Robin Hood bei den Zisterziensern: Innsbrucks geheimer GMD mit historisch signifikanten Premièren

Das Orchester der Akademie St. Blasius spielte unter der Leitung von Karlheinz Siessl im Zisterzienserstift Stams die Uraufführung von Elias Praxmarers Orgelkonzert Die Heilige Stadt (Solist: der Komponist) sowie die Tiroler Erstaufführungen der Musik für Orchester von Rudi Stephan und der Symphonie Nr. 2 von Alfredo Casella.

In Deutschland wüsste ich derzeit keinen Dirigenten, der sich unter derart unwägbaren finanziellen Bedingungen und entsprechend knapp bemessenen Einstudierungszeiten das traut, was Karlheinz Siessl mit seinem freiberuflichen Orchester der Akademie St. Blasius in Innsbruck nun schon seit weit mehr als einem Jahrzehnt unbeirrbar verfolgt. Ich habe Siessls Wirken kennengelernt, als er – auf Initiative von Peter Kislinger und in Anwesenheit des Komponisten – die musikalisch hoch anspruchsvolle Sinfonia per archi von Anders Eliasson zur mitteleuropäischen Erstaufführung brachte. Seither bewundere ich die unersättliche Erkundungslust, getragen von solidem Kapellmeisterhandwerk und immer offenen Ohren für alle historischen und aktuellen Phänomene des Dirigierens, mit welcher Siessl regelmäßig Unbekanntes, Vergessenes und vor allem sehr viel ganz Neues ganz ohne ideologische Scheuklappen einem treuen und mittlerweile längst auch genau das von ihm erwartenden Publikum in der tirolischen Landeshauptstadt und im Tiroler Umland präsentiert, darunter bereits drei der vertrackten Solokonzerte des herausragenden lebenden finnischen Komponisten Kalevi Aho und die stets eigentümliche und urwüchsig querständige Musik seines Landsmanns Michael F. P. Huber. Mit Karlheinz Siessl hat Innsbruck seinen essenziellen Pfeiler wider das träge musikalische Establishment, und nicht ohne Grund genießt er unter seinen Orchestermusikern und weiteren Anhängern eine Art Heldenstatus, so als eine Art Robin Hood der Komponisten.

Diesmal lud die Akademie St.Blasius zum Festkonzert am 19. Juli in die prachtvoll renovierte Basilica minor im Zisterzienserstift Stams im Oberinntal. Trotz oder wegen des widrigen Wetters war das Publikum zahlreich erschienen, und nach knapp zwei Stunden Musik ohne Pause herrschte spürbar eine allgemeine Atmosphäre des ehrfürchtigen Staunens und heiterer Erfülltheit.

Zu Beginn erklang als Uraufführungsheimspiel ein Concertino für Orgel und Streicher von Elias Praxmarer, dem Stiftsorganisten von Stams, das Die Heilige Stadt in der Johannes-Offenbarung in Tönen zu malen beabsichtigte. Ein orthodox dreisätzig gegliedertes Werk im Windschatten des offenkundig verehrten Olivier Messiaen, eine ganz unverhohlene Huldigung an den französischen Kultkomponisten einer Majorität heutiger Organisten. Um ungestört Synchronisation zu erreichen, befand sich das Streichorchester mit Dirigent oben bei der Orgel, außerhalb des Sichtbereichs des Publikums, das dem Solisten auf einem großen Bildschirm auf die Finger schauen, Kontrabässe besichtigen und gelegentlich von der Seite einen Blick auf die Gestik des Dirigenten erhaschen durfte.

Dann kamen die Musiker nach unten, und das eigentliche Konzert begann. Siessl hatte es gewagt, zwei herausfordernde Werke für großes Orchester aufs Programm zu setzen, die leider fast nie zu hören sind und innerhalb von fünf Jahren entstanden. Dies war für einige Zuhörer Grund genug, hunderte Kilometer weit nach Stams zu pilgern.

Zunächst erklang als äußerst überfällige Tiroler Première das orchestrale Hauptwerk von Rudi Stephan (1887–1915), dem viel zu jung an der galizischen Ostfront gefallenen Wormser Meister, der seinerzeit als die „große Hoffnung der deutschen Musik“ betrauert wurde. Seine Musik für Orchester (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, weit umfangreicheren ersten Musik für Orchester, aus der dieses endgültige Werk hervorging) ist 1912 entstanden und bildet einen absoluten Gipfelpunkt des frühen Expressionismus. Es muss nicht gesagt werden, dass Stephan als 25jähriger bereits sein Handwerk vollendet beherrschte und zu einer unverkennbar eigenen Tonsprache gefunden hatte; dass die einsätzig kompakte Komposition zwei extrem kontrastierende Welten – die eine schicksalhaft dunkel lastend und sehr breit, die andere dramatisch gezackt, auffahrend und sehr rasch – in immer wieder übergangslos aneinandergeschnittenem Wechsel gegeneinander agieren lässt, bis eine Art lakonische Euphorie dem wild sich aufbäumenden Geschehen ein rasches Ende bereitet. Die Aufführung bestach mit identifikatorischer Kraft und dem Willen zu sachlich gebändigter Expressivität. Lediglich bezüglich der Temporelationen gab es einige pragmatisch nachvollziehbare, jedoch rein musikalisch einigermaßen willkürliche Entscheidungen des Dirigenten.

Dies gilt auch für das abschließende Werk, fiel hier, in den weiten Gefilden der ausufernden Form, jedoch naturgemäß nicht so offenkundig ins Gewicht. Alfredo Casellas 1908–09 in Paris entstandene und unumwunden Gustav Mahler huldigende Zweite Symphonie, ein recht gigantisch dimensioniertes Opus ultimum eines 25jährigen, der bereits die Kunst der Orchestration in einer schwindelerregenden Vollendung beherrschte, die seine russischen Vorbilder gerne vergessen lässt, führt uns in vier Sätzen ein bombastisch imponierendes Panorama der Ausdrucksvielfalt und ins Extrem gesteigerten Klangpracht des großen Orchesterapparats vor. Zum Schluss tritt schließlich auch noch die große Orgel hinzu und verwandelt, zusammen mit vor allem dem massiven Blech und dem luxuriös betrauten Schlagzeug, den hohen Raum in ein panharmonisch tosendes Universum. Man muss nun hervorheben, dass für die Aufführenden vor den Kirchenbänken eigentlich viel zu wenig Platz ist; dass deshalb das Orchester maximal in die ersatzweise verfügbare Breite gezerrt werden musste, dass es dadurch sehr schwierig war, Holzbläser und Blechbläser, die sich gegenseitig niemals rechtzeitig hätten hören können, in Abstimmung zu halten (das einzige, was hier zusammenhält, ist die glücklicherweise sehr ökonomische und entschiedene Zeichengebung Siessls, der man anmerkt, dass er mit seiner stürmischen Truppe schon so manches Wagnis bestanden hat); dass die Raumakustik ab einer bestimmten Massierung der Klanggewalten keine Transparenz mehr ermöglicht und auch der überschattende Nachhalleffekt nicht gering ist; dass angesichts der großen Bläserbesetzung – aus Kosten- und Raumgründen – eigentlich viel zu wenige Streichinstrumente mitwirkten, die überdies in der heute in Mode gekommenen Aufstellung mit auf rechts und links verteilten ersten und zweiten Geigen die Struktur eher zerstreuend abbilden; dass also die Bedingungen für eine erfolgreiche Aufführungen äußerst riskant und schwierig waren. All dessen eingedenk, ist Siessl und seinem Orchester ein exzellentes Gelingen einer heroischen Tat zu bescheinigen, und man darf annehmen, dass fast alle Anwesenden sehr berührt von dem gewaltigen Werk waren und sich über eine baldige Wiederbegegnung mit demselben freuen würden – obwohl Casella auch in diesem Werk, einem seiner besten und substanziellsten, nicht durchgehend edelste Erfindung und geistige Tiefe offenbart, jedoch stets hypnotische Klangwirkungen und zündendes Musikantentum, zugleich auch klar orientierende Formgebung mit unmissverständlicher Dramaturgie des großen Aufbaus. Es spricht also überhaupt nichts dagegen, dass sich in Österreich – oder überhaupt im deutschsprachigen Raum und natürlich auch in Italien und Frankreich – bald Nachahmer finden, gerne auch im Bereich der sogenannten Toporchester, die sich auf dieses monumentale Spektakel einlassen. Ganz besonders gelungen sind das Scherzo und der langsame Satz, doch auch der Kopfsatz ist mit vollendetem Aufbau und glänzender Erfindung gesegnet, und lediglich im Finale mag sich die Frage stellen, die ja auch Mahler regelmäßig zu stellen ist: Hält es letzten Endes wirklich zusammen? Um diese zu beantworten, wären weitere Aufführungen nach dieser so verdienstvollen späten österreichischen Erstaufführung die besten Gelegenheiten. Fürs Orchester und für die Zuhörer ist es jedenfalls ganz besonders dankbare Musik, die mit Ovationen gefeiert wurde. Und Innsbruck darf dann irgendwann getrost Karlheinz Siessl ein Denkmal errichten, tut er doch mehr für die Sache der Musik und dies nachhaltiger als jeder Generalmusikdirektor und andere offiziell bestallte Würdenträger von Land und Landeshauptstadt. Mut und Interesse an der Musik hat er ohnehin mehr als alle anderen.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Große Welt im kleinen Dorf: Das Quatuor Arod mit Attahirs „Al Asr“ in Feldafing

Was soll man dazu sagen? Die kulturelle Asymmetrie ist frappierend: Wo die Geldbeutel noch einigermaßen voll sind (soweit das bei den heutigen Zuständen noch zutrifft), wird entweder eingehegt lobbyistisch organisierte Nischenkultur gepflegt (musica viva usw.) oder überwiegend ein vermeintlicher Mehrheitsgeschmack mit PR-gestütztem Mainstream versorgt.

Feldafing ist ein kleines, äußerst beschauliches Dorf – mit einer Anmutung wie ein Städtchen von langer Tradition – am Starnberger See. Seit vielen Jahren finden dort im Juli die Musiktage Feldafing statt, derzeit unter der künstlerischen Leitung der Geigerin Franziska Hölscher und des mittlerweile weltbekannten Pianisten Kit Armstrong. Für das diesjährige Eröffnungskonzert haben sie sich mit dem französischen Quatuor Arod das überragende Streichquartett unserer Zeit an die Seite geholt, mit einem rein französischen Programm. Das Quatuor Arod hat zuletzt mit einem phänomenalen Album der Quartette von Debussy und Ravel sowie des Quartetts Al Asr von Benjamin Attahir (erschienen bei Erato/Warner Classics) die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Nie zuvor habe ich beispielsweise die Mittelsätze von Ravel und Debussy so großartig musiziert gehört (eine unbedingte Empfehlung für jeden Interessierten!).

Diesmal brachten sie das Quartett von Attahir mit. Davor spielten Franziska Hölscher, Cellist Jérémy Garbarg und Kit Armstrong als Continuo das erste Concert Royal von François Couperin – eine elegante, freundlich kurzweilige Eröffnung. Dann Attahir: keine Beschreibung wird hinreichen, um die Größe und Intensität dieser Musik zu charakterisieren. Unverkennbar ein Werk des neuen Jahrtausends, ist es – zumindest in der unüberfrefflichen Aufführung des Quatuor Arod – von absolut bezwingendem Zusammenhang in einem einzigen großen, die stark kontrastierenden Abschnitte überspannenden Bogen. Schon früh wird jenes markante Motiv eingeführt, welches dann die gewaltige Schlussfuge bestimmt. Seit dem späten Beethoven hat niemand eine so revolutionäre, unaufhaltsam über Stock und Stein jagende Fuge geschrieben, die zugleich absolut frei und trotzdem eine wirkliche Fuge ist.

Diese Musik ist nicht nur von physisch spürbarer Sprengkraft, extremer Spannung und Dichte, sondern auch ein fortwährend unvorhersehbares Abenteuer, dabei aber unbeirrbar zusammenhängend geformt. Im weitesten Sinne ist sie ‚freitonal‘, das heißt stets im Spannungsbezug erlebbar um harmonische Zentren herum aufgebaut und sich kontinuierlich entwickelnd; in konventionellem Kritikersprech freilich würde dies als ‚atonal‘ bezeichnet, was nur der Beweis wäre, dass man das Wesentliche nicht hört. Ich kenne jedenfalls keinen Komponisten der jüngeren Generationen heute, der auch nur entfernt die Größe erreicht, die für Benjamin Attahir den Ausgangspunkt seines Schaffens bildet, in welchem (wohl auch, obwohl in Toulouse geboren, auf seine marokkanisch-libanesische Herkunft zurückweisend) Einflüsse arabischer Musik erkennbar sind, jedoch niemals klischeehaft oder einengend. Ein Genie, mit einem Wort, und auf Augenhöhe serviert. Man muss sich denn auch nicht wundern, dass das gänzlich ‚undressierte‘, unvoreingenommene Publikum mit überbordender Begeisterung reagierte.

Danach spielte das Quartett zusammen mit Kit Armstrong das recht selten im Konzert zu hörende, wunderbare 1. Klavierquintett von Gabriel Fauré, ein sowohl abgeklärtes als auch leidenschaftliches Spätwerk. Die eigentlich makellose Aufführung litt lediglich unter den deutlich zu raschen Tempi, die der Pianist in allen drei Sätzen anschlug und durchzog. Diese Entscheidung liegt bei solch spontaner Zusammenkunft klar bei ihm, und er spielte mit edler Klangkultur und klarer Struktur, wie gewünscht ‚harfengleich‘, und mit durch nichts ablenkbarem Fokus.

Dann folgte das 1890-91 entstandene Concert für Violine, Klavier und Streichquartett von Ernest Chausson, das große Meisterwerk seiner wenig Konkurrenz bietenden Gattung – eine Musik von so überbordend ekstatischer Leidenschaftlichkeit in vier glanzvollen, auch dem Tragischen und Melancholischen und sowieso dem Stürmischen immensen Raum gebenden Sätzen, dass mir als beste Kurzcharakterisierung erscheint: Sie ist das historische Bindeglied zwischen Wagners Tristan und Scriabins Poème de l’extase, ein Stück Bekenntnismusik ohnegleichen, nicht nur in der französischen Literatur ohne Pendant. Wie schade, dass Chausson 1899 mit gerade einmal 44 Jahren einem Unfall zum Opfer fiel!

In diesem hochkarätigen Monumentalwerk, das auch klanglich die Besetzung maximal ausschöpft, durften alle Beteiligten glänzen und sich ihres Musikerschicksals erfreuen. Und welch ein Luxus es ist, als Solisten von einem solchen Streichquartett sekundiert zu werden, kann sich jeder denken.

Wunderschön dann die Zugabe: Faurés früher, in seiner gemütvollen Versonnenheit erstaunlich Brahms-naher Cantique de Jean Racine, das Gesangsquartett schlicht aufs Streichquartett übertragen und getragen von Kit Armstrongs Klaviergewebe – hier auch tempomäßig ideal. Ein sensationelles Konzert hinsichtlich Programm und Ausführung, für dessen Abwesenheit sich die ‚Weltstadt‘ München schämen und auf dessen Ausrichtung das kleine Feldafing stolz sein darf, zumal die kleine, wunderschöne Alte Pfarrkirche St. Peter und Paul ein idealer akustischer und optischer Rahmen ist.

[Christoph Schlüren, Juli 2025]

Richard-Strauss-Tage 2025 [1]: Bläsermusik und Liebeslieder

Wie in den vergangenen Jahren boten die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen auch 2025 ein Programm, das man ob seiner Reichhaltigkeit nur loben kann. Verschiedene Schwerpunkte ließen sich erkennen. So fiel auf, dass der Großteil der dargebotenen Werke von Richard Strauss entweder seiner frühesten oder seiner spätesten Schaffensperiode angehörte. Bläsermusik war auffallend präsent, wobei die beiden Sonatinen für 16 Bläser, die Strauss in den 1940er Jahren komponierte (und die ihrem Diminutivtitel zum Trotz ziemlich umfangreiche Werke sind), in einen größeren musikgeschichtlichen Kontext gestellt wurden. Das zweite Symphoniekonzert stand ganz im Zeichen Italiens, dem auch in einem Liederabend und einer musikalischen Lesung ausgiebig gehuldigt wurde. Außerdem wurden in zwei Kammerkonzerten Werke des Komponisten Franz Mikorey (1873–1947) zu neuem Leben erweckt, der zur gleichen Zeit wie Strauss in Garmisch-Partenkirchen wohnte. Der Verfasser dieser Zeilen hätte gern diesen beiden Konzerten, wie auch anderen Veranstaltungen in der ersten Hälfte des einwöchigen Musikfestes, beigewohnt, musste sich aus terminlichen Gründen aber auf die folgenden Konzerte vom 26. bis 28. Juni beschränken:

26. Juni: Kammerkonzert III (Werke von Richard Strauss und Richard Wagner), Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr, Major Rudolf Piehlmayer

27. Juni: Liederabend (Werke von Richard Strauss und Hugo Wolf), Chelsea Zurflüh (Sopran), Gerrit Illenberger (Bariton), Gerold Huber (Klavier)

28. Juni: Sinfoniekonzert II (Werke von Richard Strauss und Felix Mendelssohn Bartholdy), Joo-Anne Bitter (Sopran), Münchner Rundfunkorchester, Rémy Ballot

Der Auftritt des Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr war als „Kammerkonzert“ ausgewiesen, da als Hauptwerk des Abends Straussens Bläsersonatine Nr. 2, die Fröhliche Werkstatt, fungierte. Auch der anschließende Feierliche Einzug der Ritter des Johanniter-Ordens ist nicht für volles Blasorchester, sondern nur für Blechbläser und Pauken geschrieben. Bei den übrigen Stücken jedoch war das Musikkorps in seiner vollen Besetzung zu hören. Zu Beginn erklang der Festmarsch C-Dur, den Strauss 1888 für das Münchner Orchester Wilde Gungl komponierte, in einer Bearbeitung von Gottfried Veit. Am Ende des Programms standen der Einzug der Gäste aus Richard Wagners Tannhäuser, bearbeitet von Stephan Ametsbichler, und Gestatten Strauss, ein Werk des Garmisch-Partenkirchener Komponisten Friedrich Szepansky. Man fragt sich, was Richard Strauss, der bekanntlich ein Gegner von Potpourri-Arrangements war, zu letzterem Stück gesagt hätte. Es handelt sich nämlich um ein Potpourri, das sich aus Auszügen verschiedener Straussscher Kompositionen zusammensetzt, wobei der Bearbeiter eine Meisterschaft besonderer Art an den Tag legte: Szepansky hat keinen Takt eigener Musik hinzugefügt, sondern die Strauss-Exzerpte so ausgewählt, dass keines mit dem anderen in Konflikt gerät – angesichts des weiten Atems, der die originalen Kompositionen prägt, kein leichtes Unterfangen. Das Potpourri hebt an mit der Einleitung aus Also sprach Zarathustra, führt dann mittels des „Anstiegs“ aus der Alpensinfonie zum Hauptthema des Don Juan, dem sich (stark gekürzt) weitere Abschnitte des gleichen Werkes anschließen, und mündet in den Marsch aus Schlagobers, dessen klopfende Anfangstakte direkt aus den Schlusstakten des Don Juan hervorgehen.

Die Wiedergabe der Werke rief mir die Erinnerung an Berichte aus dem 19. Jahrhundert wach, als die Dirigenten der städtischen Musikvereine häufig die örtlichen Militärkapellen zu Konzerten heranzogen, weil man von diesen Ensembles überdurchschnittliche Leistungen erwarten konnte. Das Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr zeigte, dass Erwartungen dieser Art auch heute ihre Berechtigung haben. Mit Major Rudolf Piehlmayer verfügt es über einen feinsinnigen Dirigenten, der sich in den individuellen Charakter der jeweiligen Werke einzufühlen weiß, sodass bei einem vielseitigen Programm, wie es an diesem Abend geboten wurde, Abwechslung garantiert ist. Die anmutigen, oft verwinkelten polyphonen Spiele der Fröhlichen Werkstatt waren bei ihm in ebenso guten Händen wie die monumentale Schlichtheit des sich in weiten Bögen entfaltenden Johanniter-Einzugs. Er scheute sich durchaus nicht, seinen Musikern in der sehr effektvoll mit auf der Empore aufgestellten Fernfanfaren dargebotenen Tannhäuser-Festmusik eine gewisse Schmissigkeit zu entlocken, doch vermied er sorgsam jeden Eindruck undifferenzierten Lärmens. Die Disziplin des Orchesters, das zum größten Teil aus Militärangehörigen, aber auch einer Anzahl Zivilisten besteht, wurde gleich im eröffnenden Straussschen Festmarsch deutlich, der dynamisch fein abgestuft dargeboten wurde. Erst in den letzten Takten, wo es sehr wohl am Platze war, gestatte man sich als markante Schlussgeste ein donnerndes „Tschingbumm“. Nachdem mit den Schlagobers-Klängen das offizielle Programm zu Ende war, boten die Musiker als Zugabe eines ihrer Paradestücke, den Kaisermarsch. Als das Trio erreicht war, drehte sich der Dirigent zum Publikum, dirigierte mit über dem Kopf gehaltenen Taktstock weiter und sang gemeinsam mit der Mehrzahl des Orchesters, nur noch vom tiefen Blech begleitet, die Liedmelodie, wodurch deutlich wurde, dass das Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr auch als Chor zu überzeugen versteht.

Am Tag darauf gaben die Sopranistin Chelsea Zurflüh und der Bariton Gerrit Illenberger gemeinsam mit dem Pianisten Gerold Huber einen Strauss-Wolf-Liederabend. Dichterisch zusammengehalten wurde das Programm durch das Thema der Liebe, das sich durch sämtliche vorgetragene Gesänge zog. Die Lieder waren dabei geschickt angeordnet: Traten die Gesangsolisten in den 13 Strauss-Liedern der ersten Programmhälfte noch als gewöhnliche Vortragende getrennt voneinander auf, standen sie in der zweiten Hälfte gemeinsam auf der Bühne, um durch abwechselnden Vortrag von 18 Liedern aus Hugo Wolfs Italienischem Liederbuch in die Rollen eines Liebespaares zu schlüpfen. Der Strauss- und der Wolf-Teil waren also wie Vorspiel und Haupthandlung aufeinander bezogen. In den Strauss-Liedern stellten sich Chelsea Zurflüh und Gerrit Illenberger jeweils mit einem Block von mehreren Gesängen vor. Illenberger – ein Sänger mit einer ebenmäßig ausgebildeten Stimme, die auch in höheren Lagen ihre baritonale Färbung nicht einbüßt – wirkte dabei zunächst präsenter, weil ihm mit Liedern wie Ich trage meine Minne op. 32/1 und Ach weh, mir unglücklichem Mann op. 21/4 schlicht die zugkräftigeren Stücke zugeteilt waren, die die für Straussens Verhältnisse auffallend dezenten Mädchenblumen op. 22, mit denen Zurflüh den Abend eröffnet hatte, in den Schatten stellten. Im Gesamtzusammenhang jedoch erschien dieser Beginn letztlich sinnvoll, als sanfte Vorbereitung zu den viel leidenschaftlicheren, hocherotischen Brentano-Liedern aus op. 68, die die Sopranistin am Ende des ersten Teiles sang. Mit hörbarer Freude stürzte sie sich in die Koloraturen des abschließenden Amor und verlieh dem Lied einen sirenenhaft lockenden Tonfall.

Hatte sich bereits im ersten Teil sowohl bei Zurflüh, als auch bei Illenberger eine deutliche Begabung zur Textausdeutung namentlich dort gezeigt, wo sie in erzählenden Liedern wörtliche Rede handelnder Personen wiederzugeben hatten, so verstärkte sich das mimische Element im zweiten Teil deutlich. Die Auswahl aus Wolfs Italienischem Liederbuch war so zusammengestellt worden, dass jeweils ein Frauenlied und ein Männerlied einander abwechselten und sich eine Liebesgeschichte in Dialogform ergab. Der das Liederbuch durchziehende humoristische Grundton ließ die gestischen Interaktionen zwischen Sopran und Bariton, die teils stärker, teils dezenter, aber immer im Einklang mit der Stimmung der jeweiligen Lieder ausfielen, durchaus nicht fehl am Platze erscheinen.

Zurflüh und Illenberger konnten sich in jedem Moment des Abends auf ihren Klavierbegleiter Gerold Huber verlassen, der es verstand, zur Grundierung des Gesangs stets die richtige Atmosphäre zu schaffen. Huber ist ein grandioser musikalischer Kurzgeschichtenerzähler. Hellwach wechselt er den Tonfall, wie es die jeweilige Situation erfordert, ohne den Überblick über das Geschehen zu verliehen. Als besonders schönes Beispiel seiner Kunst sei das „Violin“-Nachspiel im Wolf-Lied Nr. XI genannt, in dem er karikierende Akzente und Tempoverzögerungen anbrachte, bevor er in den letzten Tönen, gleichsam von der Rollenfigur zurück zur Erzählerperspektive wechselnd, wieder in den zurückhaltenden Grundduktus des Liedes einbog und damit den Vorhang der kleinen Szene schloss.

(Zur Fortsetzung siehe hier.)

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Klaviertrios und Klavierstücke aus Anton Bruckners Schülerkreis

Gramola, 99295; EAN: 9003643992955

Das TONALi Trio und der Pianist Daniel Linton-France präsentieren Klaviertrios und Solostücke aus Anton Bruckners Schülerkreis. Das bei Gramola erschienene Album enthält Kompositionen von Mathilde Kralik von Meyrswalden, Paul Caro, Franz Marschner, Cyrill Hynais und Alfred Stross.

Anton Bruckners Leben wurde wesentlich durch seine Tätigkeit als Pädagoge bestimmt. Als Schulmeistersohn war ihm der Lehrerberuf sozusagen „in die Wiege gelegt“ worden, und er ging ihm jahrelang gewissenhaft nach. Erst mit 31 Jahren, als sich ihm die Möglichkeit bot, Domorganist in Linz zu werden, konnte er sich entschließen, die Laufbahn eines Berufsmusikers einzuschlagen. Als er 1868 in Wien die Nachfolge seines Lehrmeisters Simon Sechter antrat, war damit auch eine Rückkehr zum Lehrerdasein verbunden, nun allerdings in Form einer Konservatoriumsprofessur für Kontrapunkt und Generalbass, der sich später noch eine eigens für ihn eingerichtete Stelle als Lektor für Harmonielehre und Kontrapunkt an der Wiener Universität anschloss. Daneben erteilte Bruckner regelmäßig Privatunterricht. In den rund zweieinhalb Jahrzehnten als Musiklehrer in Wien gab er seine Kenntnisse an eine stattliche Anzahl von Schülern weiter, von denen nicht wenige später namhafte Persönlichkeiten des Musiklebens wurden.

Der heute wohl bekannteste Komponist unter den Schülern Bruckners dürfte allerdings ein Künstler sein, der zu Lebzeiten besonders stark unter Misserfolgen zu leiden hatte: Hans Rott. Nicht zuletzt wegen seiner Vorbildfunktion für Gustav Mahler, der selbst nicht bei Bruckner studiert hatte, ist Rotts Leben mittlerweile gut erforscht, sein Schaffen ausführlich auf Tonträgern dokumentiert. Bei den meisten anderen Bruckner-Schülern sieht es diesbezüglich wesentlich schlechter aus. So ist jede Initiative zu begrüßen, die dazu beiträgt, unsere Kenntnisse über diese Komponisten zu erweitern und zu vertiefen. Das Bruckner-Jubiläumsjahr 2024 hat einiges dazu beigetragen. Namentlich auf kammermusikalischem Gebiet gab es interessante CD-Veröffentlichungen.

In Bruckners eigenem Schaffen spielt Kammermusik nur eine untergeordnete Rolle. Wenn man von dem großartigen Streichquintett absieht, handelt es sich bei seinen wenigen Werken auf diesem Gebiet um Gelegenheits- oder Studienarbeiten, die er nicht für die Öffentlichkeit bestimmte. Unter seinen Schülern finden sich dagegen zahlreiche Komponisten, die die Kammermusik ausgiebig pflegten. Die ausgeprägte Fixierung ihres Lehrers auf die Gattung der Symphonie hat sich anscheinend auf keinen von ihnen vererbt. Dass es von Bruckner-Schülern manch ambitioniertes Instrumentalwerk in Gattungen gibt, denen sich Bruckner gar nicht gewidmet hat, belegt eindrucksvoll eine bei Gramola erschienene Doppel-CDs des TONALi Trios und des Pianisten Daniel Linton-France, auf denen sich drei Klaviertrios und zwei Werke für Solo-Klavier finden.

Das älteste der Trios stammt von Mathilde Kralik von Meyrswalden (1857–1944), einer Oberösterreicherin die seit 1876 bei Bruckner studiert und sich 1878 mit Gustav Mahler den 1. Preis beim Kompositionswettbewerb des Konservatoriums geteilt hatte. 1880 im Bösendorfer-Saal uraufgeführt, hat es die Wiener Musikkritik gehörig aufgemischt, wie mehrere im Beiheft ausführlich zitierte Rezensionen belegen. Das Thema, das die Herren von der Presse der jungen Komponistin in verschiedenen Variationen zu lesen gaben, lautete, es gehe in dem Werk, dem man Begabung nicht absprechen könne, „noch zu wüst und regellos zu“ – „Natürlichkeit und Einfachheit“ sei anzustreben. Die deutlichste Ablehnung kam von Max Kalbeck, einem der ärgsten Widersacher Bruckners, der meinte, Wagner und Liszt hätten dem Trio „ihren verhängnisvollsten Segen“ gegeben… Mit knapp eineinhalb Jahrhunderten Abstand wird man Kraliks Trio gewiss kein revolutionäres Neutönertum mehr attestieren, nicht einmal im Sinne Wagners und Liszts, deren Einfluss sich meines Erachtens in engen Grenzen hält. Aber die Keckheit, mit der die Komponistin ihren Gedanken Ausdruck verleiht, wirkt nach wie vor fesselnd. Äußerlich konventionell gehalten, enthalten die vier Sätze des F-Dur-Trios zahlreiche originelle Einzelheiten. Dem klassischem Ebenmaß, das ihre Kritiker einforderten, geht Kralik geradezu freudig aus dem Weg. Bereits in der Exposition des Kopfsatzes lässt sie die Musik durch geschickte Verwandlungen des Hauptmotivs und Wechsel der Satztechnik mehrfach plötzlich Haken schlagen. In den Ecksätzen, wie im harmonisch besonders reichen langsamen Satz, werden die Themen bei ihrer Verarbeitung in einer Weise verfremdet, die an ähnliche Prozeduren in den (erst Jahre später entstandenen) Symphonien Gustav Mahlers erinnert. Das rastlose Scherzo hat keinen eigenen Schluss, sondern geht direkt in das kräftig einher schreitende Finale über. Dass die Musik bei allem jugendlichen Drang nie weitschweifig wird, ist ein weiterer Vorzug dieses erfrischenden Werkes.

Viel klassizistischer gibt sich das sechs Jahre jüngere Trio in E-Dur des Schlesiers Paul Caro (1859–1914), der von 1880 bis 1885 bei Bruckner studierte und ihm nach Abschluss seiner Studien ein Exemplar dieses Werkes zueignete. Im Gegensatz zu Kralik setzt Caro auf innerlich einheitlich gestaltete, deutlich voneinander abgehobene Themengruppen und eine geradlinige Verarbeitung seiner Gedanken, die teils an die Wiener Klassiker gemahnen, teils von einer starken Neigung zur Folklore zeugen, namentlich zum Ländler. Caros Stärken liegen, abgesehen von seinem grundsoliden kontrapunktischen Handwerk und seiner vornehmen Melodik, vor allem im Klanglichen: Im Adagio, mit gut 10 Minuten der bei weitem längste Satz des knapp halbstündigen Werkes, erzeugt er mit den drei Instrumenten einen vollen, warmen, nahezu orchestralen Ton; dem Scherzo stellt er eine kurze Einleitung voran, in der das Klavier glockenspielartige Töne erzeugt.

Der dritte Trio-Komponist des Albums ist der aus Böhmen stammende Franz Marschner (1855–1932), Bruckner-Schüler von 1882 bis 1885, ein vielseitiger Mann, der neben seiner kompositorischen Tätigkeit den Brotberuf eines Schullehrers ausübte und mehrere philosophische Schriften verfasste. Im Gegensatz zu den viersätzigen Trios Kraliks und Caros besteht sein Werk nur aus drei Sätzen, doch ist es mit etwa 40 Minuten deutlich länger. Seine wesentlich spätere Entstehungszeit, um 1902, merkt man ihm nicht an, da es stilistisch in vergleichbaren Bahnen wandelt. Charakterlich unterscheidet es sich von beiden anderen Trios deutlich. Man denke bei der Haupttonart c-Moll nicht an Beethoven! Marschner vermeidet rasante Tempi und lässt sich zur Entwicklung seiner breit ausgesponnenen Gedanken viel Zeit, sodass man als geistigen Ahnherrn dieser Musik Franz Schubert wohl bezeichnen kann. Auch die gesangliche Melodik, die farbige Harmonik und die namentlich im Finale durchschlagende Neigung zu Wanderschritt-Rhythmen deuten in dessen Richtung. Sehr glücklich verknüpft Marschner in diesem Trio sein großes kontrapunktisches Können mit einem ausgeprägten Gespür für Klangfarbe und Klangfülle. Gerade der breit ausgeführte langsame Satz gewinnt dadurch symphonische Größe. Im Mittelteil des Finales verarbeitet Marschner eine Variante des Kopfsatz-Hauptthemas zu einem skurrilen Fugato, das mit seiner schwerfällig torkelnden Rhythmik und chromatischen Melodik eine Heurigen-Szene nachzubilden scheint.

Johanna Ruppert, Violine, Christoph Heesch, Violoncello, und Alexander Vorontsov, Klavier, die sich zum TONALi Trio zusammengefunden haben, widmen sich hingebungsvoll der Aufgabe, die drei Trios zu neuem Leben zu erwecken. Die charakterlich sehr verschiedenen Werke werden nicht über einen Kamm geschoren und keine unangenehmen Manierismen in die Musik hineingetragen. Die Musiker lassen sich auf den jeweiligen Personalstil ein und zeigen sich den geruhsamen Fortschreitungen Marschners nicht minder gewachsen als den abrupten Richtungswechseln Kraliks. In jeder Situation wissen sie den Überblick zu behalten und ihrem Vortrag jene Richtigkeit zu verleihen, die Kohärenz schafft und die Spannung über das ganze Werk aufrecht erhält.

Die Trios werden durch zwei kürzere, charakterlich stark miteinander kontrastierende Klavierwerke ergänzt: den Liebessang von Cyrill Hynais (1862–1913) und die Variationen a-Moll von Alfred Stross (1858–1912). Hynais verband mit Bruckner nicht nur das Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern auch künstlerische Zusammenarbeit: Er erstellte Klavierbearbeitungen bzw. -auszüge mehrerer Werke Bruckners und betreute die Erstdrucke der Ersten, Zweiten und Sechsten Symphonie. Sein Liebessang erinnert stark an die Klavierdichtungen Franz Liszts. Das mäßig bewegte Stück beginnt dunkel, nach einer Tonart suchend, blüht aber bald in schwärmerischer, weit ausladender Melodik und sehnsuchtsvoll umherschweifenden Harmonien auf. Gewisse melodische Wendungen verraten, dass es sich um das Stück eines Wiener Komponisten handelt: Dem geraden Takt zum Trotz hört man gelegentlich Walzeranklänge, und Franz Schuberts Lindenbaum steht, wie ein punktiertes Motiv anzeigt, nicht weit weg.

Die Biographie von Alfred Stross ist neben derjenigen Hans Rotts wohl die traurigste unter allen Bruckner-Schülern. Wie der gleichaltrige Rott versank Stross in geistige Umnachtung und starb in einer psychiatrischen Anstalt. Im Gegensatz zu den verhältnismäßig zahlreichen Orchesterwerken, die von Rott überliefert sind, sind die Strossschen Symphonien, die es nachweislich gegeben hat, verschollen. Eine Anzahl seiner Klavierwerke erschien jedoch zu seinen Lebzeiten im Druck. Den Variationen op. 15 liegt ein eigenes Thema zugrunde, ähnlich düster gestimmt wie das entsprechende Thema aus Schuberts d-Moll-Streichquartett, das ebenfalls mit einem daktylischen Rhythmus anhebt. Im Verlauf der Variationen wird die Musik zunehmend unruhig, es entspinnt sich ein soghaftes, rastloses Kreisen um sich selbst, das nur von einer Dur-Variation in der Mitte des Stückes unterbrochen wird. Das Ende spiegelt die Stimmung des Anfangs.

Die Aufführungen der Solostücke durch Daniel Linton-France stehen nicht ganz auf der Höhe der Darbietungen des TONALi Trios. Den weniger günstigen Eindruck machen die Stross-Variationen, die zu wenig vorausschauend gespielt werden. Es klingt, als vollziehe der Pianist die harmonischen Vorgänge erst im Moment des Spielens nach. Mehrfache leichte Verschleppungen des Tempos erscheinen nicht aus der Musik heraus motiviert. Besser gelingt ihm der Hynaissche Liebessang mit seinen weiten Bögen, die dem Eindruck der Kleinteiligkeit, wie er in den Variationen aufkommt, entgegenwirken. Aber auch dieses Stück hätte durch intensiveres Fernhören an Wirkung dazugewonnen.

Zum Schluss bleibt noch die Frage: Was haben all diese Werke der Bruckner-Schüler mit Bruckner zu tun? Gewiss: Die Art wie Caro seinen Kopfsatz gestaltet, nämlich zweiteilig mit einem Durchführung und Reprise verschmelzenden zweiten Teil, deckt sich mit entsprechenden musiktheoretischen Aufzeichnungen Bruckners und dessen eigenen Kompositionen seit der Sechsten Symphonie. Marschner bezieht thematisch Kopf- und Finalsatz aufeinander und lässt sein Finale mit dem Hauptthema des Kopfsatzes in der Dur-Variante enden, was nun wirklich ein typisch Brucknerscher Kunstgriff ist… Aber klingen diese Werke und die anderen tatsächlich besonders stark nach Bruckner? Hört man ihnen an, dass ihre Komponisten beim selben Lehrer studierten? Ich meine: nein! Außer den erwähnten formalen Äußerlichkeiten wird man vielleicht noch einzelne Wendungen finden, denen man eine Nähe zu Bruckner attestieren kann, aber im Großen und Ganzen zeigen diese durchweg hörenswerten und wertvollen Kompositionen paradoxerweise, dass der Musikpädagoge Anton Bruckner keine Schule im engeren Sinne herangebildet hat. Er verhalf seinen Schülern zu handwerklicher Souveränität, aber er drängte ihnen seinen eigenen Stil nicht auf. Wenn sie auch gelegentlich auf das eine oder andere von Bruckner selbst angewendete Kunstmittel zurückgriffen, so folgten die Schüler doch in der Regel anderen Vorbildern und Traditionen. Entsprechend wird durch die Werke seiner Schüler erst recht deutlich, wie einzigartig Bruckner als Künstlerpersönlichkeit in seiner Zeit dastand.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2025]

Busonis monumentales Klavierkonzert mit Igor Levit

An Fronleichnam (19. Juni 2025) erklang in der Isarphilharmonie erstmals Ferruccio Busonis gewaltiges Klavierkonzert von 1904. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, im fünften Satz verstärkt durch die Herren des Chors des Bayerischen Rundfunks, wurde von Sir Antonio Pappano geleitet, der für Esa-Pekka Salonen eingesprungen war. An den höllisch anstrengenden Klavierpart wagte sich Igor Levit.

Sir Antonio Pappano und Igor Levit © BR/Severin Vogl

Das Klavierkonzert op. 39 des italienisch-deutschen Komponisten Ferruccio Busoni (1866–1924) ist ein Unikum, nicht nur wegen seiner abendfüllenden Länge von ca. 75 Minuten. Ebenso die Fünfsätzigkeit und der Männerchor am Schluss – eine Hymne an Allah aus dem Versdrama Aladdin des dänischen Goethe-Zeitgenossen Adam Oehlenschläger – sind jeweils für sich genommen fast schon Alleinstellungsmerkmale. Die Uraufführung 1904 in Berlin war ein veritabler Konzertskandal. Obwohl Busoni seinerzeit unangefochten als einer der besten Pianisten weltweit galt, warnte er das Publikum in seinem Einführungstext , wo er die Funktion des Orchesters im bisherigen Solokonzert als mehr oder weniger bloßen Begleiters eines auf Selbstdarstellung bedachten Pianisten verurteilte: „Das Virtuosenthum ist im Sinken begriffen und damit verliert die Caricatur der Symphonie, Concert benannt, das letzte bisschen von Daseinsberechtigung.“ Der Solopart seines Konzerts übertrifft an technischer Vertracktheit, Kraftaufwand und differenzierter Klanglichkeit zwar sämtliche zeitgenössischen Gattungsbeiträge nochmals deutlich, gilt jedoch als höchst undankbar, da Busoni gewissermaßen eine Art „Rollentausch“ vollzieht: Fast immer präsentiert das Orchester die zahlreichen, durchaus prägnanten melodischen Einfälle; das Klavier darf diese allenfalls paraphrasieren bzw. kommentieren und wirkt über weite Strecken wie ein überdimensionales „obligates“ Instrument. Frei nach John Adams könnte man fragen: „Must the Orchestra Have All the Good Tunes?“. Dass sich etwa das Thema des Chores – welches dieser erst eine gute Stunde später singen wird – bereits in den allerersten Akkordkaskaden des Solisten verbirgt, dürfte kaum ein Hörer auf Anhieb erkennen. Selbst ein erfahrener Kritiker wie Joachim Kaiser hat das Busoni-Konzert noch 1966 – die Aufführung mit Scarpini unter Kubelik – anscheinend gründlich missverstanden und mit einigermaßen dümmlichen Prädikaten belegt.

Nicht nur deswegen verlangt dieses monumentale Werk – das dicke Buch, das Igor Levit auf den Flügel hievte, war nur der Klavierauszug – denn auch insbesondere vom Dirigenten eine völlige intellektuelle Durchdringung der symmetrischen Gesamtstruktur und absolute Klarheit bei der Disposition der oft komplexen Schichtungen des überbordenden motivischen Materials. Levit hat das Busoni-Konzert – nachdem 2021 eine geplante Aufführung mit dem Bayerischen Staatsorchester corona- und krankheitsbedingt ausfiel – später überhaupt erstmals unter Sir Antonio Pappano gespielt: schon mal ein vertrautes Team. Die letzte Beschäftigung des BRSO mit dem herausfordernden Stück reicht wohl bis 1986 zurück: mit Volker Banfield unter Lutz Herbig (nur für eine CD-Produktion?); also für fast alle Musiker eher komplettes Neuland.

Pappano merkte man bereits während der Einführung an, wieviel Lust er auf dieses Event hatte und wie genau er sich mit dieser weit unterschätzten Musik auskennt. So realisierte er vor allem den melodischen Schmelz und den Schwung des Italieners Busoni kongenial, bis hin zur aberwitzigen Tarantella des 4. Satzes von gut 950 Takten (!), die in einem fröhlichen „Vulkanausbruch“ (Busoni) kulminiert und deren Sog man sich kaum entziehen kann. Diese war vom Tempo her freilich selbst für den sich im akustisch hierfür suboptimalen HP8 tapfer schlagenden Levit schon grenzwertig. So waren einige Fehlgriffe beim unglaublichen Akkordwerk, das Busoni nicht nur dort fordert, unvermeidlich, schlugen aber nicht ins Gewicht. Levit – hochkonzentriert und ebenso auf den rein körperlichen Kraftakt voll eingestellt – verblüffte gerade beim schnellen Umschalten zu delikaten Arabesken, die er an den entsprechenden Stellen unerhört leise und enorm klangschön zelebrierte. Der sechsstimmige Herrenchor des Bayerischen Rundfunks, von Howard Arman exzellent einstudiert, war stets textverständlich und ebenso engagiert wie das neugierige Orchester. Hier überzeugten gerade auch die dunklen Farben – etwa der Klarinette beim zitierten „Fenesta ca lucive“ im 2. Satz: sensationell. Dort agierte Levit wie eine unzähmbare, mal verspielte, mal bedrohliche Raubkatze. Klassisch strenge Kontrapunktik à la Bach – Busonis größtes Vorbild – gibt es in diesem Stück zwar nicht. Dennoch könnte man Pappano vorwerfen, dass er die Melodielinien fast durchgehend zu sehr in den Vordergrund stellte – damit zeitweise sogar den Flügel völlig überdeckte – und den raffinierten Nebenstimmen dieser für ein Klavierkonzert um 1900 ungewöhnlich farbig orchestrierten Partitur nicht genügend Bedeutung beimaß.

Die größte Leistung an diesem Abend war allerdings der mit 25 Minuten sperrige Mittelsatz (Pezzo serioso): Dieses architektonische Meisterstück mit zahlreichen Themen – darunter ein gregorianisches Ave Maria – droht regelmäßig schnell zu langweilen. Es dramaturgisch schlüssig und spannend zusammenzuhalten, gelingt selten so bewegend. Wie Levit nach dem dynamischen Höhepunkt mit seinem brutalen, wörtlich zu nehmenden Gedonnere (tempestuoso, tuonando) – im Orchester ähnlich kompromisslos wie Strauss‘ gewagteste Passagen im Heldenleben oder Don Quixote – die Stimmung wieder herunterkühlte, so dass für den Hörer das folgende improvvisando absolut glaubwürdig erschien und von teutonischer Architektur nach Italien herüberblickte, – der Rest des Satzes klingt beinahe wie ein Vorgriff auf Respighis Pini di Roma – war zutiefst beeindruckend.

Man folgte der lebendigen Darbietung gebannt: Auch vom Publikum verlangt das Busoni-Konzert eine hohe intellektuelle Aufnahmebereitschaft und widerspricht zunächst allen gewohnten Erwartungen. Es erwies sich als richtig, das Monumentalwerk alleine aufs Programm zu setzen, so dass es ohne Ablenkung für sich sprechen durfte. Die Begeisterung – mit langanhaltendem Applaus für alle Musiker – war dann sicher ehrlich. Am Schluss wurde allen klar, dass hier selbst eine Zugabe eher fehl am Platze gewesen wäre.

[Martin Blaumeiser, 21. Juni 2025]

Die Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes: Präsentation und Konzerttermine

Die bei Musikproduktion Höflich veröffentlichte Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes, im Auftrag der Internationalen Draeseke-Gesellschaft (IDG) herausgegeben von Wolfgang Müller-Steinbach und Norbert Florian Schuck, wird im Rahmen der 39. IDG-Jahrestagung am 21. Juni 2025 in Coburg präsentiert. Am 22. und 29. Juni folgen Lied-Matineen in Bad Rodach und Leipzig. Es musizieren Julia Oesch (Mezzosopran), Gotthold Schwarz (Bass) und Wolfgang Müller-Steinbach (Klavier).

Felix Draeseke war zu seinen Lebzeiten vor allem als Komponist von Orchester-, Kammer- und geistlicher Chormusik bekannt. Im Wesentlichen denkt man auch heute noch vor allem an diese Zweige seiner Produktion, wenn die Rede auf ihn kommt. In seinem hinsichtlich der Gattungen und Formen höchst vielfältigen Schaffen hat Draeseke jedoch auch dem Lied einen wichtigen Platz eingeräumt und sich in allen Perioden seiner künstlerischen Entwicklung der Komposition für Gesang und Klavier gewidmet. So entstanden seine Lieder zum großen Teil innerhalb kurzer Zeit jeweils am Anfang, in der Mitte und am Ende seiner Laufbahn. Die Musikwelt hat sie seinerzeit weitgehend als Nebenwerke eines Meisters der großen Formen angesehen. Entsprechend wenig standen sie im Mittelpunkt des Interesses. Doch haben auch damals schon feinsinnigere Kommentatoren auf den Wert dieser Stücke hingewiesen.

Draesekes Liedschaffen umfasst insgesamt 95 Titel, von denen neun derzeit als verschollen gelten müssen. Von den erhaltenen 86 waren die allermeisten im Notenhandel nicht mehr verfügbar. Auf einige Opera konnte man über die Petrucci Music Library (IMSLP) im Netz zurückgreifen, doch andere waren nur über Bibliotheken und Archive zu erreichen. Um diesen Missstand zu beheben und Draesekes Lieder wieder einem größeren Publikum nahezubringen, beschloss die Internationale Draeseke-Gesellschaft, eine Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes zu veröffentlichen. Maßgeblich angeregt wurde das Projekt durch Wolfgang Müller-Steinbach, der die Herausgabe der ersten beiden Bände übernahm. Der dritte und letzte Band lag in der Verantwortung des Verfassers dieser Zeilen. Für die Veröffentlichung konnte der Verlag Musikproduktion Höflich gewonnen werden.

Die drei Bände sind ungefähr gleichen Umfangs: Der erste enthält 27, der zweite 29, der dritte 30 Lieder, wobei in den zweiten auch Draesekes einziges Melodram Der Mönch von Bonifazio aufgenommen wurde. Die Bände wurden nicht stur chronologisch gestaltet, sondern versuchen jeweils einen Eindruck von der Vielfalt des Draesekeschen Liedschaffens zu vermitteln. So finden sich in jedem Band Stücke unterschiedlichen Umfangs und Charakters: Lyrische Stimmungsbilder stehen neben Balladen, Miniaturen neben ausgedehnten, teils das Symphonische streifenden Gesängen. Die vom Komponisten gewählten Opus-Zusammenstellungen blieben dabei natürlich unangetastet. Neben den zu Lebzeiten Draesekes veröffentlichten Werken findet sich auch eine kleine Anzahl an Stücken, die mit dieser Edition zum ersten Mal überhaupt in den Druck gelangen.

Aufgrund der Tatsache, dass sich nicht selten Abweichungen zwischen Draesekes Manuskripten und den Erstdrucken finden lassen, letztere zudem immer wieder Druckfehler aufweisen, stand von vornherein fest, dass man es nicht bei einem bloßen Nachdruck der historischen Ausgaben belassen konnte und das vorhandene Notenmaterial kritisch zu sichten war. Soweit vorhanden, nahmen die Herausgeber die Manuskripte zur Grundlage ihrer Neuedition. In den Fällen, in denen der Verbleib des Manuskripts unbekannt war, wurde der Erstdruck als Primärquelle herangezogen.

Das Ergebnis dieser Arbeit, die dreibändige Gesamtausgabe der Lieder Felix Draesekes, erschienen bei Musikproduktion Höflich, wird im Rahmen der 39. Jahrestagung der Internationalen Draeseke-Gesellschaft in Coburg und Bad Rodach der Öffentlichkeit vorgestellt. Interessenten beachten dazu bitte die folgenden Termine:

Samstag, 21. Juni 2025, 17:00 Uhr, Coburg, Aula des Gymnasiums Casimirianum: Vorstellung der Edition im Rahmen einer Präsentation mit Lieder-Beispielen, Hintergrundinfos und Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte des Draesekeschen Vokalwerks unter Mitwirkung der Künstler.

Sonntag, 22. Juni 2025, 11:00 Uhr, Bad Rodach, Jagdschloss: Lieder-Matinee in Zusammenarbeit mit dem Rückertkreis Bad Rodach. Auf dem Programm stehen Lieder und Gesänge aus allen Schaffensperioden Draesekes in Würdigung des Erscheinens der neuen IDG-Edition. Die Matinee wird moderiert von LKMD i. R. Udo-R. Follert.

Eintritt frei. Um eine Spende wird gebeten.

Das Programm der Matinee wird an folgendem Termin in Leipzig wiederholt:

Sonntag, 29. Juni 2025, 14:00 Uhr, Leipzig, Grieg-Begegnungsstätte: Du bist der ungebrochne Sonnenstrahl

Eintritt frei. Um eine Spende wird gebeten.

Mitwirkende an allen Terminen:

Julia Oesch, Mezzosopran

Gotthold Schwarz, Bass (Thomaskantor emeritus)

Wolfgang Müller-Steinbach, Klavier

[Norbert Florian Schuck, Juni 2025]

Nicolas Hodges überwältigt den Herkulessaal mit Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert

Das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 am 23. Mai brachte Claude Viviers spätes Ensemblestück „Et je reverrai cette ville étrange“, Helmut Lachenmanns „Klangschatten – mein Saitenspiel“ und Rebecca Saunders‘ Klavierkonzert „To An Utterance“ mit einem überragenden Nicolas Hodges. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks leitete Matthias Hermann.

Matthias Hermann und Nicolas Hodges mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Nicht ganz so gut besucht wie die Veranstaltungen zuvor, hatte das letzte Konzert der musica viva Saison 24/25 im Herkulessaal doch ein paar Schmankerl parat, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Zweifellos war der gebürtige Kanadier Claude Vivier (1948–83) ein höchst unkonventioneller Künstler, der – zeitweise Schüler von Karlheinz Stockhausen – avantgardistische Moden oder Darmstädter Prämissen mutig über den Haufen warf und bald einem ganz eigenen Stil vertraute, der seinem Primat der Melodie in aufregender Weise Raum gab und damit auch seinen Hörern oft zu mystischer Versenkung verhalf.

Als Dirigenten hat man den Lachenmann-Schüler Matthias Hermann eingeladen, der vor zwei Jahren bei der Neufassung von My Melodies für den bereits erkrankten Peter Eötvös eingesprungen war (siehe unsere Kritik). Für Viviers Et je reverrai cette ville étrange von 1982 muss er kunstvoll verschnörkelte Monodien, die von sieben Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks meist quasi im Unisono – im ersten und da capo im letzten der sechs Abschnitte mal in Terzen – vorgetragen und von fernöstlichem Schlagwerk fast rituell untermalt werden, klanglich fein abstimmen. Dies gelingt z. B. bei einigen sehr hübschen Mixturen äußerst ansprechend, aber etliche Stellen könnten präziser zusammen sein.

Man könnte Hermann auch mangelnde Präzision bei den zunächst zeitlich recht vereinzelten, harten Knalleffekten, vor allem Bartók-Pizzicati, in Helmut Lachenmanns (*1935) Klangschatten – mein Saitenspiel (1972) vorwerfen – zumindest da, wo sie tatsächlich punktgenau zusammen sein sollten. Zum Glück werden diese für die 48 solistisch agierenden Streicher schnell vom Komponisten mit zunehmenden Unschärfen versehen, bis in der Mitte des Stücks alles flächiger wird, was sofort eine ungeahnte Sogwirkung erzeugt und erstaunlich farbig und fantastisch klingt. Die drei Klaviere wirken hier entgegen ihrer Natur meist wie klangverlängernde Echokammern, aber keinesfalls solistisch – trotzdem großes Lob für Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und Alexander Waite, die sich wie die enorm konzentrierten Streicher des BRSO natürlich mit allen erdenklichen, ungewöhnlichen Spieltechniken auseinandersetzen müssen. Faszinierend etwa, wie gegen Schluss einige der Cellistinnen ein instabiles Bassfundament auf dem mit Bogen gestrichenen Saitenhalter erzeugen. Hermanns Timing und sein Überblick über die gesamte Vielfalt der Geräuschentwicklung kann jedenfalls überzeugen. Zu Recht erfährt das Stück, das heutzutage natürlich niemanden mehr zu provozieren vermag, allgemeine Zustimmung.

Für ihr Klavierkonzert To An Utterance (2020) mit nicht nur im Schlagzeug riesiger Orchesterbesetzung musste sich die britische Komponistin Rebecca Saunders – Ernst von Siemens Musikpreisträgerin 2019 – schon etwas Besonderes ausdenken, um dem Solisten ein klangliches Gegengewicht zu ermöglichen. Jede Menge Cluster, vor allem jedoch allgegenwärtige Glissandi, oft über die gesamte Tastatur und in teils derart atemberaubender Geschwindigkeit und Dynamik, dass man fast glaubt, einem Player Piano von Conlon Nancarrow zuzuhören. Was hier die Hände von Nicolas Hodges – durch fingerfreie Handschuhe vor Abschürfungen geschützt – leisten, geht weit über das hinaus, was etwa Stockhausen in seinem berüchtigten Klavierstück X fordert, gerade auch an emotionaler Energie. Die geht hier tatsächlich meist vom Klavier aus; das grandios instrumentierte Orchester der lange auf kammermusikalische Besetzungen spezialisierten Komponistin – immer spannungsvoll, dabei wie der drohende Abgrund für den hyperaktiven Pianisten – nimmt dessen Anregungen auf und transformiert dessen häufig als Haltepunkt genutzten Resonanzraum zu wilden und schönen Klängen: z. B. enorm differenzierten Streicherflageoletts, die dann noch mit Akkordeon in höchster Lage bekrönt werden. Das an sich sehr gelungene Werk zerfasert formal allerdings durch zu schnelle Wechsel zwischen ungezähmter Brutalität und deutlich gemäßigterem Material – gibt es da eine Anspielung auf Tristan? – und bringt dramaturgisch daher nicht nur den Pianisten im Sinne der weniger geläufigen Bedeutung des Titels bis „zum bitteren Ende“. Hodges ist mit seiner phänomenalen Technik und unermüdlichen Präsenz einmal mehr ein Erlebnis im Herkulessaal, und Orchester und Dirigent fühlen sich in Saunders‘ kalkulierter Klangorgie sichtlich wohl: tosender Applaus.

[Martin Blaumeiser, 24. Mai 2025]

Für Franz Schmidt auf den Tasten: Andreas Jetter und Karl-Andreas Kolly

Der 150. Geburtstag Franz Schmidts, der im vergangenen Jahr begangen wurde, bot den Anlass zu einer Anzahl höchst erfreulicher CD-Veröffentlichungen. Neben der bereits Ende 2023 erschienenen Gesamteinspielung der Symphonien durch das BBC National Orchestra of Wales unter Jonathan Berman (siehe dazu auch unser Interview mit dem Dirigenten) und der erstmals auf CD herausgekommenen Aufnahme der Oper Fredigundis sind hier besonders die Leistungen zweier Musiker hervorzuheben, die sich auf den Tasten von Klavier und Orgel für Franz Schmidt eingesetzt haben: Andreas Jetter, der die zwei ersten Folgen seiner Gesamtaufnahme der Schmidtschen Orgelwerke vorlegte, und Karl-Andreas Kolly, der dem Komponisten ein Klavieralbum widmete.

Andreas Jetter: Königsfanfaren und Silberglanz

Vol. 1 Königsfanfaren

Ambiente Audio, ACD-2047; EAN: 4029897020478

Vol. 2 Silberglanz

Ambiente Audio, ACD-2049; EAN: 4029897020492

Als Orgelkomponist ist Schmidt wiederholt missverstanden worden, da man ihn aufgrund seiner Kritik an bestimmten Tendenzen des damaligen Orgelbaus – er lehnte beispielsweise eine „Überladung“ mit Registern ebenso ab wie Jalousieschweller zur Erzeugung stufenloser Crescendi und berief sich auf Silbermann als Ideal – für einen Parteigänger der „Orgelbewegung“ hielt. So hat es Organisten gegeben, die seinen Werken ein dünnes, hartes Klangbild verliehen und beim Vortrag betont zackig artikulierten – sprich: die Musik „antiromantisch“ auffassten. Nun steckt in Schmidt tatsächlich mehr von einem „barocken“ Komponisten als in vielen seiner Zeitgenossen. Äußerlich schlägt sich das bereits an seiner Vorliebe für Fugen nieder, zu welchen sich innerhalb der Orgelwerke verschiedene weitere Formen barocken Ursprungs – Chaconne, Toccata, Choralvorspiel – hinzugesellen. Auch lässt sich bei ihm eine starke emotionale Ausgeglichenheit feststellen, die namentlich in seiner vorletzten Schaffensphase Ende der 1920er Jahre zu einer Musik führt, von der man mit Conrad Ferdinand Meyer sagen kann: Sie „strömt und ruht“. Diese geistige Verwandtschaft mit der vorromantischen Musik – die er mit Zeitgenossen wie Felix Draeseke, Felix Woyrsch und Gerhard Strecke teilt – sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schmidts Klangvorstellungen sich deutlich von den asketischen Idealen neobarocker Antiromantiker abhoben. Er selbst, der viele Jahre als Cellist bei den Wiener Philharmonikern mitspielte, sagte einmal, dass er in seinem Inneren stets symphonische Musik höre. Und das Instrument, auf dem die meisten seiner Orgelwerke mit ausdrücklicher Billigung des Komponisten uraufgeführt wurden, war die Rieger-Orgel des Musikvereinssaals in Wien. Es liegt also keinesfalls fern, Schmidts Orgelmusik auf Instrumenten wiederzugeben, die eine orchestral anmutende Klangfülle verbreiten. Freilich darf die Orgel kein „brüllendes Ungeheuer“ (Schmidt) sein, sollte auf die speziellen Forderungen, die Schmidt an seine Spieler stellt – er hat sie in verschiedenen Texten dargelegt – , Rücksicht genommen werden.

Andreas Jetter hat für seine Einspielungen der Orgelwerke Schmidts mit der 1927/28 errichteten Behmann-Orgel der Kirche St. Martin in Dornbirn ein Instrument gewählt, dass man zur Wiedergabe dieser Musik als geradezu ideal bezeichnen kann. Es handelt sich um eine romantisch-symphonische Orgel, deren Disposition allerdings deutliche Einflüsse der Elsässer Orgelreform zeigt, mit welcher Schmidts Ansichten im Bezug auf den Orgelbau im Wesentlichen übereinstimmten. Sie gestattet einen opulenten, warmen, vielfältig abgestuften Klang durch trennscharf voneinander abgehobene Register, was der Darstellung der Schmidtschen Polyphonie mit ihrer mitunter komplizierten Chromatik sehr zugute kommt.

Mit seiner Gesamtaufnahme der Orgelkompositionen Schmidts, die bei Ambiente Audio erscheint, ist Jetter jetzt bei der Hälfte angekommen. Die beiden vorliegenden Alben Königsfanfaren und Silberglanz geben jeweils eine gute Vorstellung von der Vielseitigkeit des Komponisten. Königsfanfaren kombiniert die beiden großen Variationswerke, die Variationen und Fuge über ein eigenes Thema D-Dur (über die Königsfanfaren aus der Oper Fredigundis) und die Chaconne cis-Moll, mit den kürzesten Orgelstücken Schmidts, den Vier kleinen Choralvorspielen. Silberglanz (der Titel spielt auf die Orgel des Franziskanerklosters in Preßburg/Bratislava an, die Schmidts Klangideal nachhaltig beeinflusste) vereint die in Ausmaß und Charakter sehr unterschiedlichen Präludien und Fugen in Es-Dur und A-Dur mit der Toccata C-Dur und dem großen Choralvorspiel über Der Heiland ist erstanden.

Einige dieser Werke stellen bereits durch ihre gewaltige Ausdehnung immense Ansprüche an die Organisten. So sind Präludium und Fuge Es-Dur mit 36 Minuten Aufführungsdauer etwa anderthalbmal so lang wie die längsten entsprechenden Werke Max Regers und knapp dreimal so lang wie diejenigen Johann Sebastian Bachs. Davon entfallen 20 Minuten auf die Fuge allein. Das Präludium ist ein symphonisches Allegro, vergleichbar dem Kopfsatz von Schmidts Zweiter Symphonie. Die halbstündige Chaconne gliedert sich in vier große Abschnitte, die jeweils in einer Kirchentonart stehen (äolisch, lydisch, dorisch und ionisch), stellt also eine Art Orgelsymphonie in Variationenform dar. Der Choral Der Heiland ist erstanden wird im entsprechenden Choralvorspiel nicht nur einmal präsentiert, sondern erscheint in dorischem Modus, in „normalem“ Moll, schließlich in Dur, dabei auf verschiedene Weise kontrapunktisch bearbeitet: in asketischer Zweistimmigkeit, als Versettenfuge, in dialogischem Satz zwischen Oberstimme und Pedal, imitatorisch im Pedal unter rauschenden Figurationen der Manuale…

Gerade in diesen groß dimensionierten Kompositionen zeigt sich Jetters Meisterschaft im Umgang mit Schmidts Musik. Seine Aufführungen entwickelt er aus den Gegebenheiten des Raumes. Er musiziert mit der Akustik der Kirche, nicht gegen sie, und erzeugt durch kluge Nutzung des Nachhalls spannungsvolle, „sprechende“ Generalpausen, welche sich besonders in der zerklüfteten Struktur des Es-Dur-Präludiums bewähren. Mit den Besonderheiten der Harmonik Schmidts, die oft das Ergebnis des Gegeneinanders chromatischer Linien ist, ist er wohlvertraut, sodass er die großen Spannungsbögen der Musik optimal nachvollziehen und gestalten kann. Hervorheben möchte ich namentlich die introvertierten Abschnitte, wenn sich die Musik immer mehr in die Stille zurückzuziehen scheint. Jetter nimmt seine Hörer bis in die verborgensten Winkel des Schmidtschen Kosmos mit, behält aber bei allem Sinn für die schönen Einzelheiten stets die Übersicht über das Ganze und zeigt, wie kurzweilig und vielschichtig diese monumental ausladenden Werke sind.

Jetters Kunst, den gewaltigen Gebläseapparat einer Orgel durch geschmeidige Artikulation wirklich zum Singen bringen, ist natürlich dort besonders am Platze, wo ausdrücklich ein vokaler Tonfall erwartet wird, nämlich in den Choralvorspielen, aber auch dem weihnachtlich getönten A-Dur-Präludium mit seiner pastoral wiegenden Melodik. Die C-Dur-Toccata ist unter seinen Händen weniger ein flottes Virtuosenstück als viel mehr ein in kraftvollen Wogen dahinfließender, silbrig glänzender Klangstrom.

Karl-Andreas Kolly: Franz Schmidt. The Piano Album

Capriccio, C5526; EAN: 845221055268

Mehr als drei Viertel der Spielzeit von Karl-Andreas Kollys bei Capriccio erschienener CD Franz Schmidt. The Piano Album entfallen auf Werke, die auch auf Jetters Königsfanfaren zu hören sind. Der Grund liegt schlicht und einfach darin, dass Franz Schmidt, obwohl als einer der großen Pianisten seiner Zeit anerkannt, nur sehr wenige Originalkompositionen für Klavier hinterlassen hat. Für ihn, der von der Orgel fasziniert war und innerlich immer ein Orchester hörte, besaß der sich rasch verflüchtigende Klavierklang wenig Reiz. Dass Schmidt überhaupt für das Instrument komponierte (und das auf dem von ihm gewohnten hohen Niveau!), lag vor allem an seiner Bekanntschaft mit dem Pianisten Paul Wittgenstein, der wiederholt Werke bei ihm bestellte: zwei konzertante Kompositionen mit Orchester, drei Kammermusikwerke in Quintettbesetzung und schließlich, kurz vor Schmidts Tod, eine Solo-Toccata, die wie ein Gruß über die Jahrhunderte hinweg an Altmeister Sweelinck klingt. Da Wittgenstein durch eine Verwundung im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte, sind alle diese Werke Schmidts der linken Hand allein zugedacht. Die einzige originale Komposition, die Schmidt für Klavier zu zwei Händen schrieb, ist eine vierminütige Romanze, die als privates Geschenk für seinen Trauzeugen zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb: ein kleines Juwel, das Schmidts harmonische Kunstfertigkeit auf wenigen Takten zusammenfasst und in den Glockenklängen des Mittelteils den französischen Impressionisten auffallend nahekommt. Aufgrund dieser in quantitativer Hinsicht mageren Ausbeute, entschied sich Karl-Andreas Kolly, der bereits Schmidts Klavierkonzerte eingespielt hat, drei Orgelwerke des Komponisten für Klavier zu bearbeiten, um ihm zum 150. Geburtstag ein Solo-Album widmen zu können. So wird der Großteil der CD von den Transkriptionen der Chaconne, der Fredigundis-Variationen und des Choralvorspiels über O, wie selig seid ihr doch, ihr Frommen eingenommen.

Ich frage mich, was Schmidt wohl dazu gesagt hätte, hätte er Kollys Darbietungen seiner Orgelmusik auf dem Klavier hören können. Meines Erachtens hat der Pianist die selbstgestellte Aufgabe glänzend gelöst und es geschafft, die Werke den Bedingungen des Klaviers optimal anzupassen. Namentlich die Chaconne klingt, als wäre sie nie für ein anderes Instrument geschrieben gewesen. Die fehlende Möglichkeit der Registrierung kompensiert Kolly mit sehr abwechslungsreicher Artikulation und feiner Abstufung der Dynamik. Das rasche Entschwinden des Klavierklangs lässt ihn deutlich schnellere Tempi wählen als Andreas Jetter: Mit der Chaconne ist er in gut 23 Minuten, mit den Variationen über die Königsfanfaren in knapp 20 Minuten fertig. Auf der Orgel der Dornbirner Kirche wären das überhetzte Zeitmaße, für die Darbietung auf dem Klavier sind sie jedoch genau richtig, um den feierlichen, würdevollen Grundcharakter der Kompositionen hervortreten zu lassen. In der Nachzeichnung der melodischen Linien, der sorgfältigen Phrasierung und dem Streben, dem Tasteninstrument größtmögliche Kantabilität zu verleihen, überzeugt Kolly nicht minder als Jetter, sodass es ein Vergnügen ist, die betreffenden Werke in den Aufnahmen beider Musiker vergleichend anzuhören.

Zwei wahre Meister sind hier für Franz Schmidt auf den Tasten tätig gewesen, deren Einspielungen uneingeschränkt zu empfehlen sind. Im Falle Andreas Jetters darf man auf die noch ausstehenden Folgen seiner Gesamtaufnahme gespannt sein.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2025]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an Sir Simon Rattle

Bei der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2025 an den Chefdirigenten des BRSO, Sir Simon Rattle, wurden wie üblich auch die diesjährigen Förderpreisträger geehrt: für Komposition Ashkan Behzadi, Bastien David und Kristine Tjøgersen. Die Preise für Ensembles gingen an collective lovemusic aus Strasbourg bzw. das Tacet(i) Ensemble aus Bangkok. Drei Stücke der Nachwuchskomponisten wurden vom Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum vorgestellt. Für Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 dirigierte Simon Rattle 15 Mitglieder des BRSO.

V.l.n.r.: Sir Willard White, Ilona Schmiel, Sir Simon Rattle, Bastien David, Tabea Zimmermann, Kristine Tjøgersen, Ashkan Behzadi © EvS-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Auch die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung fand im Münchner Herkulessaal statt, erneut moderiert von Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk. Offensichtlich hatte man aus der für die Anwesenden fast unerträglichen Überlänge der Veranstaltung im vorigen Jahr gelernt und kam mit perfekt durchorganisierten 130 Minuten aus, so dass die Gäste beim anschließenden Empfang nicht schon todmüde waren. Die Vorsitzende des Stiftungsrats, Tabea Zimmermann, durfte trotzdem stolz eine noch nie dagewesene Summe von gut 4 Mio. € eingesetzter Fördermittel für diverse Projekte in mittlerweile über 30 Ländern verkünden. Und sie schien ebenfalls erleichtert über die – vorerst – abgewendete geplante GEMA-Reform mit absehbar katastrophalen Folgen für den Bereich der klassischen Musik. Die kurzen Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List konnten nach den etwas infantilen Ausrutschern nun wieder an das gewohnte Niveau von vor 2024 anknüpfen. Sie machten Lust auf die geförderten Ensembles collective lovemusic aus Straßburg bzw. Tacet(i) aus Bangkok – von Neuer Musik aus Südostasien hört man bei uns ja so gut wie nie etwas – und trugen nicht unwesentlich zum Verständnis der dann folgenden Live-Beiträge mit Musik der jungen Komponisten bei. Insgesamt hatte man sich für den Nachwuchs – falls diese Bezeichnung bei teils schon über 40-jährigen Künstlern überhaupt noch angemessen ist – mehr Zeit genommen als für den Hauptpreisträger, aber zum Glück die Rituale der Preisverleihung etwas eingedampft.

Die Stücke der Förderpreisträger Komposition wurden vom kleinen, in den Niederlanden ansässigen Riot Ensemble unter Leitung von Aaron Holloway-Nahum dargeboten: Bei Carnivalesque (iii) (2014/17) des gebürtigen Iraners Ashkan Behzadi (*1983), der später in Montreal und New York ausgebildet wurde, wo er nun lebt und selbst an der Manhattan School of Music lehrt, durften die Musiker noch weitgehend auf zumindest halbwegs vertraute Spielweisen zurückgreifen: unterschiedliche Texturen mit spannenden Kontrasten, kaleidoskopartig und dennoch verbunden, handwerklich kunstvoll ausgearbeitet. Nur warum die Musik kurz vor Schluss beinahe auf der Stelle trat, verstand man beim ersten Hören überhaupt nicht.

Die Musik des Franzosen Bastien David (*1990), der u. a. bei José Manuel López López und Gérard Pesson studierte, ist hinsichtlich der Klangerzeugung dagegen völlig kompromisslos: In Six chansons laissées sans voix (2020) werden stimmliche Lautäußerungen ganz ungewöhnlich auf Instrumente übertragen: Bogen auf Holzlamellen, – allenfalls hier erkennt man Tonhöhen – Reiben eines Luftballons mit einem feuchten Schwamm, Ziehen einer Angelschnur über eine Harfensaite etc. Dies wirkte vor allem erst einmal hübsch perkussiv, und man fühlte sich an afrikanische Musik erinnert, aber dann vermittelte sich über dieser Basis leider so gut wie nichts: Den Rezensenten langweilte diese erschreckend dünne Substanz recht bald. Vor ein paar Jahren hat David ein kreisförmiges Metallophon mit 216 im Abstand von jeweils einem Zwölftelton gestimmten Lamellen erfunden. Sowas ist eigentlich ebenfalls ein alter Hut: Man denke an das Instrumentarium eines Harry Partch und das in diesem Zusammenhang von Dean Drummond entwickelte Zoomoozophone

Die Norwegerin Kristine Tjøgersen – zunächst Klarinettistin, erst relativ spät in Linz bei Carola Bauckholt zur Komponistin ausgebildet – vertraut ebenfalls kaum noch traditioneller Handhabung ihres fantasiereichen Instrumentariums: So wird in ihrem preisgekrönten Klavierkonzert keine einzige Taste gedrückt. Sie entdeckt ihre Klangwelten und die zur Produktion nötigen Utensilien vielmehr in der Natur, sei dies unmittelbar im Wald oder in Forschungsergebnissen von Biologen – so wie den Unterwasseraufnahmen singender Fische am Great Barrier Reef, die sie zu Seafloor Dawn Chorus (2018, rev. 2025) inspiriert haben und die sie für dieses Stück quasi transkribiert hat. Auch wenn dies keine simple Mimesis darstellt, beeindruckte Tjøgersens Musik durch Natürlichkeit, fassliche Schönheit und vermittelte durchaus etwas von der – hier sei der altmodische Begriff erlaubt – Erhabenheit der Schöpfung, die es zu bewahren gilt. Der dahinterstehende Aufruf zum politischen Handeln erinnerte den Rezensenten – nicht nur wegen des Titels – an Liza Lims „Extinction Events and Dawn Chorus“; tatsächlich entstand Tjøgersens Werk jedoch gleichzeitig und rief im Herkulessaal allgemeine Bewunderung hervor.

Den diesjährigen Hauptpreisträger Sir Simon Rattle muss man an dieser Stelle sicherlich nicht mehr vorstellen. Kaum ein Dirigent hat sich schon in ganz jungen Jahren so energisch für die Aufführung zeitgenössischer Musik eingesetzt wie er und ist mittlerweile von seinem Repertoire her derart breit aufgestellt. Und wenn man beobachtet, wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nach dem Tod Mariss Jansons‘ und der nachfolgenden, lähmenden Pandemie seit seinem Amtsantritt erst vor zwei Jahren wieder zu einem der am hinreißendsten musizierenden Klangkörper weltweit aufgeblüht ist, ist dies allein schon Hochachtung wert, verbunden mit der Hoffnung, dass er München als Dirigent noch möglichst lange erhalten bleiben möge. Die warmherzige Laudatio hielt der Bariton Sir Willard White, Rattles Weggefährte seit fast 45 Jahren – und mit solch wunderbarer Stimme, die als Porgy oder Wotan wohl jedermann zutiefst bewegt, geriet dessen Verneigung vor einem großen Künstler umso eindringlicher und glaubwürdiger.

Simon Rattle selbst wollte sich in seinen Dankesworten bewusst kurz halten und lieber musizieren, und so soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass Sir Simon das Preisgeld für ein ins BRSO eingebettetes Ensemble mit historischen Instrumenten einsetzen möchte – man darf gespannt sein. Zum Ausklang der Veranstaltung hatte Rattle dann Arnold Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 ausgewählt, ein schon historisch geradezu ideales Vorzeigestück für 15 Instrumentalisten, und erwähnte mit Respekt, dass sein anwesender Lehrer John Carewe diese schon seit 70 Jahren draufhat. Rattle leitete das Schönberg-Stück natürlich auswendig und mit feinster handwerklicher Virtuosität. Seine Solisten aus dem BRSO folgten dem energischen und bis ins Detail stimmigen Konzept mit Freude und Engagement, und so wurde aus einem recht komplexen, etwas sperrigen Werk ein emotional vielschichtiges und begeisterndes Erlebnis, für das sich der Saal mit starkem Beifall bedankte.

[Martin Blaumeiser, 19. Mai 2024]

Hochemotional und kultiviert: Simone Young dirigiert beim BRSO Werke der Zweiten Wiener Schule

Im Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks am 15. Mai 2025 erklangen in der Isarphilharmonie unter Leitung der exzellent vorbereiteten Simone Young drei Meilensteine der Neuen Wiener Schule: Anton Weberns „Fünf Stücke für Orchester op. 10“, Alban Bergs „Drei Orchesterstücke op. 6“ und Alexander Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ – mit der Sopranistin Maria Bengtsson sowie dem Bariton Michael Volle.

Maria Bengtsson, Simone Young und Michael Volle mit dem BRSO © BR/Astrid Ackermann

Christopher Mann nennt in seiner Einführung mit der schon dabei gut aufgelegten australischen Dirigentin Simone Young sogleich den Namen, der über allen folgenden Darbietungen schwebt: Arnold Schönberg. Als Schüler und späterer Schwager Alexander Zemlinskys (1871–1942) gilt er ja als Begründer der Zweiten Wiener Schule; und er war wiederum Lehrer von Anton Webern (1883–1945) und Alban Berg (1885–1935). Die drei Werke des Abends entstanden innerhalb von nur 12 Jahren – zwischen 1911 und 1923 – und sind relativ selten zu hören: Weberns Fünf Stücke für Orchester op. 10 wegen ihrer minimalistischen Besetzung kaum in Programmen mit großen Klangkörpern, Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 genau umgekehrt wegen des geforderten Riesenapparats, und Zemlinskys Lyrische Symphonie hat an diesem Donnerstag gar ihre Erstaufführung beim BRSO.

Weberns Orchesterminiaturen op. 10 (1911/13) sind quasi ein Gegenentwurf zu seinen großbesetzten 6 Orchesterstücken op. 6, die wiederum Vorbild für Berg waren. Von den gut 20 Instrumenten – darunter allerdings Exoten wie Mandoline, Celesta oder Röhrenglocken – erklingen oft nur wenige gleichzeitig. Der klangliche Reichtum und die Konzentration des Ausdrucks der insgesamt (!) nur etwa fünf Minuten dauernden Stücke verlangt von den Musikern höchste Präzision und in einem so großen Saal extrem gutes Aufeinander-Hören. Simone Young – u. a. zehn Jahre GMD an der Hamburgischen Staatsoper – zeigt, nur hier ohne Taktstock, alles genauestens an, insbesondere die sehr delikat auf den Raum abzustimmende Dynamik. Die erstaunlich phantasievollen, knappen musikalischen Gesten werden so zu echten Kabinettstückchen. Einfach grandios, wie man in der Isarphilharmonie etwa am Schluss des dritten Stücks die große Trommel im ppp mehr über den Solarplexus als über das Gehör wahrzunehmen glaubt. Aber verglichen mit dem, was danach kommt, ist dies natürlich nur ein Appetizer.

Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 – vollendet unmittelbar bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs – warten nun mit einem Orchester auf, das selbst Mahlersche Dimensionen zu sprengen scheint. Sie sind vielleicht der Inbegriff des musikalischen Expressionismus, von ihrer emotionalen Intensität wie von der strukturellen Komplexität her, die keine „Füllstimmen“ kennt: Alles hat thematisch-motivisches Gewicht und stellt Dirigenten bei der Herstellung einer dynamischen Balance, die sowohl die Details hörbar macht, zugleich die Schichtungen von Haupt- und Nebenstimmen verständlich abbildet, vor bis dato völlig unbekannte Probleme. Zudem sind schon die rein instrumentalen Anforderungen an sämtliche Spieler exorbitant: Die 1. Posaune z. B. beginnt direkt mit einem hohen es“. Rhythmisch wird es ebenfalls dicht, obwohl keine Orgie an Taktwechseln notiert ist, wie etwa in Strawinskys Sacre. Frau Young koordiniert dies alles nicht nur perfekt, sondern geht auch emotional mit, ohne je übers Ziel hinauszuschießen: zutiefst beeindruckend. Alles bleibt klar, sieht immer geschmeidig aus, und mit der linken Hand gibt die Dirigentin nicht nur alle wichtigen Einsätze, sondern klug disponierend stets sehr deutliche dynamische Impulse. Die instrumentale Virtuosität und Empathie der Musiker des BRSO wird dem in jeder Weise gerecht. Vom anfangs noch wie in Schleier gehüllten Präludium über den unwirklichen Reigen streift der Zuhörer fast wie ein Voyeur in einem von Wänden unbehinderten Flug quer durch verschiedenste morbide Tanzböden, wo Walzer- und Ländler-Fetzen nur momentweise und perspektivisch verzerrt erscheinen, dabei längst keine fin-de-siècle Hochstimmung mehr aufkommen mag. Der Marsch schließlich wird zum reinen, gewalttätigen Horrortrip: wie eine Vision der noch ungeahnten Gräuel des beginnenden Krieges. Und hier darf der mörderische Holzhammer aus Mahlers Sechster tatsächlich dreimal aktiv werden – bis zum bitteren Ende. Wie kultiviert und farbig das dann trotzdem klingt, ist an diesem Abend schon ein kleines Wunder, das sofort erste Bravorufe provoziert.

Vor gut einem Jahr litt das Münchner Rundfunkorchester bei Zemlinskys Lyrischer Symphoniewir berichteten – unter Sänger-Absagen und unglücklichem Timing: nur einen Tag nach dem Jubiläumskonzert des BRSO. Dieses konnte nun unter optimalen Bedingungen seine erste Bekanntschaft mit dem lange unterschätzten Stück machen, das erst seit den 1980er Jahren als gleichrangig zu Mahlers Lied von der Erde anerkannt wird. Liegt die Gemeinsamkeit in der Verwendung asiatischer Dichtung, – hier des Bengalen Rabindranath Tagore – zielt Mahlers Vertonung mehr auf Weltschmerz, Zemlinskys imaginäre Liebesgeschichte hingegen auf ein wenig stereotype psychologische Innenwelten von Mann und Frau, jedoch als Individuen. Zemlinsky ging indes nicht den Weg Schönbergs und seiner Schüler in die Zwölftontechnik mit. Das BRSO unter Simone Young bringt den orchestralen Farbreichtum der tonalen, harmonisch zwischen Modalität und sensibler Chromatik pendelnden Partitur, an faszinierend schönen Details noch über Mahler oder Berg hinausgehend, in voller Pracht zur Geltung. Dabei trägt der große symphonische Bogen über das gesamte Werk. Ausdruck, Tempi, sehr differenzierte, bewusste Agogik und Balance stimmen auf den Punkt. Das übertrifft die gute Aufführung des Rundfunkorchesters dann doch nochmals spürbar.

Michael Volle erfasst als Heldenbariton ohne Sentimentalität und Pathos, aber mit Bestimmtheit und guter Textverständlichkeit, die Vorgaben des Komponisten exakt: Bis zum Schluss „ist der tiefernste, sehnsüchtige, doch unsinnliche [!] Ton des ersten Gesanges festzuhalten.“ Die Ausdruckswelten der Frau sind vielschichtiger und extremer. Dafür reicht der von Zemlinsky angedachte jugendlich-dramatische Sopran der jungen Schwedin Maria Bengtsson nicht ganz aus. Bei „Mutter, der junge Prinz…“ fehlt ihr schlicht das stimmliche Fundament und die Genauigkeit der Artikulation, um über das schillernde Orchester herüberzukommen. Hierzu bräuchte es wohl doch eine Strauss-Stimme, die eher Salome oder die Kaiserin als die Marschallin beherrscht. Da dem Rezensenten Michael Volles Stimme von Opern- und Konzertbühne gut vertraut ist, und dessen Timbre hier ebenso heller wirkt als „normal“, mag daran freilich die Akustik des HP8 mal wieder eine gewisse Mitschuld haben. Im musikhistorisch nachwirkenden vierten Gesang „Sprich zu mir, Geliebter“ wird sowohl der Sopranpart als auch das Violinsolo besonders zärtlich und mit Wärme gestaltet, vielleicht ein wenig zu passiv und verhalten. Das ist jedoch anscheinend das Konzept der Dirigentin, die bei der umsichtigen Begleitung der Gesangssolisten ihre lange Opernerfahrung gekonnt einbringt. Absolut ergreifend gelingt Bengtsson dann ihr letzter Gesang „Vollende denn das letzte Lied“ mit seinen bereits nicht mehr tonalen, eiskalten Linien, wo sie glaubwürdig voll aus sich herausgeht. Die nächtlichen Klangfarben des einsamen Endes in ihrer fantastischen Instrumentation – die letzte Partiturseite ist ein Wunderwerk – gelangen mit der großen Streicherbesetzung wirklich zauberhaft ans Publikum.

Insgesamt ein selbst für BRSO-Verhältnisse außergewöhnlich gelungener Abend, der mit begeistertem Applaus für alle Ausführenden honoriert wird. Diejenigen Abonnenten, die dem Konzert – wegen des vermeintlich anstrengenden Repertoires? – ferngeblieben waren, haben da leider eine Weltklasse-Leistung verpasst.

[Martin Blaumeiser, 16. Mai 2025]

Porträtkonzert für Pascal Dusapin bei der musica viva

Am 25. April 2025 widmete die musica viva im Münchner Herkulessaal ein gesamtes Konzert dem großartigen französischen Komponisten Pascal Dusapin (*1955), der Ende Mai einen runden Geburtstag feiert. Unter Leitung der Dirigentin Ariane Matiakh spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben den Soli Nr. 6 und 7 für Orchester und dem Violinkonzert „Aufgang“ mit dem Uraufführungssolisten Renaud Capuçon noch „Wenn du dem Wind…“ – drei Szenen aus der Oper Penthesilea mit der Mezzosopranistin Christel Loetzsch.

Loetzsch, Capuçon, Dusapin, Matiakh © Astrid Ackermann/BR

Zugegebenermaßen mag der Rezensent musica viva Konzerte, in denen Kompositionen von nur einem zeitgenössischen Komponisten erklingen, mit am liebsten, weil man sich dabei – zumeist – auf nur einen Stil und eine dann hoffentlich individuelle Klangwelt einstellen muss als von oft sehr heterogenen Programmen quasi durchgeschüttelt zu werden. Der Franzose Pascal Dusapin feiert Ende Mai seinen siebzigsten Geburtstag und ist in seiner Heimat seit über 30 Jahren ein echter Star, in Deutschland mit seinen Werken noch ein wenig unterrepräsentiert, wenn auch gerade in München kein Unbekannter mehr: Zuletzt war vor knapp zwei Jahren im Herkulessaal sein sehr kontemplatives Orchesterwerk „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island zu erleben – siehe unsere Rezension. Als einziger Schüler Iannis Xenakis‘ ist seine Musik zwar von mathematischen Konzepten durchdrungen, im Vordergrund steht aber immer vermittelbare Emotionalität an oberster Stelle: Der vor allem von Literatur und bildender Kunst geprägte Dusapin legt stets Wert darauf, sein Publikum tatsächlich zu erreichen; sicher mit ein Grund seines Erfolges.

Die beiden Orchesterstücke Reverso (Solo Nr. 6, 2006) und Uncut (Solo Nr. 7, 2009) sind die beiden letzten Teile eines fast 20 Jahre währenden Projekts einer Art Symphonie, die sich zwar „wie russische Babuschkas“ (Dusapin) aus einzelnen Kompositionsaufträgen zusammensetzt, die jedoch im Hinblick auf ein großes Ganzes konzipiert wurden. Eine Gesamtaufführung aller sieben „Sätze“ am Stück (~ 100 Min.) hat indes bisher nicht stattgefunden, und auch die obigen Stücke erklangen am Freitag nicht hintereinander, weil dies ein zu großes zeitliches Ungleichgewicht der beiden Konzerthälften zur Folge gehabt hätte. Im Gegensatz zu den zahlreichen Konzerten für Orchester der letzten 100 Jahre, wo dann einzelne Gruppen bzw. Solisten besonders hervortreten dürfen, versteht Dusapin den Gesamtapparat als ein Instrument, was deutlich wahrnehmbar vor allem die Holzbläser eher entindividualisiert. Trotzdem zeigen Reverso und Uncut höchst unterschiedliche Charaktere. So erscheint Reverso als in den Raum zusammengefaltete Klangfläche, – wie ein skulpturales Objekt, etwa ein sich dynamisch verändernder Torus – bei der nicht einmal mehr der zeitliche Verlauf linear wahrgenommen wird, trotzdem mit einer sehr harmonischen Hüllkurve. Hier sind in den Feinstrukturen Einflüsse des Minimalismus hörbar, die ohne Aleatorik auskommen, zugleich die dynamische Energie eines Edgar Varèse, dessen Arcana ein musikalisches Schlüsselerlebnis für Dusapin war. Die vor allem in Wien ausgebildete französische Dirigentin Ariane Matiakh schlägt deutlich, leider meist parallel – die linke Hand gibt fast nur Einsätze – und durchweg zu groß, überzeugt durch sehr klares und organisches Timing, hervorragenden Überblick sowohl bei den übergeordneten dramatischen Verläufen als auch der Agogik im Detail. Weniger Kontrolle hat sie freilich über die Feindynamik: Wenn sie selten mal mit Links etwas anzeigt, schaut da schon niemand mehr hin. Das funktioniert bei den Soli noch ganz gut, erstaunlicherweise sogar bei den drei Opernszenen, rächt sich jedoch später im Violinkonzert. Uncut ist deutlich schärfer konturiert, farbiger, in den Extremlagen intensiver, beginnt mit einer Art Blechbläserfanfare – am Schluss gibt es für die Gruppe und das Schlagwerk Extra-Applaus – und wirkt schon aufgrund des rascheren Grundtempos eben überhaupt nicht statisch: große Begeisterung dafür beim Publikum.

Dusapin schreibt momentan bereits an seiner elften Oper, und seine Penthesilea (2015) – nach Kleists bizarrer Umdichtung des Mythos – gehört sicher zu seinen beeindruckendsten Werken. Aus dem kurzen Prolog und den Szenen 2 und 4 schuf der Komponist eine dreisätzige Suite für den Konzertgebrauch ‒ lediglich mit der Hauptprotagonistin als Vokalpartie. Die Mezzosopranistin Christel Loetzsch hat die im wahrsten Sinne des Wortes „mörderische“ Partie konzertant schon komplett mit Frau Matiakh aufgeführt, verfügt über eine außergewöhnlich präsente Höhe und beherrscht alle stimmlichen Facetten, die vom „normalen“ Operngesang über Sprechgesang, Sprechen, Geschrei bis zu animalischeren Lautäußerungen reichen ‒ dies zum Glück eher im tieferen Register ‒ gemäß den hochdifferenzierten Anweisungen der Partitur; und so werfen sich hier mit der souverän vermittelnden Dirigentin die Solistin und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einem hochdramatischen Rausch gekonnt die Bälle zu. Wie vereinzelt bei manchen Ensemblewerken Xenakis‘ kommt der Harfe fast die Rolle eines Mediums zu, das ein gewisses Maß an Selbstreflexion bei der furienhaften Penthesilea ermöglicht. Was Frau Loetzsch gänzlich fehlt, ist leider ein für einen so großen Saal ausreichendes Fundament in der Mittellage und damit leider einhergehend jegliche stimmliche Wärme: Selbst mit der teils manierierten Überartikulation mancher Konsonanten ist nicht auszugleichen, was den Vokalen an Klangfarben mangelt. So bleibt die einstudierte Exaltiertheit streckenweise unglaubwürdig und ihr Vortrag geht doch stellenweise unter ‒ ohne Schuld des Orchesters. Trotzdem erntet die Sängerin am Schluss dieser emotionalen tour de force wahre Beifallsstürme.

Dusapins deutsch betiteltes Violinkonzert Aufgang von 2011 ist ein Musterbeispiel für sein Vermögen, zeitgemäße Klangwelten selbst in für viele Kollegen „überkommenen“ Formen kompromisslos zur Geltung zu bringen. Das Stück wird mit seiner traditionellen Dreisätzigkeit ‒ schnell, langsam, schnell ‒ schon äußerlich üblichen Hörerwartungen gerecht. Renaud Capuçon, bereits der Uraufführungsinterpret, hat den klangfarblichen Reichtum und die virtuos darzubietende Ausdrucksstärke des Werks in jeder Hinsicht verinnerlicht und kann die Schönheit und Energie des Violinparts mühelos aufs Publikum übertragen. Dieser erfordert Sanglichkeit in der Höhe, zupackende Verve, aber auch kontemplative Innigkeit in zahlreichen Solopassagen und extrem präzises Aufeinander-Reagieren zwischen Violinisten und Orchester. Diesem fehlt hier nun die erwähnte Kontrolle Frau Matiakhs über die Feindynamik, und so muss Capuçon leider – insbesondere bei Laufwerk – zu oft vergeblich um eine angemessene Balance kämpfen. Der sehr lange langsame Satz hat eine bemerkenswerte Steigerung nach der Mitte und endet dann in typisch Dusapinscher Melancholie. Das Finale ist absolut hinreißend und rundet ein vielschichtiges Konzert zu aller Zufriedenheit ab. Capuçon verzichtet trotz lautstarker Zustimmung allerdings auf die von manchem erwartete Zugabe.

[Martin Blaumeiser, 27. April 2025]

Mit Musik wird alles noch besser: Gisela Höhnes Buch „Dann mit RambaZamba“

Mitteldeutscher Verlag 2024; ISBN 978-3-96311-956-9

Was hat eine Rezension des Theaterbuchs Dann mit RambaZamba in einem klassischen Musikmagazin zu suchen? Auf den ersten Blick eher nichts, auf den zweiten recht viel. Denn es handelt sowohl von der Überwindung von Grenzen, als auch von der Bedeutung der Musik bei der künstlerischen Arbeit mit seelisch, geistig oder körperlich eingeschränkten Menschen. Dafür steht beispielhaft das Schauspielkollektiv RambaZamba, das untrennbar verbunden ist mit der Regisseurin Gisela Höhne. In ihrer kürzlich erschienenen Autobiographie erzählt sie sehr persönlich vom „Theater und Leben zwischen Tiefen und Höhen“, wie der Untertitel heißt.

Gisela Höhne wird 1949 im thüringischen Suhl geboren, wächst in Stralsund auf und zieht 1967 nach Berlin. Hier lebt sie ihre Theaterbegeisterung aus und beginnt zunächst ein Filmregie-Studium in Babelsberg. Damit nicht zufrieden wechselt sie an die renommierte Schauspielschule Ernst Busch, macht in Studentenproduktionen auf sich aufmerksam und tritt 1974 ein Engagement in Neustrelitz an. Doch 1976 ändert sich ihr Leben schlagartig, als ihr erster Sohn Moritz mit dem Down-Syndrom geboren wird. Sie entscheidet sich, den Beruf hintanzustellen, um ihn intensiv betreuen zu können. In der ehemaligen DDR ist eine angemessene Förderung begrenzt, deshalb wird Gisela Höhne selbst aktiv, kämpft gegen Vorurteile und findet Möglichkeiten, die Entwicklung von Moritz positiv zu beeinflussen. Aber irgendwann merkt sie, wie ihr das Theater fehlt. Deshalb studiert sie, als die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind – 1979 kommt der zweite Sohn Jacob zur Welt –, Dramaturgie und Theaterwissenschaft. Parallel dazu entsteht die Idee, mit Menschen einer anderen geistigen Ordnung – wie Gisela Höhne sie nennt – künstlerisch zu arbeiten. Sie beginnt mit Moritz und Jugendlichen aus seinem Umfeld, kleine artistische Zirkusstücke zu erarbeiten.

Daraus entsteht 1990 die Kunstwerkstatt Sonnenuhr e.V. und 1991 das Theater RambaZamba, das Gisela Höhne zusammen mit ihrem langjährigen Partner, dem Regisseur Klaus Erforth entwickelt. Das Ensemble besteht aus Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen, deren Potential die beiden in rund 40 Inszenierungen sensibel erwecken und dadurch ihr Selbstbewusstsein stärken.

Dass dazu ein langer Weg des Probierens und Herantastens und die Überwindung von Herausforderungen multipler Art gehören, verschweigt Gisela Höhne nicht. Sie kämpft um Finanzen, Räume, Stellen und leistet Überzeugungsarbeit bei politisch Verantwortlichen. Künstlerisch ist sie da schon längst etabliert. Die ausgewählten Stücke sind zwar anspruchsvoll –, etwa Shakespeares Wintermärchen, Medea oder Woyzeck neben Eigenkreationen – doch werden sie den darstellerischen Möglichkeiten der Truppe angepasst. Phantasie und Improvisation sind genauso Mittel wie die Einbeziehung von Musik und einer eigenen Band – auch wegen der eingeschränkten Artikulation mancher Mitspielenden. Nur drei Beispiele: Winterreise, eine poetische szenische Aufführung von Schuberts Liederzyklus, arrangiert für Schlagwerk, Geige und Gitarre mit tänzerischen Elementen; die freche Chanson-Revue Am liebsten zu dritt über ein Tabuthema: dass Menschen mit Down-Syndrom möglichst keine Kinder bekommen sollen; die eigenwillige Opernadaption Orpheus ohne Echo zu von Maria Callas gesungenen Arien.

Die Beschreibung der Inszenierungen macht einen besonderen Reiz des Buches aus, ein anderer sind die Porträts einiger Mitwirkenden mit ihren Stärken, Schwächen und Eigenarten. Gisela Höhne hat für ihre Idee gerungen und gewonnen. „Für mich erfüllt sich ein Traum“ beschreibt sie ihr Gefühl, als das RambaZamba am Anfang seines Bestehens im Deutschen Theater auftritt, dem sich später europaweite Gastspiele anschließen. Dank ihres unermüdlichen Einsatzes und dem vieler guter Geister – genannt sei stellvertretend die musikalische Allroundfrau Bianca Tänzer –, die mit Leib und Seele dabei sind, erreicht sie die Professionalisierung des RambaZamba. Auch dafür erhält sie 2009 das Bundesverdienstkreuz. Heute verfügt die vielfach ausgezeichnete Truppe über feste Arbeitsplätze, hat ihren Platz in der Berliner Kulturbrauerei gefunden und arbeitet mit Schauspiel- und Regiegrößen zusammen. 2017 übergibt Gisela Höhne die Geschäftsführung und Intendanz an ihren inszenierenden Sohn Jacob. Dann mit RambaZamba ist nicht nur für Kulturinteressierte lesenswert. Das mit zahlreichen Farbfotos angereicherte Buch bricht eine Lanze für gelungene Inklusion und richtet einen liebevollen Blick auf zu wenig beachtete Menschen.

[Karin Coper, April 2025]

Klingende Musikgeschichte – Stationen des Historischen Bildungskonzerts vom 17. Jahrhundert bis heute

Um in das Thema einzuführen, möchte ich mit einer kleinen autobiographischen Begebenheit beginnen. Als ich vor vielen Jahren meinen damaligen Musiklehrer in der gymnasialen Oberstufe mit Blick auf eine nahende Prüfung fragte, ob er mir Literatur empfehlen könne, die einen fundierteren Überblick über die Musikgeschichte vermittelt, erhielt ich folgende Antwort: „Schau dir doch einfach diese Konzertserie von Bernstein an.“ Freilich hatte ich damals bereits von Leonard Bernstein gehört, aber die von meinem Lehrer angedeutete Konzertreihe war mir bis dato unbekannt. Mit diesen recht spärlichen Informationen machte ich mich an das (letztlich recht aufwendige) Unternehmen, mir irgendwoher das besagte Material zu beschaffen. Was mir mein Lehrer damals empfahl, waren die sogenannten Young People’s Concerts, die Bernstein in den späten 50er bis frühen 70er Jahren mit dem New York Philharmonic Orchestra überaus erfolgreich präsentierte.

Diese Konzerte, in denen Bernstein mit all seiner medialen Vermittlungskompetenz und vor allem seinem Charisma klassische Musik einem damaligen Millionenpublikum durch das Fernsehen näherbrachte, sollte letztlich auch mein Interesse nicht nur für die Musikgeschichte allgemein, sondern speziell auch für die Art ihrer Aufbereitung und Vermittlung beeinflussen. Ich kann meinen biographischen Einstieg vielleicht dahingehend bilanzieren, dass Bernstein mit seinen Young People’s Concerts sicherlich dazu beigetragen hat, dass ich mich später für das Studium der Musikwissenschaft entschied.

Wenn man einmal grundsätzlich über den hier angerissenen Zusammenhang von Musikgeschichte, musikgeschichtlicher Bildung und deren Vermittlung ins Nachdenken gerät, so gelangt man fernab der traditionellen Formate musikhistorischer und -historiographischer Aufbereitung auch zu dem Phänomen des Historischen Konzerts. Genauer gesagt, zum Historischen Bildungskonzert im Sinne einer klingenden Vermittlung von Musikgeschichte. Im Zuge einer Recherche nach dem Ursprung und zentralen Entwicklungsstationen dieses Konzerttypus wird recht schnell offensichtlich, dass das Format durch die Geschichte hindurch häufig mit konkreten Bildungsintentionen verknüpft wurde. Diese Vermittlungsabsichten dokumentieren sich vor allem in der Art und Weise der Selektion von bestimmtem Repertoire sowie in den die Konzerte zumeist flankierenden Werkkommentaren der Programmverantwortlichen, in denen die Begründung der intendierten Auswahl mitgeliefert wird.

Im Folgenden möchte ich mich auf ausgewählte Fallbeispiele des Historischen Konzerts im Zuge eines kleinen „Gänsemarschs der Epochen“ (Ernst Bloch) konzentrieren und dabei die den Konzerten zugrundeliegenden Bildungsintentionen erläutern. Die Frage nach den Absichten, wie und warum bestimmte Kompositionen ausgewählt und kommentiert werden, damit sie in der Funktion einer übergeordneten musikgeschichtlichen Bildungsidee aufgehen, stellt das verbindungsstiftende Motiv meiner Ausführungen dar.

I. Das Historische Konzert als tönende Theologie im 17. Jahrhundert

Den Anfang meines Überblicks bildet eines der wohl frühesten Historischen Konzerte aus dem damals protestantisch geprägten Nürnberg um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Bei diesem Exempel handelt es sich weniger um die Absicht einer Wiederbelebung älterer Musik um ihrer selbst willen, als vielmehr um die wohldurchdachte Darbietung von Kompositionen, die so etwas wie eine chronologisch sortierte, klingende Geschichte der christlichen Musik bot.

Was wissen wir über das betreffende Konzert, das am 31. Mai 1643 in Nürnberg stattfand? Dokumentiert ist, dass der damalige Professor für Theologie der Nürnberger Universität, namens Johann Michael Dilherr, ein großer Liebhaber und Kenner der Musik war, und dass eben dieser Dilherr ein Gesuch an den Rat der Stadt richtete, um eine sogenannte „Entwerffung des Anfangs, Fortgangs, […] Brauchs und Mißbrauchs der Edlen Music“ ausrichten zu dürfen, was dann auch positiv beschieden wurde. Über den Inhalt und Ablauf des Konzerts im großen Stadtsaal geben die Chroniken des Nürnberger Archivs recht genaue Auskunft. Man kann zunächst festhalten, dass dieses in jederlei Hinsicht groß angelegte Konzert einiges Aufsehen in der Stadt erregte, was umso mehr erstaunen mag, als wir uns in einer Zeit omnipräsenter Konflikte, verursacht durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, befinden. Doch die Stadtchronik gibt wieder, dass nicht nur das nahezu gesamte, verfügbare Personal an städtischen Musikanten, Stadtpfeifern, Sängern, Kantoren und Organisten aufgeboten wurde, sondern dem Konzert schließlich auch eine „unglaubige Menge Volks, ja wohl etliche Taußend Menschen“, beigewohnt haben muss.

Das Konzertprogramm, welches Dilherr ausgewählt und in einer lateinischen Vorrede ausführlich erläutert hat, vollzieht zunächst eine Entwicklung der biblischen Musikgeschichte nach. Die unverkennbare theologisch motivierte Kontextualisierung des Programms stand dabei im Dienste der Veranschaulichung, welche Bedeutung und welcher Nutzen der musica sacra seit der Erschaffung der Welt zukam. Entsprechend reicht der erste Teil des Programms von einem anfänglichen Gesang dreier Diskantisten im Sinne einer Versinnbildlichung der Engels- oder Himmelsmusik mit Texten aus dem Genesisbericht, über Harfen- und Flötenspiel in Erinnerung an Jubal, dem biblischen Erfinder der Instrumente, über alttestamentarische Psalmgesänge der Erzmusiker David und Salomo bis hin zu neutestamentarischen Lobliedern anlässlich Jesu Verkündigung – um hier nur einige der dargebotenen Stücke aufzulisten. Nach Abschluss dieses biblischen Programmteils kam es dann zu einem zeitlichen Wechsel innerhalb des Konzertablaufs. Denn durch Dilherrs Wahl eines gregorianischen Chorals bewegte sich das Programm fortan erstmals auf dem Boden musikgeschichtlicher Tatsachen. Es folgten sodann Beispiele für mehrstimmige Figuralmusik (u. a.) von Johannes Ockeghem, womit wir uns bereits mitten im 15. Jahrhundert befinden, sowie eine Motette Orlando di Lassos, also eines Vertreters des 16. Jahrhunderts. Mit doppelchörigen Werken von Giovanni Gabrieli und Hans Leo Hassler – Akteuren, die wir heute historiographisch in die Frühphase der Barockmusik einordnen – sollte dann der vorläufige musikgeschichtliche Höhepunkt, sowohl was die kompositionstechnische Entwicklung als auch den Nutzen gottesdienstlicher Musik betrifft, präsentiert werden. Durch diese vergleichende Gegenüberstellung von Komponisten und Stilen aus verschiedenen Epochen beabsichtigte Dilherr auf den kompositorischen Fortschrittsprozess der Kirchenmusik aufmerksam zu machen. Dieses Vorhaben enthielt dabei eine zentrale theologische Bildungsintention: Dadurch, dass Dilherr am Ende des Konzerts auch einen protestantischen Choral sowie eine Darbietung des Verses „Coelestis musica salve“ darbieten ließ, bekam der musikgeschichtliche Fortschrittsgedanke des Konzerts einen konfessionellen, und zwar einen protestantisch-lutherischen Akzent. Nachdem die Musik der biblischen Vergangenheit und der nicht zu überbietenden Gegenwart verklungen war, erfolgte eine Art prophetische Ankündigung der nahenden Himmelsmusik, eben jener „coelestis musica“, als einem Sinnbild für die im protestantischen Glauben fest verankerte Vorstellung von der endzeitlichen Apokalypse. Biblische Vergangenheit, weltliche Gegenwart und zukünftige Prophetie wurden damit in dem Nürnberger Konzert auf Basis eines theologisch geleiteten Geschichtsverständnisses zusammengeführt und durch das göttliche Medium der musica sacra klingend zum Ausdruck gebracht.

II. Das Historische Konzert Gottfried van Swietens – oder: Zur Konstruktion eines musikgeschichtlichen Erbes

Ich komme damit zum zweiten Fallbeispiel eines Historischen Bildungskonzerts und mache dabei einen großen Sprung vom 17. in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hierbei geht es mir um die Anfänge des Historischen Privatkonzerts, die neben ersten Ausprägungen in London und Berlin vor allem in Wien zu finden sind – und hier personell aufs Engste verbunden mit dem Diplomaten, Bildungspolitiker und bedeutenden Musikmäzen Baron Gottfried van Swieten.

Van Swieten, der ab 1777 Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek war und zeitlebens als großer Kenner der Tonkunst, mitunter auch als „Patriarch der Musik“ gerühmt wurde, versammelte seit den 1780er Jahren in seiner Wiener Dienstwohnung namhafte Musiker in sonntäglichen Matineen, bei denen vorrangig Werke alter Meister, insbesondere Musik Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels, gespielt und studiert wurden. An diesen Veranstaltungen der sogenannten Gesellschaft der Associierten Cavaliere nahm unter anderem auch Wolfgang Amadeus Mozart ab 1782 regelmäßig teil, den van Swieten ebenso protegierte wie später Ludwig van Beethoven. Im Rahmen der Matineen sollte Mozart erstmals in intensiven wie kompositorisch nachhaltigen Kontakt mit der Musik Bachs kommen. Auch Joseph Haydn stand in engem, langjährigem Verhältnis zu van Swieten, der (u. a.) für die Bearbeitung der Libretti zu den Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten verantwortlich zeichnete. Nicht zuletzt widmete Beethoven dem Baron seine Erste Symphonie aus Dankbarkeit für die ihm zukommende Förderung – aber wohl auch aus strategischem Kalkül, wohlwissend um Stellung wie Einfluss van Swietens im damaligen Musikzentrum Wien.

Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass van Swieten aufgrund seiner musikalischen Kompetenzen und mäzenatischen Netzwerke maßgeblich zur Konstruktion dessen beigetragen hat, was wir heute historiographisch (eingedenk aller terminologischen Schwierigkeiten) mit dem Begriff „Wiener Klassik“ bzw. als „klassische Trias“ bezeichnen. Entscheidend mit Blick auf die von van Swieten veranstalteten, an eine aristokratische wie intellektuelle Elite gerichteten Hauskonzerte ist die funktionale historische Verortung speziell der Werke Bachs und Händels in das damals zeitgenössische Verständnis von Musikgeschichte. In diesem Punkt konkretisiert sich die besondere Vermittlungsintention van Swietens. Entscheidend ist, dass er die Komponisten Bach und Händel als historische Instanzen installierte, an die er vor allem Haydn und Mozart kompositorisch anschließbar machen wollte – und zwar im Sinne einer wenn auch nicht fortschrittsgeleiteten, so doch geschichtlich folgerichtigen Stilentwicklung. Das in der Musikhistoriographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vielfach zu lesende Narrativ von einem heroengeschichtlichen Entwicklungsgang der Musik, welcher von Bach und Händel ausgehend unmittelbar zu den Wiener Klassikern führt, findet mit den Historischen Konzerten van Swietens eine der frühesten Vorbildungen. Kurz gesagt werden Bach und Händel – wohlbemerkt bereits in den 1780er Jahren – im Zuge der Swieten-Konzerte zu Vorläufern einer neuen Musikepoche inthronisiert, eben zu jener der sogenannten „klassischen Trias“. Hier vollzieht sich nicht weniger als die Konstruktion eines historiographischen Erbes, das in der Musikgeschichte für lange Zeit diskursmächtig wirken sollte.

III. Das Historische Konzert als musikgeschichtliches Korrektiv – François-Joseph Fétis

Mit den rezeptionsgeschichtlichen Folgen der „Wiener Klassik“ sind wir im „langen“ 19. Jahrhundert angelangt, und ich möchte als Beispiel eines Historischen Konzerts aus dieser Zeit auf ein bedeutendes Projekt des belgischen Komponisten und Musikschriftstellers François-Joseph Fétis eingehen. Ab dem Jahre 1832 organisierte Fétis in Paris zwei vielbeachtete Veranstaltungen: zum einen die Vorlesungsreihe Cours de philosophie musicale et d’histoire de la musique und zum anderen die damals weithin beachteten Concerts historiques. Das Neuartige und Aufsehenerregende dieser öffentlichen Konzerte war die Art und Weise der philosophisch-historischen Betrachtung, die sich in der methodischen Anordnung der Programme nach bestimmten Gattungen, Schulen, Nationen und Epochen niederschlug. Bemerkenswert ist, wie Fétis während der Planung und Durchführung der Konzerte mehr und mehr zu der Überzeugung gelangte, die bis dato vorherrschende musikalische Fortschrittsdoktrin anzuzweifeln.

Aus musikgeschichtlichem Interesse hatte er nicht nur die historiographischen Schriften eines Charles Burney und Johann Nikolaus Forkel gelesen, sondern auch ältere Kontrapunkt- und Harmonielehrbücher studiert. Im Zuge dessen war Fétis zu der Überzeugung gelangt, dass viele der vergessenen Kompositionen für ihn musikalisch gehaltvoller waren als die meisten Werke aus neuerer Zeit. Er beschäftigte sich daraufhin mit den Werken bedeutender Komponisten der Vergangenheit, bis zurück zur Musik der Trouvères und Troubadours, und erkannte, dass die ihnen zugrundeliegenden musikalischen Regeln variabel, weil je nach Ort und Zeit verschieden waren.

In seiner – unvollendet gebliebenen – Histoire générale de la musique, die Fétis 1869 begonnen hatte, erklärte er schließlich die europäisch-abendländische Musikgeschichte zu einer von vielen Entwicklungssträngen und entzog ihr damit den Status eines Paradigmas, an dem alle anderen Musikarten und -stile zu messen seien. Es war diese ästhetische Nivellierung historischer Unterschiede mit dem Ergebnis einer bis dato neuartigen Aufwertung älterer Musik bzw. einer Abwertung des stilistischen Fortschrittsnarrativs eurozentristischer Provenienz, die Fétis in seinen Historischen Konzerten als zentrale Bildungsintention klanglich zu vermitteln trachtete.

IV. Das Historische Konzert der Gegenwart und die Evidenz der klingenden Lebenswelt

Zum Abschluss möchte ich nochmals einen großen zeitlichen wie räumlichen Sprung machen – dieses Mal vom Paris des 19. zur amerikanischen Ostküste des 20. Jahrhunderts. Damit komme ich wieder zurück zum Ausgangspunkt meiner Vorbemerkung. In meinem letzten Beispiel für ein Historisches Konzert widme ich mich den Anfängen einer angewandten Vermittlung von Musikgeschichte mittels des damals noch jungen Mediums Fernsehen. Den Beginn dieser Entwicklung bildet – wie bereits angedeutet – Leonard Bernstein, den ich hier allerdings nur kurz anführen möchte. Vielmehr geht es mir im Folgenden um die Frage, welche gegenwärtigen Konzepte des Historischen Konzerts es eigentlich gibt und wie musikhistorische Bildung in Zeiten aktueller Vermittlungsdebatten aussehen kann.

Ein überaus erfolgreiches Format bildet in diesem Zusammenhang die Fortführung der von Bernstein initiierten Young People’s Concerts. In New York war in den 2000er-Jahren der Dirigent Delta David Gier mitverantwortlich für die Konzeption dieser Konzerte. Es ist für mein Thema aufschlussreich nachzuvollziehen, wie Gier und seine Mitstreiter des New York Philharmonic Orchestra das Format derart modernisiert haben, dass es beständig eine große Zielgruppe von Kindern wie Erwachsenen ansprach und noch immer anspricht. Zu fragen wäre, wie das Erfolgskonzept dieser Aktualisierung musikhistorischer Bildung umrissen werden kann.

In einer Ankündigung der Konzertreihe für das Jahr 2009 hat Gier einen Teil der Programme wie folgt erläutert: „In jedem der vier Konzerte […] haben wir dieses Jahr vier verschiedene Aspekte, die wir durch die Musik vermitteln möchten. Das erste Konzert widmet sich zum Beispiel dem Thema ,Musik zum Tanz‘. Das Element […] ist Rhythmus, und wir werden gemeinsam einen Weg durch dieses Programm beschreiten, das von Bach bis hin zu Steve Reich reicht – und vielleicht noch darüber hinaus. Es soll darum gehen, wie der Rhythmus Teil unseres täglichen Lebens ist, von unserem Herzschlag bis hin zur Art und Weise, wie wir gehen. […] Es geht darum, welche Rolle der Rhythmus in all diesen verschiedenen Musikstilen und -epochen spielt. Wir beenden dieses Konzert mit dem Bolero von Ravel – der eine Art ultimatives Rhythmusstück ist.“

Der Vermittlungsansatz, den Gier hier am Beispiel eines der Konzerte skizziert, kann als repräsentativ für die Gestaltung der gesamten Serie gelten. Zentral ist dabei der Versuch, auf Basis eines übergeordneten musikalischen Themas, wie hier dem Zusammenspiel von Musik und Tanz bzw. Rhythmus und Bewegung, anschauliche Beispiele aus der Musikgeschichte auszuwählen und diese zur Grundlage eines klingenden Bildungstransfers zu machen – eines Transfers, der darauf abzielt, ein Bewusstsein für die Musik im Sinne ihrer ästhetischen Äquivalenz bzw. Übertragbarkeit auf ganz alltägliche Phänomene wie dem großstädtischen Klangrhythmus zu schaffen. Die Kinder und Jugendlichen werden durch die Konzerte dafür sensibilisiert, ihre eigene Lebenswelt als eine klingende wahrzunehmen und diese Erfahrungen wiederum im Rahmen neuer Konzerterlebnisse einzubeziehen. Dieser phänomenologisch basierte Ansatz, der auf eine sinnstiftende Beziehung zwischen der eigenen Biographie und der tönenden Umwelt abzielt, scheint mir gegenwärtig einer der Hauptstränge der Vermittlungskonzepte Historischer Konzerte zu sein und den Erfolg der Formate bei einem nicht allein jüngeren Publikum mitzuerklären.

Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen angelangt. Wichtig ist mir, abschließend nochmals auf das verbindungsstiftende Motiv meiner verschiedenen Fallbeispiele hinzuweisen: und zwar auf das übergreifende Anliegen, mittels der Selektion eines bestimmten Musikrepertoires auf übergeordnete geschichtliche, historiographische und/oder ästhetische Sachverhalte aufmerksam zu machen. Sei es die Vermittlung einer spezifisch konfessionellen Musikhistorie wie 1643 in Nürnberg oder die Konstruktion eines musikgeschichtlichen Erbes der „Wiener Klassik“ durch van Swieten, die Aufwertung alter Musik im Sinne eines historiographischen Korrektivs wie bei Fétis oder die Starkmachung eines Sinnbezugs zwischen den Werken der sogenannten „klassischen“ Musik und der eigenen Lebenswelt in heutigen Formaten des Historischen Konzerts – in all diesen Beispielen geht es letztlich um die Mitteilung einer Bildungsidee qua Geschichtsrekurs, genauer gesagt: um eine tönende Vermittlung von Musikgeschichte, die in ihrem Verklingen Vergangenheit erfahrbar macht und damit in mehrerlei Hinsicht mit Sinn erfüllt.

[Kai Marius Schabram, April 2025]

Simon Rattle dirigiert exemplarisch Boulez, Berio und Lachenmann

Diesmal – ungewohnt an einem Samstag: 22. März – leitete Simon Rattle „sein“ musica viva Konzert der Saison im Herkulessaal, das ausschließlich älteren Werken von Jubilaren des Jahres 2025 gewidmet war: Pierre Boulez‘ „Cummings ist der Dichter“, Luciano Berios „Laborintus II“ sowie Helmut Lachenmanns „Harmonica“ – mit dem Tubisten Stefan Tischler. Neben dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wirkte auch wieder der Chor mit, teilweise solistisch.

Simon Rattle, Stefan Tischler, Helmut Lachenmann © Astrid Ackermann; BR

Im sehr gut besuchten Herkulessaal gab es letzten Samstag ein außergewöhnliches Symphoniekonzert der musica viva: zwar keine Uraufführung, dafür jedoch gleich drei Klassiker der Neuen Musik, die trotz ihres Nimbus eigentlich sehr selten gespielt werden. Damit sollten wohl deren Komponisten als Jubilare des Jahres 2025 besonders geehrt werden.

Cummings ist der Dichter (1970) von Pierre Boulez (1925–2016) war in München zuletzt 2016 im Prinzregententheater unter der Leitung George Benjamins zu hören – mit dem gerade noch bestehenden SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg sowie dem SWR Vokalensemble. Damals erklang die Fassung mit 16 Solostimmen. Zum Glück hat sich Sir Simon Rattle für die dreifache Besetzung – bei den in der Partitur von 1986 als solchen gekennzeichneten Tutti-Passagen – entschieden, die dem Chor des Bayerischen Rundfunks (Einstudierung hierfür: Max Hanft) viel besser das nötige chorische Atmen bei den zahlreichen sehr lange liegenden Klängen in dieser Vertonung eines Gedichts des Amerikaners Edward Estlin Cummings erlaubt. Ebenso erreicht der bei diesem Stück ausnahmsweise ohne Taktstock dirigierende Sir Simon so eine deutlich bessere Balance mit dem nie aufdringlich werdenden Orchester. Und zum Glück betont er überhaupt nicht die vielen an- und abschwellenden Triller der Partitur, die den Rezensenten bei anderen Darbietungen auf Dauer nervten und an diesem Abend öfter als Ausschwingvorgänge verstanden werden. Rattle widmet sich mehr der Feindynamik innerhalb des höchst anspruchsvollen Chorsatzes und darf dem in dieser Hinsicht enorm selbstständigen Agieren seiner nur 27 Spieler des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks – ohne Schlagzeug! – voll vertrauen. Insgesamt erstaunt die Lebendigkeit, Natürlichkeit und Transparenz des Klanges dieser unter der Motorhaube freilich seriellen, zugleich irgendwie frühlingshaften Musik, die auch das Publikum anspricht.

Vielschichtiger und eher Musiktheater als ein konzertantes Werk, präsentiert sich Luciano Berios (1925–2003) gut halbstündiges Laborintus II von 1965, auf einen collage-ähnlichen Text Edoardo Sanguinetis, deutlich experimenteller. Eine Sprecherin – als Gast und nicht wirklich überzeugend: Marie Goyette – sowie aus dem Chor des BR drei singende Frauenstimmen und acht mit Sprechgesang im weitesten Sinne befasste Solisten (alle exzellent!) müssen sich also mit einem Dschungel an Texten – von der Bibel über Dante, Ezra Pound, T. S. Eliot und natürlich Sanguineti selbst – auseinandersetzen (Einstudierung: Stellario Fagone). Dazu kommt dann wiederum ein ähnlich dimensioniertes Orchester wie bei Boulez, diesmal allerdings mit äußerst effektivem Schlagzeug, plus ein 2-Kanal-Zuspielband. Für alle Stimmen fordert Berio Mikros, und einmal mehr schafft die Klangregie Norbert Ommers optimale Voraussetzungen für eine immer stimmige Balance, so dass Rattle hier souverän extrem unterschiedliche Klangräume bedienen kann. Vieles kommt aus historischen Kontexten mittelalterlicher Musik, aber dagegen gibt es gelenkte Aleatorik à la Lutosławski, wiederholte Patterns wie im Musical, eine Stelle mit Jazzimprovisationen, Agitprop der 1960er Jahre und dann im letzten Drittel noch das unerbittliche Tonband. Wie Rattle – völlig klar in seiner konzentrierten Zeichengebung – dieses komplexe Geflecht zu einem durchaus unterhaltsamen, faszinierenden Organismus verschmilzt, ist eine wirkliche Glanzleistung und weil Berio trotzdem immer auch eine Prise italienischen Humors einfließen ließ, letztlich echt begeisternd.

Helmut Lachenmann, der im November 90 Jahre alt wird, hat neben einer gewissen Verweigerungsästhetik oft vermocht, klangliche Opulenz mit einer unglaublichen Palette ganz neuartiger Klänge des immer ganzheitlich betrachteten Instrumentariums zu erzeugen. Ein Musterbeispiel dafür ist Harmonica (1981/83): Nach der Pause spielt so das volle Orchester mit seinem praktisch durchgehend beschäftigtem Solo-Tubisten: Stefan Tischler. Man gönnt ihm natürlich, das Stück als eines der wenigen vorzeigbaren Konzerte für sein Instrument aufzufassen. Doch trotz der ungeheuren physisch-technischen Anforderungen, die Tischler sensationell bewältigt, der enormen Vielfalt an Spielanweisungen und Ausdruckscharakteren: Harmonica ist ebenso wenig ein Solokonzert im herkömmlichen Sinn wie das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni, das beim BRSO im Juni gespielt werden wird. Der Solist erscheint fast nie als Auslöser des gleichermaßen hochdifferenzierten Geschehens im Orchester, sondern eher als der neunmalkluge Kommentator im Hintergrund, der vielleicht sogar emotional vieles steuert, gleichzeitig jedoch hinterfragt. Lachenmann hat den Solopart übrigens nachträglich komponiert. Ein geistreiches Spiel und ein überwältigendes Klangbad, schon an der Grenze zur Überinstrumentierung, das jedoch zweifellos seinesgleichen sucht. Hier scheinen Rattle und sein Orchester endgültig in ihrem Element zu sein: Lachenmanns Musik hat, gerade auch wegen dessen kritischer Grundhaltung, nach über 40 Jahren nichts von ihrer Faszination verloren. Der Komponist, der am Schluss auf die Bühne kommt, und alle Mitwirkenden dürfen hochverdient minutenlangen Applaus entgegennehmen.

[Martin Blaumeiser, 23. März 2025]

Grace – The Music of Michael Tilson Thomas

Pentatone PTC 5187 355 (4 CDs & Buch)

EAN-Nr.: 8 717306 263559

Michael Tilson Thomas gehört zu den namhaftesten Dirigenten unserer Zeit. Anlässlich seines 80. Geburtstags hat Pentatone eine 4-CD-Edition veröffentlicht, die es ermöglicht, Tilson Thomas nun auch als Komponisten umfassend kennenzulernen.

Am 21. Dezember des vergangenen Jahres feierte Michael Tilson Thomas seinen 80. Geburtstag. Seit den Siebzigerjahren ist der Dirigent bekannt und beliebt – nicht nur in seiner amerikanischen Heimat. Sein Repertoire ist zwar vielfältig, aber auch von konkreten Vorlieben geprägt. Oper gehört nicht dazu, die Musik des Barock auch eher weniger. MTT, wie er von seinen Freunden und Fans genannt wird, hat sich vor allem in der Sinfonik des 20. Jahrhunderts hervorgetan. Besonders die Werke amerikanischer Komponisten haben in Tilson Thomas einen ebenso begeisterten wie hochkompetenten Interpreten gefunden: Er ist bislang der Einzige, der das Gesamtwerk von Carl Ruggles einspielte, seine Ives-Einspielungen zählen zu den besten, die es auf dem Markt gibt, und auch die Musik Aaron Coplands, den er persönlich kannte, zählt zu seinen Spezialitäten: Im Juni 2022 brachte er mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Münchner Herkulessaal Coplands Dritte Symphonie zur umjubelten Aufführung.

Leider wurde vor einigen Jahren ein bösartiger Gehirntumor beim Dirigenten festgestellt; nach Behandlungen ist er wiedergekehrt, und so wie es jetzt aussieht, wird MTT Ende April sein Abschiedskonzert mit des San Francisco Symphony Orchestra geben, dem er von 1995 bis 2020 als Chefdirigent vorstand.

Dass sich Michael Tilson Thomas immer auch als Komponist betätigte, ist allerdings zumindest außerhalb Amerikas nie so recht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Daher hat die Firma Pentatone zu Tilson Thomas‘ 80. Geburtstag eine luxuriöse Box mit 4 CDs herausgegeben, auf der zumindest ein großer Teil seiner Musik vertreten ist. Und nicht nur das: Die Box kommt in Form eines luxuriösen Buchs daher, in dem sich zahlreiche Fotografien, Kommentare und Einführungstexte finden, letztere meist von Tilson Thomas selbst. Die Qualität dieser Hommage ist kaum zu übertreffen – das betrifft nicht nur die wunderschöne Aufmachung, sondern auch durchweg die Klangqualität und vor allem die Interpretationen: Natürlich ist zumeist MTT persönlich (als Dirigent) an ihnen beteiligt, und die diversen Solisten lesen sich wie ein Who is Who der Musikszene: Renee Fleming, Thomas Hampson, Jean-Yves Thibaudet und andere. Nicht zu vergessen sind sämtliche Gesangstexte mit abgedruckt. Ein tolles Geburtstagsgeschenk also.

Kommen wir nun wenigstens kurz zur Hauptsache der Box: Michael Tilson Thomas‘ Musik. Die meisten werden es schon ahnen: Wer hier Avantgarde europäischer Prägung erwartet, wird enttäuscht werden. Größtenteils bewegt sich Tilson Thomas auf dem Boden der Tonalität, und er hat auch keine Angst vor Polystilistik: Jazz, Broadway, Vaudeville: Alles taucht in den Stücken auf, und sei es nur ganz kurz. In ihrer Ablehnung jeder Form von Purismus erinnert diese Musik an die von Thomas‘ Kollegen wie André Previn und vor allem Leonard Bernstein, mit dem er auch befreundet war.

Einige kurze Stücke sind Musikerfreunden gewidmet – nicht zuletzt das Lied Grace, das der Sammlung ihren Namen gab und Lenny Bernstein zugeeignet wurde. Oder (für mich einer der Glanzpunkte der Box) Symphony Cowgirl, ein echter Country-Song für Nancy Bechtle, die für das San Francisco Symphony Orchestra arbeitete und maßgeblich daran beteiligt war, MTT in die Stadt zu holen; sie liebte Country Music, und dies ist ihr Abschiedsgeschenk.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass Tilson Thomas sich in (relativ) kleiner Form am glücklichsten äußerte: Dazu zählt das Orchesterstück Lope, das die Liebe des Komponisten zu Hunden thematisiert, die drei Klavierstücke Upon Further Reflection (hier gespielt von John Wilson) oder Urban Legend, ein kleines Konzert für Kontrafagott und Orchester, hier vorgetragen in einer Version für Bariton-Saxophon.

Zwei große Gesangszyklen (Poems of Emiliy Dickinson und Meditations on Rilke) finden sich ebenso wie Tilson Thomas‘ wohl bekannteste Komposition From the Diary of Anne Frank für Sprecherin und Orchester. Tilson Thomas schrieb dieses Stück für die Schauspielerin Audrey Hepburn, mit der er es auch uraufführte; Solistin der vorliegenden Aufnahme ist Isabel Leonard. Kurz gesagt: Wer sich für Michael Tilson Thomas interessiert, wird um die Box nicht herumkommen. Ein hochsympathischer Dirigent, Komponist und – Mensch.

[Thomas Schulz, März 2025]