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[Rezensionen im Vergleich 2a] Die Kinder Schostakowitschs kehren wieder

Am 11. November spielt das Landesjugendorchester Baden-Württemberg unter Leitung von Johannes Klumpp im Mozartsaal der Donauhallen in Donaueschingen. Neben dem Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“ von Alfred Schnittke und Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester in der heute gebräuchlichen Umstellung und Bearbeitung von Wilhelm Fitzenhagen mit dem Solisten Jakob Spahn steht auch die herausfordernde und zutiefst ernste zehnte Symphonie in e-Moll Op. 93 von Dmitri Schostakowitsch auf dem Programm.

Das Landesjugendorchester Baden-Württemberg hat sich viel vorgenommen für den Abend des 11. November in Donaueschingen. Ein so langes und schwieriges Konzertprogramm mit Schostakowitschs grandioser Symphonie Nr. 10 als Höhepunkt ist der Hörer normalerweise ausschließlich von einem großen und etablierten Klangkörper aus Berufsmusikern gewohnt, nicht aber von einem Jugendorchester, auch wenn ihm ein so blendender Ruf vorauseilt wie in diesem Falle.

Den Beginn des Abends macht Alfred Schnittkes Tango aus der Suite zur Filmmusik „Agonie“, ein zarter und in feiner Manier zurückhaltender Tanz, der dennoch in eine gewisse Wildheit und in Überschwang gerät, der sowohl mit Melancholie als auch mit innerlichem Drängen durchsetzt das einprägsame Thema in verschiedenstem Licht erstrahlen lässt. Besonders markant natürlich Beginn und Schluss durch die engelsgleiche und fernab erscheinende Celesta, die nach ihren ersten Einsätzen in Tschaikowskys Nussknacker-Suite sowie bei Bartók, Chausson oder Strauss relativ bald vor allem in der Filmmusik Verwendung fand und heute jedem durch „Hedwig’s Theme“ aus der Musik zu Harry Potter von John Williams geläufig ist. Unter Klumpp erhält der Tango einen angenehmen Schwung und verfällt zu keiner Zeit in Überhitzung auch in den lauten Passagen, sondern hält sich stets ein wenig zurück und behält so die von Schnittke vorgegebene Wirkung in der gewollten Passivität, die leicht verlorengehen kann. Der Dirigent Johannes Klumpp schätzt seine Musiker gut ein und weiß genau, welch ein Risiko er ihnen zutrauen kann – und geht dieses ein, indem er direkt zum Erscheinen des Tangorhythmus‘ in eben diesem dirigiert, anstatt die sicherere Variante eines geraden Taktschlags zu wählen. Der Plan geht auf und ermutigt das gesamte Landesjugendorchester zu einer prägnant klingenden und rhythmisch fesselnden Wiedergabe. Durch kleine Soloeinwürfe kristallisieren sich schnell einige besondere Talente aus dem Orchester heraus. Es ist nicht zu erwarten, dass alle jungen Musiker bereits einen sauber auspolierten und abgewogenen Klang haben, doch erstaunlich viele können bereits eben damit überzeugen. Besonders der Konzertmeister der ersten Hälfte, Johannes Ascher, bewies ungeheuere Musikalität trotz jungen Alters: Die Ritenuti in seinen kurzen Soloeinwürfen waren derart innerlich gefühlt und organisch wieder in das Originaltempo zurückführend, wie es teils namhaften Konzertsolisten nicht so bewusst gelingt.

Die Rokoko-Variationen A-Dur Op. 33 für Violoncello und Orchester versetzen den Hörer zurück in das 18. Jahrhundert, wenn natürlich auch mit einem vollkommen romantischen Neuanstrich von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky. Auch an diesem Abend wird die Version von Wilhelm Fitzenhagen gespielt, dem ansonsten vollkommen vergessenen Cellisten und langjährigen Freund von Tschaikowsky, der ebenfalls recht beeindruckende Musik geschaffen hat, die durchaus eine Renaissance verdient! Fitzenhagen bearbeitete das circa zwanzigminütige Bravourstück ein wenig und stellte insbesondere die Variationsreihenfolge um; in dieser Version verbreitete er es und sorgte damit bis heute dafür, dass fast ausschließlich diese Bearbeitung gespielt wird – auch wenn das fast nie in den Programmen und üblicherweise auch nicht einmal in den Noten ausgewiesen wird. Als Solist des Abends agiert Jakob Spahn, der unter anderem durch den Sonderpreis der Alice Rosner Foundation beim Internationalen ARD-Wettbewerb 2010 in München für Aufsehen sorgte. Spahn vermag vom ersten Strich an einen vollkommen eigenen Ton auf seinem Cello zu erzeugen, der recht rau und volltönend klingt und eine sanfte Wärme ohne übermäßig glatten Klang schafft. Das virtuose Meisterwerk gelingt ihm ohne technische Probleme, bis hin in die höchsten Lagen steigt er mit sauberen Tönen auf und bewältigt alle halsbrecherischen Läufe mit einem unbekümmerten Lächeln im Gesicht. Auch auf musikalischer Ebene beweist Spahn großes Können und kann den Melodiebogen als großes Ganzes erfassen und gliedern. Unverkennbar sieht man ihm die überschwängliche Spielfreude an und hört sie auch, in leicht beschwingtem Tonfall tanzen seine Themen und kommen offensichtlich aus ganzem Herzen. Doch wie bei fast allen Cellisten (und sonstigen Streichern auch) fällt bei Jakob Spahn eine durchgehende Ingebrauchname des Vibrato auf, das standardisiert bei jedem Ton eintritt, der eine gewisse Länge besitzt. Selbstverständlich hilft ein gutes Vibrato zu einem belebten Klang und hat eine anregende Wirkung, aber der Effekt kippt nach und nach ins Gegenteil, wenn er mechanisch übermäßig zum Einsatz kommt. Als Zugabe gibt es noch einmal das Finale der Variationen, diesmal noch geschwinder und mit noch mehr Elan, (wenn auch entsprechend mit einigen kleinen, jedoch verzeihlichen Fehlgriffen mehr), so dass Spahn nun auch die letzten mitreißt bis in die fulminanten und ausgedehnten Schlusstakte.

Nach der Pause erklingt schließlich das Werk, worauf vermutlich sowohl die Musiker als auch das Publikum an gespanntesten gewartet haben, die zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch in e-Moll Op. 93. Dieser gewaltige symphonische Koloss mit über fünfzig Minuten Länge ist auf körperlicher wie geistiger Ebene zutiefst anspruchsvoll und erschütternd. Manch großes A-Orchester müht sich teils mit der dichten Stimmvielfalt, den zerrüttenden Themen und dem schreckensgeladenen Ausdruck dieses symphonischen Werks hörbar ab, welches Schostakowitsch 1953 kurz nach dem Tod seines Unterdrückers Josef Stalin (der genau am gleichen Tag wie Prokofieff, am 5. März, verstarb) begann. Üblicherweise wird die Symphonie als Schlussstrich unter die Terrorherrschaft angesehen, wobei Stalin als Thema auftreten und auch die Zeit an sich verbildlicht werden soll, in die sich Schostakowitsch in Form seiner Initialen D-Es-C-H hineingraviert hat. In wie weit dies alles zutrifft, ist nicht sicher, doch ist zweifelsohne das Grauen komponiert, was bei guter Darbietung den Hörer fesseln muss und teilhaben lässt anhand des unmittelbaren musikalischen Geschehens. Gerade für die jüngeren Musiker muss es eine gigantische Herausforderung sein, sich in diese Schwermütigkeit und Reflexionen aus furchtbaren Zeiten hineinzuversetzen, sie zu fühlen und darzustellen – und all dies bei einer technisch für alle Beteiligten nicht zu unterschätzenden Aufgabe. Diese Anforderungen werden, besonders im Hinblick darauf, dass hier ein Jugendorchester spielt, überraschend umfassend erfüllt. Zwar können die jungen Musiker trotz mitreißender Leitung durch Johannes Klumpp die Symphonie auch nicht völlig frei von statisch gleichförmig wirkenden Passagen halten und auch nicht jede wesentliche Stimme tritt vernehmbar in den Vordergrund, doch gestalten sie ihre Phrasen allesamt erstaunlich vielseitig aus und entlocken der Musik detaillierte Farbnuancen. Der viel beanspruchte Bläserapparat brilliert auch in verzwickten Passagen und gerade das Holz zeichnet sich durch eine frappierende Makellosigkeit aus. So erreicht es das monströse Werk, den Zuhörer durchgehend in seinem Bann zu halten und ihn von der ersten dunklen Sekunde bis in die finale auskomponierte Apotheose unwiderstehlich mitzuzerren in alle erdenklichen Bereiche menschlicher Emotion.

Am Dirigierpult steht Johannes Klumpp, selber zur jüngeren Dirigentengeneration gehörend, und bietet all der divergierenden Stimmvielfalt Zusammenhalt. So einen Dirigenten braucht es für solch ein interessiertes und begeisterungsfähiges Orchester! Denn genau das zeichnet Klumpp aus, er reißt mit und begeistert. Er legt keinen besonderen Wert auf eine optisch ausgefeilte Dirigiertechnik, sondern auf seine Wirkung in zentraler Position als Vermittler gleichermaßen von Musik und Enthusiasmus. So stachelt er sein Jugendorchester stets zur Höchstleistung und auch zur energetisch packenden Melodieführung an, damit auch wirklich das frische Musizieren im Vordergrund steht und nicht etwa die Mechanik des Technischen. Und so hat es sich zweifelsohne gelohnt, die lange Anreise aus München auf sich zu nehmen, um dieses beeindruckende und in vielerlei Hinsicht ausnehmend gelungene Konzert miterleben zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

[Rezensionen im Vergleich 1b] Das vergessene Violinkonzert

Rebekka Hartmann ist die Violinistin des Abends am 08. November 2015 im Kubiz Unterhaching. Sie spielt das berüchtigte Violinkonzert von Robert Schumann in d-Moll WoO 1 zusammen mit dem Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora, welcher im Anschluss noch die vierte Symphonie in B-Dur Op. 60 Ludwig van Beethovens dirigiert.

Bis heute wird es wahrlich selten aufgeführt, das große Violinkonzert d-Moll WoO 1 von Robert Schumann, welches – 1853, im Jahr vor seiner Einlieferung in die Nervenheilanstalt, geschrieben – sein letztes Orchesterwerk sein sollte. Der Widmungsträger Joseph Joachim, dem einige der heute bekanntesten Violinkonzerte wie die von Johannes Brahms und Antonín Dvořák zugeeignet sind, führte es allerdings (übrigens ebenso wie das von Dvořák!) niemals öffentlich auf, denn er hatte wie auch Roberts Frau Clara Schumann Bedenken über die musikalische Qualität dieses Spätwerks, das so nah am geistigen Verfall zu sein schien. So kam es erst 84 Jahre nach der Entstehung 1937 durch Georg Kulenkampff zur Uraufführung und wurde auch erst in jenem Jahr in einer leicht überarbeiteten Ausgabe erstmals gedruckt und veröffentlicht. Wirklich etablieren konnte sich dieses Konzert allerdings noch immer nicht, obwohl sich namhafte Größen dafür einsetzen, allen voran Yehudi Menuhin und Henryk Szeryng, der es 1957 in einer Studioproduktion aufnahm und es zumindest als Erster in den Kanon der bedeutsamen Konzerte integrieren konnte. Nach wie vor wird es von den Violinisten aufgrund seiner geradezu antigeigerisch unangenehmen Virtuosität und ungeschickt gesetzten Akrobatik gefürchtet, und nur wenige bestehen diesen komplexen Drahtseitakt.

Auch die vierte Symphonie Op. 60 in B-Dur von Ludwig van Beethoven ist erstaunlich selten zu hören im Konzert, ganz im Gegensatz zu den Nummern drei und fünf. Nach einem berühmten Schumann-Zitat, die Symphonie sei eine schlanke Maid zwischen den Giganten der „Eroica“ und der „Schicksalssymphonie“, wird die Vierte oft als zartes und zerbrechliches Stück dargestellt, was ihr aber nicht gerecht werden kann, denn auch sie besticht mit ihren Kulminationen und vorwärtsdrängenden, markanten Themen in vollem Orchestertutti. Besonders der letzte Satz fordert viel von den Orchestermusikern, die in raschem Galopp minutiös die diffizilen Figuren bewältigen müssen, ohne dabei die Leichtigkeit und Fröhlichkeit dieses Satzes zu verlieren.

Die Solistin im Schumannkonzert, Rebekka Hartmann, brilliert mit elektrisierender Präsenz und alles durchdringendem musikalischen Bewusstsein. Alleine ihr Auftreten vermittelt schon deutlich die Konflikte in diesem späten Meisterwerk: Mal geht sie in die Knie, mal kneift sie das Gesicht in vollster Anspannung zusammen und im zweiten Satz lässt sie auch einmal ein Lächeln an die innigen Kantilenen durchdringen – sprich, sie ist vom ersten Ton an vollkommen in diese Musik abgetaucht und spricht keine andere Sprache mehr als die von Schumann. Und das wird auch hörbar! Ihr Spiel ist detailliert ausgestaltet sowie dynamisch und artikulatorisch gereift, ihre Stimme vollkommen losgelöst von den einengenden Taktschwerpunkten und kann sich so frei schwebend entfalten über dem mächtigen Orchesterklang. Nicht zuletzt von der technischen Seite her behauptet sich Rebekka Hartmann als Ausnahmeviolinistin und verleiht den fingerbrecherischsten Passagen eine unerhörte Leichtigkeit und strahlenden Glanz fern jeglicher Art des nicht empfundenen Bogens und rein äußerlicher Fixiertheit. Ein ebenso hohes und makelloses Niveau erreicht die Solistin in ihrer Zugabe, dem Recitativo und Scherzo-Caprice von Fritz Kreisler, einem frechen Bravourstück, das nach einer lyrisch-introvertierten, aber nichtsdestoweniger sanglichen anstatt nur prätendierenden Einleitung ein hochvirtuoses Geschehen mit großem Schwung entfesselt, das mit einem zwinkernden Auge einen würdevollen Abschluss der ersten Konzerthälfte nach diesem monströsen Violinkonzert abgibt.

An der Seite der Solistin steht das Bruckner Akademie Orchester unter Leitung des Celibidacheschülers Jordi Mora. Wie inspirierend und motivierend muss es sein, mit einer solchen Ausnahmemusikerin aufzutreten! Der Klangkörper, der im April bereits mit Schumanns erster und Schostakowitschs achter Symphonie beeindruckte, hat seine Ansprüche noch weiter in die Höhe geschraubt und ist auf ungeahntes Niveau aufgestiegen. Die Stimmen sind allesamt sauber und auch die orchesterinternen Soli verlaufen tadellos bis hin zu den heikelsten Anforderungen an einzelne Musiker. Hervorgehoben sei an dieser Stelle das erste Fagott, welches gerade bei Beethoven unzählige diffizile Passagen zu meistern hat, und der ganz grandiose Solohornist. Außerordentlich besticht die von Jordi Mora gut einstudierte Begleitung zu Schumanns Violinkonzert durch die absolute Durchsichtigkeit des Orchesterapparates, wodurch die Sologeige so oft wie nur irgend möglich solistisch wirklich erglänzen kann und nicht – wie bei diesem Konzert häufig der Fall – vor allem in den von Schumann so effektdämpfend bevorzugten mittleren und tiefen Lagen im Tutti untergeht. So angeleitet kann das Bruckner Akademie Orchester vornbildlich eingehen auf die Solistin und ihr ein angemessener Widerpart sein, ohne den die bloße Geigenstimme im Mittelsatz streckenweise direkt sinnfrei erscheinen würde.

Auch bei Beethoven überzeugt das Orchester. Hier gibt es unzählige Mittel- und Unterstimmen, die stets Gefahr laufen, zu verschwimmen oder im allgemeinen Klang unterzugehen, die jedoch hier kristallin durchsichtig an die Oberfläche befördert werden und einen schillernden Farbenreichtum ermöglichen.

In der Mitte des bis zum letzten Notsitz vollkommen ausverkauften Kubiz in Unterhaching steht der Dirigent Jordi Mora. Ihm ist es seit jeher wichtig, dem Laienorchester mannigfaltige klangliche Dimensionen zu verleihen und es zu einem plastischen Gebilde aus vielen eigenständig-lebendigen Stimmen werden zu lassen, wie er auch an diesem Abend unter Beweis stellt. Sein Dirigierstil ist äußerst schlicht und einfach, so dass es von der bewegungsästhetischen Seite eher weniger ansprechend wirken würde, wäre nicht eine enorme organische Kraft dahinter, die komplett aus seiner Mitte strömt und jeder noch so kleinen Bewegung Sinn verleiht. Mit dieser inneren Kraft kann er suggestiv die Musiker seines Orchesters leiten und einen gemeinsamen Impuls schaffen. Der unmittelbare Kontakt zu seinem Klangkörper ist ihm ebenso ein zentrales Anliegen, so dass er nie verkniffen in der Partitur hängt – den Beethoven dirigiert er ohnehin ohne Notenpult vor sich -, sondern Blickkontakt herstellt und als erfahrener Vermittler zwischen allen Mitwirkenden eine bezwingend zusammenhängende Darstellung entstehen lässt.

[Oliver Fraenzke, November 2015]

 

Bekannte und Unbekannte Musikergrößen

Auf dem Programm des großen Festkonzertes zum zehnjährigen Bestehen der Blutenburg Kammerphilharmonie München stehen Haydns finale Symphonie Nr. 104 in D-Dur mit dem Beinamen „London“ sowie die erste Symphonie in C op. 62 von Egon Wellesz. Der Abend des 25. Oktobers 2015 fand in München im Festsaal an der Maria-Ward-Straße 5 Nähe Schloss Nymphenburg statt, als Dirigent für das Jubiläum konnte der Leiter der Gründungszeit gewonnen werden, Jörg Birhance.

Für das große Gründungsjubiläum hat sich die Blutenburg Kammerphilharmonie München ein mehr als gewagtes Programm ausgesucht und dies gleich auf mehrere Ebenen. Wird dem Publikum die unbekannte Symphonie gefallen, die an diesem Abend erst zum dritten Male aufgeführt wird? Und wird das Orchester überhaupt diesem musikalischen Schlachtschiff gerecht, dass von einem Laienorchester fordert, woran manche ausschließlich aus Berufsmusikern bestehende Klangkörper lange feilen müssten? Die Symphonie Op. 62, deren Randsätze in c-Moll notiert sind, aber jeweils in C-Dur enden, und deren Mittelsatz in g-Moll vorgezeichnet ist, ist zweifelsohne eine große Herausforderung an die Musiker und den Dirigenten: Der bei oberflächlicher Herangehensweise pompös erscheinende erste Satz mit seinem eingängigen Thema fährt ungeahnt dichte und polyphon eng geführte Unterstimmen auf, die zu verstehen und dann auch noch auszuführen eine Sisyphusarbeit darstellt; der zweite Satz wartet mit durchgehenden Quintolen auf und verlangt größte Virtuosität und Gewandtheit aller Beteiligten; das Finale schließlich, ein scheinbarer Abgesang auf allen Trubel zuvor, in dem aber doch große Kulminationen stattfinden, eröffnet ganz neue Klangsphären – offenkundig an den späten Mahler mag es erinnern oder auch etwas an Bruckners Neunte, jedoch ist er formal viel geschlossener und durch seine Kürze prägnanter als Mahler. Hier schließlich ist einmal das volle Blech gefordert, das mit vier Hörnern, je drei Trompeten und Posaunen sowie Tuba die Bühne gut ausfüllen kann. Warum dieses herausragende Erstlingswerk in Wellesz’ Symphonik sowie der Komponist selber so unbekannt blieben, ist ein wahres Rätsel. Wellesz, der sowohl im Bereich der Musikwissenschaft mit Guido Adler als auch in der Komposition mit Arnold Schönberg ausgezeichnete Lehrer vorzuweisen hat, schuf trotz seines späten Beginns innerhalb des Genres (mit knapp sechzig Jahren) neun Symphonien (wie sollte es anders sein!), konnte aber auch vorher bereits eine große Anzahl an Orchesterwerken und Opern sowie eine Fülle an Kammermusik hervorbringen. Der Stil des Wellesz, der auch auf dem Gebiet der byzantinischen Musik als Experte zu bezeichnen war, ist trotz der Studien bei Schönberg keineswegs der Dodekaphonie verpflichtet, sondern konzentriert sich auf eine höchst interessante und dennoch äußerst ansprechende freie Tonalität, die durch seine außergewöhnliche Gabe im Gebiet der Orchestration in vielfarbigem Licht erstrahlt. Zwei Jahre nach der Komposition wurde die erste Symphonie 1947 von Sergiu Celibidache und den Berliner Philharmonikern aufgeführt, ein Jahr später folgten die Wiener Symphoniker unter Joseph Krips – danach endete die Rezeptionsgeschichte abgesehen von einer sehr schwachen CD-Einspielung, der nicht einmal eine Aufführung und auch keine angemessene Einstudierung vorangingen – bis heute!

Die Blutenburg Kammerphilharmonie München spielt im Großen und Ganzen frappierend souverän. Natürlich ist manch eine Unsauberkeit oder Asynchronität zu hören oder hin und wieder einmal ein Kieksen, doch für die Verhältnisse eines Laienorchesters liegt eine überragende Leistung vor. Der große Mann des Abends allerdings ist Jörg Birhance, der das Orchester 2005 auch gegründet hat und bis 2011 leitete. In jedem Takt ist die Arbeit unverkennbar, die er mit dem Orchester verrichtet hat, so dass die nicht erreichbare technische Perfektion der Instrumentalisten durch die kammermusikalische Bewusstheit wettgemacht wird. Was dieser Dirigent aus dem Klangkörper herausholen kann, ist wahrlich mehr als erstaunlich! Beim großzügig besetzten Haydn lässt er einen sehr klaren Gestus vorherrschen, so dass die Form ganz genau ersichtlich wird und auch die satztechnischen Feinheiten der letzten Symphonie des Meisters der Wiener Klassik bloßliegen. Bei Wellesz legt er großen Wert auf die vielen Unterstimmen, von denen ein beachtlicher Anteil ans Licht treten kann, und auch hier ist die Form kristallklar: Die Fuge in der Mitte des Kopfsatzes beginnt so sprichwörtlich, dass sofort klar ist, dass nun nichts anderes hätte kommen können. Besonders bei diesem Kopfsatz wird die enorme Anstrengung bei den Proben ersichtlich und bringt reiche Ernte ein, denn das Spiel wirkt auch trotz aller Schwierigkeiten noch sauberer als beim einfacher erscheinenden Haydn. Besonders mitreißend und abwechslungsreich gelingt der Mittelsatz, der immer wieder für Überraschungen sorgt. Wenn nicht schon längst vorher, so wäre spätestens hier vor den Musikern der Hut zu ziehen, die Quintolenfiguren verlaufen bestechend sauber und die verqueren, freitonal erscheinenden Stimmen sind auf hohem Niveau mit befreitem Ausdruck ausgestaltet. Nicht zuletzt vor dem Dirigenten sollte man sich nach diesem modernsten und wohl auch eigentümlichsten Satz der Symphonie verneigen, all die rhythmisch fast wahnwitzigen Stimmpolyphonien und Wechsel der Hauptstimme teils taktweise zwischen vier Instrumenten kommen bravourös heraus. Auch die überraschenden Wendungen erscheinen spontan und frisch, unerwartet machen sich neue Klangsphären auf, die genauso plötzlich verschwinden, wie sie begannen. Leider spielt im dritten Satz das Publikum teilweise nicht mehr recht mit und immer wieder sind Störgeräusche zu vernehmen, doch bleiben Dirigent und Kammerphilharmonie konzentriert und bereiten dem großen Werk einen würdevollen Schluss.

Auffallend ist das starke Charisma, mit dem Jörg Birhance vor das Orchester tritt und das ihn von Anfang an zum Konzentrations-Mittelpunkt werden lässt. Nachdem er sich einmal hineingefunden hat in das Geschehen, bleibt er auch ganz eins mit dem Erklingenden und lenkt seine Musikern in suggestiver Weise. Birhance hat eine ausgereifte Dirigiertechnik mit gerader Haltung und ausgefeiltem Schlag, der vor allem aus dem Ellbogengelenk kommt, aber auch den ganzen Arm inklusive Schulter in Anspruch nehmen kann, womit er unweigerlich die Instrumentalisten mitnimmt und sie zur Gemeinschaft führt. Er agiert voll und ganz im Dienste der Musik und seine innige Zuwendung zu den Werken ist in jedem Moment spürbar.

So bleiben am Ende des Abends lediglich zwei Fragen offen: Warum ist Egon Wellesz noch immer so unbekannt angesichts von solch beeindruckendem Schaffen, das trotz freier Tonalität ins Ohr geht und sicherlich viele Menschen unmittelbar anspricht? Und warum ergeht es Jörg Birhance auch nicht anders als dem von ihm so liebevoll favorisierten Meister? Auch Birhance ist nach so vielen Jahren vortrefflicher Arbeit nach wie vor nur Kennern ein Begriff. Er dirigiert kleine Orchester und Laien anstelle von renommierten Orchestern, deren Programmauswahl und Ausdruckspalette er zweifelsohne mehr als nur bereichern würde.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Schönklang mit Mozart

Genuin classics Gen 15371; EAN: 4 260036 253719

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Die Klaviersonaten Nr. 16 in C-Dur KV 545, Nr. 11 in A-Dur KV 331 und Nr. 12 in F-Dur KV 332 von Wolfgang Amadeus Mozart sind auf der Neuerscheinung der koreanisch-kanadischen Pianistin Jennifer Lim beim Leipziger Label Genuin Classics zu hören.

Eine gute Darbietung der Musik Wolfgang Amadeus Mozarts sei eine der höchsten Künste für einen Pianisten, heißt es immer wieder. Und tatsächlich erweist es sich als Herausforderung der Extraklasse, diese so scheinbar leicht überschaubare und technisch zumeist auch für Laien bewältigbare Musik wirklich zu ergründen. Jede Melodie ist mit aufmerksamstem Fingerspitzengefühl in detailliertester Feinheit auszugestalten, die Unterstimmen dürfen dabei trotz oft ostinaten Figurenwerks niemals mechanisch werden, und auch sie bergen fortwährend herrliche Melodieelemente und offenbaren harmonische Finessen, die nach der heute gewohnten Erfahrung chromatisch-dissonant aufgeladener Musik zwar bei Weitem nicht mehr so stark wirken wie damals, aber umso mehr ständig neu entdeckt werden müssen. Und indem all dies klingende Gestalt wird, hat der Pianist die wohl komplexeste Aufgabe wahrzunehmen: Die Bewältigung der Form als zusammenhängendes Erlebnis, als nicht abreißender, atmend artikulierter Spannungsbogen. Wie soll man mit den themeninternen Melodiewiederholungen umgehen, wie sieht dies wiederum in großen Wiederholungen aus, auf welche Art transzendieren die Kontraste dabei und wie soll mit neu auftauchendem Material innerhalb der so oft wiederkehrenden Motive umgegangen werden? Diese und noch viele andere Fragen sind maßgeblich für ein adäquates Mozartspiel.

Jennifer Lim hat für ihre Einspielung drei grundverschiedene Sonaten ausgewählt. Sie beginnt mit der schlichten Sonate C-Dur KV 545, der spätesten der drei vorliegenden Werke, welche von Mozart als kleine Sonate für Anfänger bezeichnet wurde und heute vor allem durch den in der Erstausgabe abgedruckten Titel „Sonata facile“ berühmt ist. Doch wer sie einmal intensiv erarbeitet hat, weiß, dass dieser Titel auch auf den zweiten Blick noch trügt, denn so facile ist es keinesfalls, die Natürlichkeit auch ungekünstelt und frei entstehen zu lassen. Noch populärer ist die Sonate in A-Dur KV 331, vor allem deren Finale „Alla Turca“. Eindrucksvoll gestaltet ist in dieser vor allem der erste Satz, ein circa viertelstündiger Zyklus aus sechs Variationen über ein höchst anmutiges Thema. Ein verschollen geglaubtes umfassendes Teilautograph Mozarts dieser Sonate wurde 2014 in Budapest entdeckt und führte zu einer neuen Ausgabe des Verlags G. Henle, was allerdings auf der vorliegenden Aufnahme noch nicht umgesetzt wurde. Abschluss des CD-Programms bildet die F-Dur-Sonate KV 332, fünf Jahre nach der in A-Dur entstanden. Hier herrschen extreme Kontraste zwischen Dur und Moll, ganz unerwartet braust im Kopfsatz d-Moll auf und verdrängt das zarte Thema. Spannend gibt sich auch das Finale, eine unablässig herrschende Jagd, die im Gestus schon fast an den vierten Satz von Franz Schuberts Sonate c-Moll D 958 anklingen mag, der genau 50 Jahre später geschrieben wurde.

Die Pianistin vertritt ein sehr eindeutiges Bild von Mozart, ihr Spiel ist durchgehend äußerst zart und stets dem geordneten Wohlklang verpflichtet. Jede Stimme wird hörbar durch die präzise Fingerarbeit, die die aufbrausendsten Läufe wie ein leichtes Windspiel erscheinen lassen. So lädt Mozarts Musik unter den Fingern Jennifer Lims direkt zum Träumen ein, so wohl fühlt sich der Hörer in den kristallinen Strukturen. Zwar verzichtet sie dabei auf eine genaue Einhaltung der vorgegebenen Dynamiken und auf die von Mozart minutiös differenzierten Akzentuierungen, doch ist dies dem nur auf diese Art entstehenden Gesamteindruck geschuldet, und da dieser auch sinnvoll überdacht ist, ist ein solcher Eingriff durchaus wohlgefällig. Deutlich spürbar ist die Zuwendung zu dieser Musik, die sich in jeder Note des Spiels von Jennifer Lim manifestiert und den Hörer angenehm berührt. Lediglich zwei Aspekte stören ein wenig das Gesamtbild dieser Aufnahme: Zum einen ist es die Angewohnheit, unreflektiert jede einzelne Wiederholung zu spielen ungeachtet dessen, ob es auch hinsichtlich der Gesamtform Sinn ergibt. Bei Mozart haben zwar die meisten Wiederholungen eine Bedeutung, sofern sie auch mit eben dieser umgesetzt werden, doch ist es meines Erachtens musikalisch redundant, die Wiederholung der Durchführung und Reprise im Sonatenhauptsatz zu exerzieren. Es ist nahezu unmöglich, vom Schluss des Geschehens noch einmal in den Höhepunkt des Satzes zu springen, nur um daraufhin nachvollziehbar zum gleichen Ende zurückzukehren und dabei eine durchgehende Spannung zu erzeugen. Das zweite, was stört, ist die automatische Zurückdrängung aller Unterstimmen unter die Melodie der Oberstimme. Gerade in der A-Dur-Sonate herrscht ein unglaublich vielfältiges Stimmengeflecht, und die tiefen Stimmen dürfen sehr häufig eigenständig in Beziehung treten mit dem Diskant. Wenn dies gut herausgemeißelt wird, können polyphone Passagen entstehen oder auch herzerwärmende Duette ertönen, so wie Liebesarien aus einer Oper. Zwar sind bei Jennifer Lim diese Unterstimmen deutlich wahrzunehmen, doch sich zu Gleichberechtigung aufzuschwingen vermögen sie nicht. Kleinere und nur punktuell spürbare Unstimmigkeiten wie zu spitze statt auf damaligen Klavieren nur mögliche etwas nachhallendere Staccati in der zweiten Variation der KV 331 fallen dagegen weniger ins Gewicht. Die Tempowahl ist größtenteils gut getroffen, besonders die langsamen Sätze erhalten einen soliden, weder eilenden noch stagnierenden Charakter, nur manches Allegro geht ein wenig zu geschwind nach vorne. Was der Pianistin exzellent gelingt, ist die Verwendung des Pedals, das zu keiner Zeit etwas nur ansatzweise verwischen lässt, aber doch präsent und oft eingesetzt ist. So verlieren die Sonaten nichts von ihrer tonlichen Präsenz und unbestechlichen Klarheit, gewinnen jedoch gleichzeitig an Obertönen und Klangraum durch das Pedal. Dazu nötig ist eine Beherrschung des Teilpedals in der oberen Hälfte der möglichen Senkung, die von den meisten Pianisten quasi überhaupt nicht genutzt wird.

Die Aufnahmetechnik im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses Leipzig verleiht dem Klavier einen seidenen Klang, der wie gemacht zu sein scheint für das Spiel Jennifer Lims. Der Booklettext von Michael Juk aufgrund dessen Gespräch mit der Pianistin bietet zwar einmal eine neue Idee, die Werke durch ein subjektiv gefärbtes Licht darzustellen anstatt die so oft genannten Kompositionsdaten und Rezeptionsfakten erneut aufzuzählen, strotzt jedoch vor unnützen Details wie der Beschreibung des vor ihnen platzieren Essens (das zwar den Autoren satt gemacht haben mag, meinen Wissensdurst jedoch nicht stillen kann) und enthält natürlich hervorgehoben die wichtige Produzentenrolle Juks. Doch soll solch selbstverliebtes Getöse nicht ablenken von einer alles in allem durchaus gelungenen Darbietung von drei so herrlichen Sonaten aus der Feder des bis heute populärsten Komponisten weltweit: Wolfgang Amadeus Mozart.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Grenzgänger

acoustic motion concepts AMC 301-2; GTIN: 4050215095656

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Ein neu aufgestelltes Projektteam begeht den Versuch, Kammermusik von bekannten Komponisten der Moderne und des Übergangs zu dieser zu rekomponieren und mit zeitgenössischen Sampletechniken aus dem Aufnahmematerial eine neue Musik zu schaffen, die die Form einer Symphonie annehmen soll. Mitwirkende Musiker der Originalwerke sind dabei Lutz Bartberger, Felix Benkartek, Esther Bürger, Anna-Doris Capitelli, Toni Ming Geiger, Carolina Große Darrelmann, Theresa Lier, Lara Sophie Schmitt und Lena Wignjosaputro. Für die Rekomposition ist Luis Reichard zuständig, der mit Patrick Leuchter die Produktion leitet und vom Schlagzeuger Moritz Baranczyk unterstützt wird, der für einen Track noch eine später als MIDI exportierte Schlagzeugstimme liefert. Der Titel des Projekts lautet Noch:Schon, ihre erste Veröffentlichung nennt sich „Musik an der Schwelle“.

Mit klassischer Musik zu experimentieren und sie in andere Formen und Dimensionen zu bringen, bringt oft sehr interessante und im positiven Sinne bemerkenswerte Versuche hervor, denn so erhält eine oft als „verstaubt“ diffamierte Musik neues Publikum und vielleicht können auf diese Art gerade junge Leute aufmerksam gemacht werden nicht nur auf die moderne Bearbeitung, sondern auch auf die Originale dahinter, und für eine offene Hörhaltung gegenüber einer solchen Musik gewonnen werden. Noch:Schon bietet exakt diese Möglichkeit: Auf der ersten CD von „Musik an der Schwelle“ befinden sich die Originalwerke, bestehend aus Gustav Mahlers einsätzigem Klavierquartett, Alban Bergs sieben frühen Liedern, Sergei Prokofjews Sonate für zwei Violinen, Samuel Barbers Nuvoletta und Bernd Alois Zimmermanns Sonate für Viola Solo; die zweite CD hingegen enthält Bearbeitungen dieser Stücke, gegliedert in vier Sätze, die zusammen eine Symphonie bilden sollen mit einem Sonatenhauptsatz (Mahler) zu Beginn, einer Kantate (Berg) in vier Teilen als zweitem Satz, einem Scherzo (Barber) und einem Finale (Zimmermann). Bedauerlicherweise wird der grandiosen Prokofjew-Sonate kein eigener Titel zugesprochen.

Die Musiker spielen allesamt auf einem hohen Niveau. Sehr stimmungsvoll ist das einsätzige Klavierquartett von Gustav Mahler dargeboten, jenes einzige vollständig uns erhaltene Kammermusikwerk des großen Symphonikers, das zwar in klassischer Sonatenhauptsatzstruktur komponiert ist, aber sich dennoch hauptsächlich monistisch aus dem Hauptgedanken a-f-e entwickelt, wodurch es im Spiel schnell zu ungewünschten Längen kommen kann. Bei den hier mitwirkenden Musikern werden die Längen erstaunlich gut kaschiert, das Zusammenspiel wirkt im Großen und Ganzen gut abgestimmt, lediglich donnert es manchmal ein wenig zu grob – wobei dies auch an der Tontechnik liegen kann. Carolina Große Darrelmann verleiht den sieben frühen Liedern Alban Bergs einen recht matten und innigen Klang mit einem leicht reibenden Timbre – leider ist der Text dabei manchmal nur schwerlich zu verstehen, was gerade bei so textlich ausdrucksstarken Liedern wünschenswert wäre. Sehr opernhaft erscheint Ester Bürger in Barbers Nuvoletta mit ausschweifenden und brillanten Koloraturen und einer strahlend hellen Stimme, die einen deutlichen Gegenpol zu der kammermusikalisch erscheinenden Sängerin der Berg-Lieder bildet, wenn auch mit der unfreiwilligen Gemeinsamkeit der oft unzureichenden Textdeklamation. Felix Benkartek accompagniert in beiden divergierenden Stilen in trefflichem Gestus am Klavier, ohne dabei sonderlich stark an der Oberfläche neben den Sängerinnen hervorzutreten. Entsprechend ist seine „Stimme“ teils nicht sonderlich sanglich ausgestaltet und wirkt zwar als solider und stimmiger Untergrund, allerdings nicht als vollwertiger Widerpart zu den Partnerinnen, vor allem bei Barber. Dabei könnte er durchaus weiter aus dem Schatten hervortreten, sein Spiel ist angenehm feingliedrig und perlig. Vermutlich ist aber auch hier wieder eher die Abmischung Ursache für die ungleiche Abstimmung als das Spiel des Pianisten, denn das Klavier wirkt im Vergleich zu der Kraft hinter manchen Tönen doch recht gedämpft und als reine Hintergrundsfarbe degradiert. Die überzeugendste Darbietung der ersten CD ist meines Erachtens die von Lara Sophie Schmitt in der Sonate für Viola solo von Bernd Alois Zimmermann, von dessen breitem Œvre die meisten nur die Oper „Die Soldaten“ kennen, die letztes Jahr in der Bayerischen Staatsoper unter Kirill Petrenko einen für ein avantgardistisches Werk unvorstellbaren Erfolg erzielen konnte. Die Violasonate erfordert unzählige minimale Farbnuancen, die ganz exakt dosiert werden müssen – was Schmitt auch zustande bringen und so die düster-depressive und für Zimmermann so typische Stimmung ohne jede aufgesetzte Verstellung vermitteln kann. Zudem findet sich noch die Sonate für zwei Violinen Op. 56 von Sergei Prokofjew auf der ersten CD, welche übrigens den Titel „Noch“ trägt, während die Bearbeitungen als „Schon“ überschrieben werden. Die Sonate, wie wohl fast alle Werke von Prokofjew, verlangt alles an Mechanik von den Musikern ab, was physikalisch irgendwie erreichbar ist. Umso schwieriger gestaltet es sich, auch die Lyrik in diesen vertrackten Sätzen herauszuarbeiten und in all den Dissonanzen und teils derben Klängen zu „singen“. In den langsamen Passagen mag das noch zu einem guten Teil gelingen, aber in den virtuosen und rhythmisch markanten Verläufen sind Lutz Bartberger und Theresa Lier zu sehr mit der rein technischen Bewältigung der komplexen Organisation beschäftigt, um für ein ausgewogenes und abgestimmtes Spiel sorgen zu können. So geht häufig auch die erforderlich akzentuierte Scharfkantigkeit verloren, besonders im zweiten Satz, dem phänomenalen dynamischen Höhepunkt, wo statt dessen entweder die entsprechenden Momente zu „harmlos“ wirken oder aber allzu kratzig rüberkommen. Nichts desto Trotz ist alleine schon die technisch so saubere Bewältigung eine hohe Aufgabe, die es zu würdigen gilt.

Insgesamt ist allerdings zu sagen, dass die Aufnahmetechnik der Stücke nicht gerade ideal getroffen ist, die Werke wirken ein wenig verloren im Raum und büßen somit an Tiefe und Präsenz ein, so dass manch einer der hier genannten Rezensionsaspekte nur nach mehrfachem Hören überhaupt eruierbar war. Zwar erklingen die Stücke besonders stimmungsvoll in dem leicht vernebelten Hall, doch ist dies den Preis nicht wert, zentrale musikalische Aspekte einzubüßen. Das ebenso wie das gesamte Album sehr innovativ gestaltete Booklet (das besondere Anhänger der Musik sogar als Plakat ausgebreitet in ihre Lokalitäten hängen können) gibt zwar weder sonderlich nennenswerte Informationen über die Originale, noch die Texte der Berg-Lieder, bietet aber ein paar interessante Gedanken vor allem über die Bearbeitungen, wobei ich mir auch hier ein wenig ausführlichere Fakten über den Entstehungsprozess und die Gedanken dahinter (die sich beim bloßen Hören schwerlich erschließen mögen) wünschen würde.

„Schon“ folgen die Rekompositionen der Stücke auf der zweiten CD, die laut beigelegtem Text komplett aus dem Aufnahmematerial gebildet wurden (abgesehen vom Schlagzeug auf Track 3). Diese Neuzusammensetzung erfolgte mit Hilfe von etlichen elektronischen Effekten, die die Originalstimmen teilweise in unkenntlich verzerrter Weise wiedergeben, so dass sie teilweise wie rein elektronisch generiert wirken. Auf diese Weise könnte das resultierende Material direkt Teil einer futuristisch anmutenden Ausstellung oder Musik für experimentelle Lokalitäten und Clubs darstellen. Das Ergebnis lässt noch immer das Original in sich erkennen, bildet aber doch etwas vollkommen Neues, und nur kurzzeitig schimmern Passagen vollkommen unverstellt durch die Elektronik durch. Alles in allem sind die Rekompositionen äußerst stimmungsvolle und kurzweilige Stücke, die eine eigene Atmosphäre verströmen und immer wieder für Überraschungen sorgen. Kontinuierlich stellt sich die Frage, was als nächstes folgt und welche Klangkombinationen und vor allem -variationen erscheinen werden. Besonders spannend sind die reinen Instrumentalstücke, so wird beispielsweise die Zimmermann-Sonate von ihrer spröden und fragmenthaften Originalgestalt aus immer weiter verdichtet, bis scheinbar ein ganzes Streichorchester spielt, was schließlich in eine melancholische Klangfläche mit sanfter Kantilene überkippt. Bei Mahler wurde versucht, auch eine Sonatenhauptsatzform zu erschaffen, allerdings mit Atmosphären statt mit Motiven – was allerdings mehr intellektuell zu verstehen als tatsächlich beim spontanen Hören offenkundig ist. So gelungen das Ergebnis auch sein mag, stellt sich nun dennoch die Frage nach dem innermusikalischen Sinn dahinter, denn keine dieser Kompositionen hat das Bedürfnis, auf irgendeine Art rekonstruiert zu werden. So handelt es sich mehr um schön zu hörende experimentelle Spiele denn um einen wahren Dienst im Sinne der Komponisten oder ihrer Werke. Ungeachtet dessen bleibt die Hoffnung, durch so eingängige und kosmische Umformungen kammermusikalischer Werke einmal mehr Besucher auch in den klassischen Konzertsaal zu locken.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Anfang und Ende eines großen Symphonikers

Sony Classical; Deutschlandradio Kultur; ISBN: 8 88751 56972 0

 9

Die erste und die nur fragmentarisch erhaltene letzte Symphonie, jeweils in D-Dur, des jung verstorbenen Franz Schubert bilden das kurze Programm der neuen CD-Einspielung der Kammerakademie Potsdam unter Leitung ihres Chefdirigenten Antonello Manacorda.

Es klingt eigentlich recht logisch: Die erste Symphonie eines Komponisten ist deutlich beeinflusst von dessen großen Vorbildern und die letzte schließlich ist die absolute Eigenständigkeit und vollendete Individualsprache des Meisters. So zumindest ist es immer und immer wieder zu hören und zu lesen – wie zum Beispiel auch im Booklet der vorliegenden CD, welches Albert Breier verfasst hat. Doch lauscht der Hörer einmal genau in die entsprechende Musik hinein, so dürfte er relativ schnell feststellen, dass dies auch dann nicht der Fall sein muss, wenn sich anscheinend alle darüber einig sind. Zweifelsohne lässt sich die aufgestellte These bei Franz Schubert umgehend als falsch deklarieren (übrigens nicht weniger bei Beethoven, dem in seinem symphonischen Erstlingswerk ebenfalls gelegentlich ein bisschen Haydn-Epigonentum vorgeworfen wird, und bei vielen anderen wie Niels W. Gade, Edvard Grieg, Jean Sibelius, Douglas Lilburn et cetera, denen allen ungerechtfertigterweise der unverkennbar eigene Ton in ihren Frühwerken beziehungsweise bei Lilburn oder Gade von manchem „Experten“ sogar in ihrem Gesamtwerk abgesprochen wird. Bei anderen Komponisten wie Mahler, Mozart, Bach oder Haydn ist von so etwas kaum einmal die Rede, obgleich auch sie natürlich gleichfalls Vorbilder hatten). Selbstverständlich lassen sich Anklänge an die Idole erkennen und werden teils durchaus deutlich, aber davon abgesehen liegt bei Schubert (und auch bei allen anderen genannten Namen) ohne den leisesten Verdacht eines Zweifels schon sehr früh eine große Eigenleistung vor, die sich deutlich von Vorherigem abhebt und bereits in jungem Alter einen eigenen Ton schafft. Die Behandlung des Orchesterapparats in relativ großer Besetzung ist trotz der für Schuberts bekanntere Werke ungewohnt freudig-festlichen Stimmung eine vollkommen andere als bei Haydn oder Mozart. Ironischerweise widerspricht sich bei der Aufzählung der angeblichen Vorbildwerke sogar der Booklettextautor, der den Hauptsatz gerne auf Beethovens Eroica errichtet sehen würde, aber gleichzeitig schreibt, von Beethoven seien um die Zeit allerdings nur die ersten zwei Symphonien im Repertoire des Konviktsorchesters für Schubert zu hören gewesen. Bei dem von Brian Newbould ergänzten Fragment des Andantes, welches vermutlich einer zehnten Symphonie angehören sollte, haben alle Klischeeliebenden dafür ihre Freude, es gehört tatsächlich zu den handwerklich und stilistisch vollendeten und innigen Manfestationen des unumstößlich erkennbaren Spätstils von Franz Schubert.

Die Kammerakademie Potsdam unter Antonello Manaconda nimmt die Werke insgesamt ziemlich schwungvoll und akzentuiert mit einem vollen Orchesterklang. Abgesehen von der frechen Verspieltheit im Finale der ersten Symphonie erzeugt das Spiel meist eine pathetisch-aufgeladene Wirkung mit gewissem Drang nach vorne. Im Symphoniefragment nimmt Manacorda die Scharfkantigkeit mehr heraus und vertraut eher dem lyrischen Moment, was dem Satz einen überlegenen Vorteil gegenüber dem Andante des Erstlingswerkes verschafft. All das Pompöse und Heroische ist auch nicht immer vorteilhaft für diese Musik, gerade die Adagio-Introduktion des Kopfsatzes ist dadurch ein wenig zu mächtig für die an sich erwünschte Wirkung eines durchsichtigen und beweglichen Orchesterklangs. Anstelle dessen erhält der Hörer eine durch ungebändigte Tuttischläge aufwühlende und in unglaubhaftem Pathos badende Musik, was zwar durchaus auch einen gewissen Reiz haben kann, aber hier doch ziemlich überzogen ist. Wie man eine gute Synthese zwischen diesen Gesten erhalten kann, präsentiert Manacorda selbst, und zwar im gleichen Werk: Der Finalsatz ist wesentlich stimmiger und auch alle Scharfkantigkeit der Fortepassagen wirkt mehr in den sinnvollen Kontext eingebunden. Das Finale zeichnet eine besondere Stringenz aus, die einen vom ersten bis zum letzten Ton im Bann hält – was sich vom Kopfsatz nicht behaupten lässt, da die Wiederholung zudem die ganze Angelegenheit unendlich lang erscheinen lässt, denn viel zu weit hat sich das dramatische Geschehen bereits vom Ausgangspunkt entfernt, als dass es noch einmal von Beginn an sinnträchtig abgespult werden könnte. Interessant gestaltet sich die Ausdifferenzierung des Menuetts mit seinem kontrastierenden Trio-Mittelteil. Durch eine leichte Temporücknahme gelingt es Manacorda hier, einen deutlichen Kontrast zwischen den beiden Abschnitten herzustellen, der sehr weibliche Elemente im Trio hervorkehrt und äußerst männliche im Menuett. Das ist natürlich hier etwas romantisierend übertrieben.

Eine vollkommen neue Welt kann sich schließlich in der spät entdeckten und als solche identifizierten Symphonie Nr. 10 D 936A öffnen. Solch eine Schönheit zeigt sich in diesen Orchesterklängen und betört dazu mit fabelhaften Orchesterwirkungen, so dass der von Brian Newbould rekonstruierte und orchestrierte Satz fast zum Träumen einladen würde, wäre da nicht diese Doppelbödigkeit, die Schubert so ausmacht und einen doch aufs Neue schlucken lässt angesichts dessen, was sich hinter der Fassade verbergen mag.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

„In der Fremde“

Linn Records CKD 474; ISBN: 6 91062 04742 5

8

Zum wiederholten Mal gibt der der englische Tenor James Gilchrist seiner treuen Mitstreiterin an den Tasten, Anna Tilbrook, die Ehre einer neuen Einspielung – nach etlichen Aufnahmen mit Gesängen von Britten, Schubert, Leighton, Berkeley und anderen diesmal mit Liederzyklen des deutschen Romantikers Robert Schumann. Auf die beiden Liederkreise Op. 24 nach Texten von Heinrich Heine und Op. 39 über Gedichte Joseph von Eichendorffs folgt die Vertonung von Heines berühmter Dichterliebe als Op. 48.

Siebenunddreißig Gesänge umfasst die CD mit Robert Schumanns Liederzyklen, die vom Tenor James Gilchrist und der Pianistin Anna Tilbrook vorgetragen werden. Eine erstaunlich hohe Anzahl, wenn man bedenkt, wie vielseitig doch jedes dieser Lieder an sich schon ist – und entsprechend, wie viele unterschiedliche Nuancen in all diesen kleinen Formen entdeckt werden müssen, um der abenteuerlichen Bandbreite menschlicher Emotionen darin gerecht zu werden. Das Zusammenspiel wird teils auf harte Proben gestellt, viele rhythmischen Feinheiten werden verlangt, auseinanderstrebende und parallel verlaufende Melodielinien müssen sanglich abgestimmt werden und auch der Zusammenhang innerhalb der Zyklen ist zu wahren.

Mit James Gilchrist hat Linn Records einen erstklassigen Tenor gefunden, dessen Repertoire sowohl Lieder als auch Opern, Oratorien und Messen verschiedenster Epochen vor allem aus England und dem deutschsprachigen Raum umfasst. Seine Stimme ist unverkennbar markant mit einem recht weiblichen Timbre und einer gewissen Zartheit, die jedoch auch gelegentlich in Furor geraten kann, sofern es das Lied erfordert. Zugegebenermaßen ist sein Klang anfangs wahrlich ungewohnt und wird vermutlich auch einigen Hörern begrenzt angenehm erscheinen, doch wenn man sich einmal an diese unverwechselbare Stimme gewöhnen konnte, lernt man schnell ihre besonderen Qualitäten zu schätzen. Gilchrist vermag es, sich minutiös in alle noch so feingliedrigen Lieder einzufühlen und die idiomatisch herausgearbeiteten Stimmungen nachvollziehbar weiterzuvermitteln. Deutlich aufmerksam wird der Hörer darauf zum Beispiel im „Waldesgespräch“ aus dem Liederkreis Op. 39, wo Gilchrist glaubhaft die beiden Dialogpartner verkörpert und es ihm darüber hinaus auch noch gelingt, den Wandel des unschuldigen Fräuleins in die gleich männlicher und überlegen wirkende Loreley auszugestalten. Erstaunlich ist, wie exakt die Aussprache des englischen Tenors im Deutschen ist, zu keiner Zeit scheint es, als wäre es nicht seine Muttersprache (meine Recherchen, ob irgendein Bezug zu Deutschland besteht, ergab bisher keine bestätigenden Resultate). Manchmal ist bedauerlicherweise sein Atmen unerwarteterweise derart laut und durch die Zähne zischend, dass es fast wie in die Gesangsstimme einbezogen scheint – vor allem in „Ich grolle nicht“ -, wobei dies glücklicherweise nur in den wenigsten Liedern auffällt. Äußerst angenehm ist dafür, dass James Gilchrist komplett auf sonstige künstlichen Manierismen und erkennbar unechte Verstellung verzichtet, sondern lediglich die auch tatsächlich in den Noten befindliche Rolle ohne jegliche störenden Beifügungen verkörpert.

Dem Tenor zur Seite agiert Anna Tilbrook am Klavier, die bereits seit 1997 mit Gilchrist zusammenwirkt, was unzählige Tonträger künstlerisch belegen. Zweifellos lässt sich feststellen, dass die Pianistin eine erfahrene und routinierte Kammermusikerin ist und viel mit Sängern gearbeitet hat. Ihr Spiel ist klar und perlend mit einem großen Maß an Zurückhaltung. Dies hat natürlich zur Folge, dass sie oft in die reine Begleiterrolle abrutscht anstelle eines gleichwertigen Klavierparts und somit die Singstimme teils nicht unterstützend tragen kann – worauf Gilchrist allerdings auch wenig angewiesen ist und sich in der alleinigen Dominanz bestens zurechtfindet. Meist kann sich Tilbrook auch aus der Tiefe heraus den melodiösen Linien ihres Sängers anpassen und einen stimmigen Widerpart bilden. Jedoch, wie so häufig in routinierten Konstellationen, „singt“ das Klavier vielerorts zu wenig, sondern exekutiert, statt melodiöse Aufschwünge zu erleben, eher die Noten. Gerade bei Staccatostellen, die eindeutig zu kurz sind und von keiner Gesangsstimme so schnell weggerissen werden können, holpert das Zusammenwirken dabei etwas. Jedoch hält sich auch Anna Tilbrook genauestens an den Notentext und versteht es in den meisten Fällen, die Gefühlslage in Tönen wiederzugeben und einige Textstellen ohne übertriebenen Effekt abzubilden. Auch den unpianistischsten Passagen wird sie mühelos gerecht und meistert alle rhythmischen Delikatessen im Zusammenspiel mit dem Tenor ohne je zu stocken. Die Tempowahl ist fast durchgehend äußerst angenehm, beide Musiker vertrauen vor allem den ruhigeren und innigeren Tempi ohne die viel zu oft vertretene Angst, der Fluss könne ins Stauen geraten – was sich hier als eine gute Wahl erweist, denn gerade den langsamen Liedern wohnt eine große Spannung inne, die erst durch zurückgenommenere Geschwindigkeit so greifbar wird.

Abgesehen von den erwähnten Atemgeräuschen ist der vergleichsweise trockene Klang der Aufnahme sehr angenehm zu hören, qualitativ wie wohl die meisten Aufnahmen der letzten Jahre sehr hochwertig. Der CD liegt ein äußerst umfangreiches Booklet auf Englisch bei, das neben allen Texten inklusive Übersetzung ins Englische von Richard Strokes auch einen langen Text aus der Feder von Nicholas Marston bietet, in dem der Autor neben Einführungen in die Liederzyklen auch einige Fragen beantwortet, wie beispielsweise die Definition eines Liederzyklus laute oder was es mit dem Wort-Ton-Verhältnis auf sich habe.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

Ein Heimspiel

EuroArts; Unitel Classica; DVD 2072758; ISBN: 8 80242 72758 9

6

Im Prager Smetanasaal des Gemeindehauses dirigiert Jiří Bělohlávek die Tschechische Philharmonie im Rahmen des traditionsreichen Prager Frühlings mit dem wohl bekanntesten Werk des Namenpatrons Bedřich Smetana: Má Vlast, Mein Vaterland. Aufgenommen wurde das Eröffnungskonzerts des Festivals von 2014 unter der Leitung des Videodirektors Tomáš Šimerda.

Die tschechische Musikszene wird hierzulande nach wie vor recht marginal wahrgenommen, lediglich die Namen Bedřich Smetana, Antonin Dvořak, Leoš Janáček und vielleicht noch Josef Suk und Bohuslav Martinů, Ervin Schulhoff sowie ganz am Rande Zdeněk Fibich sind international ein Begriff. Während Dvořak immerhin mit seinen späten Symphonien sieben bis neun und dem Cellokonzert omnipräsent ist und von Janáček gelegentlich einmal eine Oper oder ein Kammermusikwerk aufgeführt wird, haben es die anderen Komponisten nach wie vor recht schwer, sich außerhalb Böhmens durchzusetzen. Smetana konnte nur zwei Orchesterwerke beitragen, die heute immer und immer wieder von sämtlichen Orchestern dieser Welt präsentiert werden und zu Dauerrennern avancierten: Vltava, zu deutsch die Moldau, sowie die Ouvertüre zur Oper ‚Die verkaufte Braut’. Vernachlässigt hingegen sind die fünf anderen Stücke des circa 75-minütigen Zyklus ‚Ma Vlást’, dessen zweite Nummer die Moldau ist, und die einen nicht minder wertvollen Beitrag zur tscheschischen Nationalromantik bilden als diese: Die epochale Burg Vyšehrad, die männerhassende Rebellin Šárka, das Naturschauspiel ‚Aus Böhmens Hain und Flur’ (Z českých luhů a hájů) sowie das Hussitenlager Tábor und der Hussiten letzter Rückzugsort Blaník sind die Besungenen, die so zentral sind für Smetanas tönende Verherrlichung seines Vaterlandes.

Es ist offenkundig, dass Jiří Bělohlávek und die Tschechische Philharmonie hier ein absolutes Heimspiel haben, jedes Stück ist bis ins Kleinste genauestens bekannt und sämtliche Charaktere sind minutiös idiomatisch erfasst. Von der zartesten Kantilene bis zum überwältigendsten Brausen, vom Naturlaut bis zum geschwinden Bauerntanz kann der Dirigent dem Orchester jede Nuance in Vollendung entlocken. Zu nennen ist hier beispielsweise der trübe Klarinettengesang vor dem finalen Aufruhr in Šárka, bei welchem durch die tremolierenden Streicher eine derartig gewaltige Spannung aufgebaut wird, dass sich der Hörer kaum auf dem Stuhl halten kann. Der Orchesterklang ist dabei durchgehend sehr durchsichtig und klar, auch in polyphonen Passagen wie den die belebte Natur darstellenden Fugati und Fugenbruchstücken aus Z českých luhů a hájů bleibt jede Stimme deutlich und eigenständig. Das verleiht dem Musikerapparat etwas sehr Plastisches und Bewegliches, der Klang scheint alles andere als zweidimensional zu sein. Bělohlávek verzichtet trotz der Transparenz weder auf einen vollen Klang noch auf herbe Timbres, die auch das eine oder andere Mal dämonischer herüberklingen können. Der Klang wird freilich auch beeinflusst durch die interessante Aufstellung des Orchesters mit dem Schlagwerk von der Publikumsseite aus rechts vor den Posaunen und etwas seitlich der Trompeten sowie den sechs (!) Harfen hinten links neben den acht Kontrabässen, die hinter den Posaunen die letzte Reihe bilden. Somit erhalten die tiefen Instrumente von unten eine solide Klangbasis durch die Bässe, und den hohen Streicher wird der Rücken gestärkt durch die positionsbedingt gut hörbaren Harfen. Das Schlagwerk fällt von rechts überfallmäßig ein. Durch das visuelle Medium lässt sich bei dieser Aufnahme zudem etwas über das Dirigierverhalten von Jiří Bělohlávek sagen, was bei rein akustischer Dokumentation im Verborgenen bleiben würde. Die Bewegungen des Orchesterleiters sind größtenteils auf Brust- und Kopfhöhe, er vermeidet unnötig ausladende Gesten. Für die Musiker ist seine Führung sehr verständlich und offen, sie lädt zur aktiv kontrollierten Klanggestaltung ein und strukturiert die volle Bühne spielerisch.

Die DVD zeigt eine unglaubliche Vielfalt an Kameraperspektiven; Gesamt- und Teilaufnahmen der Musiker und des Dirigenten wechseln mit Kameraflügen über die Halle oder Ansichten von hinten oder gar von oben. Sogar die Triangel hat eine eigene Einstellung, wobei diese nicht so grell herausscheppert und das Klangbild dominiert wie in der mittlerweile wohl bekanntesten Aufnahme des ganzen Zyklus von Rafael Kubelik und den Wiener Philharmonikern aus dem Jahr 1959, wo dieses kleine Instrument durch die ungewohnte Präsenz eine außergewöhnliche und angenehme Klangfarbe beisteuern kann. Interessanterweise stören trotz so vieler Einstellungen zu keiner Zeit andere Kameras, die normalerweise in Filmproduktionen irgendwo klobig herumstehen oder durch den Raum geschoben werden. Meist sieht man nur bei ganz genauem Hinschauen die Videoaufnahmegeräte. Ruhig stehen die Kameras hier üblicherweise nicht, durch leichte Fahrten bleibt das Bild stetig im Fluss. Erstaunlich oft sind die Kamerafahrten und Schnitte sogar der Musik angepasst, an dramatischen Höhepunkten bewegen sich vielerorts die Kameras schneller und es werden außergewöhnlichere Positionen wie diejenige senkrecht von oben gewählt, außerdem gibt es dann mehr Schnitte. Auch die Audiowiedergabe ist auf einem durchwegs hohen Niveau und kann glaubhaft die Fülle an einzeln ausgearbeiteten Stimmen vermitteln.

Auch der äußere Eindruck der DVD ist sehr ansprechend mit dem stimmungsvollen Bild einer vernebelten Mooslandschaft und schlicht gehaltener Aufschrift. Das Booklet gibt auf Französisch, Deutsch und Englisch (nicht jedoch auf Tschechisch!) ausführlich Auskunft über Smetana, seinen Zyklus und die einzelnen Stücke, wodurch der Leser alles erfährt, um sich ein Bild zu machen über die Hintergründe der doch sehr programmgesteuerten Musik von Má Vlast. Über das Orchester lässt sich das Booklet allerdings nur auf Englisch aus, Informationen über den großartigen Dirigenten fehlen vollständig, was mehr als bedauerlich ist. Nichts desto Trotz liegt hier wohl eine der besten Musikfilmproduktionen dieses Jahres vor, die sowohl künstlerisch als auch akustisch und optisch wahrhaft hochkarätig ist.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2015]

David und Goliath: Préludes und Sonate

Challenge Classics CC72684; ISBN: 608917268423

4

Der aus Philadelphia stammende Peter Orth ist zu hören mit russischer Klaviermusik um die Wende zum 20. Jahrhundert. Kurze Miniaturen aus der Feder des jungen Alexander Scriabin, seine 24 Préludes op. 11, stehen der großformatig-dreisätzigen ersten Sonate op. 28 des ein Jahr später geborenen, gereiften und auf dem Weltparkett etablierten Sergei Rachmaninov gegenüber.

Zwei Herausforderungen, wie sie konträrer kaum sein können, bietet das Album des mittlerweile in Deutschland lebenden Pianisten Peter Orth. Das eine Werk, ein 24-teiliger Préludes-Zyklus durch alle Tonarten, feingeschliffene und detaillierte Kristalle mit einer deutlichen Anlehnung an Chopins Préludes op. 28, setzt sich vollständig ab von dem knapp 20 Jahre später entstandenen anderen Stück, einer über 40 Minuten langen Sonate höchster Virtuosität, die eher noch im Zeichen Tschaikowskis steht. Technisch bieten beide Komponisten ein gewaltiges Spektrum an Hürden auf, doch von der Art der musikalischen Ausgestaltung ist es etwas vollkommen anderes, eine kaum eine Minute lange Miniatur detailgetreu zu formen und eine ganze Welt in ihr entstehen zu lassen, als einen viertelstündigen Mammutsatz in all seiner Zersplitterung und Gegensätzlichkeit zusammenzuhalten. Hier wird beides verlangt.

Den ersten Programmpunkt bilden Alexander Scriabins 24 Préludes op. 11, die in einem achtjährigen Kompositionszeitraum zu seinem umfangreichsten Préludes-Zyklus avancierten. Der junge Scriabin, später als großer Neuerer hervorgetreten (vor allem durch seine Quartharmonik, die sich unter anderem im berühmt gewordenen Prometheusakkord äußert), ist hier vor allem noch von Chopin beeinflusst und ahmt dessen Gattungen nach, so, wie er auch seinen Stil aufgreift und fortführt. Doch ist Chopin bei weitem nicht die einzige schöpferische Kraft hinter dem Opus 11, wie viele so gerne behaupten mögen: Scriabin zeigt hier schon eine enorm moderne Seite seiner Musik auf, die sich absetzt von allen bisherigen Einflüssen. Wie subtil schafft es das zweite der Préludes, die kleine Septime durch stetige Verwendung ohne Auflösung in die Oktave (sondern mit Weiterführung in die Sexte) als Konsonanz zu etablieren; welch dämonische Kräfte herrschen in der sechsten Miniatur, die uns in einem Atemzug packt und durch all die schmetternden Oktaven reißt, nur um uns verstört in voller Akkordik zurückzulassen; und wie neuartig ist der Gebrauch des linken Pedals in der geheimnisvoll-vernebelten Nummer 16, das dezidiert als eigene Klangfarbe vorgegeben wird und wohl erstmalig in der Musikgeschichte für ein Fortissimo hinzugenommen wird.

Als Folgepaket gibt es die nach wie vor im Schatten der zweiten stehende erste Sonate von Sergei Rachmaninov, dessen Schaffen im Gegensatz zu Scriabin sein Leben lang der Romantik verpflichtet war. Dieses doch recht langatmige Werk begann der Komponist bei einem Aufenthalt in Dresden, inspiriert vor allem von Goethes Faust, was fast eine Art der programmatischen Anlehnung für die Sonate bietet. Davon ist allerdings im Notentext recht wenig zu erkennen, es sei denn, man will die ostinaten Begleittriolen des zweiten Satzes mit dem ebenfalls in d-Moll stehenden „Gretchen am Spinnrade“ op. 2 von Franz Schubert vergleichen. Insgesamt ist die Sonate ziemlich zerspalten in viele kleine Einzelabschnitte, die auch vom Tempo immer wieder auseinanderdriften, und einen sinnvollen Zusammenhalt entstehen zu lassen kompliziert machen.

Makellos angenehm ist die Tonqualität der Einspielung, die fein ausgewogen alle Details des Spiels zum Hörer hinüberträgt. Das ausschließlich englischsprachige Booklet ist mit Witz und Hintergrundwissen von Jens F. Laurson verfasst, wobei leider auch er übersieht, dass Scriabins Frühwerk neben Chopins Einfluss auch etwas Eigenes und Neues darstellt. Im Spiel von Peter Orth gibt es immer wieder einige Angewohnheiten, die irritierend wirken. Vor allem sei hier genannt der asynchrone Anschlag beider Hände, teils an Stellen, wo sie so offensichtlich zusammen die Mechanik betätigen müssen – sogar in den Schlussakkorden der Sonate ist die linke Hand der rechten einfach voraus. Bei Scriabin sollten zudem die unwillkürlichen Temposchwankungen hervorgehoben werden, durch die der Hörer immer wieder aus der eigentlich unermesslichen Spannung dieser Miniaturen gerissen wird – gerade in dem diabolischen sechsten Prélude wirkt plötzliche Zurückhaltung sehr dem gehetzten Charakter entgegen. Insgesamt ist jedoch eher die Tendenz zu beobachten, dass die langsamen Tempi deutlich zu schnell genommen werden, wodurch gerade bei Scriabin viele wichtigen Details nicht mehr ans Licht treten können und sich nicht alle Stimmen voll zu entfalten vermögen. So überzeugen nicht alle der Préludes wirklich durch die eigentliche Klarheit und Durchsichtigkeit, die ihnen trotz aller polyphonen Wendungen und konfliktiven Rhythmik innewohnt. Dennoch gibt es einige Nummern, die bei Orth durch exakt überdachten Gestus bestechen, allen voran die Nummer 16, die mit unruhigem Geist und logischer Steigerung auftrumpft. Auch die Miniaturen 11-14, 17 und 21 wurden sehr genau erfasst, und insgesamt ist die zweite Hälfte ausgewogener und konzentrierter als die erste. Äußerst positiv fällt auf, dass Peter Orth vielen pianistischen Klischees widerspricht, was die sangliche Phrasierung der Melodie betrifft – der Pianist hat ein gutes, natürliches Gespür für energetische Verläufe und akzentuiert nicht wie so viele anderen ausgerechnet die Auflösungen oder mechanisch die schweren Taktzeiten, sondern die spannungsintensiven Momente innerhalb der Linien. Deutlich reflektierter als Scriabin gelingt ihm die hochvirtuose Sonate op. 28 von Rachmaninov in d-Moll. Die grundverschiedenen Charaktere der einzelnen Abschnitte vermag Peter Orth erstaunlich gut zusammenzuhalten, ohne die große Form übermäßig bröckeln zu lassen – soweit es das Werk überhaupt zulässt, nicht in all den vielen Episoden und Verwinklungen verloren zu gehen. Zwar kann man mancherorts durchaus auf den Gedanken kommen, der mechanisch-technische Effekt überwiege das eigentlich musikalische Geschehen, doch wird das immer wieder schnell widerlegt durch ausgefeilte Melodieelemente in all dem virtuosen Gewühl, durch die einen doch ein wenig danach verlangt, die so selten zu hörende Sonate neben der zweiten öfter einmal vernehmen zu dürfen.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Die verbotene Symphonie erstmals in kritischer Edition

Musikproduktion Jürgen Höflich (mph); Repertoire Explorer; Study Score 1566

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må aldrig opføres“ prangt noch immer auf dem Deckblatt des Manuskripts der einzigen Symphonie eines der beliebtesten Komponisten der Romantik, und verhinderte deren Rezeptionsgeschichte grundlegend. Im Deutschen heißt die Übersetzung: Darf niemals aufgeführt werden. Warum Edvard Grieg 1867 sein Werk für immer verbannt wissen wollte, ist bis heute ungeklärt. Fest steht nur, dass der Plan zu diesem großformatigen Werk, ebenso wie der Ansporn zu der einzigen Klaviersonate e-Moll op. 7 und der ersten Violinsonate F-Dur op. 8, dem dänischen Komponisten Niels Wilhelm Gade (1817-1890) zu verdanken ist. Nach Griegs Studium in Leipzig, zu dem ihm der überragende norwegische Violinvirtuose und Komponist Ole Bull (1810-1880) geraten hatte, nahm er in Kopenhagen Unterricht bei dem an Mendelssohn geschulten bedeutenden Symphoniker Gade, der die unverrückbare Überzeugung vertrat, ein wahrer Komponist müsse Sonaten und Symphonien schreiben. So versuchte sich Edvard Grieg in beidem, doch wurde er sehr bald schon von norwegischen Kollegen davon abgebracht und spezialisierte sich von da an vor allem auf eine „Musik, die [s]eine Heimat ehrt“, wie er noch in seinem Todesjahr Ole Bull zitierte (nachzulesen in Arthur M. Abells „Gespräche mit berühmten Komponisten“ von 1962). Miniaturen und Lieder wurden sein Schwerpunkt, Genres, in denen er hunderte großartige Meisterwerke schuf. Der großen Form frönte Grieg hingegen nur in wenigen Einzelfällen, nach den Erstlingssonaten sollten noch zwei für Violine und eine für Cello folgen, ansonsten gibt es eine hinreißende Ballade für Klavier und ein herausragendes Streichquartett, an dem sich Debussy sehr für sein eigenes Quartett in gleicher Tonart inspirierte, sowie natürlich sein Klavierkonzert a-Moll und darüber hinaus lediglich vier weitere längere unzertrennbar zusammengehörige Werke („Im Herbst“, „Aus Holbergs Zeit“, „Bergliot“ und „Altnorwegische Romanze mit Variationen“). Jedoch schon seit jeher sein größter Kritiker war Grieg selbst und so mussten sich etliche Werke unzähligen Revisionen unterziehen, die Orchesterstimmen seines Klavierkonzerts beispielsweise veränderte er immer wieder bis zu seinem Lebensende und auch zwei Sätze seiner Klaviersonate erhielten eine Zweitfassung. Doch die Symphonie geriet niemals unter Bearbeitung, sie wurde noch vor der ersten kompletten Aufführung verboten, drei Jahre nach der Fertigstellung 1864. Quellen gehen davon aus, die Rücknahme der c-Moll-Symphonie habe mit der Uraufführung der Erstlingssymphonie seines Landsmanns Johan Severin Svendsen (1840-1911) zu tun, deren orchestraler und formaler Qualität und insbesondere auch explizit nordischer Erscheinung sich Grieg unterlegen fühlte, wenngleich sein eigenes Orchesterschaffen viel eher Schumann zuneigt. Belegt ist diese Begründung freilich nicht, aber es kam jedenfalls zu jenem folgenreichen Verbot auf dem Vorsatzblatt, welches die Symphonie das ganze Leben ihres Schöpfers über ruhen und auch nachher ein Dreivierteljahrhundert lang stumm bleiben ließen. Nach dem Tod des Komponisten ging das Manuskript an die Öffentliche Bibliothek in Bergen, die seinem letzten Willen treu blieb. Erst dank den Kalten Krieg kam es zu einer überraschenden Wende: Russen verschafften sich eine Fotokopie des Manuskripts, und Vitalij Katajev führte die Symphonie ohne Zustimmung Norwegens im Dezember 1980 erstmals vollständig auf, die Sowjets machten gar eine Rundfunkeinspielung. Doch die Norweger holten sich ihr nationales Anrecht bald zurück, indem sie selber für die nunmehr geradezu rasante Verbreitung der Symphonie sorgten: Bereits im März 1981 wurde die erste Schallplatte produziert, und 1984 veröffentlichte C. F. Peters, der Stammverleger Griegs, die Partitur (Nr. 8500).

Bei der Übertragung des Manuskripts geschahen damals unzählige, teils gravierende Fehler. Aus diesem Grund entschloss sich „Repertoire Explorer“ (in der Musikproduktion Jürgen Höflich [mph] in München), eine kritische Ausgabe zu erstellen. Grundlage dieser ist eine Gegenüberstellung des Manuskripts und der Studienpartitur durch den bereits 2011 verstorbenen bedeutenden Griegforscher Klaus Henning Oelmann, dessen Promotionsschrift „Edvard Grieg. Versuch einer Orientierung“ neben „Edvard Grieg. Mensch und Künstler“ von Finn Benestad und Dag Schjelderup-Ebbe die wohl umfassendste deutschsprachige Forschungsquelle zu dem berühmten Norweger darstellt. Auf den Seiten 484 bis 517 von Oelmanns Arbeit sind alle Abweichungen zwischen Autograph und Peters Ausgabe, exakt mit Taktzahl und Instrument angegeben, aufgelistet. Marius Hristescu wählte schließlich diejenigen davon aus, die ihm für eine Edition sinnvoll erschienen, da sie bei Peters sichtlich fehlerhaft sind, und nahm auch einige zusätzliche Ergänzungen vor, wo auch Grieg in seinem Manuskript beispielsweise eine Dynamikbezeichnung für ein Instrument vergessen hatte.

Es steht außer Zweifel, dass diese neue Edition wesentlich verlässlicher ist als die Peters-Ausgabe, wie der vierseitige kritische Bericht unmittelbar bezeugt. Die Urtext-Edition besieht alle Quellen und fügt begründet neue Änderungen in den Notentext ein und verbessert somit auch das Manuskript des Komponisten. Die häufigste Art dieser Eingriffe bezieht sich auf dynamische Angaben sowie Phrasierungsvorschriften, doch sind sogar auch ein paar falsche Noten korrigiert worden. Von einer gänzlich fehlerfreien Neuausgabe lässt sich trotz aller Fehlerbehebungen dann allerdings doch nicht sprechen, alleine in den ersten 100 Takten finden sich zwei marginale Druckfehler der Peters-Ausgabe, die Marius Hristescu übernommen hat, obgleich sie von Oelmann als fehlerhaft erfasst ausgewiesen sind (Takt 59: Piano der Klarinette fehlt, während es in der parallel verlaufenden Flöte vorhanden ist / Takt 94: Crescendo des zweiten Fagotts wurde vergessen, da das Crescendo des ersten Fagotts missverständlich gesetzt ist). Dessen ungeachtet ist die neue Edition wesentlich korrekter als die erste und bisher einzige Edition. Auch das Notenbild ist deutlich angenehmer zu lesen, durch den Abdruck aller Notenzeilen braucht der Leser nicht andauernd zu suchen, welche Stimmen nun gerade aktiv sind, außerdem sind die Systeme deutlich größer. Das Vorwort von Wolfgang Eggerking ist äußerst aufschlussreich und informativ geschrieben, zudem angenehm und fließend zu lesen. Die einleitenden Worte des Peters-Erstdrucks gaben zwar ebenfalls einige wissenswerte Fakten über die Symphonie preis, jedoch bei weitaus schmälerer Quellenlage und somit unter Einschluss von teils unpräzisen oder gar falschen Angaben wie beispielsweise dem Zeitpunkt der ersten Aufführung (angeblich 1981 in Norwegen und Russland). So sollte nicht nur einem jeden Freund der Musik von Edvard Grieg auf jeden Fall daran gelegen sein, die Ausgabe des „Repertoire Explorer“ in seine Sammlung aufzunehmen. Vor allem sollten die Symphonieorchester Kenntnis davon nehmen und ihre Archive mit der Neuausgabe „aufrüsten“.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Die Tiroler Moderne

musikmuseum 20; CD13019; ISBN: 9 079700 700061

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Die Opera 50 bis 52 des Tiroler Komponisten Michael F. P. Huber erschienen erstmals auf CD mit dem Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl. Dabei handelt es sich um die dritte Symphonie des Innsbruckers sowie sein Konzert für Harfe und das für Viola d’amore, Solisten hierbei sind Martina Rifesser und Andreas Ticozzi.

Das Orchester der Akademie St. Blasius erwirbt sich schon lange Zeit große Verdienste durch ihr beachtliches Engagement für unbekannte und zeitgenössische Künstler, vor allem die aus Tirol stammenden sowie auch einige aus den nordeuropäischen Ländern. Die mittlerweile 20. CD der Tiroler Reihe musikmuseum ist vollständig Michael F. P. Huber aus der Heimatstadt des Orchesters gewidmet, der bereits auf der siebten Veröffentlichung mit seiner zweiten Symphonie und Streichorchesterwerken vertreten ist. Mit Huber hat das Orchester einen wahrlich interessanten Komponisten entdeckt, der sich wenig aus den aktuellen Vorstellungen von „zeitgenössischer Musik“ macht – sprich, er gehört nicht zu der dominierenden Masse an Tonsetzern, die sich ausschließlich für noch ausgefallenere Klangspiele und strukturlose, für den Hörer unverständliche Musik ohne jeglichen Zusammenhang aufopfern. Viel eher konzentriert er sich auf prägnante Rhythmik und die logische Verarbeitung seiner Themen, die einen erkennbaren Kontext schaffen und eine klar ersichtliche Struktur bilden – oft in vertrauten Großformen wie hier in Konzert und Symphonie. Dennoch lässt sich keinesfalls behaupten, seine Musik sei in irgendeiner Weise regressiv, auch wenn ihr das vermutlich die meisten fest etablierten Anhänger der avantgardistischen Musiklobby vorwerfen würden.

Der erste Teil der CD besteht aus zwei grundverschiedenen Solokonzerten mit jeweils einer kleinen Orchesterbesetzung. Das dreisätzige Harfenkonzert Op. 50 verzichtet vollkommen auf Bläser, benötigt dafür neben den Streichern ein sehr solistisch gesetztes Klavier, das immer wieder in ein Wechselspiel mit der Harfe tritt (wobei der so prominent mitwirkende Pianist bedauerlicherweise namentlich selbst im Booklet nur in allerletzter Reihe der Mitwirkenden aufscheint: Mathias Schinagl), sowie zwei Schlagwerkspieler. Von Anfang an zeigt sich, dass Michael F. P. Hubert trotz unkonventionellem Umgang mit dem Material tief in der Tradition verankert ist: Tonleitern und Terzintervalle dominieren das Bild. Das Konzert besticht durch seine rhythmische Präsenz und sein komplexes Zusammenspiel. Der Dirigent Karlheinz Siessl schafft es, den Klang klar und durchsichtig zu halten, so dass auch in den verzwicktesten Passagen keine Stimme zu sehr untergeht, und vermag es, insgesamt eine helle und strahlende Wirkung zu erzielen. Der höchst anspruchsvolle Solopart wird dabei mühelos von der ebenfalls aus Tirol stammenden Martina Rifesser gemeistert, die ihrem Instrument alle nur vorstellbaren Klangfarben entlocken kann, vom tiefem Scheppern und hohem Knallen bis hin zu einem äußerst sanglichen Ton, was bei der gezupften Harfe vielen nicht gelingen mag. Durch seine gute Anpassungsfähigkeit imponiert auch der Pianist Mathias Schinagl, dessen Stimme untrennbar mit dem Soloinstrument verbunden erscheint. Das gesamte Zusammenspiel aller oft in extremen Konfliktrhythmen stehenden Partien ist durchgehend höchst beziehungsreich und so verzeiht man gerne gelegentliche Asynchronitäten zwischen Schlagwerk und Harfe.

Das einsätzige Konzert für Viola d’amore und Kammerorchester Op. 51 kann nicht ganz an das so präsente und einheitlich wirkende Harfenkonzert heranreichen. Zwar hat auch dieses einen ganz eigenen Reiz durch den Verzicht auf sämtliche hohen Streicher und die stattdessen zusammen oft vierstimmig gesetzten Celli und Kontrabässe und durch wirkungsstarke Konstellationen wie beispielsweise den einleitenden Kanon, der sich nie komplett in die Höhe zu schrauben vermag, doch fehlt hier ein wenig der große Zusammenhang, der die drei Abschnitte als ein bezwingendes Gemeinsames erfahren ließe. Auch ist die Musik nicht mehr ganz so unmittelbar verständlich wie im Opus 50, einige Passagen wirken eher konstruiert. Die Umstellung von seiner normalen Violine und Viola zu der siebensaitigen und mit Resonanzsaiten vollkommen von heute gebräuchlichen Instrumenten abweichenden Viola d’amore gelingt Andreas Ticozzi ohne Probleme. Er entlockt dem historischen Instrument einen recht rauhen – statt, vielleicht erwartet, lieblichen – Ton, wodurch die Saiten ein leicht kratziges, zum Gesamtklang allerdings stimmiges Timbre erhalten. Der Solist nimmt den meist mehrstimmigen und herausfordernden Violasatz allgemein recht herb und mit einem gewissen Trotz, mit dem die Stimme auch oft genug gegen das Kammerorchester aufbegehrt, wodurch sich die Kompositionsweise auch im Spiel sehr deutlich abzeichnet.

Das letzte Werk der CD ist die 2013 komponierte Symphonie Nr. 3 Op. 52, die dem hier am Pult antretenden Karlheinz Siessl gewidmet ist. In den beiden Sätzen des knapp 30-minütigen Werkes kann nun auch einmal das voll besetzte Orchester der Akademie St. Blasius in Erscheinung treten. Auf den pompös schmetternden ersten Satz folgen zurückgenommenere Metamorphosen, die auch zu größeren Ausbrüchen im Stand sind und am Ende den Zuhörer vollkommen erschüttert zurücklassen. Das zweifelsohne einen Höhepunkt im bisherigen Symphonieschaffen des frühen 21. Jahrhunderts darstellende Orchesterwerk verfolgt einen klaren Aufbau aus einem einzigen Grundmaterial, das immer weiter und freier fortgesponnen wird, dabei teils humorvoll und losgelöst, teils aber auch äußerst dunkel und tiefgründig sein kann und sich in größter Obsessivität ins Unermessliche steigert, womit es sich in der Doppelbödigkeit ein wenig an russisches Symphonieschaffen des mittleren 20. Jahrhunderts anzuschließen scheint. Hier kann sich das Orchester der Akademie St. Blasius unter Karlheinz Siessl voll ausleben, die Musiker haben genauestes Verständnis für diese Musik, quasi ein Heimspiel. Der Dirigent ist in der Lage, den großen Orchesterapparat vollständig durchsichtig zu halten, sogar bei den akzentuiert gewaltigen Höhepunkten gleitet er niemals in blindlings lärmende Banalitäten oder mechanische Manieren ab. Immer hat er den musikalischen Bogen im Kopf und entsprechend den derzeitigen „Standpunkt“, an welcher Stelle im Stück man sich gerade befindet. Nicht zuletzt zentral ist für Karlheinz Siessl auch jede einzelne Stimme, die er ausgestalten lässt und dann in ein einheitliches Ganzes einfügt, wodurch gerade die polyphonen Passagen eine überragende Wirkung erhalten.

Zu allen Beteiligten gibt das Booklet genauere Auskünfte, außerdem stehen dort wissenswerte Details über die drei Werke – wenngleich ohne Nennung der ehrenvollen Widmung der dritten Symphonie. Aufgenommen wurde die Musik jeweils im Rahmen von Konzertprojekten an verschiedenen Orten, wobei die Klangqualität durchgehend auf ausgezeichnetem Niveau ist, alles ist sehr zufriedenstellend abgemischt und ausgewogen.

Zusammenfassend liegen auf dieser CD drei wahrlich technisch ausgereifte, einfallsreiche, prägnante sowie auch ins Ohr gehende und bei aller Mannigfaltigkeit der Textur verständliche Orchesterwerke von Michael F. P. Huber vor, die von dem glänzenden Orchester der Akademie St. Blasius und dem auf diesem Gebiet der Musik sichtlich erfahrenen Dirigenten Karlheinz Siessl in exemplarischer Qualität dargeboten werden. Es ist ein sehr wertvoller Beitrag für die leider bisher sehr unbekannte Musikkultur Tirols, die dringend auch von anderen Seiten der Aufmerksamkeit bedarf, um sie auch hier in Deutschland endlich auf die Konzertbühnen zu bringen.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Beth Levins „Gesamtkunstwerk“

Aldilà Records ARCD 005; EAN: 9 003643 980051

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Ein scheinbar unkombinierbares Programm, vereint zu einem unzertrennbar wirkenden Ganzen ist auf dem ersten europäischen Album von Beth Levin zu hören. Inward Voice heißt die CD der amerikanischen Pianistin, die Schumanns Kreisleriana, Anders Eliassons Versione per pianoforte und Franz Peter Schuberts späte Sonate c-Moll D 958 zu kombinieren vermag.

Lange Zeit in größter Bescheidenheit dem internationalem Star-Rummel fern geblieben, tritt die Amerikanerin Beth Levin endlich ans Licht mit ihrer ersten CD-Veröffentlichung außerhalb der USA und bietet in dieser direkt ein atemberaubendes Programm dar. Jedes dieser Werke mit grundverschiedenem Gestus ist für sich schon eine technische und interpretatorische Herausforderung besonderer Güte, doch Beth Levin geht noch ein Stück weiter: Sie lässt die Werke in einem einzigen durchgehenden Bogen verlaufen, so fließt Schumann ohne merklichen Bruch in die eigenwillige, 135 Jahre später komponierte Versione des schwedischen Neuerers Anders Eliasson über, welche wiederum von Schubert so aufgefangen und zurück in klassische Sphären geworfen wird, als wäre es exakt so komponiert. Somit schafft die Pianistin ein wahres Gesamtkunstwerk, verbunden durch die zum Hörer durchdringende Zuwendung zu jedem Stück und zu jeder Note.

Das Cover macht fast den Eindruck, als handle es sich bei Inward Voice um eine etwas klein geratene Schallplatte mit seinem stilllebenhaften Schattenabbild eines Baumes und dem kleinen eingerahmten Schriftzug mit dem Inhalt der CD. Dies, malerisch anzuschauen und unmittelbar an alte Vinyltonträger erinnernd, trägt – ebenso wie die von Gil Reavill verfassten Gedichte zu den einzelnen Programmpunkten – zu einer einheitlichen Gesamterscheinung bei, zu jener überwältigend konzipierten Programmdramaturgie, die die Amerikanerin kunstvoll ersonnen hat. Nicht zuletzt Teil dieser Erscheinung ist ihr Spiel, welches sich nämlich komplett von der Masse heutiger Gepflogenheiten abhebt; sie erreicht eher die musikalischen Qualitäten der großen Musiker der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile gebräuchliche Hörgewohnheiten und standardisierte Auffassungen lassen Beth Levin vollkommen kalt, sie folgt einem ganz eigenen Weg. Allgemein ist ihr Spiel äußerst feinfühlig und frei von jeder Gehetztheit, alles behält eine innere Ruhe; gerade in den sehr bewegten und lebhaften Stellen der Kreisleriana sowie dem meist zur Hetzjagd ausufernden Finale der Schubertsonate beweist sie unglaubliche Kontrolle und schafft damit absolute Referenz. Ebenso spektakulär ist das technische Vermögen der Pianistin, handelt es sich doch um eine ungeschnittene Liveaufnahme im Studio und dennoch lässt sich fast an keiner Stelle einmal eine punktuelle Unsauberkeit herausfiltern – auch bei genauer Kenntnis des Notentexts.

Beth Levin weiß genau, was sie will. Ersichtlich wird dies alleine schon durch die Tatsache, dass die Kreisleriana in dieser Einspielung ein einziger Track ist und nicht in die acht Stücke zersplittert wurde. Endlich wird man derart gezwungen, dieses Einheitswerk wirklich als Einheit zu hören! Auch innerhalb des Werkes ist exakt bedacht, welche Wiederholungen gespielt werden sollen und welche nicht, ebenso bei Schubert. Nicht vergessen sollten auch Beth Levins Notizen zur Kreisleriana im allgemein sehr lesenswerten und interessant illustrierten Booklet bleiben, die persönliche Assoziationen zu Schumanns Op. 16 und Tipps für Pianisten beinhalten. In keinem der Stücke scheute die Pianistin davor zurück, kleine dynamische Akzentuierungen vorzunehmen, um die energetische Linie herauszubringen anstatt stur zum Beispiel ein auf die Auflösung deplatziertes Sforzato übermäßig herausknallen zu lassen. Gerade bei Eliassons Versione per pianoforte, einem von nur fünf Klavierwerken des im vorletzten Jahr verstorbenen Meisters (welches im Übrigen hier als Ersteinspielung vorliegt), nutzte sie detailliert leichte dynamische Abweichungen, um die Lautstärke in ein dem Spannungsbogen entsprechendes Verhältnis einzugliedern. Dafür sind die dynamischen Unterschiede durchgehend umso beträchtlicher, in einer vollkommen ungewohnt geradezu orchestrale Kontraste schaffenden Weise. Alle rhythmischen Komplikationen meistert Beth Levin dabei spielerisch, egal ob ständige Taktwechsel oder abstruseste Positionierung kürzester Notenwerte, nichts bringt sie von einem gleichmäßigen Pulsieren ab, so dass auch die zwei Monate vor seinem Tod komponierte Sonate c-Moll Franz Schuberts mit ihren sprunghaften Wechseln von triolischem zu duolischem Denken keine Schwierigkeit, jedoch umso spannenderes Geschehen darstellt.

So bleibt nur, gespannt zu warten auf die hoffentlich bald nachfolgende nächste Einspielung von Beth Levin, für alle, die nach diesem großen Wurf sicherlich Lust auf mehr bekommen. Mit nur einem Tag Aufnahmezeit hat sie bewiesen, dass auch ohne Willkür und unreflektierte Eingriffe in den Notentext sowie ohne erkünstelte Manierismen, allerdings mit in seiner unwillkürlichen Wucht absolut fesselndem Rubato, das scheint, als könne es gar nicht anders sein, ein gänzlich eigener Stil geschaffen werden kann.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Kammermusik in Freimann

Ein mannigfaltiges Programm für Violine und Klavier war am 20. September in der Villa Mohr in München-Freimann (Situlistraße) zu hören. Der Bogen wurde dabei von Isabel Steinbach geführt und an den Tasten agierte der aus Bombay stammende Pianist Pervez Mody, zusammen treten sie als Duo Appassionata auf. Altwiener Tanzweisen von Fritz Kreisler und eine Duobearbeitung von Edvard Griegs Peer Gynt Suite Nr. 1 durch Hans Sitt standen neben Ludwig van Beethovens siebter Violinsonate in c-moll op. 30/2 und Franz Schuberts Rondeau brillant h-Moll op. 70 auf dem Programm.

Eine recht eigentümliche und doch erstaunlich stimmige Werkreihenfolge bietet der Abend in Freimann auf, Kreislers Altwiener Tanzweisen vor Beethovens ernster „Grande Sonate“ c-Moll in der ersten Hälfte und Griegs berühmte Peer Gynt Suite Nr. 1 vor dem recht selten dargebotenen Rondo in h-Moll von Schubert nach der Pause sind durchaus interessante Kombinationen von divergierenden Stilsphären. Der schnelle Wechsel zwischen so unterschiedlichen Welten ist eine wahre Herausforderung für die Musiker, die erst kurz vor dem Konzert aus Österreich eintreffen. Ganz ohne Anspielprobe, ohne Warm Up müssen sie das anspruchsvolle Programm präsentieren!

So ist es nicht verwunderlich, dass Liebesfreud und Liebesleid aus Kreislers Feder noch nicht den Wiener Schwung erhalten, wodurch der Tanzcharakter fast etwas stolpert. Pervez Mody besticht dessen ungeachtet durch eine außergewöhnlich leichtfüßige Begleitung in strahlendem Staccato, das zwar an sich viel zu kurz ist, aber in der eleganten Art der Ausführung einen sehr eigenen Charme erhält. Die Violinstimme wirkt darüber etwas statisch, ist aber auch durchgehend durchdacht und sanglich geführt. Der kühne Wechsel zu den düstereren Welten von Beethovens Violinsonate Nr. 7 gelingt tatsächlich und das schlichte Thema begibt sich auf seine Reise durch den technisch äußerst delikaten Kopfsatz, in dem beide ihre zweifelsohne brillanten Fähigkeiten unter Beweis stellen können. Gerade im ersten Satz muss der Hörer unweigerlich darauf stoßen, wie eingespielt diese beiden Musiker sind, jedes Thema wird übergangslos vom jeweils anderen Spieler aufgenommen und weitergeführt, dynamisch sind sie perfekt aufeinander abgestimmt und auch in der Phrasierung herrscht große Einigkeit – was bei allzu vielen Duetts nicht wirklich anzufinden ist. Anzumerken ist hier nur, dass beide Musiker immer wieder der heute sehr beliebten Mode verfallen, gegen jede Verstellung von natürlichem Spannungsaufbau die Auflösung einer Linie ebenso wie die Taktschwerpunkt oft ungeachtet ihrer kontextuellen Bedeutung zu akzentuieren. Nach einem ziemlich unstetigen und vielerorts zu sehr nach vorne drängendem (von Anfang an bereits zu eiligen) Adagio reißt das Duo Appassionata in Scherzo und Finale mit. Pervez Mody erweist sich als so geschmeidiger Begleiter, so dass sich Isabel Steinbach vollends auf dieser hervorragenden Grundlage entfalten kann, sein Spiel ist auch in den zerklüftetsten Passagen rein und durchsichtig mit einer unerschütterlichen Lockerheit.

Nach der Pause wird das Programm durch Grieg fortgeführt, dessen erste Suite aus der Bühnenmusik zu Peer Gynt von Henrik Ibsen hier in einer Duobearbeitung von Hans Sitt erklingt. Der in Prag geborene Sitt ist heute als Komponist vollkommen in Vergessenheit geraten, abgesehen von kurzen Stückchen für den Geigenunterricht, eine Entdeckung unter anderem seiner Violinkonzerte oder seines Bratschenkonzerts (er war neben seiner Geigenlehrtätigkeit in Leipzig auch als Bratschist im Brodsky-Quartett tätig) wäre sehr wünschenswert. Zu lesen ist der Name nur auf Arrangements, viele der international berühmten Geigenvirtuosen greifen immer wieder auf seine Bearbeitungen zurück (zu nennen beispielsweise Henryk Szeryng, der Nardinis e-moll-Konzert ausschließlich in Sitts Fassung spielte). Die Version für Violine und Klavier ist erstaunlich gut gelungen, die Musik erhält eine ausgewogene Abstimmung zwischen den unterschiedlichen Kräften, zwischen denen die Themen stimmig aufgeteilt sind. Die Morgenstimmung erklingt in der Darbietung des Duos Appassionata noch recht willkürlich, die kleinen Ritardandi schmälern den Eindruck der aufgehenden Sonne, wobei allerdings im späteren Verlauf das Tempo so stark beschleunigt, dass von einer Morgenidylle nicht mehr die Rede sein kann. Wesentlich gelungener sind dafür vor allem die folgenden Stücke Åses Tod und Anitras Tanz in all ihren verschiedenartigen Ausdrucksmitteln. Hier zeigt sich, wie stark sich die Instrumentalisten mit der skandinavischen Musik auseinandergesetzt haben – auch ihr letztes gemeinsames Album enthält Sonaten von Sinding, Gade und Grieg. Das Klangresultat erhält eine spielerische Natürlichkeit und schäumt nicht über vor falschem Pathos.

Das Finale bildet Schuberts Rondo für Violine und Klavier h-Moll op. 70, das wohl risikoreichste Werk des Abends; so schnell kann die komplexe Struktur zerbrechen und die dramatische Tiefgründigkeit in oberflächliche Virtuosität umkippen. Immerhin gelang es dem Duo, den Hörer hineinzuziehen in das musikalische Geschehen; dennoch können auch sie nicht verhindern, dass der große Zusammenhang und die potentielle Stringenz dieses viertelstündigen Werks teils abglitt und der Hörer kurzzeitig seinen Halt in der fragilen Welt verliert. Dennoch ist das Rondo durchwegs reflektiert dargeboten und die musikalische Leistung sehr beachtlich, gerade im Vergleich mit vielen teils großen Virtuosen, die aus dem packenden Seelengemälde weitaus weniger herauszuholen vermögen als Steinbach und Mody. Als Zugabe gibt es erneut Kreisler, diesmal wesentlich schwungvoller und wienerischer als zu Beginn des Abends, und den Brautraub aus der zweiten Peer Gynt-Suite, der durch feine Klangeffekte betört.

Das Duo Appassionata überzeugt den gesamten Abend durch ein äußerst fein abgestimmtes Zusammenspiel, das sich in vierzehn Jahren gemeinsamen Wirkens gefestigt hat. Dadurch schleichen sich allerdings auch routinemäßig willkürliche Elemente mit ein, so beispielsweise genannte Überakzentuierung von Auflösungen und Taktschwerpunkten oder auch zerfasernde Tempi, welche immer wieder treiben oder unbedacht schwanken, was allerdings angesichts der enormen Musikalität im Spiel der beiden verziehen werden kann. Isabel Steinbach präsentiert sich als technisch ausgereifte Violinistin, die ihr Programm nüchtern und distanziert betrachtet, sich also zu keiner Zeit von zu Unachtsamkeit lockenden Schwärmereien hinreißen lässt, Pervez Mody hingegen trumpft auf mit ungeahnter Klangkontrolle und -vorstellung sowie seiner entspannten Art des Klavierspiels, bei beiden ist ein feinfühliges Aufeinander-Eingehen spürbar.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Alle Farben der See

Linn AKD 533; Quiet Money Productions; ISBN: 6 91062 05332 7

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Liane Carroll entführt den Hörer mit ihrem neuesten Album ans Meer. In wechselnder Besetzung singt sie zehn Songs verschiedenster Komponisten, das titelgebende Seaside wurde dabei von Joe Stilgoe exklusiv für die Sängerin und ihre Passion für die See geschrieben, womit er den Anstoß zu vorliegendem Album gab.

Wenn Liane Carroll zu singen beginnt, hört die Welt auf, sich zu drehen. Vom ersten Augenblick an bezaubert die britische Sängerin und Pianistin mit ihrer einmaligen Stimme, deren angenehm rauer Klang den Hörer sofort gefangen nimmt. Jedem Stück gibt Carroll eine vollkommen eigene und unnachahmliche Note, alles ist aus vollster Leidenschaft und mit selbstbesonnener, tiefer Empfindung gesungen und wirkt sowohl reflektiert als dennoch auch so unmittelbar spontan, als hätte sie die Songs gerade eben zum ersten Mal für sich entdeckt. Im Großen und Ganzen bevorzugt sie zwar für ihre Vorstellung der Seelandschaft gemessene Tempi, doch überzeugt sie auch in vorwärtstreibenden Passagen sowie wilden Scateinlagen. Die Musik ist ständig progressierend, immer streben die Titel nach Entwicklung und verbinden teils vollkommen auseinanderstrebende Abschnitte mit höchster Eleganz und Stilsicherheit.

Was dieses Album so vielseitig und abwechslungsreich macht, ist die Tatsache, dass Liane Carroll nicht auf eine feste Besetzung für ihre Songs vertraut. Nach jedem Track wechselt die Zusammensetzung ihrer Mitstreiter, und auch innerhalb der Stücke changieren manche Spieler zwischen bis zu drei Instrumenten. Dies lässt die Musik nicht einmal annäherungsweise Gefahr laufen, in Gleichförmigkeit zu versinken, denn durch fortwährend sich verändernde Klangkulisse bleibt sie durchgehend frisch und sorgt für stetige Überraschungen. Jedes Instrument ist sorgsam ausgewählt und trägt zum Gesamtbild maßgeblich bei, zu keiner Zeit scheint ein Element zu fehlen oder überflüssig zu sein. Und ob für eine Nummer nun eine volle Klangkulisse mit bis zu neun Instrumentalisten (inklusive der auch am Klavier tätigen Liane Carroll) oder eine intimere Konstellation mit beispielsweise nur Gitarrenbegleitung völlig ohne Schlagwerk zum Einsatz kommt, hat überhaupt keinen Einfluss auf das exzellent abgestimmte Zusammenwirken aller Kräfte. Dies hat zwar zur Folge, dass einige Musiker nur in ein oder zwei Stücken zu hören sind, aber ungeachtet dessen nimmt jeder eine entscheidende Rolle ein und keiner fällt aus dem eingespielten Einheitsgeist heraus. Elektronische und akustische Klaviere, Gitarren und Bässe fügen sich neben Schlagwerk, Flügelhörnern, Trompete, Euphonium, Saxophon, Posaune, Tenorhorn und sogar Vibraphon in unzähligen Konstellationen zusammen.

Übergreifendes Verbindungselement des Albums ist selbstredend das Meer, ob nun Liane Carroll die Nummern nur mit Strandspaziergängen verbindet oder ob der Textinhalt sich auf das Wasser bezieht – und das ist bei Carrolls außergewöhnlich guter Textverständlichkeit leicht mitzubekommen! -, wirkt doch alles sehr fließend und ist umgehend mit dem feuchten Element in Verbindung zu bringen. So fällt es kaum auf, dass jeder Song von unterschiedlichen Urhebern stammt, bekannte Namen reihen sich neben weniger populären, wobei „My Ship“ als einziges von international berühmten Persönlichkeiten geschrieben ist, nämlich von Kurt Weill und Ira Gershwin, Bruder von George Gershwin. Die letzte Nummer ist gar ein traditionelles Volkslied und eine besondere Hommage an das Leben in Küstenregionen. Auch die optische Erscheinung lässt sofort auf das zentrale Thema schließen, ein verblichen wirkendes Foto zeigt die Sängerin am Meer vor zwei Schiffen und einer kreisenden Möwe, die Innenseite gibt alte Urlaubsbilder am Strand frei. Einfach alles ist stimmig, dieser leicht veraltete und ausgeblichene Look und das blaulastige Design gehen auch optisch eine Synthese mit den musikerzeugten Stimmungen ein.

Aufgenommen wurde das Album an insgesamt fünf Studiotagen – und das für 42 Minuten Musik verteilt auf zehn Nummern. Diese Zahlen stehen hier wirklich symbolisch für die musikalische Qualität: Es ist einfach offenkundig, wie sorgfältig durchgestaltet jeder Song ist und wie viel Herzblut in das Projekt hineingegossen wurde. Bei Seaside stimmt absolut alles, wodurch dieses Album unbestreitbar zu den hörenswertesten Jazzneuheiten zählt.

[Oliver Fraenzke, September 2015]

Norwegische Impressionen

Das Reisen in andere Länder ist immer auch eine kulturelle Bereicherung, wenn man sich nur darauf einlässt. So war es für mich ein großer Gewinn, eine Rundreise durch eines der für mich schönsten und vielfältigsten Länder zu starten und dort alles nur Mögliche an musikalischen Impressionen in mich aufzunehmen, was sich einem als einfachem Touristen so bietet – in diesem Fall in Norwegen.

Die Musikgeschichte in diesem Land unterscheidet sich grundlegend von der aller anderen Länder. Norwegen ist ein absoluter Sonderfall. Zentraler Grund dafür ist die lange Unterdrückung des heutigen eigenständigen Königreichs zuerst unter dänischer Herrschaft von 1380, als der dänische König Olav Håkonsson Norwegen erbte, bis 1814, und anschließend bis 1905 in Personalunion mit Schweden. Dies hatte zur Folge, dass sich keine höfische Kunstmusik entwickeln konnte, dafür aber die Volksmusik sich wie an kaum einem anderen Ort ausprägen konnte. Natürlich gab es auch Kunstmusik vor der Besatzungszeit; die norwegische Musikgeschichte beginnt nachweisbar ca. 1500 vor Christus, wie Funde von Bronzehörnern zeigen, und auch Lieder aus der Wikingerzeit sind uns heute bekannt, doch herrschte ebenso hier in jüngerer Zeit ausländischer Einfluss vor: 1030 wurde Norwegen christianisiert und der gregorianische Choral eingeführt, der jedoch sehr bald ein nordisches Sonderleben zu führen begann, was im Choralsatz in parallel geführten Terzen ersichtlich ist statt wie auf dem Kontinent in Quint- und Quartparallelen. Während der Personalunion mit Dänemark war der Musikerberuf hauptsächlich ausländischen Stadtmusikanten vorbehalten, die selbstverständlicherweise ihre Musik importierten. So verwundert auch nicht, dass Norwegens frühestes Stück eines namentlich bekannten Komponisten, des Caspar Ecchienus (ca. 1550 – ca. 1600), im niederländisch-polyphonen Stil verfasst ist. Die Volksmusik beschritt einen gänzlich anderen Weg; seit dem Mittelalter finden sich aus sämtlichen Epochen Stoff und Gattungen, von Kæmpeviser – Kampfweisen (heroischen Balladen) – bis zu religiösen Liedern, von Hirtengesängen bis zu ersten dichterischen Formen in etwas späterer Zeit, findet sich alles in den Wurzeln der Volksmusik. Ausländischer kontinentaler Volksliedtanz wurde recht bald verdrängt von noch heute existierenden Tänzen, unter denen die wohl berühmtesten Springar  oder Springdans genannt, Halling und Gangar sind. Besonders für den Solotanz der Männer, den Halling, gibt es heute etliche Wettbewerbe und sogar nordische Meisterschaften, in denen die Tänzer ihre akrobatischen Künste inklusive den so genannten Hallingkast, das Herunterschlagen eines Huts von einer hochgehaltenen Holzstange mit dem Fuß, unter Beweis stellen müssen. Begleitet werden sie dabei von dem urtypischen Instrument Hardingfele (Hardangerfiedel) – einer geigenartigen Fiedel, die neben den vier zu spielenden Saiten auch Resonanzsaiten besitzt, die ihr einen kernigen und bordunhaften Ton verleihen. Ein weiteres typisch norwegisches Instrument ist die Langeleik, übersetzt in etwa Langes Spiel, eine Brettzither mit einer Melodieseite mit Bünden auf dem Griffbrett, sowie mehreren Bordunsaiten, die nur leer angespielt werden können.

1Troldhaugen, Wohnstätte von Edvard Grieg, dahinter rechts der Konzertsaal

Und in diese unvergleichliche Musiktradition verschlägt es mich nun! Die Reise beginnt in Bergen, der zweitgrößten Stadt des Landes und zentralen Hochburg der norwegischen Kunstmusik. Als Geburtsstadt von Norwegens herausragenden Komponisten Edvard Grieg (1843-1907), Ole Bull (1810-1880), Harald Sæverud (1897-1992) und dessen Sohn Ketil Hvoslef (geb. 1939) ist Bergen singulär. Ole Bull war der Revolutionär der Transkription norwegischer Volksmusik – die bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Hinrich Meyer begann – und der „gute Engel“ Edvard Griegs: dem damals fünfzehnjährigen empfahl er als eine der größten musikalischen Autoritäten des Landes das Studium in Leipzig. Edvard Grieg ist seither international berühmt durch sein Klavierkonzert a-Moll, seine Suite aus Holbergs Zeit, seine Peer-Gynt-Suiten und einige seiner Lyrischen Stücke für Klavier, ist aber auch Autor hervorragender Kompositionen wie einer Klavier-Ballade und eines Streichquartetts (beide in g-Moll), von drei Violinsonaten, einer Cello- und einer Klaviersonate, und etlicher Bearbeitungen nordischer Weisen, die somit kunstmusikalisch geadelt im Konzertsaal ihren Platz finden. Bedauerlicherweise hat im letzten Jahrhundert Harald Sæverud noch nicht die Bekanntheit seines weltweit beliebten Vorgängers erreicht, doch hat auch er eine Peer-Gynt-Bühnenmusik geschaffen und gilt durch seine insgesamt neun höchst eigentümlichen Symphonien als größter Symphoniker Norwegens. Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef schließlich beschritt ganz andere Wege und etablierte sich als Komponist einer großen Zahl vor allem von Solokonzerten und Kammermusikwerken im Grenzbereich von fast improvisatorisch wirkender, kontrollierter Spontaneität. Die Wohnhäuser der ersten drei genannten Komponisten sind heute als Museen zugänglich, doch leider erlaubte die Zeit nur einen Besuch in Troldhaugen, der Villa von Edvard Grieg. Unter Leitung seiner Witwe Nina wurde ein Teil des Mobiliars 1928 an die richtigen Plätze zurückgestellt und der Besucher kann einige fast unverfälscht wiederhergestellten Räume besichtigen und sich zurückversetzt fühlen in Griegs Lebzeiten. Der für den nur gut 1,50 Meter großen Edvard Grieg extra tiefgelegte Flügel, die dicken Bände mit Beethovensonaten, auf die er sich zum „Heraufreichen“ an die Tasten eines normalen Klaviers oft setzte, sowie seine Komponierhütte mit idealem Blick auf den Fjord bleiben hier besonders eindrücklich in Erinnerung. Auch die Grabstätte des Ehepaars unterhalb des Hauses ist einen Besuch wert, und hier scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Neben dem Haus findet sich ein kleiner Konzertsaal, der zwar von außen mit seinen Betonmauern nicht gerade in die Idylle passt, aber von innen wahrlich eindrucksvoll erscheint und hinter dem Flügel durch eine Glasfassade den Blick auf das kleine rote Komponierhäuschen des Nationalromantikers freigibt. In dieser kleinen Halle werden immer wieder lange Abendkonzerte und halbstündige Lunsjkonserter (Mittagskonzerte) angeboten. Hier wurde auch ich erstmals mit norwegischer Pianistenpraxis vor Ort konfrontiert, Signe Bakke spielte Werke vom Meister. Als erstes Stück war der Kopfsatz seiner e-Moll-Sonate Op. 7 angekündigt, so kam die in Tracht fast ein bisschen an Nina Grieg erinnernde Pianistin auf die Bühne und spielte – den ersten Satz der Suite aus Holbergs Zeit Op. 40! Nun könnte man meinen, Signe Bakke habe einfach nicht genug Zeit gehabt, um die technisch delikate Sonate aufzupolieren, und genau diese Vermutung bestätigte sich auch anhand der oft verstolperten Perpetuum-Mobile-Sechzehntel im Prelude der Suite, die den gesamten Satz durchziehen. Glücklicherweise besserte sich die Ausführung in den folgenden Volksweisen aus Op. 17 und 52 sowie den Lyrischen Stücken aus Op. 43 und 71. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, dass das romantische Element bei Grieg viel zu sehr ins willkürliche Extrem gezogen wurde, zusammenhangslose Rubati und unbedachte sowie auch unsangliche Phrasierung war der Regelfall – ein Phänomen, dass mir mehrfach bei norwegischen Pianisten ins Auge stach! Doch plötzlich tat sich eine neue Welt auf, als Signe Bakke eine Stelle im Volksmusikcharakter authentisch wiedergab: Kurzzeitig machte sich der Eindruck breit, es spiele eine Hardingfele und kein Klavier mehr; so wurde jedes Volkslied und jeder Volkstanz zu einem einmaligen Erlebnis und der Springdans im berühmten Det var en gang (Es war einmal) avancierte zu einem hinreißenden Tanzcharakter von vollendeter Klangschönheit, wenn auch leider umgeben von einem überemotionalen und somit aufgesetzt wirkenden Andante-Rahmen, bei dem jede Auflösung, als sollte es absichtlich genau gegen die Natur sein, einen besonders starken Akzent erhielt. Nichts desto Trotz kann man hier lernen, wie die nordische Fiedelmusik auch auf dem Klavier einen stattlichen Charakter und Fülle entfalten kann.

2Das Instrumentenmuseum Ringve von außen

Trondheim hieß die nächste Station musikalischer Erfahrung, Heimatstadt von Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der jahrelang durch Norwegen reiste und Volksmelodien sammelte, welcher er fürs Klavier gesetzt in den Ældre og nyere norske Fjeldmelodier publizierte, die als wichtigste Volksmusikquelle auch für Edvard Grieg dienten. Etwas außerhalb der Stadt befindet sich das Ringve Museum, eine ehemalige Landvilla, die von den kinderlosen Besitzern, leidenschaftlichen Instrumentensammlern, als Erbe für die Gemeinschaft zum Musikinstrumentenmuseum umfunktioniert wurde. Hier steht alles auf Musik, schon bei der Ankunft wurden wir begrüßt von schwedischen Volksweisen auf der Geige, und auch zu Beginn der Führung im Herrenwohnsitz genossen wir zu Ehren der russischstämmigen früheren Besitzerin gespielten Rachmaninoff auf dem historischen Flügel. Im Museum selbst befindet sich ein kleiner Konzertsaal, in dem die Entwicklung des modernen Klaviers vom Clavichord bis zum Konzertflügel anhand jeweils zeitgenössischer Stücke wirkungsvoll demonstriert wurde. Auch eine Kostprobe von Hardingfele und Langeleik wurden gegeben, was immer wieder aufs Neue verzaubert. Hier gibt es die nordische Musikkultur noch zum Anfassen! Weiter geht die Führung in die faszinierende Sammlung unzähliger teils noch nie gesehener Instrumente. Der erste Raum ist bestückt mit paneuropäischen Instrumenten, einheimische Sammlerstücke stehen neben kontinentalen Raritäten, so zum Beispiel wunderschön erhaltene Klavierinstrumente und sogar ein Harfenklavier. Ein Zimmer weiter wird es interkontinental, afrikanische Rhythmusinstrumente und amerikanische elektronische Gerätschaften locken den Besucher an, sie einmal auszuprobieren: Highlight hierbei unbestritten das spielbereite Theremin, bei dem durch Annäherung an zwei Antennen Tonhöhe und Dynamik bestimmt werden können, allerdings entgegen der unmittelbar instinktiven Assoziation derart, dass die Lautstärke mit wachsender Entfernung zunimmt und das Gerät bei der Berührung verstummt. Eine kleine zweite Ausstellung widmet sich hauptsächlich der norwegischen Musik, hier sind besonders rare Sammlerstücke und auch Trachtenkleidung ausgestellt. Die Führer im Ringve, überwiegend ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Musiker, sind sehr kompetent und gerade im direkten Gespräch sehr offen für Hintergrundinformationen zu einzelnen Ausstellungsstücken. Alle können sie ihr Instrument spielen und lassen aus einem normalen Museumsbesuch ein akustisches Erlebnis werden mit einer solchen Vielzahl an unerhörten Klängen, wie man sie sonst wohl nirgends so hautnah und live zu hören bekommen dürfte.

        3       4       Die Eismeerkathedrale und Tromsø nach Mitternacht

Nicht vergessen werden darf auch ein Konzert in der zum Wahrzeichen gewordenen Eismeerkathedrale in Tromsø. Touristen wird hier ein Mitternachtskonzert geboten. Mitternacht auf der anderen Seite des Polarkreises ist allerdings etwas vollkommen anderes als in Deutschland: Während es im Winter grundsätzlich dunkel ist, geht nun im Spätsommer die Sonne erst gegen Mitternacht unter, ein heller Schimmer am Horizont verschwindet die ganze Nacht lang jedoch nicht. Zwischen prachtvollen gläsernen Front- und Rückwänden bieten die Sopranistin Berit Norbakken Solset, der Cellist Georgy Ildeykin und der Pianist Robert Frantzen ein gemischtes Programm nordischer Musik, darunter teilweise Folklore, dar, wobei auch zentraleuropäische und sogar samisch-einheimische Elemente Einzug finden. Neben eher selten gehörten Werken des Grieg-Vorgängers Halfdan Kjerulf und des Zeitgenossen Johan Mahtte Skum stehen auch Klassiker wir Griegs Lied Jeg elsker dig (Ich liebe dich) und erneut Det var en gang auf dem Programm. Auch hier geraten gerade die volksnahen Stücke zu einem besonders stimmungsvollen Ereignis, Solset bezaubert durch glänzendes Einfühlungsvermögen in die bäuerliche Tradition und lässt ihre fast etwas chansonartig wirkende Stimme in der Höhe brillieren. Ihre Mitstreiter können sich angemessen einfügen und unterlegen die dominierende Stimme mit stets passender Begleitung. Robert Frantzen präsentiert auch ein eigenes Duo-Stück für seine kleine Tochter mit dem Cellisten, ein gelungenes Werk mit neoromantischem Gestus. Ein wenig enttäuschend sind auch hier wieder die bekannten Programmpunkte: Bachs Prélude aus der Suite für Violoncello Nr. 1 in G-Dur BWV 1007 gerät strukturlos, wobei routinemäßig stets auf der Takteins ritardiert wird, Jeg Elsker Dig erfährt auch standardisierte Verzögerungen und extreme mechanische Betonungen der Spitzentöne, und Det var en gang ist hier ein formloses Stück überschäumender und offensichtlich äußerlich prätendierter Emotion. Doch will man Unbekanntes entdecken, so sei dieses Konzert trotzdem nachdrücklich empfohlen, denn gerade erst bei den fast vergessenen Werken blühten die Musiker richtig auf, und derart werden Volksweisen, samische Joiks und Lieder vergessener Komponisten zu kleinen, brillanten Meisterwerken, die in ungewohnt guter Qualität und optisch atemberaubendem Umfeld noch mehr an Wirkung gewinnen.

5Die malerische Landschaft im Trollfjord

Schon sehr lange Zeit hat besonders die norwegische Musik mein Herz gewonnen; diese im positiven Sinne naive Haltung, die Naturverbundenheit, dieses Gefühl von Freiheit, aber auch von Melancholie und archaischen Uremotionen der Menschen, die diese Musik enthält wie sonst nichts mir Bekanntes, hat mich von Anfang an nicht unberührt lassen können. Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist eine ungeahnt diffizile Aufgabe für jeden Musiker, und viele scheitern an der idiomatisch angemessenen Ausführung selbst der leichtesten Werke von Edvard Grieg und anderen nordischen Komponisten. Oft habe ich den Eindruck, als flösse zu viel Künstelei und Falschheit in diese so schlichte und natürliche Quelle unbelassener Energie ein, anstatt dass der Künstler sich öffnet für die subtile Unmittelbarkeit und grundlegende Natürlichkeit, die alles durchströmt. Vieles ist mir klar geworden alleine durch den Anblick der Fjordlandschaften: Welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, mit dem Schiff in den Trollfjord hineinzufahren und zu spüren, wie hoch sich um einen herum die Berge auftun, zu erfahren, wie märchenhaft und fast unwirklich diese Landschaften wirken und wie sehr man sich zuhause fühlen kann in dieser Fantasielandschaft, die eine mysteriöse Art von Geborgenheit vermittelt. Jeder Augenblick gibt etwas Neues, nie kann man ermüden: Einfach nur zu schauen und zu spüren, wie sich Landschaften verändern, unzählige Erhebungen und Inseln vorüberziehen oder plötzlich Tiere vorbeihuschen. Genau das ist das Gefühl, was auch in nordischer Musik in Töne gebannt ist und welches es heraufzubeschwören gilt – nicht mit Professionalität alleine ist dies zu machen, sondern nur mit einem offenen, neugierigen Geist.

[Oliver Fraenzke, September 2015]