlage London Symphony oder Los Angeles Philharmonic erwarten – aber das erwarten wir auch nicht von einem gelungenen Konzert, und überhaupt erwarten wir das heute nur, weil Perfektion die einzige hörbare Messlatte für musikalische Ignoranten ist, die nichts von musikalischen Kriterien des Zusammenhangs verstehen. Und es ist unbedingt zu betonen, dass man hier zwar hin und wieder nicht ganz sauber ausgestimmte Akkorde hören kann, dass dies jedoch auf einem Niveau stattfindet, dem wir auch in vielen Livekonzerten renommierter Profiorchester begegnen. Also: Entwarnung an alle, die mein Vorgänger abgeschreckt hat – man kann es sich gut anhören, und mit immensem Gewinn und Vergnügen. Denn: hier spielt ein Orchester, das so intensiv an der Musik gearbeitet hat, dass man sofort merkt, dass alle Musiker das Stück kennen und sich nicht, wie ansonsten in Orchesteraufnahmen seltenen Repertoires üblich, im zufälligen Irgendwo eines Schaltplans befinden, dessen Funktionsweise ihnen unbekannt ist, sondern genau wissen und erleben, was dem, was sie gerade tun, vorausging und wohin es weiterführt.

Leopold Damrosch (1832-85), ein halbes Jahr vor Johannes Brahms geboren, ist Kennern vor allem bekannt als der Vater und Lehrer des Dirigenten Walter Damrosch (1862-1950), der 1885 mit dem Tod seines Vaters die Leitung der New York Symphony Society übernahm und bis 1928 innehatte. Die Musik Leopold Damroschs ist gekennzeichnet von vollendeter Beherrschung der Mittel in der Tradition der avancierteren Linie der klassizistischen deutschen Romantik, die einerseits wie Brahms von Beethoven und Schumann herkam und andererseits begierig die unwiderstehlichen Einflüsse von Berlioz, Liszt und Wagner in sich aufsog. Er war Geiger und hatte in Berlin bei Siegfried Wilhelm Dehn Komposition studiert. Außerdem promovierte er 1854 als Mediziner und trat dem Freimaurer-Orden bei, in welchem er später in den USA in prominenter Funktion wirkte. Dann spielte er unter Liszt in der Weimarer Großherzoglichen Kapelle. Ab 1858 wirkte er als Dirigent in Breslau. Obwohl wie auch Felix Draeseke zunächst neudeutsch revolutionär eingestellt, ist bei Damrosch als Komponist doch zusehends eine Fusion mit den gemäßigteren Elementen der Beethoven-Nachfolge festzustellen. 1872 ging er nach New York, wo er 1873 die Oratorio Society und 1878 die New York Symphony Society gründete.

Von Damrosch hat das im kalifornischen Azusa nordöstlich von Los Angeles ansässige Azusa Pacific University Symphony Orchestra unter seinem Leiter Christopher Russell 2014-15 folgende Werke für vorliegende CD bei Martin Andersons Raritäten-Fishing-Label Toccata Classics aufgenommen: eine Fest-Ouvertüre in C-Dur, die 1871 vor der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten entstand; die große, dreiviertelstündige Symphonie in A-Dur von 1878, also aus dem Gründungsjahr seines New Yorker Orchesters; und sein einst beliebtes Orchesterarrangement des ersten der drei bekannten Marches militaires op. 51 in D-Dur für Klavier zu vier Händen von Franz Schubert. In seinen Originalkompositionen zeigt Damrosch sich als souveräner Meister leuchtkräftiger Orchestration mit kontrapunktischem Geschick, harmonischer Gewandtheit und klarem Sinn für einprägsame Melodik und effektvolle Dramaturgie. Die Fest-Ouvertüre ist ein gelungener, wie der Titel nahelegt nicht allzu tiefgängiger Genre-Beitrag, der sich als Eröffnung anbietet. Damroschs Herzblut ist in seine große Symphonie eingeflossen, die er selbst nicht zur Aufführung brachte. Sie blieb in der Schublade liegen bis ins 21. Jahrhundert! 2005 wurde eine kritische Edition erstellt, und am 8. Februar 2015, nach mehr als 136 Jahren, spielten jene Musiker die Uraufführung, die das Werk an den folgenden Tagen aufnahmen und nun hier als Ersteinspielung vorstellen. Ein großer symphonischer Sonatensatz eröffnet die Symphonie mit einer langsamen Einleitung von evokativer Weite. An zweiter Stelle steht das Scherzo, das als Intermezzo scherzando betitelt ist: ein knapper Satz zackig herausfahrenden Charakters mit einem geschmeidigen Trio als Gegensatz, das noch einmal wiederkehrt. Zentrum der Symphonie ist eine grandiose Marcia solenne von machtvoll pathetischer Wirkung und extremen Gegensätzen, die auch die deutlichste Nähe zu den Neudeutschen herstellt. Es folgt ein flunkernd geschwindes Finale mit klaren Kontrasten, und gegen Ende kehrt die Einleitung des Kopfsatzes wieder und verleiht dem Werk die intendierte zyklische Wirkung, bevor es zum kraftvollen Ausklang kommt. Die nachfolgende Schubert-Bearbeitung eignet sich als Zugabe, ist allerdings bei aller handwerklichen Geschliffenheit weder originell noch besonders feinsinnig, aber es muss ja auch nicht alles, was geschürft wird, gleich Gold sein.
Das kalifornische Elite-Uni-Orchester gibt unter seinem offenkundig kompetenten und musikalischen Dirigenten alles, was in seiner Macht steht. Was man technisch nicht so gut kann wie professionelle Vereinigungen, die seit Generationen eine Tradition weiterreichen, die stets auch nicht nur ihre positiven Seiten hat, macht man keineswegs nur mit Engagement und Wagemut wett. Nein, hier spielt ein Orchester, das die Werke kennt und sich in langen Probenphasen mit ihrem Gehalt verbunden hat, das an die Größe dieser Musik glaubt und ihr eine Authentizität verleiht, die den Hörer ergreifen kann. So entsteht eine Folgerichtigkeit des Ablaufs, die in routinierten Aufnahmesessions, bei denen oftmals vom Blatt gelesen wird und keines der Werke je im Zusammenhang durchgespielt, geschweige denn auch nur ansatzweise auf eine zusammenhängende Wirkung hin geprobt wurde, niemals erreicht wird. Also: weniger Perfektion, aber viel mehr Sinn, Bezug und Verinnerlichung. So ähnlich könnte die Symphonie geklungen haben, wäre sie seinerzeit aufgeführt worden, denn damals waren die professionellen Orchester noch nicht so perfektioniert wie heute, aber sie spielten beseelter, zumal nur der Augenblick des Entstehens zählte, bevor die Wiederholbarkeit durch konservierte Aufnahmen ein anderes Zeitalter einleitete, dessen Errungenschaften neben dem informellen Gewinn für jedermann auch krasse Verluste mit sich brachte. Alleine der Symphonie wegen lohnt sich diese CD, wenn man lebendig entstehende Musik hören will und nicht nur steril poliertes Einerlei. Und eines vermittelt sich in dieser durchaus berührenden Aufführung: Damrosch war kein Originalgenie, jedoch durchaus ein hörenswerter Komponist, der das Bild der Zeit in wertvoller Weise ergänzt. Aus der Mottenkiste der Geschichte ist weiterhin immer wieder Bemerkenswertes zutage zu fördern. Wie heißt es im Kino: Pradikat wertvoll.

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, Januar 2016]

Geigenoper

Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, MDG 903 1819-6 / MDG 903 1909-6; EAN: 7 60623 18196 7 / 7 60623 19096 9

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Alle dreizehn Opernphantasien des Wundergeigers Pablo de Sarasate liegen auf zwei CDs der Musikproduktion Dabringhaus und Grimm vor. Die virtuosen Geigenparts spielt Volker Reinhold, Konzertmeister der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin, begleitet vom Pianisten und Musikwissenschaftler Ralph Zedler.

Zusammenstellungen aus Opern für kammermusikalische Besetzungen gibt es wohl, seit es Opern gibt. Einen Aufschwung erlebte das Arrangieren großer Bühnenwerke durch das Aufkommen der Harmoniemusik um 1700, also reiner Holzbläserbesetzung mit Horn, das im Gegensatz zu anderen Blechblasinstrumenten einen weichen und mit dem Holz homogen mischfähigeren Klang besitzt. In dieser Art gibt es bis hin zur frühen Romantik unzählige Opernbearbeitungen. Ziel war ursprünglich, auch im häuslichen oder bescheiden aristokratischen Rahmen die schönsten und eingängigsten Opernmelodien spielen und hören zu können. Der vor allem durch seine Zigeunerweisen Op. 20 weltberühmte spanische Geigerkönig Pablo de Sarasate fügte derartigen Medleys für den eigenen Bedarf allerdings ein vollkommen neues Element hinzu: Hochgradige Virtuosität, wie sie nur von den besten Geigern bewältigt werden kann. Vom bürgerlichen Salon wanderten die Opernphantasien – wie in den Klaviersolo-Arrangements von Liszt – nun in den Konzertsaal, wo sie zum Schwelgen oder gar zum Mitsingen animieren. Der Konzertmeister der Mecklenburgischen Staatskapelle Schwerin, Volker Reinhold, stellte sich der enormen Herausforderung, alle dreizehn Opernphantasien des spanischen Meisters auf zwei CDs einzuspielen. Alleine für die Inangriffnahme dieser Mammutaufgabe, für seine Kühnheit, muss dem Violinisten Respekt gezollt werden – in Werken, die üblicherweise ausschließlich von internation berühmten Reisevirtuosen gespielt wurden, jedes für sich ein Glanzpunkt auf jedem Konzertprogramm. Die einzige weitere Gesamtaufnahme (wenn auch auf mehrere CDs verteilt), die mir von den Opernphantasien bekannt ist, ist von dem Wunderkind Tianwa Yang, die das gesamte Werk Sarasates einspielte. Alle Stücke liegen hier mit Reinhold in den ungekürzten Fassungen vor, ohne Auslassung einiger technisch an die Grenzen des Machbaren stoßenden Passagen.

Volker Reinhold weist einen klaren und durchsetzungsfähigen Ton auf, der jedoch anders als bei den meisten Aufführungen dieser Stücke nicht die gesamte Aufmerksamkeit einfach durch eine alles dominierende Stärke auf sich zieht. Reinhold versteht es auch, seine Geige singen, die bekannten Melodiezitate kantabel erblühen zu lassen. Ein Vorbild nimmt sich der Konzertmeister hier allerdings nicht an den bühnenbeherrschenden Opernsängern, sondern mehr an dem intimeren Kammermusikbereich, wodurch die Zitate eine ganz besondere, intime Färbung erhalten, die eine willkommene Abwechslung schafft. Von inniger Zuwendung zu den Werken zeugt sein Spiel, alles ist mit größter Freude aufgenommen. Dabei bemerkt man bei manchen Passagen durchaus auch die Grenzen der Spielbarkeit und hin und wieder sind einige Kratzgeräusche oder nicht vollkommen saubere Töne zu hören – was verständlicherweise nur schwerlich zu vermeiden ist, wenn man nicht wie so häufig in Studioaufnahmen allzu oft schneiden will. An solchen Stellen geht dann doch die technische Ausführung des nahezu Unmöglichen etwas zu Lasten des musikalischen Ausdrucks. Gerade hier merkt man einen Unterschied zwischen den beiden im Abstand von zwei Jahren erschienenen CDs, ist doch die neuere Einspielung noch ein ganzes Stück gereifter, der Klang auch in den verzwicktesten Passagen voll und warm, und die kleinen Unsauberkeiten reduzieren sich auf ein Minimum. Insgesamt ist die Leistung Volker Reinholds enorm, und vielen Stellen hat er klanglich ganz neue Wertigkeit abgewonnen, wie ich dies selten gehört habe.

An der Seite des Violinisten agiert Ralph Zedler, welcher auch das flüssig zu lesende und informative Booklet verfasst hat. Sarasate am Klavier zu begleiten ist eine der undankbarsten Aufgaben eines jeden Pianisten, denn der Violinist war auf diesem Instrument überhaupt nicht bewandert, und die Klavierstimmen sind üblicherweise konventionelle, sich ständig wiederholende Grundfiguren, die bis auf wenige Stellen (vor allem Überleitungen!) überhaupt keine bemerkenswerte Beschaffenheit besitzen. Und dennoch muss der Pianist stets seinem Geigenpartner angepasst sein und seine Linie bis in die schnellsten Abfolgen im Überblick haben. Zedler erweist sich als ein feinfühliger Begleiter, der die halsbrecherischen Solopassagen bestmöglich grundiert. Dynamisch sorgt er für eine gute Abmischung, bleibt stets dezent im Hintergrund, ohne vollkommen in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Auch achtet Zedler stets auf genaue Synchronizität mit Reinhold. In manchen besonders armseligen Passagen wirkt die Stimme zwar etwas motorisch farblos mit durchgängiger Betonung der Hauptschlagzeit anstelle von melodieangepassten Verschiebungen der Betonung, aber der Gestaltungsspielraum ist zweifellos begrenzt.

Derzeit liegt hiermit die wohl einzige Einspielung vor, in welcher wirklich alle dreizehn Opernphantasien Sarasates auf zwei CDs komprimiert zusammengefasst sind. Eine runde, erfreuliche Sache.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016]