Archiv für das Jahr: 2018

Die Weiten des Meeres

Hyperion, CDA68245; EAN: 0 34571 28245


Martyn Brabbins leitet die Aufnahme der „A Sea Symphony“ von Ralph Vaughan Williams sowie dessen kurzes Chorwerk „Darest thou now, O soul“. Es spielt das BBC Symphony Orchestra und der BBC Symphony Chorus, die Soli singen Elizabeth Llewellyn und Marcus Farnsworth
.


Mit diesem Erstlingswerk auf dem Gebiet der Symphonik beweist Ralph Vaughan Williams höchste Ambitionen. Sechs Jahre dauerte der Prozess des Komponierens und heraus kam eine knapp 70-minütige Symphonie für volles Orchester mit großem Chor, die schon vieles seiner späteren Klangwelt erkennen lässt. Wie auch in den acht später komponierten Symphonien erleben wir ein Feuerwerk an Effekten und orchestralen Finessen, die auf überbordende Wirkung ausgelegt wurden; Vaughan Williams wusste genau, wie man einen Orchesterapparat mächtig und vielschichtig einsetzt. Es war das Scherzo der „A Sea Symphony“, das mich vor einigen Jahren auf die Musik des Engländers aufmerksam machte: Mich faszinierte der klangmalerische Stil, der die Wellen und den Wind so naturgetreu nachzustellen vermag und – zumindest in diesem Satz – in eine nachvollziehbare Form bringt.


Voll und effektgeladen trumpft auch das BBC Symphony Orchestra und der BBC Symphony Chorus unter Leitung von Martyn Brabbins auf. Der Dirigent stimmt Chor und Orchester dynamisch aufeinander ab und schafft einen homogenen Klang zwischen Stimme und Instrument. Vor allem im Kopfsatz schafft Brabbins ausgewogene Kontraste und formale Zusammengehörigkeit, was bei Vaughan Williams‘ ausladenden Sätzen stets eine besondere Herausforderung darstellt; im Finale mag dies nicht ganz funktionieren: die Musik fließt recht ereignislos voran, ohne das Ohr des Hörers wirklich fesseln zu können. Der zweite Satz, „On the beach at night alone“ besticht durch den zarten Wechsel zwischen Solo und Chor und zutiefst empfundenes Gefühl von allen Beteiligten. Wild und wuchtig, aber nicht ungezügelt, nimmt Brabbins das Scherzo, „The waves“, wodurch die Naturgewalten umso wirkungsvoller hervorbrechen.


Die Verbindung zu „Darest thou now, O soul“ herrscht durch den Textbezug, dieses Werk und die Symphonie basieren beide auf Texten von Walt Whitman aus Leaves of Grass. Anders als die Sea Symphony verzichtet das über 15 Jahre später komponierte „Darest thou now, O soul“ vollständig auf Effekt oder dynamischen Aufbau, sondern zeichnet ein Stimmungsgemälde voller Wärme und Einfachheit. Brabbins nimmt dieses Stück gelassen, würdevoll und beinahe sakral.


[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]

„Franz Schubert würde ich am liebsten trösten“

Gespräch mit der Pianistin Natalia Ehwald

Eine junge Frau sitzt im Café, hat Notenblätter vor sich auf dem Tisch liegen. Im Hintergrund sitzen Robert Schumann und Franz Schubert am Nebentisch. Ob Natalia Ehwald mit den beiden Herren aus dem 19. Jahrhundert ins Gespräch kommen wird? Fragen hat sie genug. Humorvoll bringt das Booklet-Foto auf der CD den Vorgang einer künstlerischen Annäherung an zwei Giganten der Musikgeschichte auf den Punkt. Das klingende Resultat lässt sich in Schuberts später Sonate A-Dur, D 959 sowie in Schumanns Humoreske opus 20 eindrücklich erfahren.
Stefan Pieper sprach mit Natalia Ehwald über emotionale und intellektuelle Zugänge zur Musik.

Erzählen Sie mir über die Vorgeschichte zu diesem Projekt. Sie haben sich ja schon früh auf diese beiden Komponisten beschäftigt?

Robert Schumanns Klaviermusik war schon früh in meinem Repertoire, ich habe sie von Anfang an gespielt, er hat ja wunderbare Musik für Kinder geschrieben. Schubert kam viel später dazu. Früher habe ich seine Musik nicht wirklich verstanden, vor allem, was sich alles unter der scheinbar heiteren Oberfläche verbirgt. Als junger Mensch hört man das einfach noch nicht richtig.
Heute habe ich gerade bei diesen beiden Komponisten das Gefühl, dass ihre Musik ganz unmittelbar zu mir spricht und ich dies meinem Publikum nahebringen kann.

Die aktuelle Aufnahme ist ja bereits die zweite CD zu diesem Thema. Welche persönliche Weiterentwicklung sehen Sie hier?

Der Prozess der Aufnahme war beim zweiten Mal weniger stressig. Ich wusste eher, wie ich meine Kräfte einteile, so dass auch bis zum letzten Tag noch produktive Energie vorhanden ist. Der Umgang mit dem Tonmeister war lockerer und souveräner. Wie das Ergebnis letzendlich ist und ob es da eine Weiterentwicklung gibt, das können die Hörer besser beurteilen.

Bevorzugen Sie beim Aufnehmen die Detailarbeit oder mögen Sie in einem Bogen runterspielen?

Erst einmal spiele ich natürlich den Satz im Ganzen, vielleicht auch noch ein zweites Mal. Dann schauen wir gemeinsam mit dem Tonmeister: was braucht man noch im Detail? Aber da ist noch ein anderer Aspekt: Am besten wäre es wohl – zumindest phasenweise – noch Publikum einzuladen, so dass man vielleicht einen halben Tag lang mit Zuhörern im Raum spielt. In einer Konzertsituation passiert einfach noch viel mehr, als wenn man nur fürs Mikro spielt.

Sie haben eine sehr charmante Booklet-Gestaltung. Sie sitzen in einem Cafe und am Nebentisch sitzen Franz Schubert und Robert Schumann. Worüber würden Sie mit den beiden gerne reden?

Ich würde ihnen natürlich meine grenzenlose Verehrung aussprechen und für so viel großartige Musik danken. Und natürlich hätte ich Fragen zu ihren musikalischen Ansichten, bei Schumann speziell zu seinen Tempo-Vorstellungen. Schubert würde ich erstmal trösten wollen. Seine Musik ist so tieftraurig, dass man Mitleid bekommt.

Hätten sich die beiden überhaupt untereinander verstanden, was meinen Sie?

Schumann war ein großer Bewunderer von Schubert. Er soll fürchterlich geweint haben, als Schubert gestorben ist. Aber man weiss ja, dass sich große Genies oft nicht besonders gut verstanden haben.

Sie haben die Gefühlstiefe und Tragik von grundauf erfasst. Manchmal so tief, dass die Stellen in Dur sogar tragischer als die Moll-Passagen wirken, was vermutlich nur bei Schubert so funktioniert.

Eigentlich ist Schuberts Musik fast nirgendwo wirklich heiter – und wenn, dann nur, um kurzfristig aus der Misere zu erlösen.

Was gibt diese Musik den Menschen heute?

Ich merke immer wieder, dass Schuberts Musik die Menschen im Tiefsten anrührt. Die Sehnsüchte und Nöte der Menschen sind ja in jeder Zeit ähnlich, und wenn es Komponisten verstehen, mit ihrer Musik den Zuhörer zu bewegen und berühren, dann ist ihre Musik für jede Zeit relevant, ganz gleich, wann sie geschrieben wurde.

Wie verhalten sich emotionale und intellektuell technische Aspekte bei der Erarbeitung?

Das Wichtigste ist, sich ausreichend Zeit zu nehmen – vom ersten Lesen des Notentextes, dessen Analyse, dem Hören von Aufnahmen. Es gibt Phasen, in denen die Arbeit an den Details oder technischen Herausforderungen überwiegt, dann wieder kommt der größere Bogen ins Visier. Bei all dem baut sich auf die Dauer ein immer tieferes, persönliches Verhältnis zum Werk auf. Wenn dies erst einmal vorhanden ist, kann ich im Konzert oder bei der Aufnahme alle Arbeitsschritte vergessen und im besten Fall einfach musizieren, ohne nachzudenken.

Sie haben relativ spät mit dem Aufnehmen von CDs angefangen.

Für mich war damals einfach der passende Zeitpunkt, diese Werke verlangten nach einer intensiven und langjährigen Annäherung, bevor ich das Gefühl hatte, sie einspielen zu wollen. Früh oder spät spielt da für mich keine Rolle.

Beschreiben Sie mal kurz Ihren Werdegang!

Mein Vater ist Dirigent, meine Mutter Musikwissenschaftlerin. Sie hat meinen Klavierunterricht begleitet und dafür gesorgt, dass ich gute Lehrer hatte in den Jahren, in denen man die Hände formt und das Gehör schult, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Später am Gymnasium fühlte ich mich unverstanden von meinen Klassenkameraden, weil ich ständig am Klavier saß und mich mit klassischer Musik beschäftigte, deshalb entschied ich mich, auf eine Musik-Spezialschule zu wechseln. Dabei wollte ich früher in erster Linie Schauspielerin werden, das Theater hat mich damals sehr fasziniert. Dass ich doch Musikerin werde, war dann wohl klar, als ich mit 16 bei einem Meisterkurs meinen künftigen Lehrer Erik Tawaststjerna kennen gelernt habe. Ich bin dann nach Helsinki gegangen, um bei ihm an der Sibelius-Akademie zu studieren.

Warum gerade Finnland?

Letztlich ist die Hochschule und deren Standort egal. Es geht immer darum, bei einem bestimmten Lehrer zu studieren. Auch als ich nach Deutschland zurück kam, suchte ich nur nach dem passenden Professor, den ich letztendlich in Evgeni Koroliov fand.
Natürlich ist ein Leben im Ausland immer eine wichtige Erfahrung für einen Künstler, um eine andere Kultur kennen zu lernen und den Horizont zu erweitern. Nach vier Jahren wollte ich aber zurück nach Hause. Zur Zeit lebe ich mit meiner Familie in Berlin und bin sehr glücklich hier. Das war schon immer ein Ort, an den ich wollte. Das Leben ist hier sehr unkompliziert.

Was kann man, sollte man machen, damit sich mehr junge Menschen für klassische Musik begeistern?

Ganz wichtig ist ein guter, kreativer und inspirierender Musikunterricht. Mein 7-jähriger Sohn hat in der Schule nur eine Stunde Musik in der Woche, warum nicht zwei oder drei? Mein jüngerer Sohn ist im Musikkindergarten, der von Daniel Barenboim gegründet wurde. Die meisten Kinder, die in diesen Kindergarten kommen, machen später weiter mit der Musik. Sie erfahren dort, dass Musik zum Leben und zum Alltag einfach dazugehört, und es wird immer viel gesungen.

Gibt es Ihrer Meinung nach Länder, von denen sich Deutschland eine Scheibe abschneiden könnte, was die Neugier junger Menschen auf klassische Musik betrifft?

Da fällt mir auf Anhieb Asien ein! Dort gibt es eine unglaubliche Neugier auf die europäische Kultur, und eigentlich würde man sich wünschen, dass wir Europäer auf ihre Kultur ebenso neugierig wären.
In China hat mich besonders beeindruckt, wie viele Kinder Klavier lernen, wirklich großartig. Lang Lang hat das mit beeinflusst und es ist sicherlich auch sein Verdienst, dass sich dort so viele Menschen für klassische Musik begeistern.

Ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch!

Ein Abend für Bernd Alois Zimmermann


Foto: ©Astrid Ackermann

Zum ausklingenden Zentenarium von Bernd Alois Zimmermann widmete die musica viva ihm am 14.12.2018 gleich zwei aufeinanderfolgende Konzerte. Nach dem Sinfoniekonzert, wo neben Zimmermanns „Sinfonie in einem Satz“ und den „Dialogen“ noch das Violinkonzert von John Adams erklang, brachte das fabelhafte GrauSchumacher Piano Duo in einem Late Night Konzert noch Zimmermanns „Monologe“ sowie zwei Transkriptionen Debussyscher Orchesterwerke zu Gehör.

Vor allem Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970) Requiem für einen jungen Dichter sowie das mittlerweile vielgespielte Orchesterstück Photoptosis hinterließen bei mir als Jugendlicher einen tiefen Eindruck, der – nicht gerade selbstverständlich bei „Neuer Musik“ – immer noch unverändert Bestand hat. Erst viel später lernte ich auch das Frühwerk Zimmermanns zu schätzen, zu dem man die Erstfassung der Sinfonie in einem Satz (1951) sicherlich als einen Höhepunkt zählen darf. Diese basiert zwar auf einer Zwölftonreihe, ist aber vom sich da schon etablierenden totalen Serialismus bei Boulez oder Stockhausen weit entfernt, noch ganz den expressionistischen Qualitäten der Zweiten Wiener Schule verpflichtet. Die Erstfassung verwendet im Unterschied zur späteren Version vor allem die Orgel, die hier geradezu bildhaft wie das Schicksal oder ein ungreifbares Über-Ich dreinschlägt und die Integrität des Orchesterklanges zu sprengen droht. Brad Lubman ist im gesamten Programm ein Dirigent, dessen Zeichengebung äußerst umsichtig (Einsätze!) und hochpräzise ist, was die hier umzusetzende rhythmische Komplexität angeht. Bei der Dynamik – und das bestätigt leider meinen Eindruck seiner bisherigen Münchner Auftritte – bleibt er, möglicherweise auch durch seine im Ambitus zu ausladende Schlagtechnik ohne Taktstock, ziemlich undifferenziert, recht pauschal und verlässt sich auf das, was seine hervorragenden Musiker diesbezüglich in den Proben mit ihm erarbeitet haben mögen. So bleibt er aber auch im Ausdruck über weite Strecken blass: Kantables vor dem wieder desolaten Schluss der Symphonie fällt beinahe unter den Tisch, die gerade in dieser Version überdeutlichen Schroffheiten erklingen eher nivelliert, obwohl der militaristische Schrecken klar die Oberhand behält. Trotzdem gelingt dem BR Symphonieorchester hier ein überzeugendes Plädoyer für dieses immer noch unterschätzte Werk Zimmermanns.

In den Dialogen für zwei Klaviere und Orchester (1960/65) ist der Komponist schon ganz in seiner persönlichen Welt einer pluralistischen Raum/Zeit-Auffassung bei auf seriellen Prozessen fußender Materialentfaltung angekommen. Auch hier verpasst man einmal mehr – schiebt man es wieder auf die Unzulänglichkeiten des Herkulessaals? – Zimmermanns intendierte, gänzlich durchmischte Sitzordnung des Orchesters umzusetzen. Ich habe die Dialoge vor etlichen Jahren einmal unter Gary Bertini in der Kölner Philharmonie mit der in der Partitur empfohlenen Aufstellung gehört; nicht nur der Klang, auch die Kommunikation innerhalb des Orchesters gewann dadurch ganz wesentlich. Wie das Klavierduo Grau/Schumacher dieses schon spieltechnisch an der Grenze des Realisierbaren stehende Konzert auch noch auswendig spielt und sich dabei über Blickkontakt perfekt synchronisiert, ist schon ein kleines Wunder. Das Stück, das nicht nur durch die eingeflochtenen Zitate bereits ein Vorbote der Postmoderne ist, wird hier insgesamt selten schön umgesetzt und die Solisten erhalten verdienten, langanhaltenden Applaus.

Eine ganz andere Welt eröffnet sich dem Zuhörer nach der Pause mit John Adams‘ Violinkonzert von 1993. Nur vordergründig bedient sich Adams minimalistischer Techniken, der Solopart ist hochvirtuos, in der Gesamtanlage auch wirklich attraktiv. Der Kopfsatz hat dann aber doch Längen, wirkt ein wenig eintönig und bietet keinerlei Raum für Agogik. Die zentrale Chaconne überzeugt mit schönem Streicherklang, der allerdings durch sehr künstlich wirkende Synthesizer-Klänge erweitert und gleichzeitig denaturiert wird. Es gibt einen fließenden Mittelteil und durch das Horn viel Wärme zum Ende des Satzes hin. Das Finale, Toccare betitelt, beginnt erwartungsgemäß wie ein Perpetuum mobile, ist aber insgesamt abwechslungsreicher als die vorangegangenen Sätze. Ilya Gringolts ist mir bereits in seinen Kammermusikaufnahmen – etwa mit dem von ihm gegründeten Streichquartett – als ein Geiger aufgefallen, der empathischen Zugriff und Klangschönheit mit einer Intonationssicherheit verbindet, die selbst unter Spitzenvirtuosen ihresgleichen sucht. Natürlich bleibt er ausdrucksmäßig hier im Spinnennetz der Adamsschen Pattern ein wenig gefangen und bringt dennoch so viel Leidenschaft herüber, dass der Beifall am Schluss dieses Konzerts fast frenetisch wird. Adams schafft es immer wieder, mit eigentlich dürftiger Substanz ein für den Hörer nachvollziehbares, begeisterndes Konzerterlebnis herzustellen.

Um 22 Uhr darf dann das GrauSchumacher Piano Duo nochmals zeigen, was mit nur zwei Klavieren überhaupt möglich ist. Bernd Alois Zimmermanns Monologe (1965) sind keineswegs eine Bearbeitung oder gar Transkription seiner Dialoge, sondern weitestgehend eine Neukomposition. Technisch und musikalisch sicher mit das Anspruchsvollste, was je für Klavierduo komponiert wurde, meistern Andreas Grau und Götz Schumacher die Partitur (diesmal nach Noten) mit einem nun über 25 Jahre gewachsenen Verständnis auch fürs kleinste Detail. Der Klang gerät einfach überwältigend, die dynamische Spannweite wird von fast die gesamte Klaviatur umfassenden fff-Clustern bis zum beiläufigsten Pianissimo-Schnörkel kongenial umgesetzt. Die – verglichen mit den Dialogen – zahlreicheren Fremdzitate (von Bachs „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ über Beethovens Hammerklaviersonate bis zu Debussys „Feux d’artifice“) erscheinen sofort identifizierbar, fügen sich ohne erhobenem Zeigefinger ganz im Sinne des Komponisten ins pluralistische Gesamtgeschehen ein. Die Cluster werden nie zum Gedresche – ein Extralob für die sensationelle Realisation der extrem vertrackten 64tel-Cluster im IV. Monolog (Ziffer 3). Was für eine bravouröse Interpretation – das große Wunder dieses Abends!

Umrahmt wird die Zimmermann-Orgie von zwei Transkriptionen Debussyscher Orchesterwerke. Die des Prélude à l’après-midi d’un faune vom Komponisten selbst erweist sich als nur halbwegs gelungener Versuch, die Klangfarben des Vorbilds aufs Klavier zu übertragen: Die Harmonik wirkt hier lange nicht so überzeugend wie im Original. Dagegen zeigt Ravel bei seiner pianistischen Übersetzung der Trois Nocturnes, wie vollkommen er mit Klang und Resonanzen der Instrumente umzugehen versteht: Einerseits wirkt diese Bearbeitung klaviermäßiger, technischer, wird aber auch der kompositorischen Vorlage bis in alle Einzelheiten gerecht. Die Darbietung des GrauSchumacher Piano Duo ist auch hier Weltklasse, das Publikum – da gilt mein Mitleid jetzt den vielen Zuhörern, die schon nach dem Sinfoniekonzert den Herkulessaal verlassen haben – darf in impressionistischen Klängen schwelgen, die zu einem einzigartigen Genuss werden. Für die nun einhellige Begeisterung bedanken sich die beiden Pianisten – vierhändig an nur einem Steinway – mit dem letzten Satz aus Ravels Ma Mére l’Oye.

[Martin Blaumeiser, Dezember 2018]

Ein Spiel mit der Stimme

Pagme Verlag, LC-20652

Auf „Pictures Behind“ hören wir die Sängerin und Pianistin Rayka Wehner mit eigenen Kompositionen. Unterstützt wird sie auf manchen Tracks von Anja Schaller an der Violine und Steffen Schorn am Baritonsaxophon.

Rayka Wehner singt und komponiert in einem einzigartigen Stil, der sich nur schwer einordnen lässt, irgendwo zwischen den Genres, die heute verallgemeinernd als Klassik und Jazz bezeichnetwerden.  Ausbilden ließ sich dieMusikerin zunächst in Würzburg bei Wolfgang Arnold mit dem Hauptfach Klavier,und später in Nürnberg bei Reinette von Zijtveld-Lustig und Jule Unterspann im Jazzgesang. In ihren Kompositionen vereint sie Aspekte aus beiden Bereichen.

Wehner begleitet sich selbst am Klavier, wobei es ihr gelingt, Stimme und Instrument als zwei getrennteKlangfarben zu behandeln. Ihr Stil zeichnet sich durch schnelle, lautierende Elemente aus, die dem Scat-Gesang nahestehen; die meisten Stücke haben keinenLiedtext, die Laute dienen alleine der Melodie und dem Ausdruck. Die Stimme von Rayka Wehner besitzt einen enormen Ambitus und schwingt sich leichtfüßig voneiner Lage in die andere. Es wirkt, als spiele Wehner einfach mit ihrer Stimme und lasse der Musik freien Lauf, sich zu entfalten: Elemente der Improvisation fließenin ihre Kompositionen mit ein. Dabei entstehen sphärische und schwebende Zustände, die Ruhe und Lebenslust zugleich ausströmen. Die Musik klingt fast kindlich ungezwungen, entfesselt und frei, dabei gleichermaßen reflektiert undzusammenhängend. Die Stimme Rayka Wehners ist so lupenrein und sanft, besitzt dabeiein unverkennbares Timbre. Diese Art von Musik ist einmalig und bleibt auch lange nach dem Hören im Kopf.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]

Singen auf dem Cembalo

JohannSebastian Bach: Goldberg-Variationen; Anne-CatherineBoucher (Cembalo)

NAXOS, Art.-Nr.: 8.551405 / EAN: 730099140539

Eines dieser musikalischen Wunderwerke, die bei jeder Interpretation immer wieder neue Seiten offenbaren, sind Johann Sebastian Bachs„Goldberg-Variationen“. Es existieren buchstäblich Hunderte Einspielungen vondiesem musikalischen Welt-Erbe, einem der grundlegenden Meilensteine der Musikfür Tasteninstrumente.

Wie bei so vielen Werken Johann Sebastian Bachs gibt es gewisse fundamentale Unsicherheiten, die sogar bis zu der Ur-Frage zurückreichen, für welches Instrument Johann Sebastian Bach diese Werke eigentlich komponiert hat. Naxos hatte in diesem Jahr schon eine sehr beeindruckende Aufnahme der „Goldbergs“ veröffentlicht, die sich dadurchauszeichnete, dass sie die Weltersteinspielung des Stücks auf einem Instrumentnamens „Lautenwerck“ war. Wolfgang Rübsam, der Interpret der Aufnahme und einerder versiertesten Bach-Kenner überhaupt, legte in seinen Gedanken zum Stück nahe, dass Bach (der nachweislich selbst zwei Lautenwerke besaß), die Goldberg-Variationen wahrscheinlich für dieses Instrument geschrieben haben könnte.

Andererseits sollte man nicht vergessen, dass der Zyklus ein Auftragswerk gewesen sein soll. Und somit ist es auch nicht unwahrscheinlich,dass Johann Sebastian Bach womöglich doch eher das wesentliche und wohl ammeisten verbreitete Tasteninstrument seiner Zeit, das Cembalo, im Sinn gehabt hat, als er seine Variationen komponierte.

Auf dem Cembalo spielt Anne-Catherine Boucher nun – ebenfalls für Naxos – die Goldberg-Variationen und stellt sich damit in den Wettbewerb mit so namhaften Größen wie etwa Mahan Esfahani (Deutsche Grammophon) oder Christine Schornsheim (Capriccio), um nur zwei Beispiele zunennen.

Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: Anne-Catherine Boucher hält sich im Vergleich mehr als wacker, hat nach meinem Dafürhalten sogar die Nase vorn in diesem illustren Trio von Cembalistinnen/Cembalisten. Zwar offenbart ihr Vortrag, der überwiegend auf eher moderate bis langsame Tempi setzt, durchaus die eine oder andere technische Schwäche, überzeugt jedoch durch eine so ausgesprochen musikalische, wohlphrasierte Darbietung, dass man diese Neu-Einspielung der Goldberg-Variationen von dieser Warte herwärmstens empfehlen möchte.

In einer Zeit, in der die Goldberg-Variationen oft lieblosvirtuos heruntergenudelt werden, ist dieses Album ein wunderbarer Beitrag zusanglicher Spielkultur, bei dem die leichten spieltechnischen Abzüge kaum ins Gewicht fallen. Der Aufnahmeklang ist ebenfalls bestechend klar, vielleichteine Spur zu nah mikrofoniert, sodass man neben dem wunderbar disponierten Instrumentvon Matthias Griewisch nach Dulcken auch dessen Mechaniken hören kann, wasmanch feines Gehör durchaus als störend empfinden könnte.

Aber das ist Meckern auf hohem Niveau: Vielmehr ist hiereine wunderbar musikalische und sanglich phrasierte Goldberg-Variationen-Einspielungzu begrüßen, und das ist auch in einem unüberschaubar großen Konkurrenzumfeld doch noch immer etwas Besonderes – vor allem auf dem Cembalo, auf dem einflüssig-sanglicher Vortrag besonders schwierig zu realisieren ist.

Grete Catus, Dezember 2018

Digitale und reale Instrumente

NEOS 11720-21; EAN: 4 260063 117206

Gunnar Geisse: The Wannsee Recordings

Die vorliegende Doppel-CD mit dem Titel „The Wannsee Recordings“ birgt zweieinhalb Stunden Improvisation von Gunnar Geisse auf der von ihm entwickelten Laptop Guitar. Aufgenommen wurden die Titel bei sieben Live-Konzerten in den Jahren 2016 und 2017.

Gunnar Geisse begann seine Karriere als Jazz-Gitarrist, wandte sich jedoch bald dem Free Jazz und der experimentellen Musik zu. Nachdem er bei einem Kletterunfall zwei Finger der rechten Hand verlor, widmete Geisse sich vermehrt dem Komponieren und sorgte damit schnell für Aufsehen. Sein Interesse wurde vor allem von digitalen Instrumenten geweckt, die per Computer programmiert und gesteuert werden können – später nahm er die E-Gitarre wieder zur Hand und koppelte sie mit seinem Computersystem; so kann Geisse die Töne auf seiner Gitarre erzeugen und live digital modifizieren.

Die Möglichkeiten, die sich Geisse mithilfe der live-Übersetzung von Audiosignalen in MIDI und umgekehrt bieten, sind schier endlos – in seinen Improvisationen schöpft er sie  voll aus. Mit Instrument und Computer kann Geisse unterschiedliche ‚Besetzungen‘ zum Klingen bringen, in manchen Stücken schallen uns Orgeln entgegen, Klaviere oder ganze Orchester und Chöre, dazu immer wieder undefinierbare elektronische Geräusche. Geisse bedient die digitalen Instrumente mit der Gitarre, kann am Computer schnell von einer Besetzung zur nächsten wechseln und so verschiedene Klänge konfrontieren; durch die Loop-Funktion können auch mehrere Spuren gleichzeitig laufen. Die Musik von Gunnar Geisse ist dicht und komplex, sie entwirft immer neue Schattierungen und Abstufungen einer Idee, wodurch sich die Stücke beim Entstehen aus der Keimzelle heraus entwickeln. Abenteuerlust und Wildheit strömt dem Hörer entgegen, die Freude am Experimentieren setzt sich kontinuierlich fort. Geisse lässt sich von seinen Klängen treiben, wenngleich er es ist, der die Weichen stellt: diese Ambivalenz macht seine Musik aus. Entsprechend vielseitig gibt sich auch das tönende Resultat der vorliegenden Improvisationen: Viele der Stücke bestechen durch eigenwillige Klangfärbungen und -zusammensetzungen, konfrontieren den Hörer mit Unerhörtem. Manche verlieren sich dabei in Zusammenhangslosigkeit, doch andere entwickeln auf unterschwellige Weise neue Formen, die man mitverfolgen kann und die Sinn ergeben: Irgendwo zwischen dem gewollten Chaos und einer klaren Linearität. Es verlangt vom Hörer zu viel, die gesamten zweieinhalb Stunden auf einmal durchzuhören, doch es lohnt sich, die Wannsee Recordings auf mehrere Tage verteilt zu erleben und erspüren.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]

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Überraschend und bezaubernd: Villa-Lobos‘ Klaviermusik für Kinder

Quartz Music, Art.-Nr. QTZ2129 / EAN: 880040212928

Heitor Villa-Lobos: Complete Solo Piano Works Vol. 4/5; Marcelo Bratke (Klavier)

Heitor Villa-Lobos soll mehr als 1000 Kompositionen hinterlassen haben, deswegen ist es schon eine Ansage, wenn jemand mit dem Versprechen antritt, tatsächlich die vollständige Solomusik für Klavier des Südamerikaners einspielen zu wollen. Der ausgezeichnete brasilianische Pianist Marcelo Bratke tut ebendies und tritt damit in die Fußstapfen seines berühmten Landsmanns Nelson Freire, der in den 1970er-Jahren für Teldec zwei Alben mit Villa-Lobos‘ Klavierwerken einspielte und seine Beziehung zum Werk des wohl bedeutendsten südamerikanischen Komponisten für die DECCA in einer weiteren Einspielung 2012 untermauerte.

Freire freilich war weit entfernt von einem enzyklopädischen Ansatz, wie ihn Marcelo Bratke für das britische Kleinstlabel Quartz Music verfolgt. Bratke begann seine Edition 2011 und legt nun auf einen Schlag Vol. 4 und 5 seiner laufenden Gesamtaufnahme zusammengefasst als Doppel-Album vor. Das erscheint auch durchaus sinnvoll, befindet sich auf diesem Doppel-Album doch die gesammelte Klaviermusik, die Villa-Lobos für Kinder komponiert hat.

Da eröffnet sich ein verblüffend großes und reiches Werk leichter und leichtester Klavierstückchen, die aber trotz ihres niedrigen Schwierigkeitsgrades jederzeit Kunstwerkstatus beanspruchen können. Das Geheimnis ist hier ebenso wie bei den Werken für Klavierschüler, die beispielsweise von Schumann oder Bartók überliefert sind, dass die jungen Klavieranfänger vom Komponisten wirklich ernstgenommen werden. Das erkennbare Ziel des Komponisten Villa-Lobos war es ohrenscheinlich, große Musik unter Einsatz kleinstmöglicher pianistischer Mittel zu verfassen.

Einige dieser bezaubernden Miniaturen sind zutiefst berührend in ihrer schlichten Schönheit, und in ebensolchem Maße wie Villa-Lobos fröhliche Musik für Kinderhand geschrieben hat, hat er auch an melancholische, ja, manchmal geradezu zerbrechlich wirkende Kompositiönchen gedacht, womit er einer suchenden, verletzlichen Kinderseele wahrscheinlich weitaus mehr gerecht wurde als viele der zwangs- und dauerfröhlichen Anfängerstücke, die in den üblichen Anfänger-Lehrbüchern zu finden sind. Villa-Lobos‘ Emotionen, die in diesen überraschend kunstvollen Miniaturen zum Leben erweckt werden, wirken hingegen ganz echt und ehrlich. Die Bandbreite reicht von herzhaft volkstümlichen, für hiesige Ohren angenehm exotisch-brasilianisch klingenden Miniaturen bis hin zu balletthaften Stücken, die in ihrem Duktus offenbar eine Art „Chopin für kleine Leute“ sein sollen.

Interpret Marcelo Bratke erweist sich in seiner beeindruckenden Fähigkeit diese anspruchslose Musik mit großer Ernsthaftigkeit und wunderbarer Empfindung vorzutragen als ein idealer Interpret und als ein Pianist, der sich hinter seinem großen Landsmann Freire nicht verstecken muss. Eine wirklich wunderbare Edition, die jeder Klaviermusikfreund kenne sollte! Als einzigen Kritikpunkt könnte man die Aufnahmetechnik nennen, die durch eine relativ nahe Mikrofonierung des Instruments einen etwas zu trockenen Höreindruck vermittelt. Etwas mehr Raumklang hätte der Aufnahmetechnik gut getan.

[Grete Catus, November 2018]

Johannes-Apokalypse eines Umweltaktivisten

Uraufführung der Endfassung der ‚Apokalypse‘ von Carl von Feilitzsch

Am 11. November 2018 fand im Münchner Herkulessaal der Residenz die Uraufführung der revidierten Fassung von 1972 von Carl von Feilitzschs Jazz-Kantate ‚Apokalypse‘ statt. Der in München geborene Feilitzsch (1901-81) war ab Ende der 1920er Jahre ein reger Theater-, Opern- und Filmkomponist, und nach dem Zweiten Weltkrieg machte er zudem zusehends auch als Umweltaktivist von sich reden, dem der Südosten Münchens mit zu verdanken hat, dass der Hofoldinger Forst nicht in einen Großflughafen verwandelt wurde. Feilitzsch hatte zunächst mit Strauss’ Jugendfreund Ludwig Thuille und dann vor allem mit Hermann Wolfgang von Waltershausen an der Münchner Akademie der Tonkunst Komposition studiert und wurde dann sehr stark von den sozialen Bewegungen der Weimarer Republik geprägt. So ist sein Tonfall denn auch offenkundig in Übereinstimmung mit einer massenkompatiblen Musik, wie sie um 1930 auch von Hanns Eisler, Carl Orff und vielen anderen verfolgt wurde. Zu gerne würde man da doch auch einmal seine Karl-Kraus-Oper ‚Die rote Fackel‘ von 1928 hören!

Im Dritten Reich verlor Feilitzsch die Protektion seiner Förderer, pflegte Kontakt zum Widerstand, wurde in den Russland-Feldzug eingezogen und nach Kriegsende bei der Entnazifizierung komplett entlastet. Nach dem Krieg entstanden mehrere Opern und er arbeitete intensiv u. a. mit Erich Kästner zusammen. Das damals entstandene, satirische Stück ‚Hurra, wir sterben‘ könnte auch für eine Wiederbelebung interessant sein. Nach dem Kriege komponierte er auch seine ‚Apokalypse‘. Sie ging zunächst 1949 im Bayerischen Rundfunk über den Äther und wurde 1951 im zerstörten Brunnenhoftheater der Residenz szenisch uraufgeführt. Klaus Kalchschmid bezeichnete sie nun im Programmhefttext der Neuaufführung als ‚Anti-Oratorium‘.

Es ist natürlich interessant und wäre bemerkenswert zu erwähnen, dass Feilitzsch mit dieser Thematik in die Fußstapfen seines Lehrers Waltershausen trat, dessen 1924 komponierte ‚Apokalyptische Symphonie‘ c-moll op. 20 seinerzeit großes Aufsehen erregt hatte. Feilitzsch jedenfalls unternahm nun eine klein besetzte, mit Sprechern und Sängern ausgestattete Vertonung der geheimen Offenbarung des lange nach Jesus’ Tod geborenen Apostels Johannes und reiht sich damit ein in eine Phalanx von bedeutenden Kompositionen, unter welchen außer dem berühmten, vor dem Krieg entstandenen ‚Buch mit sieben Siegeln: von Franz Schmidt vor allem die kurz nach Feilitzschs Werk vollendete 4. Symphonie ‚Johannes’ Offenbarung‘ (1940) des großen schwedischen Meisters Hilding Rosenberg herausragt. Doch hatte Feilitzsch nichts Symphonisches‘ im Sinne, sondern eher das Gegenteil, eine Collage unterschiedlicher Stile, die auch nicht auf ein durchgehendes musikalisches Kontinuum abzielt, sondern Zeitungsausschnitten gleich zum Hörer spricht. Es ist eine teils durchaus ambitionierte, teils auch lakonisch kunsthandwerkliche Arbeit im Kreuzfeuer zwischen damals, nach der Hitler- Zeit, überaus anregend empfundener Musik der Schwarzen Amerikas, als der nach wie vor rassistisch ins Abseits Gestellten, die freilich wie keine anderen die Identität einer urbanen Kultur verkörpern: also des Jazz und seiner Verwandten aus Blues, Slow-Fox, Boogie-Woogie, und karibischen Einschlägen (Rumba, wie so unvergleichlich wenige Jahre zuvor von Morton Gould in seiner Latin-American Symphonette um die Welt geschickt) – und des liturgischen Gesangs der katholischen Kirche. Der Charakter der Musik ist durchweg rituell und nicht symphonisch entwickelnd, und am schönsten gelungen ist zweifellos der ruhige Blues um die Stadt Babylon mit einem einschmeichelnden Saxophon-Solo in der Baritonlage, das von Markus Maier herausragend feinfühlig und flexibel dargeboten wurde. Neben zwei Sprechern, einem rezitierenden Kontratenor, einem Tenor und einem Bariton sowie Chor verwendet die Apokalypse ein fast gänzlich streicherloses Ensemble, das aus 2 Klarinetten, 2 Saxophonen, 3 Trompeten, 2 Posaunen, Fagott, 2 Kontrabässen und 3 Schlagzeugern besteht, und dieses darf – neben dem ausgezeichnet elegant und mühelos koordinierenden Grazer Dirigenten Patrick Hahn (geb. 1995), der bereits 2016 in der Münchner Jesuitenkirche St. Michael Feilitzschs Messe in Es von 1967 zur Uraufführung gebracht hat – als insgesamt exzellenteste Abteilung der Aufführenden gelten. Diese Musiker sind allesamt mit dem Orchester der Klangverwaltung des unlängst verstorbenen Milliardärs und Dirigenten Enoch zu Guttenberg affiliiert, und kein Wunder, das Konzert ist ja auch dem Gedenken Guttenbergs gewidmet. Denn Guttenberg war der prominenteste Schüler Feilitzschs, und damit Enkelschüler von Walterhausen und Thuille, und Urenkelschüler von Rheinberger und des Bruckner-Schülers Pembaur. Hätte er nur etwas mehr von deren Erbe weitergetragen – doch es war eben nicht Guttenberg, der sich rechtzeitig für das Schaffen seines Lehrers Carl von Feilitzsch einsetzte, sondern der junge Hahn.

Die Sänger – darunter Staatsoper-Bariton Christian Rieger – und Sprecher leisten bei dieser durchs dramatische Lichtspiel szenisch angehauchten konzertanten Aufführung auch Ansprechendes, und der Chor ist sehr engagiert. Dies war ein äußerst wertvolles Projekt von einer Art, von welcher man dem reaktionären München mit seiner mieterhöhungsfreundlichen ‚Sozialpolitik‘ weit mehr wünschen möchte. Der Herkulessaal war sehr gut besucht, die Menschen danach in rege Gespräche über die Bedeutung des soeben Gehörten verwickelt. Sogar der Chef von Forbes Classical war extra aus Wien angereist. Gezeigt wurde außerdem der von Feilitzschs ‚Apokalypse‘ angeregte abstrakte Kunstfilm gleichen Namens von Gisbert Hinke (1920-98), der bei der Biennale di Venezia 1956 ausgezeichnet wurde und bildmächtig die menschliche Ignoranz gegenüber der Umwelt anprangert, wie dies auch die großen italienischen Regisseure Pasolini und Antonioni taten. Außerdem stellte sich die Stiftung ‚Plant-for-the-Planet‘ vor, mit einer mutig vorgetragenen Rede des Jugendlichen Benedikt Eder, und so wird nicht nur der Umweltaktivist Feilitzsch geehrt, sondern seine Vision fortgesponnen für ein Gemeinwohl, das im Profittreiben der heutigen Welt fast keine Chance mehr hat und meist lediglich den Mächtigen als Feigenblatt dient, um in ihrer Gier nicht so leicht erkennbar zu sein.

Ob die Feilitz’sche Apokalypse‘ nun auch als Tonträger erscheint? Das wäre, angesichts des bereits betriebenen Aufwands, durchaus sinnvoll. Feilitzsch war zwar, nach dem Eindruck dieses Werkes mit seinen rituellen Längen und dem oftmals monotonen Skandieren zu urteilen, kein herausragender, aber doch gleichwohl ein mit seinem gesamtkunstwerklichen Wollen interessanter Komponist, für den sich – wie für einige andre Vergessene – eine so reiche Stadt wie München in ihrem behäbigen Überfluss durchaus etwas mehr interessieren dürfte.

[Christoph Schlüren, November 2018]

Rautavaara zum 90.

Ondine, ODE12362D

Anlässlich des 90. Geburtstags von Einojuhani Rautavaara gibt Ondine eine unschlagbar günstige Doppel-CD mit seiner Musik heraus: Auf der ersten finden wir das Harfenkonzert aus dem Jahr 2000 mit der Solistin Marielle Nordmann sowie die Achte Symphonie ‚The Journey‘ von 1999. Es spielt das Helsinki Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam. Die zweite CD gewährt uns Einblicke in die umfangreiche Aufnahmesammlung Ondines von Rautavaaras Musik: Zu hören sind einzelne Sätze aus verschiedenartigsten Werken des Komponisten, gespielt von namhaften und zu einem großen Teil exzellenten Musikern wie unter anderem Juha Kangas, Gunilla Süssmann, Pekka Kuusisto, Paavali Jumppanen und anderen.

Im Oktober diesen Jahres wäre Einojuhani Rautavaara 90 Jahre alt geworden. Er gilt als einer der beliebtesten und meistgespielten Komponisten der letzten Jahrzehnte, spätestens die Publikation seiner Siebten Symphonie bei Ondine verhalf seiner Musik international zu ungeahnter Anerkennung. Die Tonwelt Rautavaaras klingt stets originell, einzigartig und wird von unendlichem Forschergeist durchdrungen – er bemühte sich nicht, modern zu sein, sondern die Musik ist es von sich heraus. Als junger Komponist experimentierte er mit dem Serialismus und anderen neutönerischen Strömungen, wandte sich jedoch schon bald neuen Idiomen zu, welche die Gefühlwelt der Romantik in neuartige und ungewohnte Kleider hüllte – gerne ordnet man seinen Stil heute der sogenannten Postmoderne (ein unsinniges Wort, welches hoffentlich im Laufe der nächsten Jahrzehnte feiner ausdifferenziert wird!) zu, wobei das Erste Klavierkonzert (1969) als wegweisend für ganze Komponistengenerationen gilt.

Das finnische CD-Label Ondine bemühte sich früh, die Musik des Landsmannes zu verbreiten, was im Laufe der Zeit zu einem gewaltigen Aufnahmekatalog führte. Anlässlich des 90. Geburtstages gab das Label die Publikation mit der Achten Symphonie und dem Harfenkonzert erneut heraus und ergänzte sie um einen Sampler mit einigen der Highlights aus Rautavaaras Schaffen. Im aufwendig gestalteten Booklet findet sich neben zahlreichen Bildern des Komponisten der komplette Katalog mit Ondines Rautavaara-Einspielungen, zudem ein Geleitwort des Labels und Aussagen des Komponisten über die zu hörenden Werke.

Leif Segerstam ist die Klangwelt Rautavaaras wohl vertraut und er findet sich blendend zurecht in den eigenwilligen Formen des Landsmannes. Der große Aufbau im Kopfsatz des Symphonie nimmt er allmählich, aber dafür umso zwingender bis hin zum Höhepunkt. In manchen Passagen erscheint die Musik noch etwas zu materialistisch und nicht unwirklich genug, hier wäre ein gespenstischerer und schwebenderer Tonfall wünschenswert gewesen. Dennoch besticht Segerstam mit dem Philharmonischen Orchester Helsinki durch die innbrünstigen Gefühle zu dieser Musik und die nachvollziehbare Gestaltung. Noch mehr als die Symphonie kann das Harfenkonzert überzeugen, Marielle Nordmann bezaubert durch elegant-schlichtes Spiel und stimmt sich brillant auf das Orchester ein. Sie lässt die Emotionen nicht überschäumen, sondern hält sie stets in einem Grenzbereich, was unglaubliche Spannung erzeugt.

Die Aufnahmen des Samplers sind allesamt auf hohem Niveau, hervorzuheben seien in erster Linie die Titel mit dem phänomenalen Dirigenten Juha Kangas und seinem Ostrobothnian Chamber Orchestra sowie mit dem Duo Tetzlaff und Süssmann (Die Besprechung ihrer CD findet sich auf The New Listener).

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Skurril und überspitzt

Thorofon, CTH26522; EAN: 4 003913 126528

Auf zwei CDs hören wir Peter P. Pachl und Rainer Maria Klaas mit Kompositionen für das 1901 gegründete musikalische Kabarett „Überbrettl“. Auf dem Programm stehen Lieder und Melodramen von Oscar Strauss, Alexander Zemlinsky, Arnold Schönberg, Ludwig Thuille, Conradin Kreutzer, Robert Stolz, Hugo Schindler, Friedrich Hollaender und Rainer Maria Klaas.

Liedkompositionen mit merkwürdigen, etwas abgedrehten oder verrückten Texten können großen Charme besitzen, wenn sie richtig vorgetragen werden. Doch dafür bedarf es ein feines Gespür, wie viel man nun in die Musik hineingeben kann, und wie viel der Wirkung von der Musik selbst entfaltet wird. Je eigentümlicher der Text, desto mehr spricht er auch für sich. Eben dieses Gespür fehlt in den Aufnahmen der Überbrettl-Kompositionen durch Peter P. Pachl und Rainer Maria Klaas.

Für Aufsehen sorgten die beiden Musiker durch ihre Trippel-CD mit Melodramen verschiedener, größtenteils unbekannter Komponisten, von denen manch einer eine Entdeckung wert wäre. Die neue Produktion trägt den sprechenden Titel: „Wagner-Zyklus und andere erotische und animalische Extremi- und Perversitäten“. Das titelgebende Lied von Robert Stolz dauert übrigens nur etwa dreieinhalb Minuten und prangt vermutlich nur wegen des Namens Wagner als Aufreißer über den 40 Titeln. Das Überbrettl wurde 1901 gegründet und sollte Künstlern die Chance geben, ihre Kompositionen in kleinem Rahmen vorzutragen und dort zu prüfen, wie sie denn beim Publikum ankämen. Humoristisches nahm dabei eine zentrale Rolle ein, wobei die Künstler auch Wert auf ihre musikalische Ernsthaftigkeit legten – denn trotz des Witzes handelt es sich um durchdachte Kompositionen.

In ihrem Vortrag jedoch unterminieren Peter P. Pachl und Rainer Maria Klaas diese Seriosität. Pachl überspitzt die Texte derart maßlos, dass sie ihren teils doch subtilen Humor nicht mehr unterschwellig vermitteln können: denn dieser wird dem Hörer so stark unter die Nase gehalten, dass man gar nicht dazu kommt, den Duft selbst zu erschnuppern. Wie ein Schauspieler will Pachl die einzelnen Rollen und Charaktere darstellen, mit der Folge, dass man sie ihm eben nicht abkauft, da sie reinen Klischees entsprechen; darüber hinaus zahlt die Intonation den Preis für die bildhafte Darstellung. Dazu kommt, dass Pachl auch Lieder wählte, die weit über seinen Ambitus hinausreichen (z.B. Urschlamm-Idyll) – mit entsprechenden Resultaten. Rainer Maria Klaas, der Pianist mit dem „größten Repertoire Europas“, präsentiert glänzend langweiliges und uninspiriertes Spiel. Struktur, Kontraste oder irgendeine Art von Form sucht man vergebens, mehr als nackte Noten gibt Klaas nicht wieder. In den Liedern steht das Klavier deutlich im Hintergrund, doch in den eingestreuten Solostücken kommt die Monotonie voll zum Ausdruck. Vorbildlich zeigt sich alleinig das umfangreiche und informierte Booklet.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Ein Licht im Dunkeln

Ars Produktion Schumacher, EAN: 4 260052 382561

A Light in the Dark; Schostakowitsch; Nordwestdeutsche Philharmonie, Erich Polz (Leitung), Sabine Weyer (Klavier)

„A Light into the Dark“ präsentiert ein Konzertprogramm mit Musik von Dmitri Schostakowitsch, begonnen mit der Festlichen Ouvertüre A-Dur op. 96. Darauf folgt das Klavierkonzert Nr. 2 F-Dur op. 102 und die Neunte Symphonie Es-Dur op. 70. Es spielt die Nordwestdeutsche Philharmonie unter Erich Polz, am Klavier sitzt Sabine Weyer.

In den letzten Jahren expandierte der Ruhm des 1975 gestorbenen Komponisten Dmitri Schostakowitsch immer weiter. Internationale Bekanntheit erhielt er bereits als Jugendlicher mit seiner Ersten Symphonie, die er als Abschlusswerk für das Konservatorium schrieb. Vom Regime immer wieder verfolgt, führte er ein Leben in Angst, wobei manche Lichtblicke wie der unbändige Erfolg des „Leningrader“ Symphonie Nr. 7 umso heller strahlten.

Eine Mystik umgibt die Zahl von neun Symphonien. So viele große Symphoniker kamen trotz allen Bestrebens nicht über sie hinaus, und so verbreitete sich förmlich die Angst, eine Neunte Symphonie zu komponieren, da einen vor Vollendung einer Zehnten der Tod ereilen könnte. Schostakowitsch schrieb, aus Trotz und Unbekümmertheit, eine regelrechte Anti-Neunte-Symphonie: Teils traditionell, dann wieder launisch und eigenwillig. An sich wäre sie „klassisch“ viersätzig konzipiert, doch Schostakowitsch extrahierte die Largo-Einleitung zum Finale als eigenen Satz; welch ein Scherz, um mit den Erwartungen zu spielen!

Das Klavierkonzert Nr. 2 schrieb er für seinen Sohn Maxim, der im Alter von 18 Jahren seinen ersten großen Auftritt mit Orchester haben sollte. Die Öffentlichkeit lobte das Konzert in den höchsten Tönen, während es für den Komponisten der Ausgangspunkt einer Schaffenskrise war: Er könne nicht mehr komponieren, schreibe zu homophon und für den Solisten zu leicht. Dass diese Eigenkritik ungerechtfertigt ist, dürfte allein die Anzahl an Aufführungen und Aufnahmen belegen.

Schostakowitsch ist zugleich dankbar wie undankbar zu spielen: Eine Aufführung klingt beinahe immer gut; doch darüber hinauszugehen, erfordert ein feines Gespür sowohl für die harmonische als auch die melodische Spannung.
Sabine Weyer geht virtuos an ihre Klavierstimme heran, setzt auf Klarheit. Dabei nimmt sie den Kopfsatz zu schnell, um darin die markante Klavierstimme noch ausgestalten zu können; durch langsameres Tempo hätte der Satz verspielter, freier und spritziger sein können. Umgekehrt erdrückt der Mittelsatz den Hörer beinahe durch pure Romantik, Weyer nutzt das volle Spektrum an Rubati und Wohlklängen. Hier wäre mehr Kontinuität wünschenswert gewesen, denn es handelt sich eben nicht um Chopin oder Liszt, sondern um ein Werk des mittleren 20. Jahrhunderts. Din gutes Maß an Distanz den Feinsinn beleuchtet diese Musik noch einmal ganz anders als schwelgende Verträumtheit; besonders in den rhythmisch vertrackten 3-gegen-2-Passagen. In den Randsätzen bleibt Weyer dafür prägnant und rhythmisch markant, treibt die Musik immer weiter voran.
Auf durchsichtige Stimmführung achtet auch die Neudwestdeutsche Philharmonie unter Erich Polz. Die einzelnen Solisten stimmen sich aktiv aufeinander ab und das Orchester wirkt allgemein ausgewogen. Selbst in den großen Tutti-Passagen kippt der Klang nicht in Krach, sondern behält Kraft und Volumen. Dafür fehlt manchmal dieser ewige Precipitato-Trieb nach vorne, der den Sätzen (auch, und gerade sogar, den langsamen!) eine Linearität und Struktur hin zu einem Ziel der Erfüllung verleiht. Gelungen sind die Kontraste im ersten Satz der Neunten Symphonie zwischen ‚altbacken‘-klassisch und aufbegehrend neutönerisch. Ebenso hinreißend die Spielfreude und Leichtigkeit in der Festlichen Ouvertüre.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2018]

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Schuberts Vollendung

Hyperion, CDA68213; EAN: 0 34571 28213 8

Franz Schubert: Sonate B-Dur D960, Vier Impromptus D935; Marc-André Hamelin (Klavier)

Späte Klavierwerke von Franz Schubert hören wir auf der neuesten CD von Marc-André Hamelin. Knappe 82 Minuten dauert das Programm mit der letzten Klaviersonate in B-Dur D960 und den vier Impromptus D935.

Oft werden die letzten drei Sonaten Franz Schuberts mit denen Ludwig van Beethovens verglichen: Nicht nur, dass Schubert seinen Wiener Kollegen zeitlebens zutiefst bewunderte, nein, sondern wie auch dieser schrieb er drei umfangreiche Klaviersonaten, die in einen Band zusammengehörten. Die Vermutung liegt nahe, Schubert sei sich seines baldigen Todes bewusst gewesen und wolle aktiv den Bezug zu Beethoven suchen. Dagegen spricht, dass sich gerade die letzte der Sonaten Schuberts, B-Dur D960, sichtlich von seinem Idol distanziert, sie beschreitet harmonisch wie auch strukturell ganz eigene Wege. Tatsächlich entstehen kann jedoch der Eindruck eines Epitaphs für sich selbst; die Musik wirkt derartig abgeklärt und vollkommen, dass ihr nichts mehr hinzuzufügen wäre – Schubert hat mit gerade einmal 31 Jahren alles gesagt, was einem Menschen möglich ist, auszudrücken.

Den Begriff Impromptu prägte der tschechische Komponist Jan Voříšek, der ihn für relativ kurze und auch für Liebhaber realisierbare Klavierstücke verwendete. Schuberts zwei Bände mit jeweils vier Impromptus greifen die formale Geschlossenheit auf, doch gerade der zweite Band erschließt pianistisch neue Wege.

Das Spiel Marc-André Hamelins verströmt Tiefe und Innerlichkeit. Die Dramatik besonders in den ersten beiden Sätzen der Sonate verlagert er in die menschliche Innenwelt, trumpft nicht durch äußerliche Effekte auf. Allgemein wendet Hamelin seine Mittel ökonomisch an, verteilt sie auf die gesamte Form und schafft so eine miterlebbare Zusammengehörigkeit. Einzig unverständlich bleibt mir die Wiederholung im Kopfsatz der Sonate: Die Musik ist so weit fortgeschritten und hat sich weit vom Ausgangspunkt entfernt, der Sprung zurück unterminiert den gesamten energetischen Ablauf. Bei den Impromptus hingegen verzichtet Hamelin auf einige der längeren und gegenstandslosen Wiederholungen. Selbst in den rhythmisch treibenden Impromptus, vor allem im letzten, behält Hamelin die Kontrolle über jede einzelne Note und lässt sich zu keiner Zeit von der enormen Gefühlswelt übermannen. Fein abgestimmt sind die kleinen Tempowechsel, die Hamelin besonders in der Sonate gebraucht, um sie formal zu gliedern.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

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Neue Horizonte erleben

Der Chor des Bayerischen Rundfunks lädt gemeinsam mit dem Münchner Kammerorchester und dem Dirigenten Yuval Weinberg ein, neue musikalische Horizonte zu erkunden. Im Münchner Prinzregententheater geben sie am 17. November 2018 ein Konzert mit zeitgenössischer Chormusik, bei welchem mitreißende Entdeckungen auf uns warten: Den Anfang macht Bjørn Andor Drage mit seinem „Klag-Lied“ für Soli (Priska Eser, Jutta Neumann, Bernhard Schneider, Christof Hartkopf), Sprechchor, gemischten Chor und Streicher nach einer – zuvor erklingenden – Vorlage von Dietrich Buxtehude. Danach hören wir „Ad genua“ von Anna Thorvaldsdóttir für Sopran-Solo (Anna-Maria Palii), gemischten Chor und Streicher, „Nuits, adieux“ aus der Feder von Kaija Saariaho für gemischten Chor mit vier Solisten (Sonja Philippin, Ruth Volpert, Q-Won Han, Matthias Ettmayr) und „Nocturne (Richter)“ von Thierry Machuel für gemischten Chor a cappella op. 7. Nach der Pause gibt es noch Werke von zwei Klassikern des 20. und frühen 21. Jahrhunderts: Zum einen Krzysztof Penderecki, von dem „Domine, quid multiplicati“ für gemischten Chor a cappella (Andrew Lepri Meyer, Tenor-Solo), „Cherubinischer Lobgesang“ für gemischten Chor a cappella und die „Serenade“ für Streichorchester erklingen; und zum anderen Arvo Pärt, dessen „Berliner Messe“ für Chor und Streichorchester aufgeführt wird.

Dieses Programm ist durchaus gewagt für ein Abonnementkonzert, und doch dürfte es viele der Hörer positiv überrascht und begeistert haben. Kaum jemand aus dem Publikum dürfte die Komponisten der ersten Programmhälfte gekannt oder sogar Musik von ihnen gehört haben: „Horizonte“ lautet deshalb auch das Motto des Konzerts.

Zu Beginn des Programms steht direkt eine Uraufführung, „Klag-Lied“ aus der Feder eines norwegischen Komponisten, von dem bislang kaum Musik über die Landesgrenzen drang: Bjørn Andor Drage. Als Komponist begibt er sich auf die Suche nach einem eigenen und unverwechselbaren Stil, der oft auf Modellen der Barockzeit basiert, welche allerdings nur fragmentarisch Gebrauch finden und zu neuen Formen modelliert werden. Laut Drage liegt eine gesamte Welt in der Zwölftonreihe, alle Kontraste und Extreme lassen sich aus ihrer Ganzheit ableiten. So nimmt die Dodekaphonie auch zentralen Stellenwert im Schaffen Drages ein, wobei sie nicht zwingend im „atonalen“, durch die Zweite Wiener Schule konnotierten Gewand erscheinen muss, sondern auch tonale oder ebenso gänzlich neuartige Stile annehmen kann. Drage braucht keine übermodernen Effekte, um originell zu sein, er bedient sich bekannten Idiomen, um damit eigenes zu schaffen. Das „Klag-Lied“ entstand 2004 nach dem Tod seiner Mutter, ursprünglich als a cappella-Stück, wobei er sich auf das gleichnamige Werk Buxtehudes BuxWV 76 bezieht – diesen veranlasste der Tod seines Vaters zur Komposition des Trauerliedes. Drage begeistert sich für die Musik der Barockzeit mit ihrem stetigen rhythmischen Trieb und fühlt sich zu dem für seine Zeit expressionistisch-fortschrittlichen Buxtehude hingezogen, dessen Gespür für Dissonanz ihn anreizt. Die sich auffächernden kontrapunktischen Bewegungen des Originals extremisierte Drage alleine durch seine Aufteilung der Musiker: Den Chor spaltete er in vier Solisten, einen vierstimmigen Sprechchor und (singenden) gemischten Chor auf, wobei der Text in fünf Sprachen erklingt. In der 2015 entstanden, heute uraufgeführten Fassung teilte er zudem die neu hinzugekommenen Streicher mehrfach und schuf so ein zutiefst komplexes und dichtes Gewebe aus Stimme, Sprache, Tönen und Klängen. Dabei beweist Drage enormes Gefühl für formale Gestaltung: Wellenartig expandiert das Geschehen von zartem Flüstern bis hin zu einem Aufschrei gegen den Tod und kehrt wieder zu seiner Ausgangsstimmung zurück. Immer wieder schwingen Fragmente der barocken Klangwelt mit, doch schon treibt die Musik hinfort und lässt die Anklänge wie ein schwaches Echo vergangener Zeiten erscheinen. Erschüttert bleibt der Hörer zurück; die kurzen Momente der Hoffnung in der Musik negiert Drage und am Schluss tönt noch der mehrsprachige „Schmerz“ nach.

Ebenso überwältigend geht der Abend weiter mit einer zweiten musikalischen Überraschung, der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdóttir. „Ad genua“ (Auf die Knie) bezieht sich wie auch Drages Werk auf Buxtehude, allerdings auf den gleichnamigen zweiten Satz des Oratoriums „Membra Jusu nostri“, welches einzelne Körperteile des Gesalbten besingt. Mit der Einleitung durch die Bässe und Celli zieht uns Thorvaldsdóttir tief hinab, nur um uns mit dem Einsatz des Solo-Soprans wieder zum Licht zu führen. Meditativ, spirituell und naturverwurzelt schwebt die Musik auf sanften Dissonanzen durch immer neu aufgespannte Klangsphären, treibt ohne Nachdruck, aber zielgerichtet auf den Wendepunkt zu, wo der Fall auf die Knie nicht mehr das Ersuchen nach Vergebung darstellt, sonders das Huldigen der ewigen Musik. Hinreißend zart und schlicht singt Anna-Maria Palii das Sopran-Solo, luzide Schönheit schmeichelt der Fragilität dieser Musik zwischen Licht und Schatten. Der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Kammerorchester rücken die beiden unbekannten Komponisten genau ins rechte Licht, gehen auf deren Klangvorstellungen ein und erfüllen sie mit Farbe und Ausdruck. Yuval Weinberg bewegt sich so sicher und frei in der Musik, als hätte er sich seit Jahren genau diesen Werken hingegeben. Meisterlich erspürt er die Pausen, lässt sie nicht als bloße Lücken im Raum stehen, sondern ergründet ihren Zweck in der Struktur.

Nach zwei derart beeindruckenden Werken lässt sich über das nächste hinwegsehen: „Nuits, adieux“ von Kaija Saariaho. Auch dieses Chorstück bearbeitet Trauer, jedoch nicht auf eine direkt auf den Hörer wirksame Weise, sondern auf eine intellektuell erdenkbare. Saariaho zerfasert die Worte des Chors in einzelne Laute, wobei sie Geräusche imitiert, die sie in der ersten Fassung mit Elektronik erreichte. Man kann sich verschiedene Stadien des Abschieds bis hin zu einer Versöhnung in diese Musik denken, aber wirklich hören tut man nichts davon. Manche Abschnitte wirken so skurril, dass man sich ein Lachen direkt unterdrücken muss: Ist dies gewollt in einem Stück, das Trauer behandelt? Wenn der ganze Chor wild hechelt, zischt, stöhnt und kurzzeitig aufschreit, fällt es schwer, die Ernsthaftigkeit der Thematik nachzuvollziehen.

Thierry Machuels „Nocturne (Richter)“ weist eine ungewöhnliche Entstehungsgeschichte auf, denn die Musik entstand vor dem Text. Ursprünglich schrieb Machuel das Chorwerk nach einem „berühmten Dichter des 20. Jahrhunderts“, doch nach der Uraufführung verweigerten die Erben unerwarteterweise die Rechte am Text – so beauftragte Machuel Benoît Richter, Worte für seine Komposition zu finden, die mit der Musik und deren Wirkung zusammen funktionieren; dies war der einzige Weg, die Partitur zu retten. Das Werk zaubert manch einen interessanten Klang hervor, findet Wendungen, die aufhorchen lassen – und doch fließt die Musik insgesamt etwas blass daher; sie bannt den Hörer nicht, gleitet scheinbar ohne Ziel dahin.

Nach der Pause folgen hochkarätige Werke von zwei Größen der letzten Jahrzehnte, die ineinander verschränkt wurden. Zu Beginn hören wir zwei a cappella-Werke von Penderecki, „Domine, quid multiplicati sunt“ und „Cherubinischer Lobgesang“; sie beide bestechen durch den Umgang mit Tonlagen, Höhen und Tiefen. Mal baut sich die Musik vom Bass her auf bis in die Sopranlage, mal bricht plötzlich die Basis weg; die Stimmgruppen spielen sich gegeneinander auf wie hohe Wellen, bis sie ineinander schwappen und zerfallen. Penderecki nutzt auch die Entfernung zwischen Sopran und Bass, kostet den klanglichen Abstand aus. Im Anschluss erklingt Pärts „Berliner Messe“, die jedoch von Pendereckis Serenade für Streichorchester unterbrochen wird. In der Serenade konfrontieren die Streicher den Hörer mit rauer Härte; die am Anfang stehende Passacaglia attackiert mit unbarmherziger Wucht und rhythmischer Energie, bereits die ersten repetierten Töne laden die Stimmung auf. Das Larghetto lässt kurzzeitig auch gewisse Sentimentalität durchscheinen, die abrupt wieder zerstört wird. Es ist ein packendes Werk, das mit einer Serenade nur wenig zu tun zu haben scheint, aber eben dadurch Aufsehen erregt. Ich hätte sie lediglich Pärts Messe vorangestellt oder es an den Schluss gesetzt, denn das Ohr braucht etwas Zeit, sich in die Neue Welt einzufinden und mit ihren jeweiligen Harmonien zurechtzukommen. Dies jedoch ist der einzige Mangel an dem ansonsten von vorne bis hinten perfekt durchgeplanten Programm, das von einem Werk direkt zum nächsten führt, thematisch, musikalisch und/oder inhaltlich.

Pärts „Berliner Messe“ evoziert sogleich den melancholischen, trüben Klang, den man hier mit nordischer und baltischer Musik verbindet. Jede einzelne Harmonie hat ihren festen Platz, jede Melodie führt folgerichtig in die nächste, alles passt in- und zueinander in feiner Ausgewogenheit. Hinreißend gibt sich die Streicherbegleitung, die eben nicht als Continuo durchgeht, sondern teils ganz fragmentarisch gesetzt ist und dem Chor Raum lässt, sich eigenständig zu entfalten. Inbrünstige Religiosität strömt von der Messe aus, nicht aufdringend, sondern durchdringend.

Große Hoffnung ruht auf dem jungen Dirigenten Yuval Weinberg, der mit seinen 28 Jahren bereits ein solch inniges Musikverständnis beweist und dieses ausnahmslos nachvollziehbar an den Hörer vermitteln kann. Weinberg horcht, lauscht, forscht und lässt entstehen, pausenlos stimmt er den aufkeimenden Klang noch feiner ab und behält dabei die Zügel in der Hand. Daraus resultiert eine zutiefst persönliche, aber auch einheitliche Klangvorstellung, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Chor des Bayerischen Rundfunks und das Münchner Kammerorchester vertrauen auf das Schaffen ihres Dirigenten und werden nicht enttäuscht, alle Musiker wirken als unzertrennbare Einheit, die wechselnden Solisten bleiben stets mit dem restlichen Ensemble verbunden und auch das Zwischenspiel zwischen Streicher und Sänger funktioniert makellos.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

Wissenschaftlich-unverständlich

Analecta Musicologica. Klangkultur und musikalische Interpretation. Italienische Dirigenten im 20. Jahrhundert; Peter Niedermüller (Herausgeber), David Patmore, Gesa zur Nieden, Jürg Stenzl, Antonio Rostagno, Martin Elste, Hartmut Hein, Angela Ida De Benedictis, Vincenzina Ottomano

Um Interpretationsforschung italienische Dirigenten dreht es sich in „Analecta Musicologica. Klangkultur und musikalische Interpretation. Italienische Dirigenten im 20. Jahrhundert“. Herausgegeben wurde die Beitragssammlung von Peter Niedermüller in Folge eines Studientags in Rom; die Referate stammen von David Patmore, Gesa zur Nieden, Jürg Stenzl, Antonio Rostagno, Martin Elste, Hartmut Hein, Angela Ida De Benedictis und Vincenzina Ottomano.

Das Interesse steigt, nicht alleine den Notentext zu ergründen, sondern darüber hinaus auch die Realisation durch die Musiker; doch das Feld der Interpretationsforschung gehört zu den schwierigsten der Musikwissenschaft. Das Problem liegt auf der Hand: Die Geschmäcker und Vorstellungen von musikalischer Darbietung gehen auseinander, entsprechend kompliziert gestaltet es sich, möglichst objektive Maßstäbe zu finden. Wie nähert man sich also diesem Feld an? Die simpelste Lösung ist zugleich die unergiebigste und am häufigsten anzutreffende: Die Autoren erforschen konkret messbare Aspekte der musikalischen Darbietung wie Dauer von Stücken oder Abschnitten sowie Tempowechsel. Als Leser erfährt man hierbei nichts darüber, wie der Musiker an die Musik herangeht oder auf welche Details er Wert legt, kennt lediglich bezugslose Zeitangaben. Ebenso erweisen sich fixe Kategorisierungen als beliebte Vereinfachungen, um einen ausgereiften Personalstil auf weniger als drei Wörter zu reduzieren und eine Basis zum Vergleichen oder Konfrontieren unterschiedlicher Musiker zu schaffen. Als einziger Autor der vorliegenden Referatsammlung bemüht sich der Herausgeber Peter Niedermüller, über messbare Zahlen und Kategorien hinauszugehen und etwas auszusagen über Giuseppe Sinopoli und seine Mahler-Darbietung.

Wie sonst könnte man sich dem Feld der Interpretationsforschung annähern? Der Weg führt unumgänglich über das aktive und kritische Hören. Es gilt zu versuchen, eine Darbietung so genau wie möglich zu beschreiben, Details der Umsetzung herauszuarbeiten; um nur einige der möglichen Aspekte zu nennen: Dynamik, Artikulation, fomale Gestaltung, Bezug der einzelnen Instrumente zueinander. Natürlich wird dabei immer ein minimaler Bestandteil an Subjektivität hineinkommen, aber findet sich dieser nicht sogar bei den objektivsten Faktenauswertungen alleine durch die Art der Formulierung? Und auch diejenigen Musiker, die sich voll in den Dienst der Werke stellen, müssen in ihrer Darbietung subjektive Entscheidungen treffen – eben davon lebt die Musik und gibt uns einen Ausgangspunkt für Interpretationsforschung. Sich hinter trügerischer Objektivität zu verbergen, bringt keinen Gewinn bei der Untersuchung von persönlichen Darbietungen: Die Lösung liegt auf einem schmalen Grad zwischen den beiden Polen, dort, wo man vielleicht nicht unbedingt seine ureigene Ansicht vertritt, aber noch immer Mensch mit Wahrnehmung und Gefühl bleibt.

Dass die meisten Autoren dieses Buches nichts auszusagen haben, zeigt nicht nur das Herumreiten auf bedeutungsarmen Fakten, sondern auch das Verstecken hinter hochtrabenden Formulierungen und ellenlangen Schachtelsätzen. Der Leser wird bewusst geblendet durch unverständliche Schreibart: Würden die Autoren prägnant und nachvollziehbar schreiben, so würde man schnell erkennen, wie wenig Aussage in den Artikeln steckt. Doch eine Schlacht an unnötigen Fremd- und Fachwörtern verschleiert das Verständnis ebenso wie kaum entwirrbare Satzkonstrukte, Rückbezüge und überlange Fußnoten. Es klingt alles schön kompliziert und „wissenschaftlich“; aber ich will beim Lesen etwas über das Thema erfahren, und nicht bestaunen, wie wunderbar schwülstig die Autoren schreiben können.

Inhaltlich überzeugen konnte mich der Artikel „Cetra-Soria“ von Martin Elste über die Geschichte eines italienisch-amerikanischen Erfolgslabels, das zugleich eine wichtige Rolle für italienisches Opernrepertoire spielte. Auch aus Peter Niedermüllers Artikel über Sinopolis Mahler-Interpretation ließen sich interessante Aspekte entnehmen. Der einzige, der auch einmal die unbekannten Dirigenten behandelt, ist David Patmore über Coppola, Molajoli und Sabajno; die restlichen Artikel drehen sich hauptsächlich um Toscanini, darüber hinaus jeweils einer um Sinopoli und Abbado.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

Bach and Baltic: Kremerata Baltica und die Organistin Iveta Akpalna in der Essener Philharmonie

Was für ein begnadetes Streicherorchester, was für erfrischend „unverbrauchte“ Kompositionen und was für eine spürbare Leidenschaft bei der Umsetzung! Die Kremerata Baltica, jenes von Gidon Kremer gegründete Streichorchester traf in der Essener Philharmobue auf Iveta Akpalna, die zurzeit als Titularorganistin an der Elbphilharmonie ist.

Wenn die fabelbaften Streicherinnen und Streicher der Kremerata Baltica zu aufregenden musikalischen Abenteuern aufbrechen, sind eigenständige Künstlerpersönlichkeiten am Werk, denen bei aller Individualität vor allem „das große Ganze“ eine Herzensangelegenheit ist. Ein weiteres Kapital dieses im Jahr  1997 gegründeten Orchesters ist die aufgeweckte Zusammenarbeit mit den Gegenwartskomponisten ihrer Heimatländer – etwa Estland, Litauen und Lettland. Das machte bei einem überwältigenden Auftritt in der Essener Philharmonie vor allem eines klar: In den Kompositionen von Petris Vasks, Lepo Sumera oder Eriks Esenvalds sind engagierte Modernität und unmittelbar mitreißende Emotion kein Widerspruch.

Auf ihrer aktuellen Tournee „Bach and Baltic“ fungiert die „ewige“ Tonsprache Johann Sebastian Bachs als Bindeglied –  und auch hier ist der unkonventionelle Blickwinkel Programm. Der sich auch dann auszahlt, wenn das Orchester die Orgelvirtuosin Iveta Akpalna, zurzeit Titularorganistin an der Elbphilharmonie in den Mittelpunkt rückt.

Auf konzentriertem Höchstlevel geht es in der Essener Philharmonie ohne Anlaufzeit sofort in die Vollen: Peteris Vasks Sinfonie „Balsis“ für Streichinstrumente kommt aus der Stille, verweigert sich dann immer radikaler jedem esoterisch anmutenden Weltflucht-Idyll. Mit subtiler Emphase tragen die Streicher schillernde, von Glissandi durchkreuzte Farbteppiche auf. Ein anderer, bedrohlich schroffer Gestus steigert sich schließlich in bestürzende Wucht hinein. Hier ist nicht länger der in sich ruhende Naturmystiker Peteris Vasks spürbar, dem es um nordische Schönheitsideale geht. Die unmittelbar fordernde Klangsprache dieser Komposition aus dem Jahr 1990 mutet vielmehr an wie ein Aufschrei in eine unstete Gegenwart hinein.

Nach so viel explosiver Wucht zu Anfang, führt Bachs d-Moll-Konzert zieht eine andere, fast märchenhafte, zeitlose Welt hinein. Was nicht nur an der extravaganten Bühnenpräsenz von Iveta Akpalna liegt, die in silbrig-glänzendem Kleide hinter dem Spieltisch der mächtigen Kuhn-Orgel zur einfühlsamen Kammermusikenpartnerin mutiert. Impulsiv, beflügelnd, leichtfüßig verweben sich Bachs Figurationen mit dem reichen Streicher-Farbenspktrum der Kremerata Baltica.

Später nimmt ein weiteres „Bach-Projekt“ wie kein anders eine erstaunliche Perspektive ein: Bach, Busoni, Gidon Kremer und letztlich das ganze Orchester vernetzten sich in der respektgebietenden d-Moll Chaconne zum Gesamtgefüge.

Eine Einspielung aus dem Off bringt zugleich den Meister und Gründer, also Gidon Kremer selbst ins Spiel. Dieser muss sich der ungeheuren, polyphonen Materialfülle der Chaconne bewusst gewesen sein, die Bach in diesem Solowerk einem einzelnen Spieler aufbürdet. Gidon Kremers Orchesterbearbeitung „befreite“ den komplexen polyphonen Reichtum dieser Komposition aus seiner „einsamen“ Rolle. Hier nun orchestral aufgefächert, gab dies in Essen der beglückenden Spiellust der Kremarata Baltica Nahrung.

Lepo Sumera stammt aus Estland, seine „Sinfonie der Zusammenklänge“ ist das neutönerischste Werk des Abends. Lustvoll bündelt das Spiel der Streicher und eines Perkussionisten viel dunkle Emotion, lässt eintauchen in einen klangsinnlichen Ozean aus Clustern, Dissonanzreibungen und stoischen Schlagwerk-Impulsen. Einmal mehr zeigte sich das Weltklasse-Niveau der Kremerata Baltica, wie plastisch hier alle Raumdimensionen von Nähe und Ferne ausgelotet werden.

Das Finale dieses atemberaubenden Abends führte schließlich scheinbare Gegenpole wie in einer Art Synthese zusammen. Eriks Esenvals bringt in seinem dreisätzigen Orgelkonzert die Ideomatik von Bachs berühmter d-Moll Toccata auf verschlungene Abwege. Und diese bekräftigten mit einem pathetisch-emotionalen Farbenspektrum, aufbrausenden Orgeltutti-Klängen eine durchaus typische melodiös-melancholische Tonsprache, wie sie für viele baltische Komponisten zum Markenzeichen geworden ist.

[Stefan Pieper, November 2018]