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Ein musikalischer Waldspaziergang durchs 19. Jahrhundert

Wer sich am 13. November 2022 in der Hamburger Laeiszhalle einfand, wurde auf eine musikalische Reise durch „den deutschen Wald“ mitgenommen. Unter diesem Motto stand das Konzert, das die Neue Philharmonie Hamburg unter der Leitung von Simon Kannenberg gab. Zur Aufführung gelangten die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers Freischütz, das ausdrücklich dem Waldhorn zugedachte Hornkonzert Nr. 1 Es-Dur von Richard Strauss und die Symphonie Nr. 3 F-Dur Im Walde von Joachim Raff. Als Hornsolist war Jens Plücker zu hören.

Das Programm wurde klug zusammengestellt, sah man doch den deutschen Wald in jedem der drei Werke, die von Komponisten aus drei verschiedenen Generationen stammen, aus einem anderen Blickwinkel. Der Freischütz, 1821 uraufgeführt, ist das Fanal der Waldesromantik in der deutschen Musik. Mit den sanften Hornklängen gegen Anfang der Ouvertüre hat Weber erstmals in der Symphonik dem Wald zu einer unverwechselbaren Klangsymbolik verholfen, die für Generationen nachfolgender Komponisten verbindlich blieb. Was aber in dieser Oper besonders hervortritt, ist die düstere, dämonische Seite des Waldes. Das Allegro der Ouvertüre beruht zum großen Teil auf mit Samiel und der Wolfsschlucht assoziierten Themen („Doch mich umgarnen finstere Mächte“ ist eines in der Oper textiert), die in der Durchführung zu einem unheimlichen Höhepunkt und Zusammenbruch geführt werden.

Richard Strauss ist in seinem Ersten Hornkonzert, das er 1882/83 mit 18 Jahren schrieb, noch nicht der Programmmusiker, als der er später berühmt wurde. Das Werk erzählt keine Geschichten, sondern präsentiert sich als virtuose „Musiziermusik“ (wie der ältere Strauss gesagt hätte), die dem Solisten reichlich Gelegenheit gibt, dem Publikum sein Können zu zeigen. Als Sohn eines der besten Hornspieler seiner Zeit wusste Strauss genau, wie man die Möglichkeiten des Instruments optimal nutzt und welche Herausforderungen man ihm stellen kann. Dass der junge Komponist auf diverse Topoi zeitgenössischer Hornromantik zurückgreift, liegt in der Natur der Sache. Der deutsche Wald jedenfalls ist bei ihm lichtdurchflutet, ganz mit den Augen eines lebensfrohen Jünglings gesehen.

Der Schwerpunkt des Konzerts lag auf dem letzten Stück, Joachim Raffs Dritter Symphonie Im Walde. Das dreiviertelstündige Werk gliedert sich in vier Sätze, die der Komponist allerdings als drei „Abteilungen“ versteht – eine Einteilung, wie sie später auch Gustav Mahler in einigen seiner Symphonien vornahm. Als zweite Abteilung fasst Raff dabei die Mittelsätze zusammen. Diese Gliederung ist programmatischer Natur, denn der erste Satz schildert „Eindrücke und Empfindungen“ am Tage, die zweite Abteilung zunächst eine „Träumerei“ (Largo), dann den „Tanz der Dryaden“ (Scherzo) „In der Dämmerung“, wohingegen der Finalsatz dem Treiben im Walde bei Nacht gewidmet ist. Zu Lebzeiten setzte sich der Symphoniker Raff bei den Musikästhetikern zwischen alle Stühle, fiel sein Schaffen doch genau in jene Jahre, als sich der Richtungsstreit zwischen den Anhängern der „Programmmusik“ und denen der „absoluten Musik“ auf dem Höhepunkt befand. Alle elf Symphonien Raffs sind nach klassischen Vorbildern gestaltet und können ohne weiteres als absolute Musik bestehen, aber nicht weniger als neun von ihnen hat der Komponist mit einem Programm oder zumindest charakteristischen Überschriften versehen. Auch für die Wald-Symphonie formulierte Raff ein ausführliches Programm, doch beließ er es in der gedruckten Partitur bei kurzen Anmerkungen vor jedem Satz. Mag Raff mit seinem Konzept von Programmsymphonik in den Musikjournalen seiner Zeit umstritten gewesen sein, das Publikum wusste seine Werke jedenfalls zu schätzen. Immerhin blieb die 1871 uraufgeführte Wald-Symphonie drei Jahre lang die meistgespielte Symphonie eines lebenden deutschen Komponisten. Dies verwundert nicht, denn Raff war ein begnadeter musikalischer Landschafts- und Genremaler, der die Farbenpalette des großen Orchesters mit außerordentlichem Geschick zu handhaben wusste. Seine Stärke lag in pittoresken Szenen, in fein abgestufter Koloristik. Klangfarben waren ein unabdingbarer Bestandteil seines Konzepts musikalischer Dramaturgie. In der Symphonie Im Walde schlägt sich dies darin nieder, dass es in den ersten drei Sätzen nur verhältnismäßig wenige Tutti-Abschnitte gibt. Erst im Finale entfaltet sich die Macht des vollen Orchesters ganz. Dieser Satz ist auch der einzige des Werkes, der nicht leise endet. Hier lässt Raff des Nachts die „wilde Jagd mit Frau Holle und Wotan“ ausziehen. Welches Thema Frau Holle, welches Wotan zuzuordnen ist, bleibt unklar. (Ich vermute einen Scherz des Komponisten, um die Zuhörer zur Aufmerksamkeit zu animieren.) Jedenfalls weckt das Programm des Satzes Assoziationen an Webers Freischütz und Wagners Ring. Raffs Musik hat nicht die düstere Majestät des Wagnerschen Wotan, auch führt er uns in seinem Finale keineswegs in die Wolfsschlucht, wo ja Weber bekanntlich das Wilde Heer auf die Beschwörung durch den Teufelsbündner Kaspar hin aufmarschieren lässt. Stattdessen lässt er einen Zug urfideler Waldschrate vor unseren Ohren vorüberziehen. Die ansteckende Wirkung ihrer derben Vitalität bezeugt Pjotr Tschaikowskij, der diverse Stilmittel dieses Satzes im Allegro molto vivace seiner Symphonie pathétique wiederverwendete. Die Elementarkräfte der Natur sind bei Raff dem Menschen freundlich gesonnen. Ganz in diesem Sinne schließt er die Symphonie mit einem prächtigen Sonnenaufgang.

Die Darbietungen durch die Neue Philharmonie Hamburg waren durchweg erfreulich. Simon Kannenberg, der in diesem Konzert zum ersten Mal mit dem Orchester auftrat, erwies sich als ein sehr kompetenter Kapellmeister, der nie den Verlauf der Musik aus den Augen verliert und es versteht, stets die Spannung aufrecht zu halten. Stellen, an denen Motive durch die einzelnen Orchestergruppen wandern, wie etwa in der Durchführung der Freischütz-Ouvertüre, widmete er seine besondere Aufmerksamkeit. Jens Plücker meisterte seine anspruchsvolle Solostimme im Strauss-Konzert glänzend, gleichermaßen sicher in den virtuosen wie in den kantablen Abschnitten. Als zweiter Solist ließ sich in der Zugabe Emmanuel Goldstein hören, der an diesem Abend als Gast-Konzertmeister wirkte und Raffs Cavatina op. 85/3 vollendet gesangvoll vortrug.

Ausdrücklich loben muss man den umfangreichen, sattsam mit wertvollen Informationen zur musik- und ideengeschichtlichen Stellung der aufgeführten Werke ausgestatteten Programmhefttext, den Dirigent Simon Kannenberg selbst verfasst hat. Kannenberg ist auch als Musikwissenschaftler hervorgetreten und gehört zu den besten Kennern des Schaffens von Joachim Raff. Vor nicht langer Zeit hat er den Briefwechsel Raffs mit Hans von Bülow herausgegeben.

[Norbert Florian Schuck, November 2022]

Vielschichtige Charaktere – Charlotte Steppes spielt Debussy, Beethoven und Draeseke in Bad Rodach

Nach dem Auftritt Aris Alexander Blettenbergs im Juni dieses Jahres erklang im Bad Rodacher Jagdschloss am 16. Oktober 2022 ein weiteres Mal Felix Draesekes Klaviersonate op. 6 unter den Fingern eines berufenen jungen Talents. Die Leipziger Pianistin Charlotte Steppes spielte das Werk am Ende eines Programms, das mit Claude Debussys Suite bergamasque begann und als Herzstück Ludwig van Beethovens Sonata quasi una Fantasia cis-Moll op. 27/2 enthielt. Veranstaltet wurde das Konzert von der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, deren 36. Jahrestagung es beschloss, in Zusammenarbeit mit dem Rückertkreis Bad Rodach.

© Manfred Sonnenschmidt

Bereits mit dem Beginn der Suite bergamasque wurde klar, dass man hier Gelegenheit hatte einer Künstlerin zu lauschen, die es trefflich versteht, die von ihr vorgetragenen Stücke als profilierte Charaktere zu präsentieren. Jeder der vier Sätze hatte ein eigenes Gesicht. Im Prélude wurde Debussys geistige Verwandtschaft mit Couperin deutlich. Dem Menuett fehlte es weder an Grazie noch an Energie. Das Mondscheinpanorama, das Steppes in Clair de Lune entfaltete, klang vor allem deshalb so zart und innig, da die Pianistin jedes Zerfließen der melodischen Konturen geschickt vermied. Man hörte, dass Debussy nicht nur ein Klangfarbenkünstler, sondern auch ein großer Melodiker war. Die durchlaufenden Achtelfiguren im abschließenden Passepied spielte Steppes sehr markiert und zeigte dabei, dass der Bass nicht einfach nur die spritzige Melodie begleitet, sondern im Verlauf des Satzes sehr wohl gewichtige Worte mitzusprechen hat. Angemessen sanfte Töne fand sie für den kontrastierenden Mittelteil, den sie geschickt in die Wiederkehr des Anfangs zu überführen wusste.

Das einleitende Adagio der Beethovenschen cis-Moll-Sonate korrespondierte schön mit Debussys Clair de Lune, denn auch hier erklang ein vielschichtiges Charakterbild. In flüssigem Tempo, mit dezentem Rubato, modellierte Steppes die Basslinie als weit ausholenden Gesang und arbeitete den Dialog zwischen Ober- und Unterstimme in der Mitte des Stücks prägnant heraus. In den letzten beiden Sätzen gestaltete sie pointiert die inneren Kontraste der Themen. Die Sechszehntelläufe des Finales wurden sorgfältig periodisiert; bei aller Geläufigkeit war doch stets Gesang in ihnen.

Steppes‘ Aufführung von Draesekes op. 6 – wie Beethovens op. 27/2 eine Sonata quasi Fantasia mit langsamem Kopfsatz – bildete den krönenden Abschluss des Konzerts. Ich sage dies mit umso größerer Freude, da ich dieses von Draesekes einstigem Förderer Franz Liszt hochgeschätzte und regelmäßig gespielte Meisterwerk selten so hervorragend dargeboten gehört habe wie an diesem Tag. Die Pianistin traf durchaus den heroischen Grundton der Komposition. Man merkte, warum Draeseke als junger Mann im Liszt-Kreis „der Recke“ hieß. Aber dieser Recke konnte nicht nur mit Kraftakten imponieren, er besaß auch eine empfindsame Seele und viel Feingefühl in der Formulierung seiner Gedanken.

Steppes begann die Einleitung des Kopfsatzes sehr rasch und energisch, fand jedoch sogleich die nötige Ruhe für den folgenden Abschnitt, den sie frei im Tempo, wie improvisierend, vortrug, wobei sie aber stets auf die Struktur der Perioden Rücksicht nahm. Spannungsvoll leitete sie in den Trauermarsch über, der herb und streng tönte, mit grollenden Bässen, und an den Höhepunkten orchestrale Wucht entfaltete. Der auf die Einleitung zurückgreifende Mittelteil (mit gut gegliederter Triolenbewegung) bot in seiner Geschmeidigkeit einen wirkungsvollen Kontrast. Das Ende des Satzes wurde feierlich zelebriert.

Den zweiten Satz hat Draeseke als „Valse-Scherzo“ bezeichnet. Mit viel Liebe zum Detail widmete sich Steppes den zahlreichen kapriziösen Hakenschlägen, vergaß aber nie, den Walzertakt noch durchklingen zu lassen. Die Doppelnatur dieses Intermezzos – halb Walzer, halb Scherzo – kam wunderbar heraus. Ein einziges Mal stellten sich mir in dieser Aufführung Bedenken ein: als die Pianistin das Finale so stürmisch begann, dass ich mich fragte, ob von diesem Ausgangspunkt aus die großen Steigerungen, die der Satz bereithält, noch realisiert werden können. Charlotte Steppes tat aber das Richtige: Durch gut angebrachte Ritardandi wurde sie zum Seitensatz hin langsamer, ließ es dort an gesanglichem Vortrag und Detailfreudigkeit nicht fehlen, und hielt auch im folgenden Geschehen das Tempo flexibel. So gelang es ihr, die höchste Kraftentfaltung bis zum Schluss aufzusparen und das Werk mit ekstatischem Jubel zu bekrönen.

Das Publikum dankte mit stehendem Applaus.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]

(NB: Der Verfasser dieses Artikels ist Mitglied der Internationalen Draeseke-Gesellschaft und wurde auf der Mitgliederversammlung am 15. Oktober zu ihrem neuen Ersten Vorsitzenden gewählt. Da die Organisation des hier besprochenen Konzerts aber in den Händen des früheren Vorstands lag, dem er nicht angehörte, spricht der Verfasser im vorliegenden Artikel nicht als IDG-Vorsitzender, sondern als einfacher Rezensent.)

Richard-Wetz-Aufführungen auf dem Linzer Brucknerfest

Chouchane Siranossian auf einem Transparent am Linzer Taubenmarkt, das das Konzert vom 1. Oktober ankündigte.

Über das Programm des diesjährigen Linzer Brucknerfestes kann man sich nur in Tönen höchsten Lobes äußern. Unter dem Motto „Visionen – Bruckner und die Moderne“ haben es sich die Veranstalter zum Ziel gesetzt, Anton Bruckners Ausstrahlung auf die Musik des 20. Jahrhunderts hörbar zu machen. Man beschränkte sich dabei keineswegs auf häufig zu hörende Werke, sondern präsentierte dem Publikum eine große Zahl wertvoller Kompositionen, denen lange Zeit eine ihrer Qualität entsprechende Rezeption versagt geblieben ist. Darin muss man den Hauptverdienst des Festes erblicken. Es ist zu hoffen, dass auch andere Musikfeste sich vom Entdeckerspürsinn der Linzer anstecken lassen und uns ähnlich klug gestaltete Programme bieten, anhand derer so recht die Vielfalt musikgeschichtlicher Entwicklungen deutlich wird. Schwerpunkte ließen sich im Veranstaltungsplan des Brucknerfestes vor allem in Hinblick auf das Schaffen dreier um 1880 geborener Komponisten erkennen: Heinrich Kaminski, Richard Wetz und Franz Schmidt. Der Verfasser dieser Zeilen hat zwei Konzerte besucht, in denen Werke von Richard Wetz aufgeführt wurden: Am 30. September erklang im Mariendom neben Bruckners 150. Psalm und Arvo Pärts Cantus in memoriam Benjamin Britten das Requiem op. 50, am 1. Oktober im Brucknerhaus neben Gottfried von Einems Bruckner Dialog op. 39 und Bruckners Erster Symphonie (in der Fassung von 1890) das Violinkonzert h-Moll op. 57. Beide Male spielte die PKF – Prague Philharmonia unter Leitung von Eugene Tzigane. Das Chorkonzert wurde vom Prager Philharmonischen Chor (Einstudierung: Lukáš Vasilek) und den Solisten Claudia Barainsky (Sopran) und Nikolay Borchev (Bariton) bestritten, Violinsolistin im Orchesterkonzert war Chouchane Siranossian.

Es hätte Wetz gewiss gefreut, seine Werke in diesem Rahmen gespielt zu wissen, fühlte er sich doch dem Schaffen Bruckners aufs Engste verbunden, seit er die Musik des österreichischen Meisters zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sich entdeckt hatte. Der gebürtige Schlesier, der seit 1906 als Dirigent und Pädagoge in Erfurt lebte, leitete mehrere Erstaufführungen Brucknerscher Kompositionen in Mitteldeutschland. Die Erfurter Aufführung der f-Moll-Messe im Jahr 1907 war überhaupt erst die dritte auf dem Gebiet des Deutschen Reiches. 1922 trat er mit einer kurzen Monographie über Bruckner hervor, die im Reclam-Verlag herauskam, gehört also auch als Musikschriftsteller zu den Bruckner-Pionieren. Im Sommer 1930 unternahm er eine Fußwanderung durch den Bayerischen Wald nach Passau, fuhr mit dem Schiff nach Linz und erfüllte sich anschließend den lang gehegten Wunsch, Bruckners Grabstätte in St. Florian zu besuchen. Ob ihn jedoch die Aufführungen seiner Werke, wie man sie nun auf dem Linzer Brucknerfest hören konnte, zufriedengestellt hätten, wage ich zu bezweifeln.

Ich möchte über Eugene Tzigane nichts Schlechtes sagen, denn dieser Dirigent hält wirklich Ausschau nach hochwertigen Stücken, die die Konzertprogramme bereichern können, und führt sie in klugen Zusammenstellungen auf. So dirigierte er im Juni dieses Jahres in Weimar das Festkonzert anlässlich des 150. Geburtstags der Hochschule für Musik Franz Liszt, in welchem neben der Champagner-Ouvertüre Waldemar von Baußnerns das prächtige Klavierkonzert Hans Bronsart von Schellendorfs, Franz Liszts zu selten zu hörender Orpheus, sowie Werke zweier zeitgenössischer Thüringer Komponisten, des vor wenigen Jahren gestorbenen Karl Dietrich und Wolf Günther Leidel, zur Aufführung kamen. (Dass auf diesen Seiten damals nicht darüber berichtet wurde, liegt einzig daran, dass ich am Tage des Konzerts aufgrund anderer Verpflichtungen nicht in Weimar sein konnte.) Also, ich halte fest: Tzigane ist von edlen Absichten geleitet, die man nur befürworten kann. Die Frage ist: Halten seine Aufführungen, was die Absichten versprechen? Leider waren die Linzer Konzerte nicht dazu angetan, diese Frage bejahend zu beantworten.

Das Kirchenkonzert litt vor allem unter den sehr ungünstigen akustischen Bedingungen des Mariendoms. Bei dem eröffnenden Psalm Bruckners las ich in der Partitur mit und konnte zahlreiche Noten sehen, ohne die zugehörigen Töne zu hören. Was mein Ohr erreichte, war eine verwaschene Skizze des Werkes. Der Klang löste sich in der Kirchenhalle auf wie eine Brausetablette im Wasserglas. Dasselbe galt für das Wetz-Requiem. Die Größe und Schönheit beider Werke konnte man nur an jenen Stellen ahnen, an welchen der Chor in langen Notenwerten homophon a cappella sang, oder sonstwie das kontrapunktische und orchestrale Geschehen dermaßen reduziert war, dass die Stimmen nicht ineinander verschwammen und einander gegenseitig ausschalteten. Kann man den Dirigenten dafür verantwortlich machen? Ich glaube, dass auch viele andere Kapellmeister an diesen akustischen Bedingungen gescheitert wären. Vielleicht hätten die Veranstalter gut daran getan, den Raum mit hölzernen Schallwänden auszukleiden? Allerdings schien Tzigane auch kaum Rücksicht auf den langen Nachhall im Dom zu nehmen. Der Brucknersche Psalm wurde strikt in einem so hohen Tempo durchdirigiert, dass die Feinheiten der Partitur auch unter besseren Bedingungen kaum zur Geltung gekommen wären. Der erste dissonante Höhepunkt von Wetzens Dies Irae warf noch sein Echo durch den Raum, als der Chor schon die leise Fortsetzung anstimmte, welche dadurch im Nachhall unterging. Einzig Pärts Cantus in memoriam Benjamin Britten gelangte in diesem Konzert zu einer gelungenen Darbietung. Das nur für Streicher und eine gelegentlich schlagende Glocke geschriebene Stück erwies sich als unverwüstlich, ja die Domakustik schien die gewünschte meditative Wirkung der Pärtschen Prolationskanons noch zu unterstützen.

Eigentlich bot nur das Orchesterkonzert am folgenden Tage die Möglichkeit, Eugene Tziganes Leistung als Dirigent einzuschätzen. Allerdings war auch hier der Gesamteindruck nicht sehr erfreulich. Zu Beginn hörte man Gottfried von Einems Bruckner Dialog, einen viertelstündigen symphonischen Satz, dem der Komponist das Choralthema aus dem unvollendeten Finalsatz der Neunten Symphonie Bruckners zugrunde gelegt hat. Es erklingt teils so, wie Bruckner es niedergeschrieben hat, teils in abgeleiteter Form, im Wechsel mit eigenen Gedanken Einems, sodass man tatsächlich meint, einem Gespräch zweier sehr unterschiedlicher Komponistenpersönlichkeiten beizuwohnen. Leider hat Tzigane es nicht vermocht, die Charaktere angemessen herauszuarbeiten. Weder das ungemein kapriziöse Wesen Einems, der nie um einen humorvollen Hakenschlag verlegen ist, noch die majestätische Schlichtheit des Brucknerschen Chorals kamen zur Geltung. Alles wurde bewältigt, als wären die Ausführenden in Eile gewesen.

Wie im Kirchenkonzert der Pärtsche Cantus, so stach auch hier die mittlere Nummer heraus, was vor allem dem Umstand zu verdanken ist, dass Chouchane Siranossian als Solistin für das Wetzsche Violinkonzert gewonnen werden konnte. Dieses Werk lässt sich als symphonische Rhapsodie charakterisieren. In seinem halbstündigen Verlauf werden wenige kurze Motive gleichsam improvisierend einem beständigen Verwandlungsprozess unterzogen, wobei aber alle Abschnitte des Stückes so geschickt aufeinander bezogen sind, dass sich ein fest zusammenhängendes Ganzes ergibt. Es ist eine über weite Strecken lyrische, oft sehr zarte Musik, die sich zwar durchaus zu glanzvollen Höhepunkten steigern kann, sich anschließend aber regelmäßig ins Halbdunkel zurückzieht. Chouchane Siranossian fand den richtigen gesanglichen Ton für dieses Stück und erfüllte ihre Stimme bis in die Verzierungen hinein mit Leben. Nie drängte sie sich über Gebühr in den Vordergrund, sondern ließ auch den Orchesterinstrumenten, gerade in den sparsam instrumentierten Passagen, Raum zur Entfaltung, und wirkte so wie die Hauptschlagader eines klingenden Organismus. Dieses introvertierte Stück war bei ihr in sehr guten Händen!

Die Erste Symphonie Bruckners beschloss das Konzert. Leider konnte man Tziganes Darbietung keine der Qualitäten nachrühmen, die Rémy Ballots Aufführung (ebenfalls Fassung 1890) vor gut einem Monat im nahen St. Florian auszeichneten. Die Tempi waren recht zügig und wurden stur durchgehalten. Statt auf Detailarbeit wurde auf grobe Effekte gesetzt, namentlich in den Blechbläsern. Man konnte den Dirigenten zwar auf unterschiedliche Weise gestikulieren sehen, doch hatten diese Gesten keinen hörbaren Einfluss auf den Klang. Die Violinen beispielsweise spielten nicht geschmeidiger, obwohl sie mehrfach geradezu gestreichelt wurden. Eher wirkte es, als werde der Dirigent vom Orchester mitgerissen als umgekehrt. Daran, dass man viele der einkomponierten Verflechtungen der ersten und zweiten Violinen nicht hörte, hatte auch die Aufstellung der Streicher mit beiden Violingruppen auf der (vom Dirigenten gesehen) linken Seite ihren Anteil. Auch hätten die langen Haltetöne der Bässe, die gegen Ende von Wetzens Violinkonzert die Solokadenz grundieren, den Raum besser gefüllt, wären sie von hinten statt von der Seite gekommen.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]

Eröffnungskonzert des neuen Bösendorfer-Saales in Wien mit Aris Alexander Blettenberg

Wien, Haus der Ingenieure (Eschenbachgasse 9)

Donnerstag, 29. September 2022, 19:30

Aris Alexander Blettenberg, Klavier

Ludwig van Beethoven (1770–1827)
32 Variationen über ein eigenes Thema WoO 80

Georges Bizet (1838–1875)
Variations chromatiques de concert

Ludwig van Beethoven
Polonaise op. 89

Julius Zellner (1832–1900)
Andante und Scherzo op. 13

Hans von Bülow (1830–1894) / Franz Liszt (1811–1886)
Dante-Sonett Tanto gentile e tanto onesta S. 479

Felix Draeseke (1835–1913)
Sonata quasi Fantasia op. 6

1872 richtete Ludwig Bösendorfer, der angesehenste Klavierfabrikant Österreichs, im Wiener Palais Liechtenstein einen Konzertsaal ein, der in den folgenden vier Jahrzehnten zu einer der wichtigsten Spielstätten der österreichischen Hauptstadt wurde. Weithin gerühmt wurde seine hervorragende Akustik. Keinem Geringeren als Hans von Bülow war es vorgehalten, den Saal am 19. November 1872 einzuweihen. Es folgten Auftritte zahlloser berühmter Musiker wie Franz Liszt, Richard Wagner, Anton Rubinstein, Hugo Wolf, Ignacy Paderewski, Eugen d’Albert, Richard Strauss, Ferrucio Busoni, Max Reger, Artur Schnabel und das Rosé-Quartett. Mit dem Abriss des Palais Liechtenstein endete die Reihe aufsehenerregender Konzerte im Jahr 1913.

Nun wird in Wien im Haus der Ingenieure ein neuer Bösendorfer-Saal eingeweiht. Das Konzert, mit dem Bösendorfer Artist Aris Alexander Blettenberg die Spielstätte am 29. September 2022 eröffnen wird, schlägt in mehrfacher Weise den Bogen zum historischen Konzert Hans von Bülows. Felix Draesekes Sonate op. 6 wird dabei erstmals in Wien zu hören sein. Das Werk, das 1870 mit einer Widmung an Bülow erschienen war, erfreute sich der besonderen Wertschätzung Franz Liszts, der es regelmäßig spielte und als bedeutendste Klaviersonate seit Schumanns op. 11 ansah.

Aris Alexander Blettenberg, geboren 1994 in Mühlheim an der Ruhr, ist Komponist, Dirigent und Pianist. Er gewann 2015 in Meiningen den Internationalen Klavierwettbewerb Hans von Bülow in der Kategorie Dirigieren vom Klavier und 2020 den Internationalen Beethoven Klavierwettbewerb Wien.

[Nobert Florian Schuck, September 2022]

Musikalischer Chronist der ukrainischen Geschichte – Jewhen Stankowytsch zum 80. Geburtstag

Holodomor, Babyn Jar, Tschernobyl – den Schreckensereignissen der ukrainischen Geschichte hat Jewhen Stankowytsch eindringliche Mahnmale in Tönen errichtet. In den folkloristischen Traditionen seiner Heimat tief verwurzelt, steigerte er deren Elemente zu einem scharf profilierten Personalstil und schuf zahlreiche Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke. Das Friedensgebet mit dem er seine 2015 entstandene Kammersymphonie Nr. 12 schloss, blieb bis heute unerhört. In einem vom Krieg erschütterten Land beging Jewhen Stankowytsch, einer der großen Komponisten unserer Zeit, am 19. September 2022 seinen 80. Geburtstag.

Jewhen Fedorowytsch Stankowytsch (zur Zeit der Sowjetunion auch in der russischen Form seines Namens als Jewgenij Fjodorowitsch Stankowitsch bekannt, in englischen Veröffentlichungen Yevhen Stankovych geschrieben) stammt aus der Oblast Transkarpatien, dem ethnisch gemischten Grenzgebiet der Ukraine zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Er kam 1942 in Swaljawa als Sohn einer Lehrerfamilie zur Welt. Im Alter von zehn Jahren erlernte er das Spiel auf dem Bajan (dem osteuropäischen Knopfakkordeon) und versuchte sich bald in der Komposition. An der Musikhochschule der Oblasthauptstadt Ushhorod studierte er Violoncello, bevor er 1961 ans Konservatorium nach Lemberg wechselte, wo er ersten Kompositionsunterricht von Adam Sołtys erhielt. Nach mehrjähriger Unterbrechung durch den Militärdienst setzte er seine Studien 1965 am Kiewer Konservatorium, der heutigen Nationalen Musikakademie der Ukraine P. I. Tschaikowskyj, fort. Sein wichtigster Lehrer war dort Borys Ljatoschynskyj, der herausragende ukrainische Symphoniker seiner Zeit. Nach dessen Tod 1968 schloss Stankowytsch seine Komponistenausbildung bei Myroslaw Skoryk ab.

Stankowytsch wuchs in ein sowjetisches Musikleben hinein, für das Dmitrij Schostakowitsch bereits ein Klassiker war. Auch waren die ersten Regungen eines westlich orientierten Avantgardismus spürbar geworden. In der Ukraine hatte namentlich Walentyn Sylwestrow während der 1960er Jahre mit Kompositionen, die sich der Zwölftonmethode bedienten, für Aufsehen bzw. bei den Kulturbehörden für Unmut gesorgt. Nach wie vor waren in der staatlich geförderten Musikpublizistik jene Stimmen beherrschend, die den „Sozialistischen Realismus“ als ästhetische Richtlinie für das kompositorische Schaffen propagierten. In diesem Umfeld erfuhren Stankowytschs Frühwerke gleichermaßen Zustimmung wie Ablehnung. Einerseits erhielt er Preise, sein Ruf als eines der hervorragendsten Nachwuchstalente der ukrainischen Musik festigte sich, anderseits musste er heftige Kritik über sich ergehen lassen. Die Kulturfunktionäre wussten nicht recht, wie sie ihn einzustufen hatten. Teils erschienen ihnen seine Werke als zu modern, teils als zu – folkloristisch! So wurde seine erste Oper Wenn der Farn blüht 1979 unmittelbar vor der bereits angesetzten Uraufführung verboten (sie kam erst 2017 in Lemberg auf die Bühne). Zwar basiert die Musik des Stückes auf originalen ukrainischen Volksgesängen, doch wurde der Inhalt, der keinerlei Bezüge zur sowjetischen Gegenwart aufweist und stattdessen Kulte der heidnischen Frühzeit und die Lebenswelt der Saporoger Kosaken beschreibt, zum Anlass genommen, das Werk unter dem Vorwurf des Nationalismus aus dem Programm zu verbannen. Auch entfaltet Stankowytsch, der sich nach eigener Aussage vom „Melos der Zentral-Ukraine bzw. von der einzigartigen Mehrstimmigkeit des Saporoger Sitsch, also des Kosakentums, einerseits und von Karpaten- oder Huzulen-Folklore anderseits“ inspirieren ließ, hier mit betont archaisierender Harmonik und dem Einsatz zahlreicher Schlaginstrumente ein Folklorepanorama, dessen Eigenart sich kaum mit Begriffen wie „traditionell“ oder „modernistisch“ erfassen lässt.

Ein Avantgardist ist Stankowytsch in der Tat nie gewesen. Die formbildende Kraft der Tonalität hat er in seinem Schaffen nie verleugnet und auch in der Wahl der Gattungen stets die Anbindung an die Tradition gesucht. Einer bestimmten Stilrichtung oder Schule lässt er sich allerdings kaum zurechnen. Charakteristisch für Stankowytschs Komponieren ist sein breites Spektrum harmonischer Stilmittel. Die Einfachheit der heimatlichen Folklore und des orthodoxen Kirchengesangs fungieren als ein gedachtes Zentrum, von dem ausgehend er zu komplexen Harmoniegebilden gelangt, die jedoch stets die Beziehung zum Ursprung wahren. Von der Diatonik zum Cluster ist es für Stankowytsch nur ein kleiner Schritt – vor allem ein Schritt, bei dem die Richtung klar ist. Seine Fähigkeit zur musikalischen Synthese zeigt sich in seinen Werken besonders dann, wenn er originale Volksmelodien verarbeitet. Sie fügen sich nahtlos in den Kontext einer dissonanzgesättigten modernen Harmonik ein, die letztlich auf den gleichen Grundlagen aufbaut wie die Diatonik der Folklore. Viele Werke Stankowytschs gewinnen ihre Spannung aus der Gegenüberstellung scharf kontrastierender Gedanken. Elementare, grobkörnige Kurzmotive wechseln mit ausgedehnten elegischen Kantilenen. Auch instrumentatorisch werden diese Kontraste hervorgehoben. Überhaupt ist Stankowytschs Einfallsreichtum als Instrumentator schier unerschöpflich. Man höre sich einmal seine zwischen 1973 und 2003 entstandenen sechs Symphonien an, die sich in ihren Besetzungen deutlich voneinander unterscheiden. In Nr. 1 und Nr. 4, der Sinfonia larga und der Sinfonia lirica, verlangt er nur nach 15 bzw. 16 Solostreichern, denen er eine solche Vielfalt an Klängen abgewinnt, dass man mitunter meint, ein vollbesetztes Symphonieorchester zu hören. Nr. 2, die Heroische, und Nr. 6 sind seine einzigen Symphonien für eine „gewöhnliche“ Besetzung. Bei Nr. 3, Ich bestärke mich selbst, handelt es sich um eine Symphoniekantate für Soli, gemischten Chor und Orchester nach Gedichten von Pawlo Tytschyna. Nr. 5, die Symphonie der Pastoralen, nähert sich durch Verwendung einer Solovioline dem Konzertanten. Besonders intensiv hat sich Stankowytsch der Kammersymphonie zugewandt und gehört mit mittlerweile 15 Werken zu den produktivsten Komponisten auf diesem Gebiet. Offensichtlich reizt es ihn besonders, sich auf ein kleines Instrumentarium zu beschränken, um diesem einen maximalen Reichtum an Klängen zu entlocken. Jede der Kammersymphonien ist für eine andere Besetzung geschrieben. Wiederholt weist er einem bestimmten Instrument solistische Aufgaben zu (Nr. 3 Flöte, Nr. 5 Klarinette, Nr. 6 Horn, Nr. 9 Klavier). Das eigentliche Fach der konzertanten Musik hat Stankowytsch mit zwei Viola-, zwei Violoncello- und sieben Violinkonzerten ebenfalls reich bedacht.

Stankowytschs freier Umgang mit traditionellen Formkonzepten lässt sich exemplarisch anhand seiner Zweiten Symphonie studieren. Das Werk besteht aus drei Sätzen, die ohne Pause aufeinander folgen. Der erste stellt einem trotzigen, dreitönigen Streichermotiv ein melodiebetontes Thema in den Bläsern gegenüber und steigert beide in der Durchführung zu apokalyptischen Bildern. Der zweite, langsame Satz beginnt leise und polyphon in den Streichern, nimmt bald das Volkslied O schau, Mutter, schau auf und verarbeitet es auf vielfältige Weise. Er mündet, allmählich lebhafter werdend, nahtlos in das kurze Finale, das weniger ein eigenständiger Satz als eine gemeinsame Coda beider erster Sätze ist und mit Elementen beider die Symphonie zum kräftigen Ausklang führt.

Wiederholt hat Stankowytsch in seinen Werken Ereignisse der ukrainischen Geschichte gestaltet. Die Oper Wenn der Farn blüht, mit ihrer Thematisierung der Frühgeschichte und des Saporoger Kosakenstaates, wurde bereits erwähnt. Seine Taras-Passion (2013) behandelt das Schicksal des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861), der wegen seiner als revolutionär eingestuften Gedichte zehn Jahre in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde, wo ihm auf ausdrücklichen Befehl des Zaren verboten war, sich künstlerisch zu betätigen. Das 1992 komponierte Requiem für die Opfer der Hungersnot ist dem Gedächtnis der Toten des Holodomor gewidmet, der von der sowjetischen Regierung während der 1930er Jahre zur Schwächung des Bauernstandes gezielt ins Werk gesetzten Hungersnot, die in der Ukraine zu mehreren Millionen Toten führte. Diesem Werk voran ging 1991 das 2006 neu gefasste Kaddisch-Requiem „Babyn Jar“, das der Ermordung von 33.000 Kiewer Juden durch die SS im Jahr 1941 gedenkt. 2011, 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, komponierte Stankowytsch das Oratorium Die Mutter von Tschernobyl. Eines der jüngsten Werke dieses musikalischen Chronisten der Ukraine, das auf historische Geschehnisse Bezug nimmt, ist die 2015 entstandene Zwölfte Kammersymphonie. Es handelt sich hierbei um die kammerorchestrale Fassung zweier im Jahr zuvor, nach dem Ausbruch des ukrainischen Bürgerkriegs, komponierter Stücke für Violine und Klavier: Fresko des Maidans und Gebet für den Frieden.

Bis zum heutigen Tage ist Jewhen Stankowytsch, der seit 1988 als Kompositionsprofessor an der Nationalen Musikakademie der Ukraine lehrt und von 2005 bis 2010 als Vorsitzender des Nationalen Komponistenverbands der Ukraine amtierte, ungebrochen schöpferisch tätig. Neben den genannten Kompositionen umfasst sein Werkverzeichnis noch zahlreiche weitere Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke, die es rechtfertigen, von ihm als dem hervorragendsten unter den lebenden ukrainischen Komponisten zu sprechen. Eine weitere Verbreitung seiner Werke auch außerhalb seiner Heimat erscheint gerade anlässlich seines 80. Geburtstages sehr wünschenswert.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

NB: Der Verfasser dankt Holger Sambale und Christoph Schlüren für wertvolle Hinweisungen und Korrekturen.

Courvoisier-Uraufführung auf den Weidener Max-Reger-Tagen

Weiden, evangelisch-lutherische Kirche St. Michael

Samstag, 1. Oktober 2022, 19 Uhr

Julius Berger, Violoncello

Eintritt: 20 €, ermäßigt 15 €, Schüler und Studenten 5 €

Adolf Busch (1891–1952)
Präludium und Fuge d-Moll op. 8b (1922)

Johann Sebastian Bach (1685–1750)
Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007

Walter Courvoisier (1875–1931)
Suite h-Moll op. 32/2 (1921)
URAUFFÜHRUNG 

Johann Sebastian Bach
Choralvorspiel Wenn ich einmal soll scheiden BWV 727 (bearbeitet von Julis Berger)

Max Reger (1873–1916)
Suite Nr. 2 d-Moll op. 131c

Walter Courvoisier um 1929, Photographie von Heinrich Traut (1857-1940)

Als Herausgeber des Werkes ist es mir eine besondere Freude, die Uraufführung der Suite für Violoncello solo h-Moll op. 32/2 von Walter Courvoisier anzukündigen. Am 1. Oktober 2022 wird Julius Berger im Rahmen der 24. Weidener Max-Reger-Tage das 1921 entstandene, aber erst 2021 gedruckte Werk des Reger-Zeitgenossen in der Michaelskirche zu Weiden zum ersten Mal öffentlich zu Gehör bringen. Weiterhin erklingen Solowerke für Violoncello von Max Reger, von Johann Sebastian Bach, dessen Schaffen auf diesem Gebiet sich Reger wie Courvoisier zum Vorbild nahmen, und von Adolf Busch, der als einer der großen Violinisten des frühen 20. Jahrhunderts Widmungen von Reger wie von Courvoisier empfing.

Walter Courvoisier schrieb im Herbst 1921 zwei Suiten für unbegleitetes Violoncello, in A-Dur und h-Moll, die er unter der Opuszahl 32 zusammenfasste. Diese Werke sind offensichtlich als Gegenstück zu seinen Sechs Suiten für Violine allein op. 31 gedacht gewesen, die zur gleichen Zeit entstanden und in den Worten des Komponisten der selbstgestellten Aufgabe entsprangen, „zu erforschen, welche der Möglichkeiten in der Komposition alter Tanzformen auch heute noch gegeben sind“. Im Gegensatz zu den Violinsuiten, Courvoisiers erfolgreichster Publikation, blieben die Violoncellosuiten unveröffentlicht, wobei sich über den Grund nur spekulieren lässt. Am wahrscheinlichsten erscheint mir, dass der Komponist, ganz nach dem Vorbild Bachs, auch für das tiefe Streichinstrument einen Zyklus von sechs Suiten schreiben wollte und deshalb sein op. 32 mit zwei Werken noch nicht als vollständig ansah. Bis zu seinem Tode 1931 entstand allerdings keine weitere Cellosuite mehr.

Die beiden Suiten op. 32, von denen übrigens die als „Nr. 1“ bezeichnete A-Dur-Suite die jüngere ist, haben jeweils sieben Sätze und sind ungefähr 20 Minuten lang. Im Aufbau gleichen sie damit völlig Courvoisiers Violinsuiten op. 31. Wie in diesen, so beginnt auch hier die Moll-Suite mit einer improvisatorisch anmutenden Einleitung, während die Dur-Suite direkt von der Allemande eröffnet wird. Hinsichtlich der tonalen Anlage geht Courvoisier kaum über das Vorbild Bachs hinaus und schreibt lediglich jeweils einmal einen Satz in der Paralleltonart. Innerhalb der Sätze freilich nutzt der Komponist, wie auch sein Zeitgenosse Reger, reichlich die Möglichkeiten, die sich ihm als einem Künstler des frühen 20. Jahrhunderts bieten. Hier eine kurze Übersicht über den Aufbau beider Werke:

Suite Nr. 1 A-Dur

Allemande

Courante

Sarabande

Bourrée

Arioso (Tranquillo)

Gavotte [fis-Moll]

Gigue

Suite Nr. 2 h-Moll

Introduction: Appassionato – attacca:

Allemande

Courante

Sarabande [im 6/4-Takt!]

Bourrée

Menuetto I [D-Dur] – Menuetto II [h-Moll] – Menuetto I da capo

Gigue

Meine kritische Edition der Suiten op. 32 erschien 2021 in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich, München. Nähere Informationen zu diesen Werken entnehmen Sie bitte meinem Vorwort zu dieser Ausgabe.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

Raffs Samson in Weimar uraufgeführt

Joachim Raffs 1857 vollendete Oper Samson wurde am 11. September 2022 unter Leitung Dominik Beykirchs in der Inszenierung Calixto Bietos im Deutschen Nationaltheater Weimar uraufgeführt.

Joachim Raff, mit seinen Klavier-, Kammermusik- und Orchesterwerken einer der meistgespielten Komponisten des 19. Jahrhunderts, hatte mit seinen Opern deutlich weniger Glück. Nur zwei der insgesamt sechs Werke dieser Gattung, König Alfred (UA 1851) und Dame Kobold (UA 1870), gelangten zu seinen Lebzeiten auf die Bühne, und nur Dame Kobold erwies sich als so erfolgreich, dass sie gedruckt wurde (ihre Ouvertüre wird heutzutage im Rundfunk gern gesendet). Die übrigen Opern Raffs mussten dagegen lange warten, bis sie erstmals zum Erklingen gebracht wurden. Die Parole (1868) wartet bis heute. Benedetto Marcello (1878), deren Hauptfigur der bekannte Barockkomponist ist, war 2002 auf den Herbstlichen Musiktagen in Bad Urach konzertant zu hören, wurde aber bislang nicht inszeniert. Raffs letzte Oper, Die Eifersüchtigen, die er in seinem Todesjahr 1882 schrieb, wurde vor wenigen Tagen, am 3. September 2022, im Theater Arth (Schweiz, Kanton Zug) erstmals gespielt. Den äußeren Anlass bot das 200-Jahr-Jubiläum des Komponisten, der 1822 in Lachen am Zürichsee geboren wurde. Ebenfalls aus diesem Grunde folgte nun, am 11. September, im Deutschen Nationaltheater Weimar die Uraufführung des biblischen Musikdramas Samson – und man fragt sich: „Warum erst jetzt?“

Die Geschichte des Samson zeigt einmal mehr, wie sehr das Schicksal einer Oper von Zufällen abhängen kann, und dass eine Häufung ungünstiger Ereignisse im Stande sein kann, ein Stück, das eigentlich alles hat, um auf der Bühne erfolgreich zu sein, gar nicht erst auf dieselbe kommen zu lassen. Raff begann im Jahr 1851 mit den Arbeiten an der Oper – zu einer Zeit, als er in Weimar für Franz Liszt als eine Art musikalischer Assistent tätig war und dort dessen Einsatz für die Werke Richard Wagners aus nächster Nähe miterleben konnte. Wie Wagner schrieb er sich das Libretto selbst, und vertiefte sich dazu so intensiv in die alttestamentarische Geschichte von Samson und Delilah, dass er kurzzeitig sogar daran dachte, an der Jenaer Universität über den Stoff zu promovieren. Die musikalische Ausarbeitung beendete er erst 1857 nach seiner Übersiedelung nach Wiesbaden. Gerade als er mit Franz Liszt in Verhandlungen über eine Uraufführung des Werkes in Weimar getreten war, ereignete sich dort der Skandal um Peter Cornelius‘ Barbier von Bagdad, in dessen Folge Liszt sich mit dem Hoftheater zerstritt und sein Kapellmeisteramt niederlegte. Geplante Aufführungen in Wiesbaden und Darmstadt zerschlugen sich wegen Besetzungsschwierigkeiten. Später begeisterte sich der berühmte Tenor Ludwig Schnorr von Carolsfeld, Wagners erster Tristan, für das Werk, doch starb er 1865 völlig überraschend, bevor er irgendwo eine Inszenierung hatte erreichen können. Spätestens nachdem 1877 Camille Saint-Saëns mit Samson et Dalila den gleichen Stoff erfolgreich auf die Bühne gebracht hatte, resignierte Raff – längst als Instrumentalkomponist berühmt geworden – und überließ es der Nachwelt, sich um seinen Samson zu kümmern.

Nun, da man erstmals die Gelegenheit hatte, Raffs Oper zu hören, kann man getrost sagen, dass die Zeitgenossen des Komponisten ein bedeutendes Werk verpasst haben. Bereits die Art und Weise, wie Raff den Bibelstoff dichterisch bearbeitet, zeugt vom dramatischen Talent des Autors. Die Figur der Delilah formt er gänzlich um und gewinnt dadurch Personenkonstellationen, die die Vorlage nicht hergibt. Erscheint Delilah in der Bibel als kühl berechnende und bestechliche Frau, die Samson mit voller Absicht ins Verderben lockt, so liebt sie ihn in Raffs Drama genauso wie er sie. Dadurch verschwindet die Tendenz der Vorlage: Man erlebt den Konflikt der Israeliten und Philister als neutraler Beobachter und wird nicht vom Dichterkomponisten dazu verleitet, sich auf eine Seite zu schlagen. Auch musikalisch ergreift Raff nicht Partei. Das Fest der Philister im letzten Akt hätte gewiss die Möglichkeit geboten, es als eine Art schwarze Messe zu vertonen. Die Musik ist aber schlicht festlich und fröhlich. Raff hatte kein Interesse daran, die Philister pauschal als Bösewichte zu zeichnen. Die Gewichtung liegt nicht auf den politischen, sondern auf den persönlichen Konstellationen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die Liebe zweier Menschen aus einander feindlich gesinnten Lagern – ähnlich Romeo und Julia. Samson ist, wie in der Bibel, ein bärenstarker Krieger und besiegt im ersten Akt die Philister mit Leichtigkeit. Allerdings verzichtet Raff nahezu gänzlich auf einen in der Vorlage eminent wichtigen Teil der Handlung: Wir erleben nicht, dass Delilah Samson nach den Quellen seiner Kraft ausfragt, auch fehlt dem Werk eine Szene, in der ihm die Haare (seine Energiequelle) geschnitten werden. Samson selbst ist es, der sich aus Liebe zu Delilah die Haare schneidet (was zwischen zweitem und dritten Akt passiert sein muss). Delilah hilft ihren Landsleuten nur dabei Samson gefangen zu nehmen, weil sie fürchtet, er, der sich nach seinem Sieg freiwillig am Hof der zum Frieden gezwungenen Philister aufhält, könne sie wieder verlassen. Von der Absicht ihn zu blenden, ahnt sie nichts. Da Delilah bei Raff die Tochter des Philisterkönigs Abimelech ist, ergibt sich die Möglichkeit, auch diesen als differenzierten Charakter zu gestalten: In seinem großen Monolog im zweiten Akt schwankt er, ob er sich gegen Samson verschwören, oder ihn aus Rücksicht auf das Liebesglück seiner Tochter verschonen soll. Erst der energische Einspruch seiner Heerführer und des Oberpriesters bewegt ihn dazu, Samsons Gefangennahme zu betreiben. Auch am Schluss ändert Raff die Vorlage entscheidend: Delilah verkleidet sich als israelitischer Knabe, um Samson auf dem Dagonsfest zwischen die Säulen des Tempels führen zu können. Als er den Tempel zum Einsturz bringt, stirbt sie mit ihm – auch ein Liebestod…

Dem spannungsvoll angelegten Libretto entspricht eine meisterliche musikalische Gestaltung. Jeder der fünf Akte ist pausenlos durchkomponiert und bildet eine zusammenhängende Großform, was teils durch wiederkehrende Motive unterstrichen wird. Unbestreitbar ist diese Konzeption auf Wagners Einfluss zurückzuführen. Es wäre aber eine grobe Vereinfachung, würde man Raff deswegen als einen Nachahmer Wagners bezeichnen. Verglichen mit Wagner wirken seine Melodien schlichter. Im Orchesterklang bevorzugt er hellere Farben. In der Harmonik hat er keine Angst vor kühnen Fortschreitungen, bewegt sich überhaupt auf der Höhe des im mittleren 19. Jahrhundert Erreichten, aber eigentlich „wagnerisch“ wirkt seine Handhabung der Chromatik nicht. Man tut, anstatt ihn vorschnell mit einem Etikett zu versehen, gut daran, ihn als einen durchaus eigenen Kopf zu betrachten, der die Entwicklungen seiner Zeit wachen Sinnes verfolgt, kritisch sichtet und sich davon dienstbar macht, was der Umsetzung seiner künstlerischen Pläne nützt. Im Samson muss man nicht nur die Geschlossenheit der einzelnen Akte loben, sondern auch die Steigerung zum Schluss hin. Der letzte Akt ist zugleich der musikalisch hervorragendste. Raff hat hier, in Anlehnung an die französische Große Oper, die Tempelszene als umfangreiche Ballettnummer gestaltet und mit einer Suite delikat instrumentierter, teils anmutiger, teils schwungvoller Tänze versehen, die geschickt zum katastrophalen, im wahrsten Sinne des Wortes bestürzenden Finale hinführen.

Was die musikalische Umsetzung betrifft, so können die Kräfte des Weimarer Nationaltheaters stolz auf sich sein. Die Staatskapelle Weimar unter der Leitung Dominik Beykirchs zeigte sich hochmotiviert. Besonderes Lob verdienen die während der zeremoniellen Szenen auf der Bühne spielenden Blechbläser. Emma Moore, eine sehr wandlungsfähige Sopranistin, gestaltete Delilah angemessen vielschichtig und brachte mit gleichem Geschick die zarte wie die energische Seite ihrer Figur zum Ausdruck. Uwe Schenker-Primus überzeugte als zwischen Zaudern und Handeln hin- und hergerissener Philisterkönig, ebenso Avtandil Kaspeli als mit dämonischer Energie die Handlung vorantreibender Oberpriester. Mit Peter Sonn stand für die Titelrolle ein seine Kräfte klug disponierender Tenor zur Verfügung.

Aus den Briefen, die Raff an Liszt schrieb, während er mit ihm über eine Aufführung des Samson in Weimar verhandelte, wissen wir, dass er großen Wert auf eine genaue Umsetzung seiner Vorstellungen legte. Mit Recht, denn wer sich die Mühe macht, ein psychologisch vielschichtiges Werk zu dichten und es mit dem ihm zur Verfügung stehenden großen kompositorischen Können in Musik zu setzen, der darf wohl erwarten, dass man sich zumindest bei der Uraufführung an seine Vorgaben hält. Was hätte dagegen gesprochen, dies auch 2022 zu tun? Besser als mit der Inszenierung Calixto Bieitos wäre das Theater auf jeden Fall damit gefahren. Bieito hat Raffs Werk im Grunde nur genutzt, um eine Reihe infantiler Einfälle auf die Bühne zu bringen, die sich überdies schnell abnutzen. Während in der ersten Hälfte ein Konzept noch insofern erkennbar war, als dass der Regisseur die in den Dialogen unterschwellig präsenten Machtfragen zwischen den Figuren durch gegenseitiges Prügeln und Schubsen zum Ausdruck brachte, gelegentlich auch durch Andeutungen sexueller Handlungen (die kein bisschen provokant, eher routiniert, ja beinahe prüde wirkten), so war die zweite Hälfte nach der Pause nur noch albern und ärgerlich. Wenn man am Haus kein Ballett hat, so kann man doch eine Tanzszene immer noch durch der Musik angemessene Bewegungen der Mitwirkenden sinnvoll umsetzen. Stattdessen geriet die Szene im Tempel Dagons in Bieitos Inszenierung zu einer armseligen Regietheater-Karikatur. Es wurde ein Basketball hin und her geworfen, dann setzte sich der Chor auf den Boden und fing an, lachend Plüschtiere in die Luft zu werfen. Schließlich torkelten alle Beteiligten wie besoffen im Kreis über die Bühne und schlenkerten sinnlos mit den Armen herum. Statt den Schwung der Tempeltänze zu einer interessanten Choreographie zu nutzen, wurde die Musik hier mit allen Mitteln gestört. Auch die Wirkung des Schlussakkordes wurde in Mitleidenschaft gezogen: Eigentlich war der Tempel schon eingestürzt, doch sah man Samson noch nach Verklingen der Musik am Boden kauern und sich schluchzend in Hände und Arme beißen. Was soll dieser Unsinn? Man kann dem Werk, das fraglos zum Bedeutendsten gehört, was Raff geschrieben hat, und unter den Werken der deutschen Zeitgenossen Richard Wagners einen hohen Rang beanspruchen darf, nur wünschen, dass es einmal in einer guten Inszenierung über eine Bühne geht!

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

Quartet Berlin-Tokyo spielt Haydn- und Hauschild-Zyklus in Berlin

Berlin, Gustav-Adolf-Kirche

9., 10., 16., 17., 23. und 24. September 2022

Die evangelische Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlottenburg gehört zu jenen Gebäuden, die sich wunderbar als Veranstaltungsstätten für Konzerte eignen, als solche aber überregional noch nicht bekannt geworden sind. Insofern leistet das Quartet Berlin-Tokyo, das man mit Fug und Recht zu den herausragenden Streichquartettformationen unserer Zeit zählen kann, an diesem Ort mit seinem am 3. September begonnenen Haydn-Hauschild-Zyklus musikalische Pionierarbeit.

Im ersten Konzert des Zyklus erklang neben Joseph Haydns op. 33/2 und dem Streichquartett Nr. 5 von Kurt Hauschild auch das Zweite Streichquartett op. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Haydns Quartette op. 33 und das Streichquartettschaffen Kurt Hauschilds bilden den roten Faden auch der folgenden Programme, in welchen zudem Werke von Wolfgang Amadé Mozart, Franz Schubert, Robert Schumann und Claude Debussy zu hören sein werden. Die Reihe endet am 24. September mit einer Aufführung von Haydns Sieben letzten Worten unseres Erlösers am Kreuze.

Kurt Hauschild (1933–2022) arbeitete im Brotberuf als Mathematiker und konnte sich lange Jahre nur in seiner Freizeit der Musik zuwenden. Er setzte sich intensiv mit der Musik der Wiener Klassiker auseinander und komponierte zahlreiche Streichquartette in stilistischer Nachfolge Joseph Haydns. Der Öffentlichkeit wurde sein musikalisches Schaffen erst nach 1989 allmählich bekannt. In den Konzerten des Quartet Berlin-Tokyo tritt Hauschild nun in direkten Dialog mit seinem Vorbild.

Nachdrücklich hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die rundum hervorragende erste CD-Aufnahme des Quartetts, die neben den Fünf Stücken von Erwin Schulhoff die Ersteinspielung der Quartett-Symphonie von Gawriil Popow enthält. Über eine Aufführung des letzteren Werkes durch das Quartet Berlin-Tokyo wurde auf diesen Seiten bereits berichtet, siehe hier.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

Der „kecke Besen“ in Vollendung: Ballot dirigiert Bruckner in St. Florian

Auf den St. Florianer Brucknertagen erklangen am 19. und 20. August 2022 Anton Bruckners Symphonie Nr. 1 (Fassung 1890) und Te Deum. Rémy Ballot dirigierte das Altomonte Orchester St. Florian und den Hard Chor. Die Soli sangen Regina Riel (Sopran), Gerda Lischka (Alt), Markus Miesenberger (Tenor) und Michael Wagner (Bass).

Augustiner Chorherrenstift St. Florian, vom Literaturgarten aus gesehen. An der Wegbiegung steht ein Bruckner-Denkmal.

Rémy Ballot steht mittlerweile im verdienten Ruf eines Garanten erstrangiger Aufführungen der Symphonien Anton Bruckners. Seit 2013 markieren die von ihm geleiteten Orchesterkonzerte den Höhepunkt der jährlich an der Wirkungs- und Begräbnisstätte des Meisters veranstalteten St. Florianer Brucknertage. Eine Symphonie nach der anderen ist dabei im Laufe der vergangenen Jahre unter Ballots Dirigat in der Basilika des Augustiner Chorherrenstifts St. Florian zur Aufführung gelangt. Die Mitschnitte wurden von Gramola auf CD veröffentlicht. Zuletzt erschien im April 2022 die Vierte Symphonie. In Zusammenarbeit mit zwei Orchestern hat Ballot nun beinahe einen kompletten Bruckner-Zyklus vorgelegt: Die Symphonien Nr. 2, 3, 4, 5, 7 und 9 wurden mit dem Altomonte Orchester St. Florian aufgenommen, Nr. 6 und Nr. 8 mit dem Oberösterreichischen Jugendsinfonieorchester.

Die Reihe der nummerierten Symphonien wurde am 19. und 20. August 2022 durch Aufführungen der Ersten Symphonie vervollständigt, denen sich im zweiten Teil beider Konzerte Bruckners Te Deum anschloss. Erneut dirigierte Ballot das Altomonte Orchester St. Florian. Im Te Deum war der Hard Chor, einstudiert von seinem Leiter Alexander Koller, zu hören. Die Solopartien übernahmen Regina Riel (Sopran), Gerda Lischka (Alt), Markus Miesenberger (Tenor) und Michael Wagner (Bass). (Die Besprechung bezieht sich auf das Konzert am 19. August.)

Auch im Falle der Ersten stellt sich die Frage, die sich bei der Mehrheit der Brucknerschen Symphonien stellt, nämlich welche Fassung man zur Aufführung auswählen soll. Ballot hat diese Frage in der Vergangenheit durchaus nicht schematisch beantwortet, und weder den Erstfassungen, noch den Fassungen letzter Hand pauschal den Vorzug gegeben. Letztlich gaben immer künstlerische Gründe den Ausschlag. So dirigierte er die Zweite und Dritte in ihrer ersten, die Vierte und Achte in ihrer jeweils letzten Fassung. Auch bei der Ersten hat er sich für die Letztfassung entschieden, die im Gegensatz zur älteren „Linzer Fassung“ als „Wiener Fassung“ bezeichnet wird.

Obwohl die „Wiener Fassung“ als Bruckners letztes Wort in Bezug auf seinen offiziellen symphonischen Erstling gelten muss, wurde sie doch im Konzertleben weitgehend von der „Linzer Fassung“ verdrängt, nachdem diese 1935 von Robert Haas im Rahmen der alten Gesamtausgabe erstmals herausgegeben worden war. Zahlreiche Autoren gelangten seitdem zu der Ansicht, in dieser Version den „kecken Besen“ – wie der Komponist sein Werk selbst zu nennen pflegte – in ursprünglicher, unverstellter Gestalt vor sich zu haben. Die späte Bearbeitung von 1890, die immerhin ein ganzes Vierteljahrhundert nach Vollendung der Erstfassung erfolgte, habe dagegen den Charakter des Werkes verfälscht, ihm ein unpassendes neues Gewand übergestülpt. Dass Bruckner selbst dieser Ansicht nicht war, liegt auf der Hand: Warum hätte er eine Neufassung überhaupt in Erwägung gezogen, wenn er nicht meinte, damit sein Werk zu verbessern? Er hatte seit Vollendung der Erstfassung eine lange Entwicklung durchgemacht, neue Erfahrungen gesammelt, und wollte vor diesem Hintergrund die Erste für die anstehende Drucklegung gleichsam auf den neuesten Stand seines Könnens bringen. Instrumentatorisch schlug sich dies vor allem in einer stärkeren Beteiligung der Blechbläser an der thematischen Arbeit nieder, formal in zahlreichen kleineren Revisionen, die auf Begradigung der Periodenstruktur abzielten. Auch in den Tempi nahm Bruckner Veränderungen vor, wobei im Finale die Tendenz zur Verlangsamung des Ablaufs nicht zu übersehen ist: Der Seitensatz, zuvor vom Haupttempo („bewegt, feurig“) nicht abgegrenzt, soll nun „langsamer“ gespielt werden, der von diesem dominierte Abschnitt der Durchführung erst „langsam“, dann „sehr langsam“; in der Coda schließlich weist Bruckner an, das Haupttempo zuerst auf „langsam“ zu reduzieren und dann die letzten Takte des Satzes „sehr breit“ zu spielen. Deutlich zeigt sich anhand dieser Tempodramaturgie die Angleichung an Finalsätze späterer Symphonien.

Ist die „Wiener Fassung“ also die Verzeichnung eines Meisterwerks durch den eigenen Schöpfer? Anhand gewisser Einspielungen möchte man das wohl glauben. Vielleicht hat Bruckners Charakterisierung der Symphonie als „kecken Besen“ bewirkt, dass sich eine Art Tradition herausgebildet hat, das Werk besonders „keck“ zu spielen, worunter man offenbar rasche Tempi und einen derb zupackenden, „rustikalen“ Vortrag versteht. Dazu passen in der Tat die 1890 im Finale angebrachten neuen Tempovorschriften nicht gut. Will man die Symphonie flink und raubeinig musizieren, so wirken sie hemmend und bremsend und letztlich aufgesetzt. Die Frage ist freilich, ob man die Erste zwangsläufig so spielen muss. Nun ist dieses Werk die am wenigsten von der sakralen Sphäre berührte unter allen vom Komponisten als gültig betrachteten Symphonien – wenn man so will: die weltlichste. Es gibt keine Zitate aus eigenen Kirchenmusikwerken (wie in der Zweiten, Siebten, Neunten), und choralartige Stellen sind höchstens andeutungsweise vorhanden. Dennoch teilt die Erste mit ihren jüngeren Geschwistern den typisch Brucknerschen Zug ins Expansive. Julian Horton hat diesen Umstand in einem Referat im Rahmen des während der Brucknertage in St. Florian abgehaltenen Symposiums „Bruckner-Dimensionen“ anschaulich dargelegt: Bereits in der Ersten Symphonie umgeht Bruckner das traditionelle Kadenzieren bei der Aufstellung der Themen und treibt die Musik stattdessen kontinuierlich weiter. Die für ihn charakteristische Formung der Musik durch großangelegte Steigerungswellen findet sich hier schon in voller Meisterschaft ausgeführt. Dass zwischen der Ersten und den folgenden Symphonien allen Unterschieden zum Trotz eine starke innere Verbindung besteht, lässt sich nicht leugnen. Diese Verbindung wollte Bruckner in der „Wiener Fassung“ der Ersten anscheinend unterstreichen.

Rémy Ballot hat die „Wiener Fassung“ offensichtlich nicht als des „kecken Besens“ Zähmung verstanden, sondern als die letztgültige Ausformung eines frühen Meisterwerks, in dem wesentliche Gestaltungsmittel der Brucknerschen Kunst bereits unüberhörbar zum Einsatz kommen. Konsequent ist er diesen Phänomenen auf den Grund gegangen und hat Bruckners Streben ins Weite und Hohe, den unaufhörlichen Drang der Musik nach Fortentwicklung und Intensivierung in einer Art und Weise umgesetzt, wie sie der Verfasser dieser Zeilen noch in keiner anderen Aufführung dieses Werkes erlebt hat. Die ganze Darbietung wurde getragen von einem untrüglichen Sinn für den Aufbau des Ganzen. Die Sequenzen waren nicht einfach nur Transpositionen von Motiven auf verschiedene Stufen: Sie ließen wahrhaft spüren, wie ständig Neues hinzukam, wie die Motive gleichsam neue Erfahrungen machen, einen Entwicklungsprozess durchlaufen. Entsprechend bauten sich die größeren Abschnitte der Form auf. Immer behielt der Dirigent, den man einen Meister des „Fernhörens“ nennen muss, im Blick, welche Richtung die Musik gerade nimmt. So hörte man denn hier auch weniger ein erstes Thema, dann ein zweites, drittes, viertes, die Durchführung usw., man hörte vier ganze Sätze, vier weitgespannte Entwicklungsbögen, deren einzelne Teile ganz natürlich auseinander hervorgingen und so untrennbar miteinander verbunden waren wie die Phrasen einer schlichten Liedmelodie. Wie sagte einst Donald Tovey: „Form is melody written large.“ In St. Florian konnte man das erleben!

Der lange Nachhall der Stiftsbasilika verbietet überhastete Tempi nahezu von selbst. Auf die Bedingungen des Raumes eingehend, wählte Ballot breite Zeitmaße, sodass die Symphonie rund eine Stunde dauerte. Der kluge Umgang mit dem Nachhall sorgte dafür, dass dieser als fester Bestandteil des musikalischen Konzepts spürbar wurde. Bruckners Generalpausen gerieten zu Momenten des Ausatmens und der inneren Sammlung, was sich besonders deutlich an jenen zwei Stellen im Finale zeigte, an denen die Musik nach einem Fortissimo abrupt verstummt (beim zweiten Mal unter Zurücklassung eines abklingenden Paukenwirbels): Der geballte Klang löste sich während seiner mehrere Sekunden langen Wanderung durch das Kirchenschiff, dann setzte im Moment seines endgültigen Verstummens, den Faden aufnehmend, die Musik wieder ein. Wer möchte da noch daran zweifeln, dass Bruckner die St. Florianer Akustik dermaßen in Mark und Bein übergegangen ist, dass er sie beim Komponieren stets mitgedacht hat? In diesem Raum ließ Ballot das Adagio mit der Stille Zwiesprache halten, bevor es sich in langen Atemzügen entfalten durfte, und machte zum Schluss Ernst mit den Tempi, die Bruckner 1890 in die Coda des Finales eintrug. Die Intensität, mit der sich die Musik während der letzten Takte in immer breiter werdendem Zeitmaß auftürmte, hielt das Publikum noch lange nach dem Verklingen des letzten Akkordes gebannt, sodass der Applaus erst spät einsetzte, dafür aber umso stürmischer.

Im Te Deum stand der Dirigent vor der Herausforderung, den nur etwa 60 Mitglieder zählenden Chor nicht vom Orchester zudecken zu lassen. Hatte Ballot seine Instrumentalisten in der Symphonie zuletzt bis zur äußersten Prachtentfaltung motiviert, so galt es nun, sie zur Zurückhaltung anzuhalten und gleichzeitig Bruckners Orchestersatz mit der nötigen Differenziertheit zur Geltung zu bringen. Auch diese Aufgabe wurde trefflich gelöst. Keine wichtige Orchesterstimme ging unter, doch blieben die Instrumente stets nur Begleitung und Stütze des Chores und der Vokalsolisten. Für die Violinsoli im zweiten und vierten Teil machte sich der Dirigent wieder die besonderen Gegebenheiten des Raumes nutzbar und ließ die Soloviolinistin von der Kanzel aus spielen. Es war dies nicht nur eine musikalisch überzeugende Lösung, sondern harmonierte auch mit der bildhauerischen Ausgestaltung des Chorraums, sieht man doch über dem Chorgestühl eine Schar Engel musizieren, u. a. auf Geigen. Gegen Ende der Aufführung schaffte es Ballot, seinem Chor zusätzliche Kräfte zu entlocken, sodass in den letzten Takten eine nochmalige Steigerung gelang. Das Solistenquartett hatte allerdings den Punkt seiner größten Ausgewogenheit am Ende der Generalprobe Tags zuvor erreicht. Hatte man im Verlauf derselben erleben können, wie Altistin Gerda Lischka nach anfänglich zu starker Zurückhaltung immer deutlicher zwischen Sopranistin Regina Riel und Tenor Markus Miesenberger als Mittelstimme durchklang, so wirkte Regina Riel im Konzert etwas weniger präsent als in der Probe.

Wer bei den Proben dabei war, merkte, wie wichtig Ballot bei seiner Arbeit der Kontakt zu den Musikern ist. Er versteht es, in jeder Situation den betreffenden Orchestergruppen ihre Bedeutung innerhalb des Ganzen zu vermitteln, sie zueinander in Relation zu setzen und gegeneinander abzustufen. Die Zeichengebung beschränkt er dabei auf das Wesentliche, was nicht heißt, dass er nicht, wenn es die Musik erfordert, zu markanten Gesten fähig wäre. Bringt er eine solche ins Spiel, dann meint er damit auch etwas Bestimmes. Wichtige Motive und Phrasen hebt er durch stärkeres Herausstreichen der entsprechenden Taktteile hervor und schafft damit jenes leichte, flüssige Rubato, das sich reizvoll belebend über den spürbar bleibenden Grundpuls der Musik legt. Man merkt, hier ist nicht nur ein handwerklich äußerst versierter Kapellmeister am Werk, sondern auch ein Musiker, der die von ihm dirigierte Musik intensiv durchlebt und das Orchester entsprechend zu animieren weiß.

Ballots St. Florianer Bruckner-Zyklus ist mit diesem Konzert übrigens noch nicht abgeschlossen. Das Programmheft der Brucknertage vermeldet Vorfreude auf die annullierte d-Moll-Symphonie (die „Nullte“) und den 146. Psalm, die im August 2023 in der Basilika erklingen sollen. Ja, darauf darf man sich in der Tat freuen, ebenso auf die CD-Veröffentlichung des diesjährigen Konzerts!

[Norbert Florian Schuck, August 2022]

Sehnsucht, Beseeltheit und Routine

Am 10. und 11. Juli 2022 spielte die Staatskapelle Weimar in der Weimarhalle unter der Leitung von Giedrė Šlekytė ihr zehntes Symphoniekonzert der Spielzeit 2021/22. Es erklangen Jean Sibelius‘ Violinkonzert und Sergej Rachmaninows Symphonie Nr. 1 sowie, als deutsche Erstaufführung, Saudade von Žibuoklė Martinaitytė. Als Violinsolistin war Rebekka Hartmann zu hören. Die folgende Besprechung bezieht sich auf das Konzert vom 11. Juli.

Der Abend begann vielversprechend mit zeitgenössischer Musik. Die 1973 geborene, in New York lebende litauische Komponistin Žibuoklė Martinaitytė hat bislang vorrangig mit ihren Orchesterwerken Aufmerksamkeit erregt. Ihr Stück Saudade, ein einsätziges Werk von etwa einer Viertelstunde Dauer, stammt aus dem Jahr 2019 und war an den beiden Weimarer Konzertabenden zum ersten Mal in Deutschland zu hören. Der Begriff „Saudade“ stammt aus dem Portugiesischen und bezeichnet „ eine Meta-Nostalgie, ein Sehnen, das auf die Sehnsucht selbst ausgerichtet ist“, wie die Komponistin in ihrer Werkeinführung schreibt. Dieser Zustand wird durchaus schlüssig in Musik übersetzt. Ohne dass man von Themen oder Motiven sprechen könnte, sind doch über den Verlauf der Komposition gewisse Grundbausteine präsent, die dem Werk ein einheitliches Gepräge geben. Man hört immer wieder fluktuierende Cluster aus Stufen der Molltonleiter, die sich einem Niederlassen auf dem Grundton verweigern und dadurch nie zur Ruhe kommen. An Glissandi und feinen chromatischen Umspielungen spart Martinaitytė nicht, ohne dass dabei der diatonische Grundcharakter der Musik verloren ginge. Die Form ist leicht zu überblicken: Nach einer längeren statischen Eingangsphase steigt die Musik in die Tiefen der Kontrabässe hinab, bevor sie allmählich zum blechbläserdominierten Tutti anwächst und schließlich leise verklingt. Die ganze Zeit über wirkt die Musik entrückt, wie eine Folge poetischer Impressionen aus fein abgestuften orchestralen Grautönen, in welchen sich Naturlaute mit Klängen mischen, die an einen Synthesizer gemahnen. Die Aufführung durch die Staatskapelle unter dem Dirigat Giedrė Šlekytės, einer Landsfrau Martinaitytės, wirkte rundum gelungen, sodass man von dem Werk einen positiven Eindruck bekam. Nichts deutete darauf hin, wie sich der Abend noch entwickeln würde.

Mit Rebekka Hartmann konnte für das Violinkonzert von Jean Sibelius eine Solistin außerordentlichen Formats gewonnen werden, sodass, rein auf die Solostimme bezogen, die Aufführung dieses Werkes eine überragende musikalische Leistung genannt werden muss. Rebekka Hartmann besitzt einen untrüglichen Sinn für die musikalische Form, für den Zusammenhang der Töne. Jede Note ist ihr bedeutungsvoll, spielt eine Rolle im Ganzen. So wirken unter ihren Händen selbst Passagen in raschesten Notenwerten nie verwischt, übereilt oder bloß absolviert. Alles atmet und gerät in Schwingung, die Violinstimme erscheint bis in kleinste Einzelheiten hinein ausgeleuchtet und von Leben durchpulst. Aber welch ein prosaisches Tun dagegen im Orchester! Wie jedes der großen symphonisch angelegten Violinkonzerte lebt auch das Sibeliussche von der Interaktion des Soloinstruments mit den orchestralen Kräften. Was hilft es also, dass eine beseelte Musikerin das Solo spielt, wenn das Orchester sich damit begnügt, nur den Hintergrund zu liefern und nicht einmal versucht, einen Dialog auf Augenhöhe entstehen zu lassen? Es folgte hier lediglich gehorsam dem Taktstock der immer ordentlich taktierenden Dirigentin, die sich mit einer bloßen Koordinatorenrolle zufrieden zu geben schien, und lieferte schwunglos eine matte Begleitung zu Rebekka Hartmanns begnadetem Spiel.

Die Aufführungsgeschichte von Sergej Rachmaninows Erster Symphonie zeigt eindrücklich, was einem Meisterwerk blühen kann, wenn seine Premiere missglückt. Die Uraufführung 1897 unter der Stabführung Alexander Glasunows muss den Berichten zufolge zu einem furchtbaren Durcheinander ausgeartet sein; mit dem Ergebnis, dass der tonangebende Kritiker César Cui dem Werk bescheinigte, als Programmmusik über die Sieben Plagen Ägyptens durchgehen und „alle Bewohner der Hölle in geradezu köstlicher Weise erfreuen“ zu können. Bekanntlich litt der Komponist anschließend jahrelang unter Depressionen, gab die Symphonie nie mehr zur Aufführung frei und veröffentlichte sie nicht. Zwischenzeitlich verschollen, kam sie erst nach seinem Tod wieder ans Licht und wurde mit einem halben Jahrhundert Verspätung endlich als die musikalische Großtat erkannt, die sie ist. Ist das nicht eine Mahnung an die Dirigenten, sorgsam mit den ihnen anvertrauten Werken umzugehen und ihnen die bestmögliche Pflege zuteil werden zu lassen? Ich gehe zu Giedrė Šlekytės Gunsten davon aus, dass sie die Probenzeiten vor allem nutzte, um in diesem Sinne für Žibuoklė Martinaitytės Werk zu wirken, und ihr schlicht die Zeit fehlte, bei Sibelius und Rachmaninow mehr als routinierte Aufführungen zu Stande zu bringen. Hätte Glasunow die Rachmaninowsche Symphonie seinerzeit so dirigiert wie Giedrė Šlekytė, so wäre die Aufführung kein Fiasko geworden, aber auch nicht mehr als gut koordinierte Routine. Die Dirigentin sperrte das Werk in einen Käfig aus Taktstrichen. Nirgendwo hatte man das Gefühl, als animiere sie die Musiker dazu, weiter als bis zum nächsten Takt zu denken. So wirkten die Ecksätze grobschlächtig und stumpf martialisch, immer auf die „Einsen“ der Takte fixiert, wohingegen sich das Adagio müde von Ton zu Ton fortschleppte. Das Scherzo gelang noch am relativ besten und entwickelte eine gewisse Leichtigkeit, ohne dass dies am insgesamt ernüchternden Eindruck des Ganzen viel ändern konnte.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2022]

Draeseke-Konzerte in Bad Rodach und Dresden

Bad Rodach und Dresden sind mit dem Leben und Wirken Felix Draesekes eng verbunden. Der 1835 in Coburg geborene Komponist verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Rodach und starb 1913 in Dresden, wo er seit 1876 lebte. In der zweiten Junihälfte 2022 fanden in beiden Städten Konzerte statt, die dem Schaffen Draesekes gewidmet waren.

Am 18. Juni veranstaltete die Internationale Draeseke-Gesellschaft, die zwei Tage zuvor ihre vor kurzem erschienene Edition des Draeseke-Briefwechsels der Öffentlichkeit vorgestellt hatte, im Saal des Bad Rodacher Jagdschlösschens einen Kammermusik- und Klavierabend. Es erklangen zwei Sonaten des Komponisten. Zuerst spielten Barbara Thiem (Violoncello) und Wolfgang Müller-Steinbach (Klavier) die 1890 entstandene Violoncellosonate D-Dur op. 51, ein abgeklärtes Werk, in welchem ein mit einer weitgespannten Melodie anhebender Kopfsatz und ein sehr beschwingtes Finale einen schattenhaften langsamen Satz umschließen. Barbara Thiem, die an der Colorado State University unterrichtet, hat sich wie nur wenige Kammermusiker in den Vereinigten Staaten für den Komponisten eingesetzt. Wolfgang Müller-Steinbach, selbst Komponist, transkribierte zahlreiche Werke Draesekes für andere Besetzungen. Beide sind auf mehreren CDs der von Alan Krueck, dem Pionier der modernen Draeseke-Forschung, ins Leben gerufenen Tonträgerproduktion AK Coburg zu hören, und haben dort auch gemeinsam die Violoncellosonate eingespielt. Lag somit die erste Hälfte des Konzerts in den Händen von Veteranen, so gehörte die zweite einem jungen Künstler: Aris Alexander Blettenberg, gleichermaßen als Dirigent, Pianist und Komponist aktiv ist, brachte Draesekes Klaviersonate op. 6 zur Aufführung, ein relativ frühes, in den 1860er Jahren entstandenes und für diese Zeit sehr kühnes Werk, dessen ungewöhnliche Satzfolge (Introduzione e Marcia funebre, Intermezzo, Finale) die Bezeichnung Sonata quasi fantasia ebenso rechtfertigt wie der tonal nicht geschlossene Tonartenplan (Kopfsatz in cis-Moll, Finale in E-Dur). Blettenberg setzte den Trauermarsch so um, dass die quasi-orchestrale Schreibweise des Hauptteils gut zur Wirkung kam. An mehreren Stellen meinte man tatsächlich ein Alternieren von Blechbläsern und Streichern zu hören. Dass dem Pianisten eine enorme physische Kraft zur Verfügung steht, machten bereits die ersten Takte des Werkes deutlich. Das Intermezzo, ausdrücklich Valse-Scherzo genannt, fasste er jedoch zu sportlich und zu wenig tänzerisch auf. Hier fehlte es entschieden an Leichtigkeit. Ich widerspreche entschieden Walter Georgiis Behauptung (Klaviermusik, 1950), dass das Finale formal und inhaltlich schwächer sei als die vorangegangenen Sätze. Die musikalische Handlungsführung, den meisterhaften Aufbau des letzten Satzes zu verdeutlichen, ist allerdings schwieriger. Wer hier nur auf die kleingliedrige Motivik achtet und die weitgespannte Periodenstruktur außer Acht lässt, ist verloren, und wird den Satz nur als ein viel zu langes Virtuosenstück erscheinen lassen können. Blettenberg gelang dieses Finale besser als den meisten Pianisten, die ich mit dem Stück gehört habe. Leider geriet er im Verlauf desselben immer mehr in einen Geschwindigkeitsrausch, sodass im letzten Teil keine Möglichkeit der Steigerung mehr gegeben war und der Schluss rein mechanisch klang. Als Zugabe wählte der Pianist zwei kurze Stücke eigener Komposition, beide inspiriert von der Heimat seiner griechischen Vorfahren: einen Sirtaki und einen langsamen Tanz. Hatte man in der Draeseke-Sonate zum Ende hin nur noch Tastenarbeit gehört, so zeigte sich Blettenberg namentlich in seinem langsamen Tanz als poetischer, zart empfindender Musiker, und man wünschte sich, er hätte mehr von dieser Seite seines Könnens in die Sonate hinübergerettet.

Das Konzert, das die Singakademie Dresden am 24. Juni gab, gehörte zu einer Reihe, die sich Komponisten widmet, nach welchen in Dresden Straßen benannt sind. Die Draesekestraße befindet sich im Stadtteil Blasewitz, etwa auf halbem Wege zwischen dem Blauen Wunder und dem Tolkewitzer Friedhof, wo Felix Draeseke 1913 zur ewigen Ruhe gebettet wurde. Unter dem Dirigat ihres künstlerischen Leiters Michael Käppler, musizierten ab 19 Uhr etwa 30 Sängerinnen und Sänger eine halbe Stunde lang unter freiem Himmel auf dem an der Ecke Draesekestraße/Berggartenstraße gelegenen Spielplatz. Dort hatte sich ein Publikum von an die 100 Personen eingefunden, und auch an den Fenstern umliegender Häuser waren vereinzelt Zuhörer zu sehen. Der Chor sang zu Beginn Draesekes sechsstimmiges Graduale Beati quorum via op. 57/2. Im Anschluss machte Michael Käppler das Publikum auch auf die Instrumentalmusik des Komponisten aufmerksam und spielte auf einem tragbaren Klavier Rêve de Bonheur und Incertitude, das Anfangs- und das Schlussstück aus dem Zyklus Petite histoire op. 9. Zwischen den einzelnen Programmnummern gab Käppler kurze Einführungen zu Draesekes Lebenslauf und seiner Stellung in der Musikgeschichte, was bei den Anwesenden durchaus auf Zustimmung stieß: „Das ist wie eine Lehrveranstaltung, die zu uns kommt. Das finde ich total genial“, hörte ich eine Zuhörerin neben mir sagen. Draesekes Beziehung zu Wagner gedenkend und dem Umstand Rechnung tragend, dass es sich um den Johannistag handelte, hörte man an diesem Abend außerdem den Eingangschor aus den Meistersingern von Nürnberg. Einen interessanten Kontrast zu Draesekes Graduale bot das Jubilate Deo seines Zeitgenossen Edmund Kretschmer, der in Dresden als Hofkirchenkomponist tätig war und stilistisch offensichtlich mehr von Mendelssohn als von Wagner geprägt wurde. Mit einer Wiederholung des Beati quorum via verabschiedeten sich Käppler und sein Chor von einem offensichtlich dankbaren Publikum.

Am 20. November 2022 wird die Singakademie in der Dresdner Lukaskirche gemeinsam mit der Elbland Philharmonie Sachsen Felix Draesekes Osterszene nach Goethes Faust zur Aufführung bringen.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Roy Travis zum 100. Geburtstag

Die bei RCA erschienene Dimitri-Mitropoulos-Edition, die auf 69 CDs sämtliche Aufnahmen umfasst, die der große Dirigent für RCA und Columbia eingespielt hat, ist eine veritable Schatzkiste. Nicht zuletzt dokumentiert sie Mitropoulos‘ Einsatz für die zeitgenössische Musik der Vereinigten Staaten: Roger Sessions, Peter Mennin und Gunter Schuller sind mit Symphonien vertreten, Leon Kirchner mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, Morton Gould und Elie Siegmeister mit kleineren Orchesterwerken und Samuel Barber mit der Oper Vanessa. Als mich kurz nach der Veröffentlichung (April 2022) ein guter Freund mit dieser Wunderschachtel bekannt machte, fanden wir beide Gefallen an einem weiteren US-amerikanischen Stück, dessen Komponist uns bislang völlig unbekannt geblieben war: dem Symphonic Allegro von Roy Travis. Eine kurze Suche im Netz ergab, dass die Edition genau rechtzeitig zum 100. Geburtstag des 2013 gestorbenen Komponisten erschienen ist, und dass es sich bei Travis offenbar um einen vielseitigen Künstler handelt, der stärkere Aufmerksamkeit verdiente als ihm in den letzten Jahren seines Lebens zuteil wurde. Widmen wir Roy Travis anlässlich seines Jubiläums das folgende Gedenkblatt!

Roy Elihu Travis, geboren am 24. Juni 1922 in New York City, gehört zu denjenigen Komponisten, die als Gewinner des Gershwin Memorial Contest, eines 1945 ins Leben gerufenen Wettbewerbs für Orchesterwerke junger Autoren, erstmals in der Öffentlichkeit von sich reden machten. Andere Beispiele sind etwa der gleichaltrige Peter Mennin, an den der Preis 1945 zum ersten Mal vergeben wurde, und der etwas jüngere Gordon Sherwood, der ihn 1957 erhielt. Anhand dieser drei Komponisten, die alle von jener Stilrichtung ausgehen, die Walter Simmons in seinem Buch Music of Stone and Steel als „Modern Traditionalism“ charakterisiert hat, zeigt sich, welch unterschiedliche Karrieren den Gershwin-Preisträgern bevorstehen konnten: Mennin wurde erst zum führenden US-Symphoniker seiner Generation und schließlich Präsident der Juilliard High School. Sherwood stürzte sich in dem Moment, als ihm im Musikbetrieb Amerikas alle Türen offen gestanden hätten, geradezu fluchtartig in eine abenteuerliche Vagabundenexistenz, konnte aber, nach jahrzehntelanger Vergessenheit, als über 70-Jähriger seine spektakuläre Wiederentdeckung erleben. Roy Travis‘ Leben verlief dagegen allem Anschein nach weniger aufsehenerregend. Nachdem sein Symphonic Allegro 1951 mit dem Gershwin Memorial Award ausgezeichnet und von den New Yorker Philharmonikern unter Mitropoulos eingespielt worden war, studierte er, unterstützt durch ein Fulbright-Stipendium, ein Jahr lang bei Darius Milhaud in Paris und wurde nach seiner Rückkehr selbst Musikpädagoge. Er unterrichtete in New York an der Columbia University (1952/53) und an der Mannes School of Music (1952–1957), bevor er 1957 an die Musikfakultät der University of California in Los Angeles wechselte. Dort wirkte er, seit 1968 Professor, bis zu seiner Pensionierung 1991.

War Travis also nur einer von vielen handwerklich beschlagenen Komponisten, die ihr Dasein als Lehrer fristeten, ohne außerhalb ihres engeren Wirkungskreises sonderlich bekannt zu werden? Offensichtlich nicht! Ein genauerer Blick auf sein Schaffen verrät, dass es sich bei ihm keineswegs um einen Akademiker handelte, der sich mit einmal verinnerlichten Konventionen begnügte. Tatsächlich gehört Travis in eine Reihe mit John Foulds und Walter Kaufmann, Komponisten, die sich mit wahrer Leidenschaft in Musiktraditionen außerhalb des abendländischen Kulturkreises vertieften, daraus mannigfaltige Anregungen für das eigene Schaffen gewannen und zu Pionieren des musikalischen Austauschs zwischen Ost und West wurden. Wie Foulds und Kaufmann beschäftigte sich auch Travis mit den Modi und rhythmischen Modellen der indischen Musik. Eine wenigstens ebenso große Bedeutung erlangte für ihn die traditionelle Musik des westlichen Afrika, mit der er sich auseinanderzusetzen begann, nachdem er in den 60er Jahren die Bekanntschaft des ghanaischen Meistertrommlers Robert Ayitee gemacht und an den von diesem an der University of California veranstalteten Kursen teilgenommen hatte. Travis transkribierte Tonaufzeichnungen ghanaischer und anderer westafrikanischer Lieder und Tänze und erlangte dadurch ein profundes Wissen über die Strukturen, die dem Musizieren der betreffenden Völker zugrunde liegen. Die erste künstlerische Frucht dieser Beschäftigung war seine Zweite Klaviersonate, die African Sonata, in deren vier Sätzen er auf Tanztypen der in Ghana bzw. Mali ansässigen Ashanti, Ewe und Bambara zurückgriff. Später begann der Komponist afrikanische und indische Instrumente mit abendländischen zu kombinieren. So existiert aus seiner Feder ein Konzert für Violine, Tabla (indische Trommel) und Orchester. Sein Werk Switched-On Ashanti basiert auf Tonbandaufzeichnungen des Meistertrommlers Kwasi Badu, die Travis mit einem Synthesizer bearbeitete. Diese werden im Konzert den Klängen einer Quer- bzw. Piccoloflöte gegenübergestellt. Travis umfangreichstes Werk, in welchem abendländische und afrikanische Traditionen verschmolzen werden, ist die abendfüllende Oper The Black Bacchants, nach den Bakchen des Euripides, deren Instrumentalensemble ein großes Symphonieorchester samt einer Vielzahl westafrikanischer Instrumente umfasst. Daneben entstanden weiterhin Kompositionen für konventionelle abendländische Besetzungen. Roy Travis starb am 19. Oktober 2013 im Alter von 91 Jahren über der Arbeit an seiner dritten Oper Hamlet.

Diskographie

(Von den nachfolgend aufgezählten LP-Aufnahmen ist bislang nur Mitropoulos‘ Einspielung des Symphonic Allegro auf CD wiederveröffentlicht worden.)

  • Symphonic Allegro (Columbia, 1952): New York Philharmonic, Dimitri Mitrpoulos (Dirigent).
  • Collage for Orchestra (Cri, 1970): Royal Philharmonic Orchestra, Arthur Bennett Lipkin (Dirigent).
  • Zwei Szenen aus der Oper The Passion of Oedipus (Orion, 1973): William Du Pré (Oedipus), Maureen Lehane (Jocasta), Joy Mammen (Oracle), John Robert Dunlap (Laios), Robert Lloyd (Corinthian Envoy), Richard Hale (Old Shepherd), The Royal Philharmonic Orchestra and Chorus, Jan Popper (Dirigent).
  • Duo Concertante, African Sonata, Switched-On Ashanti (Orion, 1973): Isidor Lateiner (Violine), Edith Grosz (Klavier), Richard Grayson (Klavier), Kwasi Badu (ghanaische Trommeln), Gretel Shanley (Flöte).
  • Symphonic Allegro, Songs and Epilogues, Piano Concerto (Orion, 1975): Harold Enns (Bass), Royal Philharmonic Orchestra; Irma Vallecillo (Klavier), Utah Symphony Orchestra; Jan Popper (Dirigent).

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Felix Draesekes Briefwechsel veröffentlicht

Felix Draeseke: Briefwechsel in zwei Bänden (= Veröffentlichungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft 9), hrsg. von Sigrid Brandenburg, Leipzig: Gudrun Schröder Verlag 2021, ISBN 978-3-926196-86-6. (838 Seiten)

Felix Draeseke war eine der markanten Figuren der deutschen Musikgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Als Jüngling unter den Einfluss Richard Wagners und in den Kreis um Franz Liszt geraten, wurde er zunächst als Musikkritiker und -schriftsteller bekannt, fand in den 1860er Jahren zu einem persönlichen, das Erbe der Klassiker mit den Errungenschaften der „Zukunftsmusik“ verschmelzenden Kompositionsstil und lehrte seit 1884 am Dresdner Konservatorium. Als Gutachter des Allgemeinen Deutschen Musikvereins spielte er jahrelang eine wichtige Rolle bei der Auswahl der auf den Tonkünstlerversammlungen aufgeführten Novitäten. Seine 1906 veröffentlichte, gegen Richard Strauss gerichtete Streitschrift Die Konfusion in der Musik entfachte eine langwierige, intensiv geführte Debatte über die Problematik des musikalischen Fortschritts, an welcher zahlreiche namhafte Personen des deutschen Musiklebens teilnahmen. Das Leben dieses Mannes, dessen Biographie mit den musikgeschichtlichen Entwicklungen seiner Zeit so eng verflochten ist, bietet der Wissenschaft noch ein weites Feld für kommende Forschungen.

Am 16. Juni 2022 präsentierte die Internationale Draeseke-Gesellschaft (IDG) im Ausstellungspavillon des Kunstvereins Coburg ihre neueste und bislang umfangreichste Veröffentlichung. Es handelt sich um den Briefwechsel Felix Draesekes, der, herausgegeben von Sigrid Brandenburg, nun in zwei Teilbänden als Nr. 9 der im Leipziger Gudrun Schröder Verlag erscheinenden Schriftenreihe der IDG erschienen ist.

Drei Mitglieder der Gesellschaft teilten sich in die Präsentation: Geschäftsführer Udo-Rainer Follert führte durch die Veranstaltung, indem er Beispiele aus den Briefen des Komponisten vorlas und in den biographischen Kontext einordnete. Helmut Loos, 1. Vorsitzender der IDG, hielt als Herausgeber der Schriftenreihe einen kurzen Vortrag zur Bedeutung der Briefe und ihrer Edition. Der Pianist Wolfgang Müller-Steinbach, der als Verfasser zahlreicher Draeseke-Bearbeitungen hervorgetreten ist, spielte, passend zu den jeweiligen Stationen der Biographie, Klavierwerke des Komponisten.

Schmerzlich war zu bedauern, dass die Herausgeberin des Briefwechsels, Sigrid Brandenburg, nicht an der Veranstaltung teilnehmen und den verdienten Dank entgegennehmen konnte. Insgesamt 1542 Briefe, die sich über die gesamte Lebenszeit Felix Draesekes (1835–1913) erstrecken, hat sie über viele Jahre aus zahlreichen Sammlungen in Europa und Amerika zusammengetragen. Die Arbeit wurde durch eine schwierige Quellenlage erschwert, da zahlreiche Dokumente im Laufe der Zeit verloren gegangen sind – namentlich durch den Zweiten Weltkrieg – und aus teils problematischen Sekundärquellen erschlossen werden mussten. Markanteste Beispiele dafür sind die 207 Briefe und Brieffragmente, die ausschließlich durch die 1932 und 1937 in zwei Bänden erschienene Draeseke-Biographie Erich Roeders überliefert wurden. Roeder versuchte Draeseke im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu vereinnahmen, und schreckte, wie Nachforschungen in mehreren Fällen gezeigt haben, vor Verfälschungen seiner Quellen nicht zurück.

In die Edition aufgenommen wurden sämtliche erreichbaren Briefe von und an Felix Draeseke, sowie ausgewählte Briefe Dritter, die wertvolle Informationen zur Biographie des Komponisten liefern (so beginnt die Sammlung mit einem Brief von Draesekes Vater an dessen Schwager und endet mit Beileidsbekundungen an Draesekes Witwe). Unter jedem Brief findet sich die entsprechende Quellenangabe. Ein chronologisches Verzeichnis der Briefe sowie alphabetische Verzeichnisse der Empfänger und Absender gehen der Edition voran. Ihr folgen 67 Seiten mit Kommentaren zu den einzelnen Briefen. Ein Anhang mit einem Verzeichnis der verwendeten Literatur, den Bibliothekssiglen, dem Besitzernachweis, einem Register der in den Briefen erwähnten Personen und einer Auflistung der IDG-Schriften sowie der in Neudrucken verfügbaren Kompositionen Draesekes schließt die Veröffentlichung ab.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Lieder von Wetz und Ansorge zu neuem Leben erweckt

Die Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar feiert 2022 ihr 150-jähriges Bestehen und veranstaltet anlässlich dieses Jubiläums mehrere Konzerte. Am 21. Juni fand im Saal Am Palais ein Solo- und Liederabend statt, in welchem Studierende der Fächer Klavier und Gesang Proben ihres Könnens lieferten. Zur Aufführung gelangten Klavierwerke von Franz Liszt, Lieder von Richard Wetz und Conrad Ansorge, sowie Vokalquartette von Johannes Brahms.

Über den ersten Teil des Konzerts, der ganz der Klaviermusik Liszts gewidmet war, fasse ich mich kurz. Von den drei Ausführenden dieses Programmabschnitts hinterließ nur Can Çakmur, der die Ballade h-Moll und zwei der späten Valses oubliées spielte, einen stärkeren Eindruck. Çakmur verfügt über eine brillante Geläufigkeit, die ihn auch rascheste Läufe scheinbar mühelos meistern lässt, und ein breites Spektrum hinsichtlich des Anschlags und der Dynamik. Seine Fähigkeit zu sehr leisem, dennoch deutlichem Spiel zeigte sich namentlich am Schluss der Valse oubliée Nr. 4. Im Mittelteil der Valse oubliée Nr. 1 fielen maniriert wirkende Verzögerungen auf. Trotz seinem offensichtlichen Talent gelang es Çakmur nicht, die Ballade h-Moll als ein zusammenhängendes Ganzes darzustellen. Die zahlreichen Motivwiederholungen und Sequenzen hätten einen weniger gleichförmigen Vortrag, stärkere Differenzierung im Kleinen und einen längeren „Atem“ in der Phasierung vertragen. Die Abfolge der einzelnen Abschnitte wirkte wenig motiviert.

Interessanter war die zweite Konzerthälfte. Ich möchte zunächst auf den Schluss zu sprechen kommen. Der Abend ging mit zwei auf Schiller-Texte komponierten Vokalquartetten von Johannes Brahms zu Ende: Der Abend op. 64/2 und Nänie op. 82 (letztere bekanntlich für Chor und Orchester komponiert). Von Megumi Hata am Klavier begleitet, sagen Evelina Liubonko (Sopran), Kateřina Špaňárová (Alt), Taiki Miyashita (Tenor) und Christoph Kurzweil (Baß). Die Aufführungen verdeutlichten vor allem, dass es zum Quartettgesang nicht genügt, einfach nur vier gute Stimmen zusammenzubringen. Evelina Liubonko kann man sich wunderbar auf einer Opernbühne vorstellen. Hier aber wirkte sie fehlbesetzt, denn sie sang nicht wie die Oberstimme eines Quartetts, sondern wie eine Solistin, indem sie sich nicht nur durch die Lautstärke, sondern auch durch häufiges Vibrato von den übrigen Stimmen abhob.

Zuvor standen die Sopranistin Emma Moore und die Pianistin Teodora Oprișor im Mittelpunkt, die jeweils vier Lieder von Richard Wetz und Conrad Ansorge vortrugen. Teodora Oprișor hat bereits im vorigen Jahr ihr Liedgestalterexamen mit Werken dieser beiden Komponisten bestritten, und man kann sie in der Entscheidung, sich für sie einzusetzen, nur bestärken. Dank mehreren in den letzten drei Jahrzehnten herausgekommenen CD-Veröffentlichungen weiß man inzwischen wieder, dass Richard Wetz (1916–1935 Kompositionsprofessor in Weimar) ein herausragender Symphoniker und Oratorienkomponist gewesen ist. Für sein gut 100 Titel umfassendes Liedschaffen ist dagegen noch Pionierarbeit zu leisten (wozu als Grundlage die bei Musikproduktion Höflich/Beyond the Waves erschienene Gesamtausgabe empfohlen sei). Conrad Ansorge, einer der letzten Schüler Liszts, ist als Komponist nie zu einem solchem Ruhm gelangt, wie er ihn als Pianist genießen konnte. Dass allerdings seine Kompositionen nach seinem Tod weitgehend unbeachtet blieben, und auch die Tonträgerproduktion bislang wenig Notiz von ihnen genommen hat, kann man, den Kostproben nach zu urteilen, die Moore und Oprișor ihrem Publikum boten, nur als schwerwiegendes Versäumnis bezeichnen. Ansorge und Wetz waren introvertierte Künstler, die ihre entscheidende Prägung zwar im späten 19. Jahrhundert erfuhren – das heißt: als Gesangskomponisten unter dem Einfluss der arios-deklamatorischen Singstimmenbehandlung Richard Wagners –, aber in ihrer Musik eine Gegenwelt zu den blendenden Effekten und der überbordenden Ornamentik mancher ihrer Zeitgenossen schufen. Wetz kleidet seine Gesänge dabei bevorzugt in ein feierliches Halbdunkel, während Ansorge schimmernde Gebilde von zerbrechlicher Zartheit erschafft. Emma Moore war den Stücken eine gewissenhafte und textdeutliche Interpretin, deren kraftvolle Stimme jedoch in der Akustik des relativ schmalen und hohen Saales oft etwas überstark wirkte. In Teodora Oprișor stand ihr eine Begleiterin zur Seite, die sie nie übertönte, aber immer präsent blieb. Die Pianistin hat sich die Werke so zu eigen gemacht, dass sie ihren Part bis in die letzten Winkel mit Leben erfüllen konnte. Den Höhepunkt an Subtilität erreichte sie in Ansorges Richard-Dehmel-Vertonung Dann op. 10/7, deren leise nachschlagende Synkopen sie zu unheimlicher Spannung steigerte. Wahrlich, es ist eine Freude, diese Musik in so kompetenten Händen zu wissen!

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Ein außerordentlicher Kammermusikabend mit dem Quartet Berlin-Tokyo

Besprechung des Konzerts:

Berlin, Konzerthaus, 12. Juni 2022

  • Kurt Hauschild: Streichquartett Nr. 5 D-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 11 f-Moll op. 95
  • Boris Yoffe: fünf Stücke aus dem Quartettbuch
  • Gawriil Popow: Quartett-Symphonie c-Moll op. 61

Quartet Berlin-Tokyo

Zugleich Vorstellung der CD:

  • Erwin Schulhoff: Fünf Stücke für Streichquartett
  • Gawriil Popow: Quartett-Symphonie c-Moll op. 61

QBT Collection, QBT 001; EAN: 0 048544 807747

Es gibt Konzerte, die man nicht vergisst, Konzerte, in denen man als Zuhörer einer solch überragenden künstlerischen Leistung teilhaftig wird, dass das Erklungene als ein beständiges Echo im Gedächtnis nachklingt. Der Kammermusikabend, den das Quartet Berlin-Tokyo am 12. Juni 2022 im Berliner Konzerthaus gegeben hat, war ein solches Konzert. Das Quartett – Tsuyoshi Moriya und Dimitri Pavlov an den Violinen, Gregor Hrabar an der Bratsche und Ruiko Matsumoto am Violoncello – präsentierte ein von echtem Entdeckerspürsinn zeugendes Programm, dem kein besonderer Titel beigegeben war, durch das sich jedoch erkennbar ein roter Faden zog. Alle hier zusammengebrachten Werke sind nicht in Hinblick auf die Öffentlichkeit entstanden, sondern dokumentieren den Zustand einer (freiwilligen oder erzwungenen) Zurückgezogenheit. Es handelt sich, um es mit einem Werktitel des hier nicht vertretenen Jean Sibelius zu sagen, um „Voces intimae“.

Der Ost-Berliner Kurt Hauschild (1933–2022) schrieb sein Fünftes Streichquartett, wie alle seine zu DDR-Zeiten komponierten Werke, abseits des öffentlichen Musikbetriebs. Ludwig van Beethoven betrachtete sein Quartett op. 95 als ein so privates Dokument, dass er es zunächst nur engsten Freunden zeigte und sich erst nach sechs Jahren zur Veröffentlichung entschließen konnte. Die Stücke aus Boris Yoffes (*1968) Quartettbuch sind musikalische Tagebuchaufzeichnungen im wahrsten Sinn des Wortes. Gawriil Popows (1904–1972) Quartett-Symphonie op. 61 entstand zu einer Zeit, als die Lenker der sowjetischen Kulturpolitik dem ehemals sehr erfolgreichen Komponisten längst nur noch der Rang einer Randfigur des Musiklebens zugestanden.

Vier unterschiedliche Geisteswelten hat das Quartet Berlin-Tokyo in diesem Konzert durchschritten. In jedem Falle bewundern muss man die Meisterschaft der vier Instrumentalisten im kammermusikalischen Zusammenspiel. Wir haben es hier mit einem Ensemble zu tun, in dem ausnahmslos alle Mitglieder vortreffliche Musiker sind. Keines steht hinter den übrigen zurück, keines spielt sich zu Ungunsten der anderen in den Vordergrund. Im Gegenteil: Jede Stimme ist ein ausgeprägter Charakter, der, wenn der Komponist es verlangt, die Führung übernehmen kann – aber noch bemerkenswerter erscheint, wie gut sie alle aufeinander hören. Die Vier lassen einander Raum zum Atmen, dann spornen sie sich wieder gegenseitig zu Höchstleistungen an. Man hört einen auf allen Ebenen gleichermaßen kräftig und prägnant durchgebildeten Quartettklang.

Bei zeitgenössischer Musik muss man sich heutzutage bekanntlich auf einiges gefasst machen, doch ist dem Ensemble mit Kurt Hauschilds Streichquartett Nr. 5 tatsächlich eine Überraschung gelungen. Hauschild, der im Brotberuf als Mathematiker arbeitete und seine Kompositionen erst nach 1989 öffentlich spielen ließ, suchte nämlich zum Komponieren das Rokoko als geistiges Refugium auf und schrieb Musik, als wäre seit den Tagen Joseph Haydns keine Zeit vergangen. „Ja, darf man denn das?“, hat sich vielleicht der eine oder andere Zuhörer gefragt. Ja, natürlich darf man – namentlich, wenn man sich so gut in den Stil dieser Epoche eingelebt hat und im sicher beherrschten Quartettsatz ansprechende Gedanken so gewandt verarbeiten kann, wie Hauschild dies vermochte. Die Mandolinenimitationen des Finales zeugen zudem von einem an Haydn gemahnenden Humor. Ich habe beim Anhören dieses Werkes an den trefflichen Weimarer Komponisten und Pädagogen Reinhard Wolschina denken müssen, dessen Musik freilich ganz anders klingt, der aber seine Schüler zu fragen pflegt, ob die Musik, die sie schreiben, auch die Musik ist, die sie selbst hören wollen. Kurt Hauschild hat offenbar Musik geschrieben, die er selbst hören wollte. Wer möchte es ihm verübeln? Dass sich das Quartet Berlin-Tokyo dem Werk mit hörbarem Vergnügen gewidmet hat, ist jedenfalls als ein Glücksfall für den Komponisten zu bezeichnen, und man kann nur bedauern, dass er das Konzert nicht mehr erleben konnte.

In Beethovens f-Moll-Werk op. 95 zeugten namentlich die kantablen Stellen von der Sorgfalt, mit der das Quartett zu Werke geht. So gelang im dritten Satz der Kontrastabschnitt sehr schön. Man hörte hier einen wirklichen „Chorgesang“ der drei Unterstimmen, den der Primgeiger dezent mit Achtelfigurationen zu begleiten verstand. Auch der langsame Satz mit seinen längeren fugierten Abschnitten befand sich in guten, polyphonieerprobten Händen. Im Übrigen zeichneten die Musiker das Bild eines heftigen, cholerischen, zwischen Extremen hin- und hergerissenen Beethoven. Die Hauptthemen des ersten und dritten Satzes wurden betont scharfkantig artikuliert. Das Finale war deutlich mehr Agitato als Allegretto. Auch den Kopfsatz hörte man in rasantem Tempo. Geschah dies, wie es in jüngerer Zeit zur Mode geworden zu sein scheint, unter dem Eindruck der nachträglich vom Komponisten hinzugefügten, in ihrer Aussagekraft fraglichen Metronomisierungen? Freilich ist es eine Leistung, in solch hoher Geschwindigkeit so sauber zu spielen, wie es das Quartett tat, doch zeigte sich an einzelnen Stellen die Problematik des Geschwindigkeitsrauschs. So gelang es den Musikern weder in der Exposition, noch in der Reprise des Kopfsatzes die Überleitung zum Seitenthema schlüssig darzustellen: Das abrupte Bremsen wirkte seltsam unentschieden.

Die fünf Stücke aus Boris Yoffes Quartettbuch bildeten das ruhige Intermezzo des Abends. Yoffe, der sich mit seinem 2014 erschienenen Buch Im Fluss des Symphonischen den Ruf eines vorzüglichen Kenners sowjetischer Symphonik erworben hat, konzentriert sich als Komponist auf kleine Formen. Im Falle der Quartettstücke kann man durchaus sagen: kleinste Formen, denn die im Konzert erklungenen dauern zusammengenommen nur rund fünf Minuten. Das Quartettbuch ist anscheinend ein veritables Tagebuch, das täglich um ein neues Stück wächst. Die vom Quartett ausgewählten Nummern Bell, Sunshine, Rain, Far und Visit machten den Eindruck, als hätten den Komponisten beim Verfassen derselben mehr oder weniger die gleichen Gedanken beherrscht. Sie sind alle karg, leise, langsam und im Hinblick auf die Harmonik nicht sonderlich dissonant, und man fragt sich, ob eine andere Auswahl vom Komponisten Boris Yoffe vielleicht einen umfassenderen Eindruck geliefert hätte.

Eindeutig der Höhepunkt des Abends war die Aufführung des einzigen Streichquartetts von Gawriil Popow, dem der Autor den Titel Quartett-Symphonie gab. Popow hatte in den 1920er Jahren seine Laufbahn erfolgversprechend begonnen: Er galt als einer der begabtesten Komponisten der jungen Sowjetunion, und seine Frühwerke sorgten für ein vergleichbares Aufsehen wie diejenigen seines Freundes Dmitrij Schostakowitsch. Diese Phase seines Schaffens gipfelte in der Ersten Symphonie, einem ungeheuer ausdrucksstarken, düster gestimmten Werk in hochgradig dissonanter Harmonik, das sich seit seiner Wiederentdeckung vor einigen Jahren berechtigter Wertschätzung als eines Höhepunkts des sowjetischen „Futurismus“ in der Musik erfreut. Nach seiner Uraufführung 1935 wurde das Werk von der Leningrader Zensur als Ausdruck „der Ideologie uns feindlich gesinnter Klassen“ verboten – ein Vorbeben des großen Scherbengerichts, das von der Partei 1936 anlässlich von Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk veranstaltet wurde. Über Popows späteres Schaffen hat sich eine Legende gebildet, derzufolge ein genialer Komponist durch die stalinistische Kulturpolitik einerseits, durch Alkoholismus anderseits künstlerisch zerstört worden sei. In beiden Punkten wurden Tatsachen zu Ungunsten Popows überspitzt. In der Tat war die Verurteilung durch die Kommunistische Partei ein Gewaltakt, der den Komponisten schwer traf. Popow komponierte danach nicht mehr so wie zuvor. Er wurde von Seiten der Musikfunktionäre argwöhnisch beobachtet, und konnte im Konzertsaal nie wieder an seine früheren Erfolge anknüpfen. Allerdings muss Behauptungen, er sei ein Konformist geworden, der sein Talent letztlich im Alkohol ertränkt habe, entschieden entgegengetreten werden. Popow mag in späteren Jahren dem Trunk verfallen sein, doch hatte dies offensichtlich keine spürbaren Auswirkungen auf seine Schaffenskraft. Man kann nicht einmal sagen, seine Produktivität habe in quantitativer Hinsicht darunter gelitten: Ein kurzer Blick in die im Netz verfügbaren Werkverzeichnisse (deutsche, englische, russische Wikipedia) zeigt, dass er bis an sein Lebensende kontinuierlich komponierte. Und die Qualität? Wurde der geniale Modernist zu einem linientreuen Verfertiger staatstragender Propaganda? Ein hübsches Beispiel, wie durch – hier sicherlich unbeabsichtigte – Verdrehungen von Daten Erzählungen fabriziert werden, welche suggerieren, dergleichen sei der Fall gewesen, bietet ein Text des US-amerikanischen Kritikers Alex Ross, in welchem es heißt: „Popov, exploding with talent but lacking that eerie detachment from his creative self, collapsed under the outward pressure. He felt obligated to produce programmatic Socialist-Realistic pieces on a regular basis (Komsomol Is The Chief of Electrification).“ Ein Blick ins Werkverzeichnis verrät, dass die genannte Filmmusik-Suite aus dem Jahre 1931 stammt! Popow ist bei weitem nicht der einzige sowjetische Komponist gewesen, der seinen Lebensunterhalt wesentlich durch Filmmusik bestritt – vor wie nach seiner Verdammung. Immer noch in Russland populär ist sein Lied Schwarzer Rabe aus der Musik zum Film Tschapajew (1934). Nun finden sich unter Popows Werken auch „vaterländische“, „heroische“ und „festliche“ Kompositionen (die Zweite, Dritte und Sechste Symphonie heißen explizit so), aber dieser Umstand sollte niemanden überraschen, der einigermaßen mit der Musikgeschichte der Sowjetunion – und speziell mit den Werkverzeichnissen von Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan – vertraut ist. Hört man die besagten Symphonien Popows, so kommt man nicht umhin, festzustellen, dass der Komponist zwar seine Harmonik etwas entschärft hat, aber handwerklich virtuos in einem ausgeprägten Personalstil schreibt, in welchem sich auffallend viele Charakterzüge aus seiner Frühzeit erhalten haben. Als Orchesterkomponisten reizte es ihn offensichtlich, „kammermusikalisch“ zu schreiben und reduzierte Besetzungen zu verwenden. So ist seine Dritte Symphonie ein reines Streichorchesterwerk, und die Sechste enthält zahlreiche Passagen nur für Bläser (Nr. 4 ist gar für A-cappella-Chor geschrieben!). Anderseits hatte Popow eine Vorliebe für Kammermusik, die sich an der Grenze zum Orchestralen bewegt. So finden sich unter seinen Werken ein Oktett, ein Septett, das ausdrücklich als Kammersymphonie bezeichnet ist, und ein Quintett für Flöte, Klarinette, Trompete, Violoncello und Kontrabass.

Verwundert es vor diesem Hintergrund noch, dass er sein 1951 komponiertes Streichquartett op. 61 als Quartett-Symphonie konzipierte? Popow schreibt hier tatsächlich Klänge, die den Eindruck erwecken, kein Solistenensemble, sondern ein Orchester aus vier Streichern vor sich zu haben. Auch hinsichtlich der Spieldauer strebt das viersätzige Werk in symphonische Weiten. Die Aufführung nimmt beinahe eine Stunde in Anspruch, von welcher der erste Satz allein bereits 25 Minuten dauert. Stilistisch komponiert Popow hier ebenso eigen wie in seinen Symphonien. Er ist wiederholt mit Schostakowitsch verglichen worden, doch haben beide Komponisten – abgesehen von der Tatsache, dass sie der gleichen Generation angehören, der gleichen Tradition entstammen und ihre Biographien Parallelen aufweisen – letztlich nicht allzu viel miteinander gemeinsam. Ihre Musik zeigt, wie unterschiedlich Künstler auf vergleichbare Situationen reagieren können. Schostakowitsch erscheint als das Urbild eines psychologisierenden Komponisten. In seiner Musik zeichnet er bestimmte psychische Zustände in Tönen nach. Wenn er davon spricht, seine Fünfte Symphonie thematisiere „das Werden der Persönlichkeit“, so ist das keineswegs nur eine Phrase im Sinne der staatlichen Kulturdoktrin. Seine Musik handelt von den Empfindungen des Menschen in der Gesellschaft. Popow erscheint dagegen als ein musikalischer Landschaftsmaler. Eine Pastorale Symphonie von Schostakowitsch erscheint schwer vorstellbar. Popow hat eine solche mit seiner Fünften vorgelegt („eine wunderbare Welt der Natur ohne Menschen“ nennt sie Boris Yoffe treffend), und bereits seine Zweite, die Vaterländische, lässt sich als in Tönen geschaffene Landschaft bezeichnen.

Auch die „Symphonie“ für Streichquartett enthält viel „Landschaftliches“, „Naturfrommes“, das man bei Schostakowitsch so kaum finden wird. Im Kopfsatz hat Popow einen allmählichen Beruhigungsprozess auskomponiert: Von der Hektik des Anfangs, die tatsächlich etwas an Schostakowitsch gemahnt (dessen ein Jahr später entstandenes Fünftes Quartett recht ähnlich beginnt), gelangt die Musik in mehreren Stufen (die den Stationen der Sonatenform entsprechen) zur Gelassenheit der letzten Minuten des Satzes. An zweiter Stelle folgt ein kürzeres Stück, das in etwa die Waage zwischen einem Elfenspuk-Scherzo und einem elegischen Walzer hält. Der langsame dritte Satz beginnt mit einer verhaltenen Melodie, in welche, beinahe wie Lockrufe, Volksliedintonationen hineinklingen. Der Satz wird im Folgenden immer lebhafter und tänzerischer, kehrt dann zur Stimmung des Anfangs zurück, schließt aber mit einer feierlichen Coda. Das Finale, das anders als die übrigen Sätze von Anfang an in Dur steht, ist mit „Allegro giocoso“ überschrieben, beginnt aber introvertiert und sehr kantabel und nimmt erst nach und nach energischen Charakter an. Der letzte Abschnitt des Satzes, nach dem langsamen Mittelteil, ist eine einzige große Steigerung über mehr als fünf Minuten und bezieht auch Themen früherer Sätze ein – ein Triumph des Symphonikers Gawriil Popow!

Das Quartet Berlin-Tokyo wurde auf dieses Werk durch Boris Yoffe aufmerksam gemacht, der in seinem oben erwähnten Buch Popow ausführlich würdigt. Die Quartett-Symphonie wurde in der für sowjetische Komponisten im Allgemeinen schweren Zeit zwischen dem zweiten großen Scherbengericht (1948) und Stalins Tod (1953) komponiert. Zwar konnte Popow erreichen, dass das Werk bereits kurz nach seiner Vollendung uraufgeführt wurde, doch teilte es anschließend das Schicksal vieler anderer Kompositionen seines Autors und blieb jahrzehntelang unbeachtet – bis zur Ersteinspielung auf CD durch das Quartet Berlin-Tokyo, auf welche aufmerksam zu machen der Zweck des Konzerts im Berliner Konzerthaus war. Die Musiker haben sich während der von den Covid-19-Restriktionen geprägten Monate, als zwar Proben, aber keine Konzerte möglich waren, aufs Intensivste mit dem Stück auseinandergesetzt, es immer wieder gespielt, Aufnahmen davon gemacht und kritisch abgehört, sodass sie es sich schließlich voll und ganz zu eigen gemacht haben. Sie spielten das Werk, das gewiss nicht einfach zu meistern ist, mit einer Selbstverständlichkeit und erhabenen Leichtigkeit, die Staunen machte. Man hatte nicht mehr den Eindruck, als würden da mit Bögen und Fingern den Streichinstrumenten Töne abgewonnen: die Musik entstand im Hier und Jetzt wie von allein und entfaltete sich unaufhaltsam vom Anfang ausgehend in weitem Bogen hin zum Schluss. Wer an diesem Abend im Konzerthaus anwesend war, wurde einer großen Aufführung teilhaftig, wie man sie wahrlich nicht alle Tage erlebt! Glücklich das vergessene Werk, das so aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst wird!

Das Quartet Berlin-Tokyo hinterließ übrigens nicht nur musikalisch einen hervorragenden Eindruck, sondern wirkte auch menschlich durch seine Kommunikation mit dem Publikum sympathisch. Bratschist Gregor Hrabar trat vor jeder Nummer des Programms nach vorn und sprach ein paar einleitende Worte zum jeweiligen Werk und zur Beziehung, die das Quartett zu ihm aufgebaut hat. Am Schluss gab es als Zugaben zwei kurze Stücke von Erwin Schulhoff und Alexander Glasunow (Orientale aus den Novelletten op. 15). Ersteres gehörte zu Schulhoffs Fünf Stücken für Streichquartett, die das Quartett auf der gleichen CD eingespielt hat wie Popows op. 61, und dies ebenso meisterlich, mit ebensolcher Hingabe. Die CD ist eine Eigenproduktion des Ensembles und unter dem Label „QBT Collection“ erschienen. Ausdrücklich sei hier auf sie hingewiesen, und damit der Wunsch verbunden, dass das Quartet Berlin-Tokyo die Musikwelt mit weiteren so gelungenen Aufführungen und Aufnahmen beehren möge.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]